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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Handke, Kino

a Aus dem Publikumsbeschimpfer und Provokateur der Literaturszene in den sechziger Jahren ist ein Märchenerzähler geworden, mit langem Atem: Peter Handkes neues Kolossalwerk “Mein Jahr in der Nie- mandsbucht“ ist über 1000 Seiten dick und will dennoch kein Roman sein, sondern, laut Untertitel, ein “Märchen aus den neuen Zeiten“. Die erste Auflage ist verkauft – gute Zeiten also für einen H. BAMBERGER Hage, Handke, Schreiber beim SPIEGEL-Gespräch in Chaville

wortverliebten Langstreckenläufer wie Handke? Wie und wozu der Österreicher, der in Chaville bei Paris lebt, das vielgelobte und schwergewichtige Stück geschaffen hat, war Thema des SPIEGEL-Ge- sprächs, das die Redakteure Volker Hage und Mathi- as Schreiber mit ihm führten (Seite 170). Doch zuvor ging es in des Dichters Garten hinter der Gründerzeitvilla, die ehedem einem französischen General gehörte und nun gegen die dicht bebaute Kleinstadt Chaville und den dauernd kläffenden Nachbarshund durch immergrüne Hochbepflanzung abge- schirmt ist. Alle Räume standen offen, nur nicht die Mönchszelle – Handkes Arbeitszimmer im Souter- rain. Dabei waren die SPIEGEL-Leute ihm nicht fremd: Hage interviewte ihn 1972, und schon damals versprach Handke, eines Tages einen “dicken Roman“ zu schreiben; Schreiber saß bereits 1966 neben ihm in der US-Universität Princeton, als Handke die “Beschreibungsimpotenz“ der dort tagenden “Gruppe 47“ kritisierte. Für die dazu notwendigen Stich- worte fehlte es dem Schriftsteller seinerzeit an Gerät, Schreiber pumpte ihm seinen Füller.

a An die 1800 Lastwagen fahren jedes Wochenende durch Deutschland, um rund 70 000 Inlands-Verkaufs- stellen pünktlich mit dem SPIEGEL zu beliefern. Einmal im Monat befördern sie Extra-Fracht – SPIE- GEL special, das neue Monatsmagazin. Die Dezember- Ausgabe – mit dem Thema “100 Jahre Kino“ – ist vom Dienstag dieser Woche an im Handel. Sie er- zählt die Geschichte der bewegten Bilder, würdigt und feiert die Traumfabriken und ihre Stars, mit Porträts, Interviews, Erzählungen – und mit Dreh- büchern, die prominente Regisseure für dieses SPIEGEL special verfaßt haben.

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TITEL INHALT Die Wiederkehr des Vampirs – Gruselspektakel aus Hollywood ...... 184 Interview mit dem Regisseur Neil Jordan Deutsche sollen auf den Balkan Seite 18 über den Hang zu Vampiren ...... 196 Bundeswehrsoldaten sollen nun doch zum Balkan: Die Nato fordert KOMMENTAR deutsche Tornados für Bosnien. Die Schnelle Eingreiftruppe der Nato braucht die Deutschen bei Rettungsaktionen für Blauhelme. Olaf Ihlau: Nato, Bonn und Bihac´ ...... 21 Rudolf Augstein: Herzogs Harris ...... 27

SPIEGEL-ESSAY Ralph Giordano: Der Preis der Versöhnung ...... 54

DEUTSCHLAND Panorama ...... 16 Außenpolitik: Deutsche Soldaten nach Bosnien? ...... 18 PDS: Gysis Mitleidskampagne ...... 22 G. STOPPEL / ZEITENSPIEGEL SPD: SPIEGEL-Gespräch mit dem Bundeswehr-Tornado brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe über Ost-West-Gegensätze in seiner Partei ...... 24 Polizei: Filz und Affären Europa: Erweitern oder vertiefen? Seite 47 in Mecklenburg-Vorpommern ...... 28 CDU: Jürgen Leinemann über das Ost-Länder in die EU? Die Briten sind dafür, die Deutschen dagegen. letzte Kapitel im Lebenswerk des Helmut Kohl ..32 Engere Zusammenarbeit in der EU? Deutsche wie Briten: dagegen. Interview mit Vorstandsmitglied Überraschungen einer Umfrage am Vorabend des Europa-Gipfels. Michel Friedman über Juden in der Politik und den Reformbedarf der Union ...... 36 FDP: Hans Joachim Noack über die Liberalen vor ihrem Sonderparteitag in Gera ...... 40 Demoskopie: Was Deutsche und Briten Ende des Lagerdenkens Seiten 73, 79 von der Europäischen Union halten ...... 47 Forum ...... 52 Heiner Geißler (CDU) Software: Nachhilfe am Computer ...... 58 entdeckt „christde- Welche Lernprogramme für Kinder taugen ...... 61 mokratisches Gedan- Umwelt: Wohin mit giftigen kengut“ bei den Pestizidbehältern? ...... 65 Bündnisgrünen. Grü- Stasi: Demoralisierte Geheimdienstler nen-Politiker Rezzo im Wendeherbst 1989 ...... 68 Schlauch begrüßt das Parteien: Schwarz-grüne Kommunalbündnisse Ende des „ideologi- verändern die politische Landschaft ...... 73 schen Lagerdenkens“ SPIEGEL-Streitgespräch zwischen der CDU. Schwarz- Heiner Geißler und Rezzo Schlauch grüne Nähe in Kom- über Schwarz und Grün ...... 79 munalparlamenten – Nazi-Erbe: Bonn und Washington J. H. DARCHINGER und im SPIEGEL- streiten über die Renovierung von Geißler, Schlauch Streitgespräch. Hitlers Obersalzberg ...... 89 Musik: Neues Gesangbuch der Protestanten ...... 94

WIRTSCHAFT Die Erben des Ku-Klux-Klan Seite 116 Beschäftigung: Jetzt hat die Metallindustrie Aufträge, aber kein Personal ...... 98 Sie verbreiten Haß Volkswagen: Kaserne als Unterkunft und Gewalt, rekru- für Arbeiter ...... 100 tieren Teenager mit Autoversicherung: Streit um Mietwagen Rockmusik und stre- für Unfallopfer ...... 101 ben in den USA das Chemie: Interview mit Bayer-Chef Erbe des Ku-Klux- Manfred Schneider über Gewinne Klan an: Rechtsex- und Arbeitsplätze ...... 102 tremisten der „White Kernenergie: Atommanager verzichten Power Generation“ auf Option für neue Reaktoren ...... 103 unterstützen deut- Trends ...... 105 sche Neonazis und Subventionen: Tauschgeschäft in Brüssel ...... 108 träumen von einer Exporte: Bayern hilft Siemens ...... 109 „weißen Weltrevolu- T. MUSCIONICO / CONTACT / FOCUS Werbung: Reklame per Computerbildschirm .... 110 tion“. Ku-Klux-Klan-Mitglieder Datennetze: Interview mit Kommunikationsmanager Lutz Meyer-Scheel über Konkurrenz beim Telefonieren ...... 112

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GESELLSCHAFT Rechtsextremisten: US-Skinheads und ihre Verbindungen zu deutschen Neonazis ...... 116 Golf: Autonome attackieren Greens Vielen Betrieben fehlt Personal Seite 98 im Osten ...... 126 Spectrum ...... 127 Vor kurzem noch litt die Wirtschaft unter der SERIE schlimmsten Rezession, jetzt kommen die Aufträ- Mandela-Memoiren (IV): ge so massenhaft, daß Bürgerkrieg und Befreiung ...... 130 viele Betriebe kaum da- mit fertig werden. Es AUSLAND mangelt an Personal, selbst gutausgebildete Panorama Ausland ...... 144 Rußland: Jelzin droht den Tschetschenen ...... 146 Facharbeiter hatten ge- Bosnien: Riskanter Fluchtweg aus Sarajevo ..... 148 hen müssen. „Die fehlen Nato: Interview mit US-Senator Richard jetzt an allen Ecken und Lugar über die Spannungen im Bündnis ...... 150 Kanten“, sagt ein Be- USA: Carlos Widmann über den rechten triebsrat. Die meisten Außenpolitiker Jesse Helms ...... 151

Firmen stellen dennoch W. BACHMEIER Norwegen: Ex-Kulturminister Lars Roar kaum neue Leute ein. Arbeiter am Fließband Langslet über das Nein zu Europa ...... 153 Japan: Neue Reformpartei ...... 156 Aids: Schwule in San Francisco – Rückfall ins Risiko-Verhalten ...... 158 Russische Bomben auf Grosny Seite 146 Schweiz: Die Bauernfängerei des European Kings Club ...... 163 Jelzin riskiert sei- Verbrechen: Tod des Serienmörders Dahmer ... 165 nen ersten Feldzug im Kaukasus, ei- KULTUR nem klassischen Schriftsteller: SPIEGEL-Gespräch mit Terrain russischer Peter Handke über das Abenteuer Expansion. Er will des Schreibens ...... 170 die von Moskau ab- Film: „Rotwang muß weg“ trünnige alte Kolo- von Hans-Christoph Blumenberg ...... 178 nie Tschetschenien Pop: „Jungle“ – hektische Musik aus ins Reich zurückho- Englands Schwarzen-Ghettos ...... 180 len – per Ultima- Szene ...... 207 tum, Truppenauf- Autoren: Die skurrilen Randgruppen-Romane des Armistead Maupin ...... 208 J. KAZLAUSKAS / SYGMA marsch, Bomben Kulturpolitik: Europäische Zusammenarbeit Tschetschenen-Krieger auf die Hauptstadt. bei der Suche nach Beutekunst ...... 210 Literatur: Sigrid Löffler über Klaus Theweleits neues „Buch der Könige“ ..... 214 Bestseller ...... 216 Zurück zum Risiko-Sex Seite 158 Fernseh-Vorausschau ...... 250

Im Schwulen-Mekka San WISSENSCHAFT Francisco, wo einst der Seuchenzug begann, Prisma ...... 219 wiederholt sich die Aids- Umwelt: Interessen-Poker bei der Geschichte: Eine neue, Artenschutzkonferenz in Fort Lauderdale ...... 220 sorglose Generation von Medizin: Ein Gen steuert den Hunger ...... 225 Homos kehrt zu riskan- Affären: Umstrittene Malaria-Todesfälle im Hamburger Tropeninstitut ...... 226 ten Sexpraktiken zurück. Experten in San Francis- co fürchten, daß in zehn TECHNIK Jahren jeder zweite Katastrophen: Die Feuersbrunst auf der der heute 20jährigen „Achille Lauro“ ...... 231 Kernkraft: Schwulen mit HIV infi- A. PACZENSKY / ZENIT Atomstrom wird teurer als erwartet 233 ziert sein wird. Aids-Patient in San Francisco SPORT Fußball: Alfred Weinzierl über das neue Nationalgefühl des deutschen Werber erobern die Infobahn Seite 110 EM-Gegners Moldawien ...... 238 Doping: Erfolgreiche Razzia Der Info-Highway soll mit Reklame gepflastert werden: Werber gegen Chinesen ...... 243 entdecken die Datennetze, um digitale Botschaften millionen- fach direkt in die Computer der Kundschaft zu schicken. Briefe ...... 7 Impressum ...... 14 Personalien ...... 246 Register ...... 248 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 254

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BRIEFE Genußsüchtige Schlampen chen. Die die neue Mode zwar mögen, aber trotzdem ab und zu Müsli essen, (Nr. 47/1994, Frauen: Der „Mädchen“- die Techno hören und trotzdem auf Stu- Kult propagiert einen neuen Feminis- dentenversammlungen gehen, für die mus) Feminismus zwar Geschichte ist, aber Girls, Babes, das geht nach hinten los. eine, die unter neuen Vorzeichen wei- Wenn seinen Mann stehen für die Mädels tergeschrieben werden muß. von heute bedeutet, morgens über leere Bochum ALMA-E. KITTNER Bierbüchsen zu staksen, den ausgelaug- „Frausein allein reicht nicht.“ Diesen ten Lover vom Sofa zu schubsen, auf ver- Satz sollten sich die Babes hinter die schmierten Frühstückstellern auszuglit- Ohren schreiben. Verantwortungs- schen und nur eine Notration in der Kü- scheue, genußsüchtige, naiv-dümmliche che zu haben, dann gute Nacht. Schlampen gab es in jeder Frauengene- MARKUS M. HERRMANN ration, ohne daß diese als neuer erstre- benswerter Frauentypus dargestellt wur- Die deutsche Jugend hat mal wieder ge- den. pennt. Jedenfalls gibt es die von Ihnen be- Neumünster SÖREN HILL

Wer es versteht, in ei- nem Heft Claudia Nol- te niederzumachen und Emmas Töchter zu feiern, verdient es, regelmäßig und gründ- lich gelesen zu werden. Rostock ROJA AHMADI

Viele junge Frauen eint zwar ein neues Selbstbewußtsein, mit dem Kraft und Stärke einhergehen, Spaß an sich zu haben, das Frau-Sein und die da- mit verbundene Sexua- lität auszuleben und vor allem aus der ewi- gen Opferrolle in die Offensive zu gehen. Es ist jedoch falsch, diese Frauen alle über den Kamm der sogenann- ten Mädchen zu sche-

INTER-TOPICS ren, die nichts Besse- Girlie-Idol Phair res zu tun haben, als Schnittmenge aus Feministin und Hausfrau ihre Unfähigkeit zum Mythos zu stilisieren schriebenen Power-Frauen in Großbri- und auf Männer zu warten, die blöd ge- tannien und Irland schon seit Jahren. Mit nug sind, ihnen den Reifen zu wechseln. einem Unterschied: Sie sind authentisch. Hamburg SILKE BURMESTER Die drei Interviewten versuchen wohl, ihr langweilig gewordenes Yuppie-Da- Endlich hat auch der SPIEGEL ent- sein etwas anzugrungen. Auf der Suche deckt, daß wir den Männern nicht jeden nach den wenigen echten neuen Frau- Blödsinn nachmachen müssen, und den en in diesem Lande hätte sich der SPIE- Frauentyp unserer Generation beschrie- GEL auf der Straße umschauen sol- ben: weiblich, gefährlich, nett und len, und nicht in den Gängen von Ja- selbstbewußt. coby, Viva und der Musikhochschule München SUSANNE MOHNINGA München. Dublin MARK BIHLER Wie schön, daß der SPIEGEL so weit- sichtig ist, ein so aktuelles, aber doch Bleibt zu hoffen, daß schlechtere Zeiten noch so undefiniertes Thema wie den meine verwöhnten Zeitgenossinnen wie- Unterschied zwischen Mädchen und der auf den Boden der Tatsachen beför- Frau zu behandeln. Kultiviert sich doch dern werden. aus Schnittmenge von „Feministin“ und Esslingen PATRICIA BECK „romantischer Hausfrau“ endlich ein modernes Wesen: das Mädchen. Neue Es gibt sie noch, die anderen, die zu viele Mädchen braucht das Land. sind, um einen echten Trend auszuma- Berlin DANIEL BENDAHAN

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Werbeseite BRIEFE Von Natur aus faul (Nr. 47/1994, Titel: Der Chip-Bürger – Alles auf eine Karte) Wird die „Big brother is watching you“- Universalkarte zur Sollbruchstelle unse- res freiheitlichen Systems? Kommt das Ende des Grundrechts auf informatio- nelle Selbstbestimmung und des Daten- schutzes auf rechteckigen Plastikfüßen dahergeschlichen? Wehret den Anfän- gen, denn die Folgen des Kartenunwe- sens sind unabsehbar. Leopoldshafen (Bad.-Württ.) HEIKO SINGER Die Einführung der Krankenversiche- rungskarte hat die Arztpraxen bereits weitgehend computerisiert. Allein die- ser Einsatz von EDV birgt massive Da- tenschutzprobleme, die bis heute der Öffentlichkeit verborgen geblieben sind (sozial unverträgliche Praxissoftware, unsichere Übermittlung von Patienten- SPIEGEL-Titel 47/1994 daten, ungeschützte EDV). Wir versu- Orwells düstere Visionen chen zur Zeit, unentgeltlich den Ulmer Ärzten ein entsprechendes Bewußtsein um gerade sie als Gesundheitsbeschüt- zu vermitteln. zer ihre Mitglieder mit derart umwelt- Ulm PROF. G. KONGEHL schädlichen Karten ausrüsten und die „Datenschutz in Arztpraxen“ – an der FH Ulm Natur nachhaltig schädigen. Orwells düstere Visionen werden am Göttingen KEITH-H. HUMMEL Ende dieser Entwicklung wie ein golde- Bund für Umwelt und Naturschutz in Göttingen nes Zeitalter erscheinen. Saarbrücken ARMIN SCHERER Modell für Schalke Technokraten und Ingenieure bestim- men im heutigen Informatikstudium das (Nr. 47/1994, Kommentar: Rudolf Aug- Geschehen, das Dogma lautet: techni- stein – der „Schnupperstaat“) scher Fortschritt, Kampf mit USA und Der Vorwurf Augsteins an den türki- Japan. So werden die Brücken zum ar- schen Staat, „kein europäischer Rechts- beits-, sozial- und ökowissenschaftlichen staat, sondern ein inzwischen fast kriege- Ansatz systematisch abgebrochen. risch rassistischer Staat“ zu sein, resul- Denn Informatiker sind von Natur aus tiert aus Unwissenheit über die Verhält- faul, erfinden deshalb immer schnellere nisse in der Türkei. Die damit zusammen- Programme und lassen „intelligente“ hängende pauschale Verurteilung, ohne Computer auf die Gesellschaft los, mit klare Differenzierung zwischen kulturel- denen (außer ihnen selbst) kaum je- ler Identität und Terrorismus, zeugt von mand umgehen kann. Oberflächlichkeit, ja sogar von Vorein- Bonn JÖRG PRANTE genommenheit. Düsseldorf DR. YOSUF ZIYA AKSU Die Befürworter der flächendeckenden Verband Türkischer Unternehmer und Chipkarten reden ständig von Sicher- Industrieller in Europa heit, übersehen aber, daß sich Miß- brauch und Kriminalität immer techni- Wer seinen Platz in dieser Gesellschaft – schen Neuerungen angepaßt haben. in einem alltäglichen Wechselbad von Berlin MORIZ HOFFMANN-AXTHELM Zugehörigkeit und nationalistischer Aus- grenzung – erst finden muß, braucht kei- Leider haben Sie vergessen, das Entsor- ne Belehrung a` la Rudolf Augstein, son- gungsproblem bezüglich der überwie- dern Brücken wie die international be- gend aus PVC-Kunststoff hergestellten währte Doppelstaatsbürgerschaft, um Cards zu erwähnen. Laut Greenpeace ihm diesen Prozeß zu erleichtern. Ich bin und dem BUND existieren keine echten es auch leid, wegen der in der Tat erbärm- Recyclingpotentiale in der Bundesrepu- lichen Menschenrechtssituation in der blik, da es zu teuer ist, die Elektronik- Türkei auf die angebliche Unvereinbar- Chips und den Magnetstreifen vom keit von Kulturen verwiesen zu werden. Kunststoffkörper zu trennen. Deshalb Eine solche ethnische Brille reizt gerade- werden die Karten gesammelt und in zu zur destruktiven Gegenreaktion, die den Müllverbrennungsanlagen als Verbindung zwischen der deutschen Ge- Brandbeschleuniger eingesetzt. Die schichte und der deutschen Kultur nahe- Krankenkassen, die 1994 etwa 60 bis 70 legt. Millionen Chipkarten an die Bürger ge- Ludwigsburg CEM ÖZDEMIR bracht haben, müssen sich fragen, war- MdB/Bündnis 90/Die Grünen

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BRIEFE

Hier irrt Konrad Weiß: Nach dem Verein zur Förderung der Psychologi- schen Menschenkenntnis ist es nicht der Körperbau, der die Grundveranla- gung des Menschen und sein Verhalten bedingt. Huters Werk hat mit den In- halten des VPM überhaupt nichts zu tun. Zürich DR. MED. RALPH KAISER VPM

Jeden Sommer ein Erlebnis (Nr. 48/1994, Affären: Das Finanzdesa- ster des Schleswig-Holstein Musik Festi- vals – Interview mit Festivalgründer Ju- stus Frantz über die verschwundenen Millionen) Der entscheidende Aspekt, nämlich daß Justus Frantz mit großem Ideenreich- tum und mit Hingabe ein wundervolles Musik-Fest begründet und neun Jahre

M. LIMBERG / GAFF lang als Intendant geleitet hat, welches Deutsche, Ausländer: Wechselbad von Zugehörigkeit und Ausgrenzung in idealer Weise zugleich drei Zwecke erfüllte, kommt bei Ihnen nur am Ran- Der Luftballon „multikulturelle Gesell- Im feinen Zwirn de vor: Das Schleswig-Holstein Musik schaft“ fliegt nicht irgend jemandem vor (Nr. 47/1994, Schule: Manager sollen Festival hat Hunderttausende Konzert- der Nase herum, sondern ist eine Ent- Schulräte ablösen) besucher an die klassische Musik heran- wicklung, die sich nicht aufhalten läßt. geführt und ist für sie in seiner unproto- Der Vergleich mit dem „melting pot“ Superidee!Durch den Wegfall der Feind- kollarischen Improvisation jeden Som- Amerikas hinkt meiner Meinung nach, bilder im Osten ergeben sich hier völlig mer erneut ein Erlebnis gewesen. Viele weil ich mir unter einer Multi-Kulti-Ge- neue Arbeitsfelder für überflüssige Ma- junge Musiker aus vielen Ländern der sellschaft eine tolerante und emanzipier- nager aus der Rüstungsindustrie. Die Welt haben unter der Leitung von Welt- te Gesellschaft ohne Ghettos, Homeba- Schüler hätten endlich Führerpersönlich- klasse-Dirigenten – unter ihnen - ses und ungleiche Behandlung vorstelle. keiten und nicht diese schlaffen Pädago- stein, Menuhin und Celibidache – ge- Viernheim (Hessen) PHILIPP KISSEL gen vor sich, die immer nur vom friedli- lernt, im großen Orchester zu spielen. chen Diskurs sülzen. Die pädagogischen Für das Land Schleswig-Holstein war Eine Türkei, die ihre ethnischen Minder- Fähigkeiten der feinen Herren im Zwirn das Festival bisher die bei weitem beste heiten, lies Kurden, umsiedeln will und sind sicherlich enorm. Werbung, die viele Menschen angezo- dafür auch noch Geld aus dem europäi- Berlin KATJA SAI¨D gen hat, die nie auf den Gedanken ge- schen Wohnungsbaufonds verlangt, ge- kommen wären, nach Bayreuth oder hört nicht nach Europa und sollte drau- Jeder Lehrer, der seine Kritikfähigkeit nach Salzburg zu reisen. ßen bleiben. Auch die Armenier sind ja (noch) nicht eingebüßt hat, weiß, wie Hamburg HELMUT SCHMIDT „umgesiedelt“ worden. schwerfällig und praxisfern in den Schul- Herausgeber der Zeit Hamburg GÜNTER TIMM verwaltungen Kollegen herumwuseln, die oft nur kurze Zeit als Lehrer tätig wa- Das multikulturelle Modell, das den ren und deren Qualifikation für ihre je- Vorstellungen Cohn-Bendits (und ande- weiligen Ämter zumeist die treue Gefolg- rer) heimlich zugrunde liegt, ist ein schaft zu einer der beiden großen Partei- räumlich und zeitlich versetztes, ist das, en, die Zugehörigkeit zur GEW oder zum was er selbst vor 30 Jahren erlebt und ge- Deutschen Lehrerverband ist. lebt hat: das des 5. und 6. Pariser Arron- dissements. Und das ist in der Tat himm- Schleiden (Nrdrh.-Westf.) KARL J. LÜTTGENS lisch, denn da treffen sich in der schön- sten Stadt der Welt auf engstem Raum Europäer aller Nationen mit intellektu- Hier irrt Weiß ell aufgeschlossenen US-Amerikanern, (Nr. 48/1994, Debatte: Konrad Weiß mit den Söhnen südamerikanischer Di- über die neue Gewalt-Ästhetik aus Holly- plomaten und den Töchtern der traditi- wood) onsreichen asiatischen Familien und mit den Kindern der afrikanischen Häuptlin- Konrad Weiß behauptet, seit 1911 gei- ge, um gemeinsam über Barthes und La- sterte Carl Huters Psycho-Physiognomik can, Deleuze und Sollers zu diskutieren durch die Welt, die Nationalsozialisten und ab und zu einen Barrault aus seinem bauten sie in ihre Rassenlehre ein. Nach Theater zu vertreiben. Aber das ist na- Huter und seinen Nachfahren in dem türlich kein relevantes Modell für Gel- „Verein zur Förderung der Psychologi-

senkirchen-Schalke. Da gibt es keinen schen Menschenkenntnis“ sei es der Kör- TEUTOPRESS Barrault. perbau, der die Grundveranlagung des Festivalgründer Frantz Hannover ROLF WESTERMANN Menschen und sein Verhalten bedingt. Ideenreichtum und Hingabe

12 DER SPIEGEL 49/1994 Andere Angelegenheiten (Nr. 46/1994, Strafjustiz: Gisela Fried- richsen im Prozeß gegen den ehemali- gen DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel) Sie zitieren das Landgericht Berlin, das in seinem Eröffnungsbeschluß geschrie- ben hat, ich hätte einen Mandanten Rechtsanwalt Vogels in dessen Ausrei- seangelegenheit auch vertreten und da- für 15 000 Mark erhalten. Das Landge- richt irrt, ich habe es zu einer Berichti- gung seiner Darstellung aufgefordert. Jenen Mandanten habe ich in ganz an- deren Angelegenheiten vertreten und dafür lediglich das gesetzliche Honorar von 2292,94 Mark bekommen. Berlin REYMAR VON WEDEL Rechtsanwalt

Keinen Rat erteilt (Nr. 48/1994, Konzerne: Interview mit US-Professor Merton Miller über die Feh- ler der Deutschen Bank bei der Metall- gesellschaft) Merton Miller behauptet, die Deutsche Bank habe die Liquidierung der Ölge- schäfte der Metallgesellschaft angeord- net. Richtig ist, daß die Deutsche Bank zu keinem Zeitpunkt die Liquidierung der Ölgeschäfte der Metallgesellschaft angeordnet oder einen dahingehenden Rat erteilt hat. Miller behauptet ferner, zwei Vertreter von Metallgesellschaft und Deutscher Bank hätten ihn in sei- nem Büro in Chicago besucht. Richtig ist, daß Vertreter der Deutschen Bank an keinen Gesprächen mit Merton Mil- ler teilgenommen haben. am Main HELLMUT HARTMANN Deutsche Bank

Selbsternannter Philosoph (Nr. 40/1994, Zeitgeschichte: SPIEGEL- Gespräch mit dem Historiker Ernst Nolte über Hitler, Auschwitz und die Deut- schen; Nr. 46/1994, Debatte: Peter Gau- weiler zum Gespräch Rudolf Augsteins mit Ernst Nolte) Nolte sollte einmal bei Alice Miller („Am Anfang war Erziehung“) nachle- sen, wie Adolf Hitler in der Kindheit der Haß in den Leib geprügelt wurde. Ein psychisch zutiefst zerstörter Mensch hat die Macht bekommen, Millionen seinem Wahn zu opfern und einer der größten Massenmörder der Geschichte zu werden. Alles andere ist Geschwätz und verbale Brandstiftung. Hamburg KRISTIAN STEMMLER Auch unter Zuhilfenahme von Noltes verschleierndem Kontext dürfte es ver- dammt schwierig werden, den Amerika- nern (wie auch dem Rest der Welt) zu erklären, warum Deutschlands bekann-

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BRIEFE MNO tester Geschichtswissenschaftler im Na- 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 tionalsozialismus „positive Elemente“ CompuServe: 74431,736 . Internet: http://spiegel.nda.net/nda/spiegel findet. . HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 0138, Telefax 24 22 0138 Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Aveni- Dallas City (USA) CHRISTIAN BROST da Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. CHEFREDAKTEUR: Hans Werner Kilz (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- Dem selbsternannten Philosophen ge- STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . bührt das personifizierte Prädikat: „Der REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Berlin MATTIAS KOCH Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Nach Gauweiler soll es sich also bei Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- 587 4242 nek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans Hielscher, Wolf- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- „Verantwortung vor Gott, Auferste- gang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ul- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef hung der Toten“ und dem „ewig Leben“ rich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Kara- Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- um ein „Wissen“ handeln, und das dann sek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev auch noch „auf dem Boden der Aufklä- Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer rung“. Nur, warum nennt Gauweiler Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- Monika Zucht diejenigen, denen dieses „Wissen“ zu- colo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Mey- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- teil wurde, „gläubige Menschen“ und er-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, Mathias Müller bine Bodenhagen, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hune- von Blumencron, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jür- kuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa nicht „wissende Menschen“? Glauben gen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gunar Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas M. Peets, Gero Ortlepp, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Peter- Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard diese, etwas zu wissen, oder wissen sie, mann, Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger daß sie etwas glauben? Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Wolters Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Rosenheim GERHARD EHRL Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, orama, Außenpolitik, PDS, SPD, CDU (S. 36), SPIEGEL-Essay: Dr. Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthi- Thomas Darnstädt; für Polizei, Forum, Umwelt (S. 65), Stasi, Par- as Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. teien, Nazi-Erbe, Musik, Kernenergie: Christiane Kohl; für Demo- Stefan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, skopie: Heinz P. Lohfeldt; für Software, Werbung, Kiosk: Uly Foer- Olaf Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Die- ster; für Beschäftigung, Volkswagen, Autoversicherung, Chemie, ter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Trends, Subventionen, Exporte, Datennetze: Rainer Hupe; für Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Rechtsextremisten, Golf, Spectrum, Pop, Autoren, Fernseh-Vor- Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- ausschau: Hans-Dieter Degler; für Serie: Dr. Rolf Rietzler; für Pan- mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zu- orama Ausland, Rußland, Bosnien, Nato, Norwegen, Japan, ber Schweiz, Verbrechen: Dr. Romain Leick; für Aids, Prisma, Umwelt (S. 220), Medizin, Affären, Katastrophen, Kernkraft: Klaus Fran- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- ke; für Schriftsteller, Titelgeschichte, Szene, Kulturpolitik, Litera- gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe tur, Bestseller: Dr. Martin Doerry; für Fußball, Doping: Heiner Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter Schimmöller; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax . Manfred Weber; für Titelbild: Matthias Welker; für Gestaltung: 25 40 91 10 Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf Volker Fensky; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Chef Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- vom Dienst: Norbert F. Pötzl (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Hamburg) Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Alexander Szandar, Klaus Wirt- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich gen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, . Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Telefax 21 51 10 Dresden: Sebastian Borger, Christian Hab- der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille be, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. . von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich Bie- Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz- ger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Oststra- apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- ße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. . Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 Frankfurt a. M.: Peter Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, Anna Pe- fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, . tersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Rip- 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 ke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, An- Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- J. H. DARCHINGER 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Historiker Nolte Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- . BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Geschwätz und verbale Brandstiftung rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 Gauweilers sichtlich angestrengtes Be- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG mühen um Ausgeglichenheit in der Sa- Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. 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(009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. europäischen Juden historisierend zu er- Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, klären, sondern ihn erklärend zu histori- Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) sieren – kurz: ihn zu rechtfertigen. . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 Frankfurt am Main DR. SALOMON KORN Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, Mittelmäßig ist Gauweilers aufgewärm- fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) tes Angebot der christlichen Heilslehre. 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 226 30 35, Telefax 29 77 65 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner All die Bösen wußten nicht um den 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 rechten Glauben? 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. . 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14 DER SPIEGEL 49/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Außenpolitik stituts. Sie sollten im Auftrag des baden- Kinkel über württembergischen Umweltministers Ha- rald B. Schäfer (SPD) Dokumente über- Israel empört prüfen, welche die KWO-Betreiber – unter Bundesaußenminister Klaus anderen die Energie-Versorgung Schwa- Kinkel (FDP)hat Israel vor ei- ben AG – als Sicherheitsnachweis vorge- ner Belastung der Beziehun- legt hatten. gen zur Europäischen Union Dabei wurden gravierende Mängel festge- gewarnt. „Wenn Sie es nicht stellt. So fehlten klare Angaben über die lernen, mit uns zu arbeiten“, Eigenschaften der verwendeten Werkstof- drohte Kinkel vorvergange- fe in den Schweißnähten des Reaktor- nen Freitag Avraham Primor, druckbehälters. Insbesondere sei die für

dem israelischen Botschafter DPA die Sicherheit wichtige Core-Rundnaht am inBonn, dann werde es „zu ei- Kernkraftwerk Obrigheim Reaktordruckbehälter nur lückenhaft do- ner echten Krise“ kommen. kumentiert. Die Ausführung der Core- Kinkel ist verstimmt, weil er Atomkraft Rundnaht weiche zudem von den Vorga- bei der Unterzeichnung des ben ab, Zähigkeit und Festigkeit ließen Friedensabkommens Israels sich deshalb nicht bewerten. mit Jordanien am 26. Oktober Pfusch im AKW Schludrigkeiten bemängeln die Darmstäd- als Vorsitzender des EU-Mi- Die Betreiber des baden-württembergi- ter Gutachter auch beim Nachweis der nisterrates keine Rede halten schen Kernkraftwerkes Obrigheim „Sprödbruchsicherheit“ des Reaktordruck- durfte. Deutschland und die (KWO), des ältesten in der Bundesrepu- behälters. Die vorgegebenen Anforderun- anderen europäischen Län- blik kommerziell betriebenen Atomreak- gen seien nicht erfüllt, bestimmte Ereignis- der, so der deutsche Außen- tors, können die Sicherheit ihrer Anlage se, wie etwa eine Notkühlung, nicht kor- minister zu dem Diplomaten, nicht lückenlos nachweisen. Die Belastbar- rekt berechnet worden. würden aufBitten Israels stän- keit des Reaktordruckbehälters bei Störfäl- Ein lückenloser und aktualisierter Sicher- dig „die Kastanien aus dem len kann nicht beurteilt werden, weil offen- heitsnachweis war vom Stuttgarter Um- Feuer holen“. Die Europäer bar wesentliche Unterlagen und Berech- weltministerium jedoch in einem Auflagen- finanzierten den Friedenspro- nungen fehlen. Zu diesem Befund über die paket zur Voraussetzung für die Dauerbe- zeß im Nahen Osten „mehr als von Atomgegnern schon seit Jahren als triebserlaubnis des Reaktors gemacht wor- jeder andere“, ernteten dafür „Schrottreaktor“ kritisierte Anlage kom- den. Fazit der vertraulichen Darmstädter jedoch nur „Verachtung und men Gutachter des Darmstädter Öko-In- Expertise: Keine der Auflagen ist erfüllt. Geringschätzung. So kann es nicht weitergehen“, empörte sich der Kanzler-Stellvertre- Sie uns vor!“ Die israelische Geheimdienste hatte sich den Unmut des ter bei dem Botschafter. Be- Tageszeitung Maariv fragte BND zugezogen. Angeblich sonders aufgebracht war Kin- vergangene Woche, ob Kin- Wechsel sollte Pullach Kompetenzen kel, weil sein russischer Kolle- kel tatsächlich so „naiv und an Farwicks Amt abgeben, ge Andrej Kosyrew bei der unsensibel“ sei, sich nicht in der Führung das Auslandsaufklärung für Friedensfeier sprechen durf- vorstellen zu können, „wel- Bei den deutschen Nachrich- die Bundeswehr betreibt. te. Rußlands Beitrag zum ches Schauern es in jedem Is- tendiensten stehen personel- Friedensprozeß sei jedoch raeli hervorgerufen hätte“, le Veränderungen an der Olympia vergleichsweise dürftig gewe- wenn auf der Unterzeich- Spitze an. Nicht nur der Prä- sen. „Sogar die paar Rubel, nungszeremonie ausgerech- sident des Bundesnachrich- Druck durch die er hat, bekommt er von net „ein Vertreter Deutsch- tendienstes (BND), Konrad uns“, beschwerte sich Kinkel lands eine Begrüßungsrede“ Porzner, wird vermutlich Diepgen? bei Primor, „und ihn ziehen gehalten hätte. durch den derzeitigen Ver- Die Abwicklung der Ber- fassungsschutz-Chef Eckart liner Skandalfirma Olympia Werthebach abgelöst. Auch GmbH wird zum Fall Diep- beim Militärischen Ab- gen. Der Regierende Bürger- schirmdienst steht ein Wech- meister soll die Entlastung sel bevor. Im nächsten Jahr des Olympia-Geschäftsfüh- soll der bisherige Vizechef, rers und CDU-Parteifreun- Brigadegeneral Reibold, in des Axel Nawrocki im Auf- den einstweiligen Ruhestand sichtsrat der Firma mit unfei- versetzt werden. Sein Nach- nen Methoden durchgesetzt folger wird voraussichtlich haben. Das wirft ihm der bisherige Kommandeur Brandenburgs Finanzmini- der Panzergrenadierbrigade ster Klaus-Dieter Kühbacher 30, Oberst Klaus Hartmann. (SPD) in einem vertraulichen Der bisherige Chef des Am- Schreiben vor. Der branden- tes für Nachrichtenwesen der burgische Vertreter im Auf- Bundeswehr, Brigadegeneral sichtsrat habe sich von Diep- Dieter Farwick, ist von sei- gen „unter Druck gesetzt“ nem Posten ins niederländi- gefühlt. Die Olympia GmbH sche Brunssum zum Nato- war gegründet worden, um

H. LEVINE / SIPA Kommandobereich Europa- die Olympischen Spiele des Unterzeichnung des israelisch-jordanischen Friedensabkommens Mitte gewechselt. Farwick Jahres 2000 nach Berlin zu

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holen. Sie kam wegen Ver- schwendung von Steuergel- dern ins Gerede. Dennoch war Geschäftsführer Na- wrocki ohne Gegenstimme vom Aufsichtsrat entlastet worden und ist damit von etwaigen Haftungsansprü- chen freigestellt (SPIEGEL 48/1994).

Feuerwehr Teurer Europa-Anzug Die Innenminister der Län- der wehren sich gegen einen Fall von sinnloser Harmoni- sierungswut in der EU. Bun- desarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) hatte einer EU- Richtlinie zugestimmt, die künftig europaweit einheit- D. HOPPE / NETZHAUT Feuerwehrmann im Einsatz

liche Schutzkleidung für Feuerwehrleute vorschreibt. Diese Europanorm für Feu- erwehrschutzanzüge basiert auf dem britischen Konzept zur Brandbekämpfung. Da das Netz der Feuerwachen in der Bundesrepublik we- sentlich dichter ist als in Großbritannien, erreichen deutsche Feuerwehrleute den Brandort im Schnitt sehr viel früher. Deshalb halten die Innenminister den vorgeschriebenen „High- Tech-Anzug“ für nicht er- forderlich, zumal er mit rund 1000 Mark fast das Dreifache der deutschen Ausrüstung kostet. Auf Be- schluß der Innenminister- konferenz soll Arbeitsmini- ster Blüm nun dafür sorgen, daß deutsche Feuerwehrleu- te ihre gewohnten Anzüge behalten können.

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DEUTSCHLAND

Außenpolitik „WIE IN SOMALIA“ Schicken Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel deutsche Soldaten, 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zum Einsatz auf den Balkan? Die Nato fordert Bundeswehr-Tornados. Deutsche Truppen sollen auch helfen, falls die Vereinten Nationen ihre Blauhelm-Soldaten aus Bosnien evakuieren müssen.

ato-Generalsekretär Willy Claes nun endgültig der Bruch mit der bisher Wenn demnächst Tornados über Bos- tat so, als gebe es die Krise im At- geübten „Kultur der Zurückhaltung“ nien fliegen, sind deutsche Soldaten Nlantischen Bündnis gar nicht. Die (Kinkel) und eine jähe Wende in der wieder an einem Balkankrieg beteiligt – Bedeutung der Militärallianz werde Außenpolitik. Bisher war das ehemalige was vor allem bei den Serben bittere Er- „nicht vom Geschehen in Bosnien be- Jugoslawien wegen der deutschen Ok- innerungen an die Schläge der Luftwaffe stimmt“, so spielte der Belgier den tief- kupation und der Greuel im Zweiten wecken muß, etwa an den Terrorangriff gehenden Konflikt zwischen Amerika- Weltkrieg tabu für deutsche Soldaten. auf Belgrad am 6. April 1941. nern und Europäern um den künftigen Aus „historischen Gründen“, führte Und bald schon könnte es für die Balkan-Kurs herunter. „Eckstein“ der Bundeskanzler Helmut Kohl als Recht- Deutschen um noch mehr gehen – um Nato sei vielmehr die „Solidarität“, und fertigung an, hätten Truppen der Bun- die Beteiligung an Kampfeinsätzen am die hätten die Nato-Außenminister in deswehr in Bosnien und anderswo auf Boden. Vorige Woche berieten die Au- Brüssel soeben „bekräftigt“. dem Balkan nichts zu suchen. ßenminister geheime Notfallpläne der Da machte Klaus Kin- Nato-Militärs zur Evaku- kel eine gequälte Miene. ierung der Uno-Blauhel- Denn die Allianz ver- me in Bosnien. langt jetzt auch von Als „erste Adresse“ den Deutschen Solidari- für diesen Einsatz gel- tät. ten im Hauptquartier Hochoffiziell forderte von General Joulwan das Bündnis deutsche die neuen multinationa- Tornado-Bomber für sei- len Nato-Kampfverbän- ne Bosnien-Aktion im de. Ohne ihre deutschen Auftrag der Uno an. „Es Hubschrauber, Pioniere geht um die Frage und Transportkompa- Kampfeinsatz“, erschrak nien ist dieses Schnelle da der deutsche Außen- Eingreifkorps der Alli- minister. anz nichts wert. Deut- Der Nato-Oberbe- sche an die Front, zu fehlshaber in Europa, George Joulwan, hatte schon beim Bonner Ver- teidigungsministerium angefragt. Er wünscht mindestens sechs deut- sche Tornado-Kampfjets der Spezialversion ECR (Electronic Combat Re- connaissance), mit Stör- sendern und mit Raketen bestückt, welche die Ra- dargeräte der gegneri- schen Flugabwehr ver- nichten können. Die Tornados können auch Bomben auf zehn Meter genau in ihr Ziel- gebiet werfen, bei Tag und bei Nacht – eine per- fekte Waffe gegen ser- bische Artilleriestellun- gen.

Deutsche Kampfjets NATO PHOTO über Bosnien – das wäre Bündnispartner Claes, Kinkel, Tornado-Geschwader der Bundeswehr: Deutsche an die Front in

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Luft und am Boden? Der erste deutsche Kampfeinsatz in Uno- und Nato-Auf- Operationsgebiet Bosnien Stationierung und Nationalität von Uno-Blauhelmen trag ausgerechnet auf dem Balkan? ˘ Freidemokrat Kinkel windet sich: Er TOPUSKO OKUCANI GORNJI VAKUF, VITEZ ZENICA JELAH wolle einen deutschen Tornado-Einsatz Jordanien Nepal Großbritannien Türkei Großbritannien „nicht ausschließen“, druckste er in SLUNJ TUZLA Brüssel herum. Aber „ausgerechnet ge- Polen Skandinavien Krajina kroatien gen die Serben“ in den Kampf zu zie- CORALICI´ BANOVICI´ hen, „sollten wir uns sehr genau überle- Bangladesch Pakistan gen“. TITOVA KORENICA VARES˘ Andere haben da weniger Bedenken. Tschechien bosnien- Pakistan Verteidigungsminister Volker Rühe herzegowina (CDU) regte an, die Anfrage wegen der KLISA SREBRENICA Niederlande Kampfjets „ganz offen“ zu prüfen, und Rußland er empfahl, die gewünschte „Solidari- GRACAC˘ ZEPA tät“ mit den Alliierten zu üben. Es rei- Jordanien Ukraine che nicht, so Rühe kalt mit Blick auf BUGOJNO VISOKO Kinkel, „über Jugoslawien immer kluge Großbritannien Kanada Bemerkungen zu machen“. KONJIC GORAZDE˘ Tatsächlich erwiesen sich sämtliche Malaysia Großbritannien Sicherheitsinstitutionen gegenüber dem MOSTAR Krieg auf dem Balkan bislang als hilflos. Spanien Uno, KSZE, Nato haben die serbische Soldateska nicht gestoppt, die erst Slo- von Serben SARAJEVO wenen, Kroaten und dann Moslems mit von Moslems und Kroaten Frankreich Rußland Ägypten Krieg überzogen. gehaltene Gebiete Großbritannien Ukraine Auch die Deutschen neigten bislang zu folgenloser Kraftmeierei: Uno und gerkrieg, die Moslems, hätten Anrecht verwandelten die Serben die Uno- Nato würden „die Serben in die Knie auf Hilfe. Schutzzone Bihac´ in eine Todeszone. zwingen“, hatte Außenminister Kinkel Nun aber schlägt die Clinton-Regie- Hunderte Zivilisten starben in der Mos- zu Beginn des Bürgerkriegs in Bosnien rung vor, den serbischen Kriegstreibern lem-Enklave unter dem Dauerfeuer der und Kroatien getönt. auf einer Friedenskonferenz lieber wei- serbischen Artillerie, Zehntausende Krieg als Mittel der Politik aber tere Konzessionen zu machen: Die bos- sind geflüchtet. scheint sich in Südosteuropa durchzuset- nischen Serben könnten sich zu einer Einheiten des serbischen Generals zen – es sei denn, es ereignet sich doch Konföderation mit Rest-Jugoslawien zu- Ratko Mladic´ nahmen über 400 Blau- eine militärische Wende. Belgrads Slo- sammenschließen, falls sie zuvor dem helm-Soldaten als Geiseln, alle Uno- bodan Milosˇevic´ und sein Statthalter in internationalen Teilungsplan für Bos- Konvois mit Lebensmitteln und Medi- Bosnien, Radovan Karadzˇic´, stehen nien-Herzegowina zustimmen. kamenten für die eingeschlossene Zivil- schon kurz vor ihrem Ziel – einem groß- Kurswechsel oder Finte? Noch ist je- bevölkerung wurden gestoppt. serbischen Staat als Hegemonial- und der Versuch der Vermittler, die Serben Die größte Demütigung mußte Uno- Ordnungsmacht auf dem Balkan. zu Zugeständnissen zu verleiten, kläg- Generalsekretär Butros Butros Ghali Die Großmacht USA scheint mehr lich gescheitert. über sich ergehen lassen. Er war vorige denn je hin- und hergerissen. Zwei Jah- Selten zuvor sind Uno und Nato der- Woche nach Sarajevo geflogen, um ei- re lang hatten die Amerikaner dafür plä- art gedemütigt worden wie in Bosnien. nen Waffenstillstand zu vermitteln. Ser- diert, die Schwächsten in diesem Bür- Unter den Augen der Friedenshüter benführer Karadzˇic´ verlangte Aufwar- IMO Bosnien – zu Luft und am Boden, mit Tornados, Panzern oder Fallschirmjägern?

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tung in seiner Bergfeste Pale und dachte gar nicht daran, sich zum Flugplatz Sarajevo zu bequemen. Das war selbst dem geduldigen Ghali zuviel. Erstmals drohte er, daß die Friedensmission abgebrochen werden könnte – „wie in Soma- lia“. Die Uno, so erklär- te Ghali der bosnischen Führung, denke bereits über den Rückzug ih- rer 24 000 Blauhelme nach. Der endlose Bürger- krieg in Bosnien und das

Desaster der Diploma- SÜDD. VERLAG tie – können die Deut- Waffen-SS in Jugoslawien (1941): Erinnerung an Terror schen da abseits stehen? Aber wollen sie sich andererseits kriege- material zukommen zu lassen, standen wurf der Nato-Partner, stehle sich aus ge- risch engagieren? Kanzler Kohl und Außenminister Kin- meinsamen Beschlüssen davon und un- Auch in Deutschland nimmt die Zahl kel zunächst Seite an Seite mit den terminiere damit das Bündnis. der Interventionsbefürworter zu – quer Amerikanern. Die anderen Europäer, Ändert die Nato ihre Haltung im Bür- durch die politischen Lager. Die Grü- voran Briten und Franzosen, wehrten gerkrieg, muß sie für die Folgen gerade- nen Werner Schulz, Waltraud Schoppe ab. Am Ende mußte Kohl einsehen: stehen: Wird das Embargo zugunsten der und Gerd Poppe riefen, zum Entsetzen „Wir stehen allein.“ Moslems aufgehoben, bleibt nur, die pazifistisch gesonnener Parteifreunde, Etliche Amerikaner legen der Nato Uno-Blauhelme sofort abzuziehen. dazu auf, die Aggression der Serben jetzt den Rollentausch nahe: Sie soll Sonst geraten sie zwischen die Fronten, müsse „gestoppt und Verhandlungen vom hilflosen Helfer der Uno zum oder sie können von Serben wie Moslems müssen erzwungen werden“. Auf die Kriegsverbündeten der Bosnier und als Geiseln genommen werden. Frage, wer das wie machen soll, haben Kroaten werden. Im Moment stünden Auch imAuswärtigen Amt warnen Ex- sie allerdings keine Antwort. die Uno-Truppen, so der republikani- perten vor einem Ende des Waffenem- Unions-Fraktionschef Wolfgang sche Senator Richard Lugar, zwar auf bargos: Noch ehe die Moslems mit Schäuble wußte da Rat: Aufhebung des dem Balkan, „aber nur, um die Opfer zu Kriegsmaterial versorgt wären, würden Waffenembargos für die Moslems. Waf- füttern, nicht um zu kämpfen“ (siehe die Serben zu einem massiven Schlag aus- fen aus Deutschland bot aber auch er Seite 150). holen. Der Zivilbevölkerung bliebe ein- nicht an, immerhin ist der Balkan ein Doch Briten wie Franzosen sind nach zig die Flucht – und Deutschland als be- „Spannungsgebiet“. wie vor gegen die Verwandlung der vorzugter Fluchtpunkt. Die Bundesregierung tut sich schon Nato in eine Kriegspartei. Denn sie ha- Er habe „Angst vor dem Tag“, an dem länger schwer mit dem Waffenembargo. ben, anders als die Amerikaner, gut das Waffenembargo aufgehoben werde, Anfang vorigen Jahres, als Washington 8000 Soldaten auf dem Kriegsschau- bekennt Kinkel: „Ein militärischer Flä- erstmals erwog, den Moslems Rüstungs- platz. Washington, so der schwere Vor- chenbrand und Chaos wären nicht auszu- schließen.“ Auch er sei „moralisch- ethisch“ ganz auf Linie der Amerikaner, sagt Kinkel. Aber auf keinen Fall würden die Deutschen „aus dem europäischen Geleitzug ausbrechen“. Ende des deutschen Sonderwegs? Die Militärs bereiten bereits die Konsequen- zen vor. Zwischen 20 000 und 50 000 Nato-Sol- daten sollen den Uno-Blauhelmen mit Waffengewalt zu Hilfe kommen, je nach- dem, wie „feindselig das Umfeld“ für die Blauhelme sei, heißt es in Brüsseler Plan- spielen. Dafür verantwortlich ist ein Deutscher: der Chef des Stabes im Hauptquartier, General Peter Heinrich Carstens. Wenn es denn sein muß, sollen dieNato-Truppen, sodasKonzept, durch Kroatien marschieren, in Bosnien Stra- ßen freikämpfen und Flugfelder beset- zen. Präpariert für solch einen Einsatz ist nur das Schnelle Eingreifkorps (ARRC) DPA Feldübung des Schnellen Eingreifkorps der Nato*: Feindseliges Umfeld * 1993 in Sennelager bei Paderborn.

20 DER SPIEGEL 49/1994 DEUTSCHLAND der Nato, an dem 13 Länder beteiligt Aus zehn Divisionen zwischen Eng- Bevor Kohl und Kinkel deutsche Tor- sind. Das Hauptquartier liegt in Rhein- land und Anatolien kann der briti- nados, Panzer oder Fallschirmjäger auf dahlen bei Mönchengladbach, im sche ARRC-Kommandeur Sir Jeremy den Balkan schicken dürfen, müßte das Stab sitzen viele Offiziere der Bundes- Mackenzie Truppen anfordern. Die Parlament, so verlangt es das Bundes- wehr. deutschen Panzerbrigaden 9 und 21 ge- verfassungsgericht, einen solchen Auf- Das vor zwei Jahren aufgestellte Korps hören dazu. Kernstück ist eine Multina- trag billigen. absolvierte im Februar seine erste große tionale Division, die ihr Hauptquartier Die Sozialdemokraten bleiben beim Stabsübung. Das „Szenario“ kam der La- ebenfalls in Rheindahlen hat. Sie be- grundsätzlichen Nein, gab Bundesge- ge in Ex-Jugoslawien recht nahe: Ein steht aus der Oldenburger Fallschirmjä- schäftsführer Günter Verheugen bereits Vielvölkerstaat zerbricht, Bürgerkrieg gerbrigade 31, aus britischen, belgischen zu Protokoll. zwischen ethnischen Minderheiten und niederländischen Verbänden. Doch hat die Regierung ja die parla- flammt auf, eine Uno-Truppe erweist Militärisch sind die Deutschen zum mentarische Mehrheit. Und Bellizisten, sich als überfordert, das Eingreifkorps Einsatz bereit, die politischen Voraus- die ehedem Pazifisten waren, gibt es in marschiert ein und schafft Ordnung. setzungen fehlen noch. allen Parteien. Y

KOMMENTAR Nato, Bonn und Bihac´ OLAF IHLAU

etzt ist auch in Bonn die Stunde barei an seiner Südflanke. Doch die verwehrt die Weltgemeinschaft den der Betroffenheitsroutiniers. Sie allabendlichen Fernsehbilder der Moslems das Recht auf hinreichende Jmelden sich zur bosnischen Tra- Balkan-Greuel lassen Empörung Selbstverteidigung? gödie zu Wort. Melodramatisch oder aufwallen über das Schauspiel der In den vier Jahren dieses Balkan- markig in einem Diskurs voller Heu- Impotenz, das Uno-Friedenskom- Kriegs beeindruckte die serbischen chelei. missare mit tapsigen Nato-Hilfsshe- Ultras stets nur Härte. Sie zuckten Über die „Schande für Europa“ riffs vollführen. zurück, wurde militärische Gegen- schäumt der Kanzler mit Blick auf Nur eine Verhandlungslösung macht glaubhaft gegen sie mobili- das Gemetzel in der Moslem-Enkla- komme in Betracht, sagen die Au- siert. Das war unter der Androhung ve Bihac´. Tat er das nicht auch bei ßenminister der zerstrittenen westli- von Nato-Luftschlägen in Sarajevo so der Kanonade auf Sarajevo oder Du- chen Allianz. Also noch eine Jugo- und auch im Ringen um Gorazˇde. brovnik? slawien-Konferenz, noch ein Frie- Könnte die Aufhebung des Waf- Verteidigungsminister Volker Rü- densplan in dem wirren Kalkül, fenembargos, eine Aufrüstung der he fordert eine Bonner Politik der Großserbien werde mit ein paar Ap- Moslems somit die Serben zur Räson „klaren Stoppsignale“ gegen die ser- peasement-Happen mehr der Hege- bringen? Vielleicht. Zunächst wer- bischen Aggressoren. Ist er bereit, monial-Appetit schon vergehen? den die Leichenberge aber wohl noch deutsche Soldaten als Signalgeber Schon sind Kinkel und sein russi- wachsen. Und schon die Ankündi- einzusetzen? scher Co-Frater Kosyrew bereit, gung droht den Teufelstanz aller ge- Und Unions-Fraktionschef Wolf- dem serbischen Präsidenten Milosˇe- gen alle, die massenhafte Geiselnah- gang Schäuble hält die Aufhebung vic´ die Gloriole der letzten Hoffnung me von Uno-Blauhelmen auszulö- des Waffenembargos gegen die Mos- zuzugestehen. sen. Trotz aller diplomatischen Ve- lems für erwägenswert, denn: „Wer Wenn Kinkel erklärt, unter den xierspiele bereiten Nato-Militärs des- nicht helfen kann, darf Selbsthilfe Verbündeten gebe es niemanden, halb bereits die Logistik für den Not- nicht verhindern.“ der in Bosnien Kampftruppen einzu- fall einer blutigen Evakuierung vor. Wer wollte diesen harschen Ru- setzen bereit sei, hat er gewiß recht. Gefaßt beim Portepee der Bei- fen widersprechen? Außenminister Nur: Das wissen auch die Serben. standspflicht, würden unversehens Klaus Kinkel tut es, mit ihm tutti Was aber sollte sie dann veranlas- auch die Deutschen über das Schnelle quanti die sogenannten Realpoliti- sen, ihren Vormarsch abzubrechen Eingreifkorps der Nato in den Bal- ker. Ihr Vorhalt: Mehr Waffen für und, so ihr historisches Trauma, im kan-Sog geraten. Jedenfalls dürfte Moslems mehrten das Leid, führten Friedensschluß den Sieg der Waffen der bequeme Verweis auf die „be- zu „militärischem Flächenbrand und zu verspielen? kannten historischen Gründe“ Chaos“. Und was herrscht jetzt? Sol- Als in Afghanistan die Amerika- (Kohl), die Deutschland den Einsatz len die Opfer der großserbischen Ex- ner den islamischen Glaubenskrie- auf dem Balkan verwehren, den Part- pansion sich doch damit abfinden, gern „Stinger“-Raketen gegen die nern der Allianz als Entschuldigung weiter vertrieben oder getötet zu sowjetischen Kampfhubschrauber fürs Beiseitestehen schwerlich genü- werden. verschafften, war dies militärisch die gen. Fortdauernder Völkermord und Wende im Konflikt am Hindukusch. Die Anforderung deutscher ethnische Vertreibungen sind die be- Am Ende stand der Abmarsch der „Tornado“-Kampfflugzeuge zum wußt in Kauf genommene Konse- roten Supermacht. Bosnien-Einsatz der Nato schafft quenz der diplomatischen Agonie Unbedrängt feuern heute serbi- Entscheidungsdruck. Die Zeit der um Bosnien. Am liebsten würde sich sche Panzerkanonen in das Tal von Rituale und leeren Gesten ist vorbei. ja jener Teil Europas, der sich für zi- Bihac´, den Verteidigern dort fehlen Bonn muß sich von seiner Sonderrol- vilisiert hält, abwenden von der Bar- schwere Waffen. Mit welcher Moral le verabschieden.

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DEUTSCHLAND

Geld. Außerdem rechnete das Finanz- sächliche Steuerschuld der PDS unter PDS amt der Partei Zuweisungen an ihre Wirt- 30 Millionen liegt. „Eine realistische schaftsbetriebe an. Die Zentrag, PDS- Forderung“, so Kurth, „bewegt sich im Holding für Zeitungen und Druckereien, deutlich zweistelligen Millionenbe- erhielt zum Beispiel 80 Millionen DDR- reich.“ Kühle Logik Mark. Wahrscheinlich müßte die nicht ein- Die CDU-geführte Finanzbehörde er- mal die PDS begleichen. Da die Steu- Die PDS weigert sich, 67 Millionen rechnete für das letzte DDR-Halbjahr ei- erschuld altes SED-Vermögen betrifft, Mark Steuern nachzuzahlen. Der nen Gewinn von 192 589 239 Ost-Mark. das die Treuhand verwaltet, würde sie Davon sollte die Körperschaftsteuer, die auch aus diesem Topf bezahlt. Nur Zoff ums Geld ist eine Politposse. jedes normale Unternehmen auch zahlen Hans-Jürgen Papier, Chef der Unab- muß, überwiesen werden. Die Beamten hängigen Kommission Parteivermögen, ür den DDR-Schauspieler Erwin kamen auf eine Summe von 67 400 142 sperrt sich. Jede Steuerzahlung min- Geschonneck, 87, war es ein spätes Mark West-Währung. dert die Summe, die seine Kommission FEngagement. Die Genossen vom Die PDS-Führung hat die Horrorzahl für gemeinnützige Zwecke verteilen PDS-Parteivorstand hatten ihn, den ein- selbst provoziert. 1992, als sich die West- kann. Er fürchtet die „Gefahr erheb- stigen Publikumsliebling, an der Seite Berliner Beamten zum erstenmal für die licher Weiterungen“, wenn etwa von Gregor Gysi und Lothar Bisky pro- Gysi-Partei interessierten, sah das Zah- auch für den abgewickelten Gewerk- minent plaziert. lenwerk noch ganz harmlos aus. Die Fi- schaftsbund FDGB Millionen an Der rote Altstar und Überlebende der nanzbeamten stellten zunächst nur eine Steuern nachgezahlt werden müß- NS-Konzentrationslager gab sich im Steuerschuld von 3,2 Millionen Mark ten. Berliner Abgeordnetenhaus kämpferisch wie zu alten Zei- ten. Sein Gegner diesmal: das Berliner Finanzamt. Den Be- amten, die von der PDS eine Steuernachzahlung in Höhe von 67 Millionen Mark verlan- gen, müsse man „demokrati- schen Widerstand“ entgegen- setzen. Der Chef der Bundestags- gruppe, Gysi, aus Protest be- reits in den Hungerstreik ge- treten, legte nach. Er sah „eine neue Staatskriminalität“. Der PDS-Parlamentarier und Schriftsteller Stefan Heym zog die unvermeidliche historische Parallele, als er eine „verdeck- te Variante des Sozialistenge- setzes Bismarckscher Prä- gung“ witterte. Bonn reagierte planmäßig schroff. „Geschmacklose Gau- kelei“, schimpfte CDU-Gene-

ralsekretär Peter Hintze. Sein PRESSEFOTO MROTZKOWSKI Parteifreund, Innenminister Hungerstreikender Gysi (im Berliner Abgeordnetenhaus): „Neue Staatskriminalität“ Manfred Kanther, empörte sich über „die bodenlose Frechheit“ der fest. Die PDS weigerte sich zu zahlen. Die PDS könnte das Problem mitweni- Gysi-Truppe: Erst habe die SED die Eine Betriebsprüfung wurde fällig. gen Blatt Papier aus der Welt schaffen. DDR ausgesaugt, jetzt protestierten ih- Wieder stellte sich die PDS stur. Sie müßte nur eine ordentliche Steuerer- re Erben gegen Rückzahlungspflichten. Trickreich verwehrte die Gysi-Truppe klärung abgeben und – wie jedes Unter- Die Aufgeregten beider Seiten wissen dem Betriebsprüfer genaue Einblicke in nehmen auch – mit Unterlagen belegen, es besser. Der Empörung haftet, hüben Bücher und Konten. Die Finanzbehörde wie hoch oder wie gering die Gewinne wie drüben, das Scheinheilige an. Was rächte sich auf ihre Art. tatsächlich waren. aussieht wie richtige Politik, schrumpft Plötzlich schnellte die Steuerschät- Das könne sienicht, argumentieren die bei genauem Hinsehen zur Posse. zung von gut 3 Millionen auf nun 67 Mil- Parteifunktionäre, die Akten seien ver- Der handgeschriebene Bescheid der lionen Mark hoch. Eine „wundersame schwunden oder lägen bei der Treuhand, Berliner Behörde, Steuernummer Steuervermehrung“, wie ein hoher Be- seit 1990 bei Razzien Polizisten kisten- 611/878, liegt der PDS seit dem 4. No- amter spottet, die auch beim Berliner weise Unterlagen aus der PDS-Zentrale vember vor. Das Papier folgt in weiten Finanzgericht „zu ernsthaften Zweifeln holten. Das wolle sie nicht, sagen Mit- Teilen der kühlen Logik deutscher Fi- an der Rechtmäßigkeit“ führte. glieder der Unabhängigen Kommission, nanzbeamter. Selbst der zuständige Finanzstaatsse- die das Vermögen der DDR-Parteien Die Honecker-Erben haben in der er- kretär Peter Kurth hält mittlerweile die überprüft. Denn dann müßte die PDS of- sten Hälfte des Jahres 1990 beim Ver- Forderung seines Hauses für „zu hoch“. fenbaren, was nach der Wende an Ver- kauf von Immobilien aus SED-Besitz Eine neue Festsetzung der Steuerschuld mögensschiebereien gelaufen ist. riesige Summen kassiert. Auch das Ver- scheint auch ihm unvermeidlich. Reinhard Krämer, grünes Mitglied der scherbeln von Mobiliar aus parteieige- Interne Berechnungen der Berliner Unabhängigen Kommission, fragt des- nen Heimen und Gästehäusern brachte Finanzbehörde ergeben, daß die tat- halb spitz: „Was hat die PDS eigentlich zu

22 DER SPIEGEL 49/1994 . A. SCHOELZEL Razzia in der Berliner PDS-Zentrale 1990: Alle Akten weg?

verbergen, wenn sie durch Hunger- In Dresden entschlossen sich mehrere streiks und Besetzungen das Vorlegen Landtagsabgeordnete zur Fastenkur, einer Steuererklärung verhindern will?“ sächsische PDS-Anhänger besetzten PDS-Chef Bisky fragt ebenso spitz zu- kurzerhand das Parlament. Das rück: „Warum werden die Vermögen Dresdner Finanzamt hatte dem Landes- von Ost-CDU und Ost-Liberalen nicht verband ebenfalls einen Steuerbescheid genauso besteuert wie wir? Warum die- über 670 000 Mark zugestellt. „Unsere se Sonderbehandlung für die PDS?“ Mitglieder“, freut sich die Landtagsab- Den Spitzenpolitikern von CDU und geordnete Christine Ostrowski, „stehen PDS, die die Politposse durchschauen, wie ein Mann.“ kommt das Tohuwabohu um Geld und Um die angeblich „drohende Enteig- Steuer gerade recht. Der Zoff schärft nung der Partei“ (Neues Deutschland) das Profil. zu verhindern, stellten die Frankfurter Die Berliner CDU plant für die Wah- Genossen Mahnwachen auf. Ein 66jäh- len zum Abgeordnetenhaus im kom- riger kippte im Potsdamer Büro des menden Oktober einen aggressiven PDS-Fraktionschefs Bisky um und blieb Anti-PDS-Wahlkampf. Der Steuerstreit tot liegen. Die Aufregung hatte den al- bringt da die richtige Einstimmung. ten Kämpfer dahingerafft. Die PDS ihrerseits, durch immer neue Nur einer blieb in der Woche der Wut Stasi-Enthüllungen gepeinigt, meint sich ganz still – der PDS-Ehrenvorsitzende als verfolgte Unschuld präsentieren zu Hans Modrow, 66. Von ihm war kaum können. In Ostdeutschland rollte Mitte ein Muckser zu hören. vergangener Woche die parteieigene Als letzter SED/PDS-Ministerpräsi- Protestlawine los. Der PDS, klagt der dent der DDR hatte er im Februar 1990 Brandenburger SPD-Mi- jene Steuerregeln in nisterpräsident Manfred Kraft gesetzt, die nun den Stolpe, werde es allzu Streit auslösten. Sein leicht gemacht, sich „als DDR-Parteiengesetz un- Märtyrer darzustellen“ terwarf die bisdahin steu- (siehe Seite 24). erfreien Wirtschaftsbe- Unter roten Fahnen triebe der DDR-Parteien und wuchtigen Transpa- erstmals der Körper- renten („Hände weg von schaftsteuer. Darauf be- der PDS“) marschierten rufen sich jetzt die Berli- Tausende von Ex- und ner Finanzbehörden. Heute-noch-Kommuni- Damals leuchtete die sten am Donnerstag Begründung für das Par- abend durch Ost-Berlin. teiengesetz allen ein: Gysi und Bisky, beide „Die Zeit der Privile- Liebhaber der patheti- gien“, hieß es in der schen Pose, ketteten sich Volkskammer, „ist jetzt im Gebäude der Kom- vorbei.“ Auch die SED/

mission an den Heizkör- B.+ H. HEINZ PDS-Abgeordneten pern fest. Kommissionschef Papier klatschten Beifall. Y .

DEUTSCHLAND

SPIEGEL-Gespräch „Mit der PDS rechnen“ Der brandenburgische Regierungschef Manfred Stolpe (SPD) über Ost-West-Gegensätze in seiner Partei

Stolpe: Wenn „Umbau“ heißt, unverschuldet zu Empfängern von Arbeitslosenhilfe geworde- ne Leute befristet in die Sozial- hilfe zu drücken, dann ist das mit uns nicht zu machen. Das gilt auch für den Versuch, Arbeitsförderungsmaßnahmen weiter zurückzufahren. Jetzt über den Mißbrauch von Sozi- alleistungen nachzudenken ist für uns im Osten kein Einstieg in den Umbau. Bei uns ist der Regelfall nicht der Mißbrauch, sondern die Not von rund 200 000 Menschen. SPIEGEL: Mit Sparüberlegun- gen macht es die SPD der PDS noch leichter, die im Osten ganz unbefangen nach Miet- stopps und Beschäftigungspro- grammen ruft. Stolpe: Der Bundes-SPD kann ich nur raten, gesamtdeutsche Politik nicht mit westdeutscher Innenpolitik zu verwechseln. Sonst wächst die Gefahr, daß wir hier eine eigene sozialde- mokratische Politik in Ost- deutschland machen müssen.

FOTOS: M. DARCHINGER SPIEGEL: Wie würde die sich Sozialdemokrat Stolpe: „Der Zusammenhalt der Partei steht auf dem Spiel“ vom Westkurs der Partei unter- scheiden? SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Ru- „Modernisierungsverlierer“ gegenüber Stolpe: Unsere Bevölkerung ist fast dolf Scharping hat von der SPD neue der PDS wird? durchgängig ohne große Vermögenswer- Prioritäten verlangt: Die Partei dürfe Stolpe: Wenn wirklich versucht werden te in die Einheit hineingegangen. Über nicht länger Betriebsrat der Gesellschaft sollte, eine solch einseitige Linie zu fah- die Hälfte hat ihre Arbeitsplätze verlo- sein, sondern müsse sich deutlicher für ren, wie sie aus Äußerungen Scharpings ren. Viele wurden gedemütigt durch eine den Wirtschaftsstandort Deutschland herausgelesen werden kann, gibt’s ent- unsensible Politik mit westdeutschen An- stark machen. Wie klingt das für die schlossenen Widerstand der Sozialdemo- sätzen: nicht anerkannte Berufsbilder, Ost-Genossen? kraten aus dem Osten. Aber ich kann mir unterschiedliche Renten- und Eigen- Stolpe: Wir brauchen nicht aufgeklärt nicht vorstellen, daß Scharping das wirk- tumsregelungen. Dazu zähle ich auch die zu werden, daß wir auf Dauer eine wett- lich so gemeint hat. Zweiklassenüberprüfung durch die bewerbsfähige Wirtschaft aufbauen SPIEGEL: WarenSiealsständigerGastdes Gauck-Behörde: Alle Ostdeutschen müssen. Und seit der Wende wird Präsidiums einbezogen in den Prozeß der wurden gecheckt, die Westdeutschen die Modernisierung des Standortes neuen Kursbestimmung? nicht. Dabei kamen die krassesten Spio- Deutschland im Osten auch von uns vor- Stolpe: In dieser konkreten Form und in nagefälle gerade von Westdeutschen. angetrieben wie sonst wohl nirgendwo. dieser entschlossen wirkenden Gesamt- SPIEGEL: Es gibt Vorstellungen in der Wir werden im Osten nicht mitmachen, haltung kam das zu diesem Zeitpunkt für Ost-SPD, das Stasi-Unterlagen-Gesetz wenn sich die SPD in erster Linie als mich überraschend. zu ändern und die Regelanfrage abzu- Partei der Leistungsträger und Wirt- SPIEGEL: Immerhin zeugt der Alleingang schaffen. schaftsmodernisierer verstehen sollte. ja von Scharpings Führungsstärke. Stolpe: Und es gibt die Amnestiefrage. Modernisierungskurs ja, aber nicht auf Stolpe: Mitbestimmung der ostdeutschen Das sind alles Themen, die angegangen Kosten der Schwachen. Sozialdemokratenmuß sein.Wennsieun- werden müssen, weil sie die Leute im SPIEGEL: Haben Sie Sorge, daß die Ost- terbleibt, sehe ich schwarz. Der Zusam- Osten umtreiben. SPD durch Scharpings Schwenk zum menhalt der Partei steht auf dem Spiel. SPIEGEL: Fordern Sie die Generalamne- SPIEGEL: In der SPD drängt man auf stie? Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure „sozialen Umbau“. Wo kann in Ost- Stolpe: Wenn wir jetzt mit dem Thema Gabor Steingart und Klaus Wirtgen. deutschland gespart werden? kommen, wird es zerredet: Im Frühjahr

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stehen Wahlen in Hessen und in Nord- rhein-Westfalen an. Wir werden im Sommer initiativ werden. SPIEGEL: Wie könnte eine solche Amnestie aussehen? Stolpe: Generalamnestie ist eine schwierige Sache. Wir müssen Anfang 1995 sorgfältig prüfen, was rechtlich zu vertreten und was politisch geboten ist. Auf Sicht wird es gut sein, noch in diesem Jahrzehnt einen generellen Schlußstrich zu ziehen. Alles, was an Nacharbeit – strafrechtliche Vergehen immer ausgenommen – läuft, behindert das Zusammenwachsen. SPIEGEL: Sind die vielen anstehenden Prozesse gegen die Führungsgarde der SED, gegen Leute wie Egon Krenz und Günter Schabowski, noch oppor- tun? Stolpe: Politisch sind sie Unfug. Damit wird nur der Fortbestand der PDS bis Genossen Stolpe, Scharping: „Entschlossener Widerstand aus dem Osten“ ins nächste Jahrzehnt gesichert. SPIEGEL: Sollte die SPD gegensteuern? Schmidt Anspruch auf den stellvertre- stimmt – zuletzt in der vorigen Woche Stolpe: Die SPD ist bis zur Stunde tenden Parteivorsitz erheben? bei der Wahl Oskar Lafontaines zum nicht aus der reinen Reaktionshaltung Stolpe: Ich werde nicht den Finger he- Vorsitzenden des Vermittlungsaus- gegenüber dem von der CDU organi- ben. schusses. sierten Rote-Socken-Spiel herausge- SPIEGEL: Sie wollen gerufen werden? Stolpe: Wir Ostdeutschen hätten unsere kommen. Im Interesse der Integration Stolpe: Wenn die Partei den Eindruck Interessen bei dem Hamburger Bürger- in Deutschland müßten sich beide gro- hat, daß ostdeutsche Präsenz an der meister Henning Voscherau mindestens ßen Parteien über eine Generalamne- Spitze neben dem stellvertretenden genausogut aufgehoben gesehen. Doch stie verständigen. Die CDU hat ja im Vorsitzenden Wolfgang Thierse ver- wir haben uns der Räson gebeugt und Osten auch erheblich an die PDS ver- stärkt werden müßte, wäre ich der letz- tragen den Vorschlag von Johannes Rau loren. te, der sich dem entzieht. Wir müssen mit. SPIEGEL: Fühlen Sie sich trotz Ihrer jede Gelegenheit nutzen, uns an SPD- SPIEGEL: Muß die SPD damit rechnen, Biographie berufen, das Thema Amne- Entscheidungen zu beteiligen. Ich will daß Sie im Bundesrat wie einst beim stie in der SPD anzuschieben? mitwirken, daß nicht nur westdeutsch Streit um die Erhöhung der Mehrwert- Stolpe: Ich brauche nicht den Fahnen- entschieden wird von Leuten, die sich steuer gegen die Parteilinie stimmen? träger zu machen. Aber ich werde dar- seit 20 Jahren so gut kennen, daß sie Stolpe: Hoffentlich läßt sich diese Situa- auf achten, daß im ersten Halbjahr sich im Präsidium zur Verständigung tion vermeiden. Unsere zarten Hinweise 1995 etwas passiert. Wir haben jetzt nur noch Zahlen zuzuwerfen brauchen. wurden seinerzeit in Fraktion, Vorstand die Chance, auf unsere Fragen auf- Das habe ich allmählich begriffen. An- und Präsidium überhört oder nicht ernst merksam zu machen. Die Sozialdemo- dere Vorstellungen einzubringen, das genommen. Deswegen werden wir uns kraten in Ostdeutschland sind nach sind wir der Partei schuldig, auch auf die künftig frühzeitiger und lauter zu Wort den jüngsten Wahlen stärker gewor- Gefahr hin, als Störer vom Lande ange- melden. den. sehen zu werden. SPIEGEL: Wie ist es zum Beispiel bei der SPIEGEL: Werden Sie wie die SPIEGEL: Bislang wurden Sie ja mit Steuerreform: Die SPD wehrt sich ge- bayerische Landesvorsitzende Renate Ihren Vorstellungen wiederholt über- gen die Koalitionspläne, Kinderfreibe- trag und Kindergeld für Geringverdie- ner auch weiterhin zu koppeln. Die Plä- ne der Koalition sind andererseits für die Länder billiger. Stolpe: An der Ecke stehen wir ganz kri- tisch. Das Thema ist in der Tat virulent. SPIEGEL: Mit dem SPD-Plan – 250 Mark für jedes Kind – hat auch die Ost-Partei Wahlkampf gemacht. Jetzt gehen Sie auf Distanz. Ist das nicht Wählertäu- schung? Stolpe: Wir werden in jedem Fall vor dem Schwur zweimal nachdenken. SPIEGEL: Mit dem in Brandenburg aus- gelobten „Begrüßungsgeld“ für Neuge- borene belasten Sie doch schon den Landesetat. Stolpe: Das ist der Versuch, den Eltern ein bißchen Mut zu machen. SPIEGEL: Mit Ausnahme von Sachsen,

A. SCHOELZEL wo die CDU mit absoluter Mehrheit re- Gesprächspartner Stolpe, Bisky: „Verteufeln wäre unehrlich“ giert, verfügen SPD und PDS in allen

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neuen Ländern über eine rechnerische Teil der Solidargemeinschaft der Verlie- Mehrheit. Bei den Bundestagswahlen rer der Einheit: ehemalige NVA-Offi- haben beide Parteien zusammen 16 Pro- ziere, Funktionäre, Leute aus der Aka- zentpunkte zugelegt. Man spricht vom demie der Wissenschaften, Hochschul- „roten Osten“. Werten Sie das als Er- lehrer. folg oder als Rückschlag? SPIEGEL: Trauen Sie Ihren Gesprächs- Stolpe: Als doppelte Aufgabe. Nach partnern Bisky und Gysi zu, die PDS so Westen hin müssen wir noch mehr dar- zu demokratisieren, daß sie ein Partner auf aufmerksam machen, warum diese für die SPD werden könnte? PDS existiert und gewählt wird. Der Be- Stolpe: Die Frage ist nicht entschieden. griff „Roter Osten“ wird im Westen Die Zielvorstellung Partnerschaft halte quittiert als grober Undank, nach der ich nicht für realistisch. Nicht, weil wir Melodie: Wir schleppen tagaus, tagein nicht wollen, sondern weil der dramati- unser gutes Geld dahin, und was ma- sche Klärungsprozeß innerhalb der PDS chen die? Es gibt halt im Westen noch noch völlig offen ist. Denn mit den par- die Kommunismusfurcht, und das ist ei- lamentarischen Erfolgen der Partei sind ne Realität, die ich sehr ernst nehme. zugleich antidemokratische, rückwärts- Viele haben eben jahrelang jeden Mor- gewandte Kräfte stärker geworden. gen erst mal Nachrichten gehört, ob die SPIEGEL: Das hat Harald Ringstorff, russischen Panzer mit ostdeutschen Reinhard Höppner und auch Sie selbst Schützen nicht gerade anrollen. nicht abgehalten, mit dem reformberei- SPIEGEL: Also Entwarnung nach We- ten PDS-Flügel Absprachen zu treffen. sten. Welches Signal senden Sie nach Stolpe: Mit Leuten nicht mehr zu reden, Osten? fände ich einen Rückschritt in die Bar- Stolpe: Viele PDS-Wähler sind verhin- barei. Wir müssen uns mit denen inhalt- derte SPD-Wähler. lich auseinandersetzen. Es ist verlogen, SPIEGEL: Die SPD wollte im Osten zehn so zu tun, als gäbe es keine punktuelle Prozentpunkte zulegen. Sie hat ihr Ziel Zusammenarbeit mit der PDS. Die gibt nicht erreicht. es auch von seiten der CDU. In der PDS Stolpe: Unsere Aufgabe heißt daher sind mindestens zwei Teilparteien für weiter Aufklärung. Die PDS verkündet uns interessant. Wir müssen über Jahre eine populistisch-demagogische Ausga- hinweg noch mit der PDS rechnen. be von SPD-Politik, immer schlichter, SPIEGEL: Dennoch wird sich die SPD in immer eingängiger für die Leute – aber dieser Woche erneut auf die „Dresdner nicht realisierbar. Erklärung“ der ostdeutschen Spitzenso- SPIEGEL: Ist die PDS eine demokrati- zis vom August berufen. Dort heißt es sche Partei? zum Umgang mit der PDS: „Eine Zu- Stolpe: Die Bezeichnung „demokra- sammenarbeit mit ihr kommt für uns tisch“ ist zu pauschal und lenkt in der nicht in Frage.“ Gegenüberstellung mit „undemokra- Stolpe: Die Erklärung lege ich aus als tisch“ ab von der großen Differenziert- Koalitionsverbot, nicht als Redeverbot. heit der PDS. SPIEGEL: Schließen Sie Koalitionen mit SPIEGEL: Jetzt drücken Sie sich um eine der PDS aus? Positionsbestimmung. Stolpe: Man soll nie niemals sagen. Die Stolpe: Das Leben ist nicht so einfach, Welt sieht anders aus, wenn die PDS in als daß man einfach unterscheiden zehn Jahren immer noch existiert und könnte: demokratisch oder undemokra- tisch. SPIEGEL: Die Unterscheidung stammt von SPD-Chef Scharping. Stolpe: Das ist mir klar. Doch diese Pauschaleinschätzungen führen zu unzu- lässiger Vereinfachung. SPIEGEL: Wie sieht Ihre Differenzierung aus? Stolpe: In der PDS stecken drei Partei- en. Das eine sind Leute wie Gregor Gy- si und Lothar Bisky, die wir schon aus DDR-Zeiten als reformwillig kennen, die auch Zulauf aus dem Westen be- kommen und die sehr ernsthaft bemüht sind, demokratische Spielregeln einzu- halten. Sie zu verteufeln wäre unehrlich. Der zweite, wahrscheinlich größere Teil, die „Kommunistische Plattform“, hält den Systemwechsel für falsch und „Modernisierung ja, sehnt sich nach Wiedereinführung einer verbesserten DDR. Die dritte Partei ist aber nicht auf eigentlich die für uns Sozialdemokraten Kosten der Schwachen“ interessanteste. Das ist der relativ große

26 DER SPIEGEL 49/1994 KOMMENTAR Herzogs Harris RUDOLF AUGSTEIN

nser Bundespräsident Roman Menschen im Krieg“ hinzuweisen, Herzog ist stramm im Ankündi- was der Redner beabsichtigt, dafür Ugen. Nach knapp vier Monaten brauchen wir keinen Herzog und kei- Amtszeit wußte er bereits, daß er nen Bundespräsidenten. nicht noch einmal kandidieren wer- Wie war es denn im Februar 1945? de. Zum 50. Jahrestag des Kriegsen- Immer noch fielen V-2-Geschosse auf des wird er eine sicherlich ausgewo- London, die insgesamt an die 3000 gene Rede halten. Menschen töteten. Großbritannien Aber das reicht ihm nicht. Er will und das Empire beklagten an die zwei auch Europas „Geschichten“ (Plural Millionen Tote. Wie sollte man da von Geschichte) vereinigen. Natio- nicht verrohen? Bomber-Harris war „Wir müssen uns nal geschriebene Geschichte soll es ein ungehobelter Mensch, aber auch frühzeitiger und lauter länger nicht geben – ein Vorhaben, Churchill dachte damals über die das uns in Frankreich, England, in „Hunnen“ nicht viel anders als er. zu Wort melden“ den USA et cetera höchst verdächtig Harris wurde nur „Sir“, nicht „Lord“. machen wird. Er mußte als Sündenbock herhalten. eine handliche, weder strukturell noch Noch vor seiner Rede zum Kriegs- Nach allgemeiner Ansicht sollte politisch für uns gefährliche Partei ist. ende will er auch zum 50. Jahrestag mit jenem Deutschland, das schon SPIEGEL: Die Steuerbehörden verlangen des verheerenden alliierten Luftan- den Ersten Weltkrieg ohne triftigen von der PDS 67 Millionen Mark Nach- griffs auf Dresden (13./14./15. Febru- Grund angezettelt und triftig verlo- zahlung. Wird der Streit um die Partei ar 1945) eine Rede halten. Davor ren hatte, Schluß sein. Das alles will nun auf administrativem Wege erledigt? kann man nur strikt warnen. Das ist Herzog akkordieren? Und wie, ohne Stolpe: Dieser Eindruck wird leider im ein Parkett, auf dem man eigentlich eine in der Tat „völlig absurde“ Osten erweckt, und dies macht mir Sor- nur ausrutschen kann. Herzog meint, (Herzog) Aufrechnung? Hier kann er gen. Denn das Zusammentreffen von ei- es dürfe doch nicht sein, daß jeder nicht, wie er das innenpolitisch vor- nigen Vorgängen – die Vorwürfe gegen sich aus seinem Geschichtskuchen hat, alle an einen Tisch bringen, was den Alterspräsidenten des Deutschen heraussuche, was er Gutes getan ha- ohnehin niemand kann. Bundestages, Stefan Heym, das Ringen be. Er spricht von der „europäischen Ja, die Franzosen haben das Reich der PDS um den Fraktionsstatus im Bun- Verstrickung“ – ein fatales Wort. nach 1918 vernichten wollen, und die destag – mit dem massiven Vorgehen der Dresden war objektiv ein Kriegs- Hungerblockade nach dem Waffen- Finanzbehörden wirkt hierzulande wie verbrechen; man kann es so sehen, stillstand war ein Kriegsverbrechen, ein Kesseltreiben. Das macht es den wie man es im Fall des Abwurfs der das Wort kam ja damals auf („Hang Herren Gysi und Bisky leicht, sich als beiden – ich betone, der beiden – the Kaiser!“). Verdun, Höhepunkt Märtyrer darzustellen. Dabei geht unter, Atombomben auf Hiroschima und der grausamen Perversion, wäre daß es bereits seit 1990 Pflicht der PDS Nagasaki tun muß. Aber warum nicht schlimmer gewesen als Arras und Ypern, hätte Falkenhayn, Nach- gewesen wäre, ihre Finanzen offenzule- kann Dresden als „Kriegsverbre- chen“ eingestuft werden? Nicht we- folger des jüngeren Moltke im Gene- gen. gen der Zahl der Opfer, die war in ralstab, damit Erfolg gehabt. Eng- SPIEGEL: Für Scharping darf es links von Hamburg Mitte 1943 nennenswert land war schon damals der Haupt- der SPD keine Partei geben. Gibt es für höher, geschätzt 50 000, Dresden gegner, die Franzosen unterschätzte Sie ein linkes Lager? 35 000 bis 40 000. man. Stolpe: Wenn man mit „links“ das nicht- Der Unterschied? Bei der Ver- So glitt auch der Zweite Weltkrieg konservative Lager beschreibt, dann ist feuerung Dresdens war der Krieg für den Angelsachsen aus den Händen, diese PDS bei aller Querlage und bei al- die Angelsachsen gewonnen, es be- wie schon dem Abraham Lincoln des- lem, was man mit Kneifzangen anzufas- durfte dieser Grausamkeit – ich sen Bürgerkrieg 1865. Dresden istnur sen hat, natürlich eine Partei, die in die- selbst stolperte durch den Leichenge- ein Überfließen der „Schalen des ses nichtkonservative Lager gehört. Des- ruch der menschenleeren Trümmer – Zorns“ (Churchill), die sich seit dem halb muß, wer nichtkonservative Politik nicht mehr. Nur war nicht „Bomber- Jahrhundertanfang durch Wilhelm, macht, mit dieser Partei rechnen, die im Harris“, Luftmarschall Arthur Har- Tirpitz und Schlieffen angefüllt hat- Osten zahlenmäßig bei Wahlen dicke da ris, der Schurke vom Dienst. In per- ten. ist und dicke da ist mit ihrem starken Ap- sona verantwortlich war Winston Dem wirtschaftlich und nach sei- parat. Churchill: ein Kriegsverbrecher, nem Potential stärksten Land Euro- SPIEGEL: Was haben Sie gedacht, als Sie weil er Hitler in den Arm gefallen pas stände es nicht gut an, auf Dres- Wolfgang Schäubles Flirt mit den Grü- war? den eigens zu sprechen zu kommen, nen wahrnahmen? Nein, versichert Herzog, verletzen schon gar nicht durch seinen höchsten Stolpe: Ich habe meiner Partei ge- und aufrechnen wolle er natürlich Repräsentanten. wünscht, daß sie in diese Falle nicht hin- nicht. Wäre ja auch noch schöner. Da irre man sich nicht, die „Ge- einläuft. Nur werden die Briten ihren he- schichten“ Europas werden sich so SPIEGEL: In welche Falle? roischen Kampf, der sie das Empire schnell gar nicht, wenn überhaupt je, Stolpe: Wenn Scharping dem Gysi spon- kostete, nicht an Hitler messen wol- „vereinigen“ lassen. Noch regiert der tan übers Haupt gestreichelt hätte. len. Um auf die „Verrohung des Nationalstaat. SPIEGEL: Herr Stolpe, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

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DEUTSCHLAND T. HÄNTZSCHEL / NORDLICHT Polizeidirektor Heinsen, Innenminister Geil: Seilschaften und Intrigen

ten. Sie berichteten dem Minister über Polizei Vorgänge in seinem Haus, von denen Geil noch nie gehört hatte. Es ging um Fehltritte und Verfilzun- gen in der Spitze der Landespolizei, Tod im nachdem am vorletzten Wochenende ein leitender Beamter Schlagzeilen machte. In einer Sonntagszeitung hatte Bienenstock der Innenminister lesen müssen, der Chef des mecklenburg-vorpommer- Die Polizei in Mecklenburg-Vor- schen Landeskriminalamts (LKA), pommern ist in Filz und Affären Siegfried Kordus, habe als Polizeichef von Rostock im Jahre 1991 Kontakte verstrickt. Minister Rudi Geil hat zur Rotlichtszene der Hafenstadt ge- seine Behörde nicht im Griff. pflegt. Unter anderem habe sich Kordus in einem Warnemünder Polizeiwohn- heim mit leichten Damen vergnügt und er Schweriner Innenminister emp- deren Dienste mit Schecks entlohnt, die fing vergangenen Mittwoch reihen- später auf dem Konto eines stadtbe- Dweise Beamte, die sonst kaum Zu- kannten Zuhälters landeten. gang zu ihrem obersten Chef haben. CDU-Mann Geil, so belegt der Fall Stundenlang lauschte Christdemokrat Kordus, hat sein Ministerium nicht im Rudi Geil unzufriedenen Polizeibeam- Griff. Seine engsten Mitarbeiter ver- M. MEYBORG / SIGNUM Warnemünder Polizeiwohnheim, LKA-Chef Kordus: Schecks und Visitenkarten im

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schwiegen dem Minister über Monate, was sie längst wußten: Staatssekretär Klaus Baltzer und der Leiter der Polizei- abteilung im Ministerium, Olaf von Bre- vern, kannten seit vier Monaten die Vorwürfe gegen Kordus. Geil ist seit Errichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bereits der dritte christdemokratische Innenmini- ster, der im Nordosten der Republik für Ruhe und Ordnung sorgen soll. Mini- sterpräsident Berndt Seite holte den Vertrauten Helmut Kohls vor knapp zwei Jahren aus Rheinland-Pfalz nach Schwerin, nachdem sein Vorvorgänger Georg Diederich über Parteiintrigen und dessen Nachfolger Lothar Kupfer über die Rostocker Krawalle vom Au- gust 1992 zu Fall gekommen waren. Doch auch dem Kohl-Mann war bis- lang kein Glück beschieden. Geil hat es nicht vermocht, die Polizei des Landes von Filz, Seilschaften und Intrigen zu befreien. In den Amtsstuben von Meck- lenburg-Vorpommern bekriegen sich nach Aussagen von Insidern ungeniert Kriminal- und Schutzpolizisten, altge- diente Staatsdiener aus DDR-Zeiten und Emporkömmlinge der Wendezeit. Aus Schleswig-Holstein strömten An- fang der neunziger Jahre scharenweise CDU-Beamte ins neue Nachbarland, wo sie sich bessere Karrierechancen aus- rechneten als in ihrer SPD-regierten Heimat. Der frühere Vertraute des 1987 durch Selbstmord umgekommenen CDU-Ministerpräsidenten Uwe Bar- schel, Volker Pollehn, stieg im Innenmi- nisterium zum Staatssekretär auf; zum Leiter der wichtigen Grundsatz- und Personalabteilung wurde Jürgen Lam- brecht berufen, der in Schleswig-Hol- stein einst als anonymer Autor der Hetzschrift „Betr. Engholm“ aufgefal- len war. Fast alle Chefposten der Sicherheits- behörden wurden mit Uniformierten B. SOLCHER Eros-Center .

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aus Schleswig-Holstein besetzt. Seither, so berichten Landesken- ner, werde die Polizei landesweit von reißfesten Seilschaften zu- sammengehalten. In einem Brief an die Zentrale Ermittlungsstelle für Regie- rungs- und Vereinigungskrimina- lität (Zerv) in Berlin beschuldig- te ein Polizeibeamter jetzt zwei hohe Polizeiführer offen der Vet- ternwirtschaft. Der Landesinspekteur Hans- Heinrich Heinsen, früher Poli- zeichef in Lübeck, habe, so der Vorwurf, einen Nachbarn aus seinem Heimatdorf in Holstein mit dem Bau einer Polizeistation beauftragt. Die Dienststelle sei dann für gutes Geld von der Poli- zei angemietet worden – eine lu- krative Investition. Heinsen be- stätigt den Deal: Sein Nachbar habe die Station gebaut, „weil ich ihn darum gebeten habe“. Dem Chef der Polizeidirektion Rostock, Dieter Hempel, lastet der Briefschreiber an, er lasse in seinem Dienstbereich mehr Au-

tos abschleppen als irgendwo DPA sonst in Mecklenburg-Vorpom- Warnemünder Bordell „Bienenstock“ mern – zugunsten von „aus- Dubiose Todesfälle im Prostituiertenmilieu erwählten Abschleppunterneh- men“. Fahnder der Zerv prüfen derzeit zurückgehalten. Hempel hatte die Er- die Anschuldigungen. kenntnisse bei Geils Staatssekretär Balt- Nicht nur die Zerv durchkämmt den zer und dessen Abteilungsleiter von Bre- Rostocker Filz. Als vergangene Woche vern mündlich vorgetragen und in wegen des Verdachts der Untreue, Be- Schwerin ein paar Akten abgeliefert. Die stechung und Bestechlichkeit im Ro- verschwanden erst einmal in der Ablage. stocker Senat eine Hausdurchsuchung Für die Arbeit der Rostocker Polizei im Rathaus stattfand, waren Beamte des hat die Enthüllung über das Privatleben Bundeskriminalamts (BKA) beteiligt. des letzte Woche vorläufig suspendierten LKA-Chefs Kordus unangenehme Fol- gen: Seither, so ein Insider, springen Akten im Fall Kordus „reihenweise die Informanten“ aus dem verschwanden erst mal Milieu ab. Auf die aber sind die Ermitt- ler der Hafenstadt, die sich immer in der Ablage schneller zu einer Drehscheibe des orga- nisierten Verbrechens entwickelt, drin- Dabei wurde auch das Büro des Ex- gend angewiesen. Oberbürgermeisters Klaus Kilimann Nicht nur die Rotlichtszene, auch die (SPD) durchsucht. Rostocker Polizeifahnder sind verunsi- Kilimann hatte seit 1991 zu Billigprei- chert. Am Dienstag letzter Woche wurde sen städtische Grundstücke an Spezis bei einer Auseinandersetzung im Warne- verteilt (SPIEGEL 17/1993). Dazu zähl- münder Bordell „Bienenstock“ der Zu- ten nicht nur Rostocks Leitender Ober- hälter Jürgen Lachmann getötet – bis- staatsanwalt Wolfgang Neumann und lang der letzte von vier dubiosen Todes- der lokale Marinechef, Flotillenadmiral fällen, die sich seit Ende 1993 im Ro- Otto H. Ciliax, sondern auch der dama- stocker Prostituiertenmilieu ereignet lige Polizeichef Kordus. Die BKA-Be- haben. amten seien gerufen worden, so Gene- Die Bluttat, bei der zwei weitere Män- ralstaatsanwalt Alexander Prechtel, ner schwer verletzt wurden, stehe „in weil es bei „Rostocker Durchstecherei- keiner Verbindung zur Kordus-Ge- en“ vernünftig sei, „nicht die Rostocker schichte“, beteuerte Polizeichef Hempel Polizei zu beauftragen“. sofort. Doch ganz sicher ist er da offen- Als die Kripo bei der Untersuchung bar nicht: In Sachen „Bienenstock“ er- eines Doppelmordes im Rostocker mittelt nicht die zuständige Polizeiabtei- Eros-Center im April Visitenkarten und lung, sondern die Hempel direkt unter- Schecks von Kordus fand, wurden die stellte „Soko 2/93“. Die hat auch die Informationen im Ministerium zeitweise Kordus-Kontakte aufgedeckt. Y Werbeseite

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CDU Patriarch ohne Herbst SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über das letzte Kapitel im Lebenswerk des Helmut Kohl

aß ein Leben vorwärts gelebt wird Jahrtausendwende. Sind die Gröhes ein Selbstgespräch klingt es, wenn Kohl und rückwärts verstanden, mag für und Krawatzkis, die Eschers und Hintzes fortfährt: „Das spricht sich in einer sol- Dden Philosophen Sören Kierke- hinter und neben ihm überhaupt fähig, chen Rede leicht aus, aber es ist eine ge- gaard eine wichtige Erkenntnis gewesen diese unerhörte Chance der Geschichte waltige Herausforderung an jeden von sein. Für Helmut Kohl gilt sie nicht. zu erkennen? Beginn des 21. Jahrhun- uns, und ichfinde, wirsollten uns darüber Der hat schon immer dazu geneigt, derts. Und das in Berlin, mit Feuerwerk im klaren sein, daß wir dieses Ziel anstre- seinen Blick auf ein Datum von symboli- und zwischen neoklassizistischen Säulen: ben.“ scher Bedeutung in der Zukunft zu rich- Helmut Kohl als Bismarck Zwo. Schwer Breit und schwer und hoch lastet der ten und die Zeit bis dahin als Stufen ei- denkbar, daß solche Bilder den Kanzler Kanzler in Bonn auf seiner Partei. Seit 48 nes historischen Countdowns zu be- nicht als Versuchung anwandeln. Er hat Jahren ister dabei,davon 35Jahre alsAb- trachten. Als wäre das Leben ein Haus, ja in der Vergangenheit bewiesen, daß er geordneter. Zum zwölftenmal ist er jetzt dessen Plan er genau kennt und das er die Realitäten der Gegenwart seinen zum Parteivorsitzenden gewählt worden, zur Stunde Null beziehen wird. schwülstigen Symbolphantasien durch- seit zwölf Jahren regiert er das Land. So ein Tag wäre der Beginn des Jah- aus anzupassen fähig ist. Scheu blickt mancher Delegierte zu ihm res 2000. Kein Zeitpunkt ist dem Histo- Warum sollte er also von sich selbst ab- auf, der da thront, als habe er schon im- riker Kohl je symbolträchtiger erschie- gesehen haben, als er dem Parteitag ein- mer dort gesessen und würde auch nie nen. Schon immer begann dann für ihn dringlich die Perspektive 2000 klarzuma- weichen. die Zukunft. chen versucht? „Wenn wir, CDU und Längst nennen sie ihn „den Alten“, Nicht einmal 36 Jahre war der Main- CSU, den Anspruch erheben, die politi- wiewohl er mit 64Jahren dieRentengren- zer Politiker alt, als er im März 1966 sche Führung weit über das Jahr 1998 hin- ze noch nicht erreicht hat. Zeit scheint zum Landesvorsitzenden der rheinland- aus wahrzunehmen, dann haben wir uns nur noch symbolische Relevanz zu haben pfälzischen CDU gewählt wurde. Doch damit ungewöhnlich viel vorgenom- für diese raumfüllende Figur. Ein biß- weil das für ihn eine Art Abschied von men“, sagt er. chen wirkt es inzwischen tatsächlich, als der Jugend gewesen sein muß, drückte Verstehen sie das unten im Saal? Muß lächele ein Denkmal von einem Podest er damals seinen Neid aus gegenüber er sich selbst Mut zusprechen? Fast wie herab, wenn Helmut Kohl huldvoll Bei- den noch jüngeren Partei- fall entgegennimmt. freunden in der Rhein-Mosel- Ist er nicht wahrlich ein Monument der Halle von Koblenz: Stehe ih- Verläßlichkeit und Standhaftigkeit „in ei- nen doch das Glück bevor, die ner flatterhaften Zeit“, wie Norbert Jahrtausendwende in voller Blüm schnulzt? Eine historische Markie- Manneskraft erleben zu dürfen rung „in der Flüchtigkeit der Stunden“, und so das heraufdämmernde wie er sich und sein Tun selbst zu be- Millennium mitgestalten zu schreiben liebt? können. Er hingegen, Helmut Mit unüberhörbarer Genugtuung be- Kohl, sei dann schon alt und grüßt der Kanzler seinen aus dem Amt siech und aus dem Geschäft. des Bundespräsidenten geschiedenen Nun sind es gerade mal fünf Parteifreund, den „lieben Richard“ von Jahre bis zu diesem seinem Weizsäcker. Besonders lieb ist er ihm, Traumtag. Und der Kanzler, weil – wie seine Höflinge hämen – „nach der in der vergangenen Woche dem kein Hahn mehr kräht, seit er abge- vor den Delegierten des CDU- treten ist“. Parteitages in Bonn weit- Und diesem Geschick soll er sich selbst schweifig über die Zukunft sin- aussetzen? Freiwillig? Soll gar schon 1996 niert, läßt erkennen, daß er Wolfgang Schäuble Platz machen, um sich soviel älter als die anderen dem einen Anlauf zur Kanzler-Wieder- nun doch nicht fühlt. Siech und wahl zu ermöglichen? Im Kanzleramt aus dem Geschäft ist er schon wird das Modell Ronald Reagan dage- gar nicht. gengedacht. Der hat schließlich als Präsi- Im Gegenteil. Die damals dent den letzten Wahlkampf geführt und und heute Jüngeren, die grau so seinen Nachfolger George Bush ins und müde neben ihm auf der Weiße Haus gehievt. Tribüne der Parteioberen hok- Das „Gerede vom Auslaufmodell“ je- ken, sind ihm – von wenigen denfalls ärgert Helmut Kohl, der weniger Ausnahmen abgesehen – nicht denn je seine Geringschätzung für Jour- mal einen verächtlichen Blick nalisten verbirgt, die ihn dabei beobach- wert. So fit wie die schreitet ten, wie er das letzte Kapitel seines Le-

der Chef noch allemal „mit R. KLOS benswerkes gestaltet. Nichts deutet dar- kräftigen Schritten in die Zu- Christdemokrat Kohl (1967) auf hin, daß er selbst schon wüßte, wann kunft aus“. Neidisch auf die Jungen und wie es endet.

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offenbar gewollt: in Umfragen eine Mehrheit für den Wechsel, in den Wahlurnen eine Mehrheit für den Kanzler. Nun macht es Helmut Kohl beiden Mehrheiten recht. Da er aber bekanntlich nicht zu dia- lektischem Denken neigt, sondern da- zu, instinktive Einschätzungen und ri- tualisierte Gewißheiten emotional ein- zuweichen und zu einem Symbolbrei zu verrühren, bleiben seine Visionen von der Zukunft so vage wie „das menschliche Gesicht unseres Landes“. Nur Lust und Unlust sind, wie deren häufiger abrupter Umschlag, in den Zügen des Kanzlers klar auszumachen. Immer auffälliger wird, wie Helmut Kohl eigenes Empfinden und Probleme seiner persönlichen Lebenssituation vermengt mit den politischen Erforder- nissen. So ist inzwischen jeder daran gewöhnt, daß er seine allösterlichen Diätprobleme dem Land, seiner Partei und der Regierung anzuhängen be- liebt, indem er gegen „Verfettung“ wettert und „Verschlankung“ fordert. So dringlich werden diese Appelle in seinen jüngsten Reden, daß Claus Heinrich Meyer in der Süddeutschen Zeitung höhnt: „Fit und schlank. Oder schlank und fit. Oder flank und schit?“ Zusätzlich rückt die Einsamkeit älte- rer Menschen nun in die Reden des

K. KARWASZ Regierungschefs ein. Kohl sorgt sich Parteichef Kohl*: Weder siech noch aus dem Geschäft um die „Zuwendung“, die sie brau- chen. Der Bürger horcht auf, du auch, Die Fallen kennt er. Über die Die Hektik dieser Rede ist allgemein Kanzler? Schwächlichkeit der Koalition mit der mit Helmut Kohls besessener Lust an Nicht, daß ihm Rückgriffe auf eige- FDP macht er sich sowenig Illusionen Wahlkämpfen erklärt worden. Tatsäch- nes Erleben vorzuwerfen wären, im wie über die verbliebenen politischen lich entfährt ihm ja auch der entlarvende Gegenteil. Wenn Helmut Kohl in sei- Spielräume. Auch ist ihm stets gegen- Satz: „Das Wichtigste ist: Wir haben die nem Parteitagsschlußwort – nach einer wärtig, daß sein Erfolgsweg gesäumt ist Wahl gewonnen und wollen die nächste sehr engagierten und ernsthaften Aus- mit geborstenen Denkmälern jener Gro- wieder gewinnen. Das ist das Wichtigste sprache zum Krieg in Bosnien – von ßen – von Konrad Adenauer über Willy überhaupt.“ seinen jugendlichen Erfahrungen mit Brandt bis Hans-Dietrich Genscher –, Aber das Tempo ist Selbstzweck. Bombennächten, Krieg und Hunger die den rechten Moment zum Absprung Noch eiliger als mit den Vorbereitungen spricht; wenn er zwei Tage später mit verpaßt haben. für die Landtagswahlen des kommenden Franc¸ois Mitterrand seine Bemühun- Wahr ist, daß ihm gelegentliche An- Jahres in Hessen, Nordrhein-Westfalen, gen um Europa mit solchen Erinnerun- wandlungen von Amtsmüdigkeit keines- Bremen und Berlin hat er es mit den gen begründet, dann gewinnt er eine wegs fremd sind. Wahr ist aber auch, seltene Authentizität und Glaubwür- daß der Sog des Amtes weitaus stärker digkeit. ist als die Aussicht, in Oggersheim über Im Jahr 2000 Leicht entgleist ihm freilich der hohe den manikürten Rasen seines Eigen- in Berlin – und Kohl Ton, oft rutscht er von einem Satz zum heims auf die Schutzwände zu starren. anderen vom Pathos in die Parodie. Jedenfalls noch. als Bismarck Zwo So, als er den Parteitag abschließend Betrieb betäubt. Selbstanfeuerung noch einmal auf die Zukunft einschwö- überspielt Erschöpfung. Ein deutscher Koalitionsverhandlungen und der Re- ren will und den Fitneß-Aufruf „an un- Patriarch kennt keinen Herbst. Es geht gierungsbildung gehabt, die er in „kür- ser Vaterland Deutschland für das rund oder zu Ende. zester Zeit“ erledigte. neue Jahrhundert“ feierlich als „Anruf Verwunderlich ist es also kaum, daß Ein „furioser Start“, schwärmt Gene- aus der deutschen Gesellschaft“ ver- der scheinbar behaglich in sich selbst vi- ralsekretär Peter Hintze. Mehr als „drei kauft. brierende Koloß plötzlich, als er ans Po- Sekunden“ Freude, brüsten sich Kohls Das klingt dann nicht mehr wie dium tritt, die Partei zur Eile drängelt: Mitarbeiter, gestatte sich ihr Chef nicht Charles de Gaulle oder Franc¸ois Mit- „Wenn wir in die Zukunft aufbrechen nach der Wiederwahl zum Kanzler. So- terrand. Das hört sich so an, als habe wollen, müssen wir es jetzt tun, denn wir fort würden die nächsten Ziele ange- Klio, die Muse der Geschichtsschrei- werden nicht allzuviel Zeit haben.“ peilt. bung, ihr Handy aus dem Mantel der Er redet und redet und redet, läuft Geschichte hervorgeholt und eben mal Sturm gegen die Verhältnisse, die er in Bonn angeläutet: Nur noch fünf * Am Montag vergangener Woche auf dem CDU- Parteitag in Bonn, mit Peter Hintze (l.) und Wolf- selbst geschaffen hat. So ähnlich, spottet Jahre bis zur Zukunft, Kanzler. Dran- gang Schäuble. Peter Hintze, hätten die Wähler das ja bleiben.

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DEUTSCHLAND „Für viele ein Ärgernis“ Interview mit Michel Friedman über Juden in der Politik und den Reformbedarf der Union

SPIEGEL: Herr Friedman, Sie gehören SPIEGEL: Während Sie der CDU als li- vorsitzende sehr mittig ist. Sie ahnen nun dem Bundesvorstand der CDU an. berales Aushängeschild dienen, treffen im übrigen nicht, wie viele Linke und Was verbinden Sie als Jude mit dem sich im baden-württembergischen Wei- Sozialdemokraten ich kenne, die in der „C“ im Namen Ihrer Partei? kersheim unter der Schirmherrschaft Frage nationaler Identität das gleiche Friedman: Ich habe nichts gegen die des ehemaligen Ministerpräsidenten wie Schäuble denken und noch ganz christliche Ethik. Ich finde es aber pro- Hans Filbinger Unionspolitiker und anderes sagen. blematisch, daß eine Partei mit einem Rechtsradikale zu deutschnationalen SPIEGEL: Haben Sie denn bei einem religiösen Namen behaftet ist, obwohl Theorieseminaren. Begriff wie nationaler „Schutzgemein- die Verfassung Religionsgemeinschaft Friedman: Es gibt in der CDU Leute, schaft“, den Schäuble öfter gebraucht, und Staat voneinander unterscheidet. denen ich nicht einmal die Hand geben keine unangenehmen Assoziationen? SPIEGEL: Erstmals ist mit Ihnen ein würde. Aber es existiert eben auch ein Friedman: Natürlich gibt es eine Wort- Vertreter des Judentums in die Füh- breites und führendes Fundament an wahl, die mich irritiert. Aber wenn ich rung einer Volkspartei gewählt wor- Meinungen und Gedanken, von denen anfange, Politikern genau zuzuhören, den. Sind Sie der „Quotenjude der ich sage: Respekt. Was ich von Herrn fallen mir viele ein, die das eine oder Union“, wie jetzt viele sagen? Filbinger schon als Teenie gehalten andere gesagt haben, das ich für ge- Friedman: Das bin ich mit Sicherheit habe, ist in den Archiven nachzule- fährlich halte. nicht, und ich finde die Bezeichnung sen. SPIEGEL: In den vergangenen zwei auch unverschämt. SPIEGEL: Auch Wolfgang Schäuble war Jahren gab es jede Menge Ereignisse – SPIEGEL: Säßen Sie denn im CDU- Gast in Weikersheim. Er spricht ohne- Rostock, Mölln, Solingen –, die Ihnen Vorstand, wenn Sie kein Jude wären? hin gern von einer „Rückbesinnung auf aufs Gemüt schlagen mußten. Friedman: Ich lasse mich auf dieses die nationale Identität“ und lobt die Friedman: Ich war deprimiert und wü- Gedankenspiel nicht ein. Ich bin seit „identitätsstiftende Wirkung“ des Na- tend, weil ich sehen mußte, wie Häu- einem Jahrzehnt für die CDU im tionalen. Alles unerheblich? ser gebrannt haben und wie sich nur Frankfurter Stadtparlament, ich sitze Friedman: Ich werde bei aller Kritik, wenige überhaupt betroffen fühlten. seit zwei Jahren in der Medienkommis- die ich an bestimmten Gedanken von „Ich habe mich mit den Türken solida- sion der Union. Ich bin in Paris gebo- Herrn Schäuble habe, den Mann nicht risiert, ich habe mich für die jüdische ren, meine Eltern nennen Polen ihr in die Ecke von Rechtsradikalen stel- Gemeinschaft engagiert“, heißt es dau- Geburtsland. Ich bin Kulturpolitiker len. Ich behaupte, daß der Fraktions- ernd. Aber kaum jemand hat verinner- und Jugendpolitiker. Ich licht, daß er sich für sich sel- wollte nie als Jude Michel ber engagieren muß. Friedman gewählt werden, SPIEGEL: Kanzler Kohl hat sondern als Mensch Fried- sich nicht einmal auf der man. Daß dabei auch meine Trauerfeier für die Opfer jüdische Identität eine Rolle von Mölln blicken lassen. spielt, ist doch klar. Friedman: Das war ein Feh- SPIEGEL: Warum zieren Sie ler. Ich glaube zwar nicht, sich so? Die Junge Union daß die Anwesenheit eines unterstützt Sie, um ein Zei- Spitzenpolitikers bei Beerdi- chen gegen den wachsenden gungen irgendeine verbre- Antisemitismus in Deutsch- cherische Tat verhindert. land zu setzen. Aber sie ermutigt die Men- Friedman: Ich kenne in der schen zu Solidarität. Als die CDU weitaus mehr Leute, Synagoge in Lübeck ge- als Sie wahrnehmen wollen, brannt hat, beklagte Herr die sich mit meinem Engage- Kinkel die Probleme, die das ment für eine liberale, plura- Ausland mit diesem An- listische Gesellschaft identi- schlag haben werde, Herr fizieren können. Natürlich Scharping war überhaupt bin ich mir bewußt, daß ich nicht zu hören, und Herr in vielen Punkten Minder- B. BOSTELMANN / ARGUM Kohl sandte Betroffenheits- heitenpositionen vertrete. Michel Friedman grüße aus dem Urlaub. Al- Mein Gott, ich bin es ge- so, wenn ich ein führender wöhnt, Minderheit zu sein. ist neben Ignatz Bubis der profilierteste Vertreter des Juden- Politiker dieses Landes wä- SPIEGEL: Ihr Parteifreund tums in Deutschland. 1956 als Kind polnischer Juden in Paris re, wüßte ich, daß dies nicht Heinrich Lummer hat vor geboren, lebt er seit seinem zehnten Lebensjahr in Frankfurt ausreicht. Der Staat muß Ihrer Wahl verkündet, so ei- am Main. Seit 1983 ist der Anwalt, Spezialist für Wirtschafts- insgesamt viel energischer nen wie Sie brauche die Par- recht, Mitglied der CDU, seit 1985 Stadtverordneter in Frank- gegen Rechtsextremisten tei nicht im Vorstand. furt. Außerdem ist er Mitglied im Präsidium des Zentralrats vorgehen. Friedman: Ich denke, so ei- der Juden in Deutschland. Er wurde auf dem Parteitag in Bonn SPIEGEL: Was heißt das? nen wie Lummer braucht die Ende November in den CDU-Bundesvorstand gewählt. Friedman: Seit 1992 haben Partei überhaupt nicht. die Innenminister acht Ver-

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bote von neonazistischen Organisatio- SPIEGEL: Mit dieser Forderung sind nen verfügt. Wir wissen aber aus Ver- Sie dem Grünen Daniel Cohn-Bendit, fassungsschutzberichten von mehreren der in Frankfurt das Dezernat für Dutzend rechtsextremistischer Grup- multikulturelle Angelegenheiten leitet, pierungen, die alle am Rand der Le- ziemlich nahe und den meisten Ihrer galität stehen. Der Staat muß endlich Parteifreunde ziemlich fern. Ausdauer zeigen und seine Feinde er- Friedman: Mir stehen die Vertreter müden. Und wenn sich so ein rechts- der Grünen in der Ausländerpolitik in extremer Verein nach einem Verbot der Tat sehr viel näher als die meisten einfach umbenennt, um ungestört wei- Mitglieder meiner Partei. Deshalb bin ter agitieren zu können, muß man ich Wolfgang Schäuble auch wirklich eben Katz und Maus spielen und da- dankbar, daß er die Kontaktsperre bei gewinnen. zwischen uns und den Grünen aufge- SPIEGEL: Sollten auch die Republika- hoben hat. Bislang galt es ja als Erb- ner verboten werden? sünde, mit den Grünen auch nur zu Friedman: Es sollte im- reden. Langfristig aber mer wieder aktuell ge- sind die Grünen ein po- prüft werden, ob das tentieller Partner einer angezeigt ist. Wenn wir gewandelten CDU. zum Ergebnis kom- Wir haben längst die men, daß die Repu- ökologische Marktwirt- blikaner verfassungs- schaft als Ziel in unser feindlich sind und in Programm aufgenom- dieser Partei Verbre- men. chen organisiert wer- SPIEGEL: Traut sich ei- den, besteht die Pflicht gentlich jemand in der zu einem Verbotsan- CDU, Ihnen offen zu trag. Wir sollten auch widersprechen? darüber nachdenken, Friedman: Was meinen

ob wir rechten Par- K. KARWASC Sie? Weil ich Jude bin? teifunktionären, die CDU-Rechter Filbinger Ich erwarte in einer Straftaten wie Volks- Diskussion keine fal- verhetzung begangen sche Rücksichtnahme. haben, die Bürgerrech- Ich nehme ja auch kei- te nach Artikel 18 des ne Rücksicht. Viele Grundgesetzes abspre- ballen die Faust in der chen. Das ist sehr viel Tasche. Sie sind irri- leichter durchzusetzen tiert, vielleicht auch ge- als ein juristisch hoch- nervt von dem, was ich kompliziertes Parteien- sage. Ich bin mir schon verbot. bewußt, daß ich für SPIEGEL: CDU und viele Leute ein Ärger- FDP konnten sich nicht nis bin, schon mal we- einmal darauf verstän- gen einiger Äußerlich-

digen, den in der Bun- DPA keiten. Ich habe dunk- desrepublik lebenden CDU-Rechter Lummer les und dazu noch ge- Kindern von Auslän- geltes Haar, ich bin dern ein Recht auf die deutsche nicht blaß und blauäugig, ich trage Staatsbürgerschaft einzuräumen. Se- vorzugsweise italienische Anzüge. Na hen Sie in der Regierungserklärung und? Ich bin doch nicht bereit, die des Kanzlers irgendwo ein Signal ge- kranken Köpfe in mein Leben zu las- gen Rassismus und Fremdenfeindlich- sen. keit? SPIEGEL: Auch in Ihrer Partei fallen Friedman: Ich bin froh, daß jetzt we- abfällige Äußerungen über Sie. nigstens eine Grundmauer durchlö- Friedman: Ich begegne Antisemiten an chert ist. Daß man Staatsbürgerschaft jedem Tag, ohne daß ich weiß, wel- in Deutschland qua Blutsrecht erlangt, ches Parteibuch sie haben. Ich war ist in einer modernen, sich europäisch kürzlich im Bundesinnenministerium gebenden Gesellschaft überhaupt zu einem Gespräch über Sicherheits- nicht mehr nachvollziehbar. Ich forde- maßnahmen für jüdische Einrichtun- re deshalb, daß alle, die in der Bun- gen. Die Spitze des Ministeriums saß desrepublik geboren sind, mit Ge- da und auch die Abteilungsleiter A burt einen Anspruch auf einen deut- bis Y. Nach Abschluß des Berichts schen Paß erhalten. Außerdem brau- fügte der Berichterstatter ganz eilig chen wir endlich ein Einbürgerungs- hinzu, um mich wirklich zu beruhigen: gesetz, das nach ganz bestimmten „Lieber Herr Friedman, Sie können nachvollziehbaren Kriterien Auslän- versichert sein, daß unsere Maßnah- dern ermöglicht, ohne Bitten und men optimal sind, selbst Ihr Betteln Bürger dieses Landes zu wer- Botschafter hat sich schon lobend den. geäußert.“ Y

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FDP „Häßliches Gesicht“ SPIEGEL-Reporter Hans-Joachim Noack über die Liberalen vor ihrem Sonderparteitag in Gera

er Beschluß wurde einmütig gefaßt auf die verworrene Seelenlage der ge- sich bestätigt. Hat er nicht immer gepre- und ist, was seine Begründung an- schrumpften Pünktchen-Partei – und die digt, die FDP benötige „ein Koordina- Dbelangt, ein Novum im Parteienle- soll sich am kommenden Wochenende tenkreuz von Werten und Grundsät- ben der Bundesrepublik. Auf einer De- ins deutlich Positive wandeln. Im thürin- zen“, um im Ernstfall sturmfest dazuste- legiertenkonferenz saß der FDP-Kreis- gischen Gera wollen die Freidemokra- hen? Aber der Vorstand habe das verband Herford beisammen, um seine ten einen grundlegenden Erneuerungs- „weggebügelt“. Kandidaten für die im Mai 1995 prozeß einleiten. Gottlob macht sich nun, wenn man in Nordrhein-Westfalen anberaumten Eine „schonungslose Bestandsaufnah- Hoyer folgen darf, die um ihre Identität Landtagswahlen zu bestimmen. Er ver- me“ kündigt der Bundesvorsitzende ringende Basis auf die blaugelben Sok- zichtete einstweilen darauf. Klaus Kinkel an; sein auf Abruf arbei- ken – eine etwas geschönte Behauptung. Ungerührt nennt der Vorsitzende tender Adlatus Werner Hoyer preist die Zwar mag der Ausstand von Herford Burkhard Zurheide den bis Januar be- erstaunliche Hingabebereitschaft der nicht symptomatisch sein. Doch der fristeten Streik einen „Akt der politi- Freunde. Quer durch die Reihen wer- frohgemut-beherzte Aufbruch, wie ihn schen Notwehr“, der die Führungscrew den zu seinem Entzücken Konzepte en der Manager zweckdienlich suggeriert, in Bonn unter Druck setzen möchte. masse verfertigt. „Vom kleinen Ortsver- wird von einer schmerzlichen Selbstka- Werde dort nämlich „drauflosgewursch- ein bis zum einzelnen Hochschulprofes- steiung begleitet. telt, wie wir das täglich erfahren“, sei es sor“ gehen im Bonner Thomas-Dehler- Das Dilemma ist, daß sich die FDP als sicher vernünftiger, eine „Freie Liste“ Haus Papiere darüber ein, wie die Libe- „die Partei mit dem häßlichen Gesicht“ aufzustellen. ralen noch zu retten sind. (so der Hamburger Landesverbandschef Droht den eh schon schwer gebeutel- „Es ist einfach irre“, entfährt es dem Rainer Funke) gebrandmarkt sieht. Der ten Liberalen die erste Absplitterung? ansonsten eher zurückhaltenden Gene- Bonner Vorturner Kinkel benutzt dafür Noch ist es nicht soweit. Das seltsame ralsekretär, der im Hauptquartier den die Metapher „Unbeliebtheitskurve“, in Junktim wirft aber immerhin ein Licht Sonderkongreß vorbereitet, und er fühlt die sich die Liberalen nach seinem Emp- finden verrannt haben, und dieses Dauermanko schlägt jetzt auch zuneh- mend nach innen. Weh- leidigkeit und eine aus geschädigtem Selbst- wertbewußtsein gespei- ste Aggressivität beherr- schen den internen Dis- kurs. Im Vorfeld des Gera- er Großversuchs und ih- res eigenen Parteitags (am vergangenen Sonn- abend in Castrop-Rau- xel) präsentiert sich so die NRW-FDP in einer Serie von Bezirkskonfe- renzen: Im Kern geht es da nicht nur um das po- litische Überleben ihres ausgefeilten Egomanen Jürgen Möllemann – der Unterbau des mit 20 000 Mitgliedern weitaus be- deutendsten Landesver- bands probt die Revolte und zeigt sich zugleich ziemlich desorientiert. Im sauerländischen Attendorn etwa ist es keineswegs bloß der eit- le Störenfried aus Düs- seldorf, der Kinkel & Co. für den Absturz Frankfurter Allgemeine verantwortlich macht.

40 DER SPIEGEL 49/1994 Selbst der bedächtige Bielefelder Mölle- mann-Rivale Joachim Schultz-Tornau bekennt sich, nachdem er gegen die Bonner Kollegen vom Leder gezogen hat, zu seinen „erheblichen Depressio- nen“. Natürlich sähe man an Rhein und Ruhr, wo die FDP in zahllosen Kommu- nen zur bespöttelten Krümeltruppe her- absank, am liebsten Köpfe rollen: Aber wo sind die Alternativen? „Personelle Konsequenzen“, wie sie der schleswig- holsteinische Chefliberale Jürgen Kop- pelin nach dem Wahldesaster am 16. Oktober forderte, werden auch an- dernorts unverhüllt ersehnt – und dann entmutigt wieder verworfen. Die sich windende Partei leidet unter ihrer Führung, und so gerinnt denn vie- les, was sie mit Blick auf Gera an tief- greifendem Umbruch propagiert, zur schieren Ersatzhandlung. Was heißt das schon, sich ein „geschärftes Profil“ ge- ben zu wollen? Und gelänge es ihr tat- In der blanken Not erinnert sich die FDP ihrer Sozialliberalen sächlich: Wo ist die Kraft, die das neue – unbekannte – Programm in Politik um- setzt? Aus dem Wust der Schlagworte, die dem „Grundsatz-Konvent“ den Weg weisen, schält sich der schillernde Impe- rativ des künftigen Generalsekretärs Guido Westerwelle: Eine gesäuberte und „reinrassige FDP“ möchte der sei- ner Organisation verordnen und trifft sich insoweit mit dem munteren Quer- denker Fritz Fliszar, der der partei- nahen Friedrich-Naumann-Stiftung vor- steht. Beider Sorge gilt dem verödeten In- nenleben der Liberalen, das sich an der jahrzehntelangen Machtteilhabe aufge- rieben hat. Zwar empfehlen sie der FDP nicht die Rekonvaleszenz in der Opposi- tion, aber der Parteikörper soll gesun- den, indem er sich von den kompromiß- behafteten Regierungsgeschäften ab- koppelt. Fliszar argumentiert, daß jene, die in Gera „die Gruppe der Erneuerer“ bil- den, „nicht mit denen identisch sein können, die in Bonn im Koalitionsma- nagement wirken“. Dem Obersten Klaus Kinkel, der ja bereits die Tren- nung von Amt und Mandat als Schnaps- idee verhöhnt, dürfte das kaum gefal- len. Und wahrscheinlich ist der schmal- brüstigen FDP auch die Traute dazu ab- handen gekommen. Daß die einen „über den Wolken“ (Hoyer) am hehren Theoriegebäude basteln, während sich das Spitzenpersonal an der täglichen Realität abarbeitet, könnte die ohnedies

DER SPIEGEL 49/1994 41 Werbeseite

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DEUTSCHLAND J. H. DARCHINGER Freiburger FDP-Programmparteitag 1971*: Die Schuld der Alt-Elefanten

beträchtliche Spaltungsgefahr weiter Fraktion als Firlefanz attackiert, in der vorantreiben. Die Angst davor (die zu- Partei neuerdings an Gewicht? Er sei weilen eine heimliche Lust-Angst ist) ni- „stolz auf den linken Flügel“, hat sich in stet schon jetzt in den meisten unteren der vergangenen Woche der Vorsitzen- Gliederungen. de Klaus Kinkel gegenüber dem SPIE- Was da im Thomas-Dehler-Haus als GEL offenbart und den vermuteten erfreulich und vital ausgegeben wird, Rechtstendenzen den Kampf angesagt. beschreibt in Wahrheit die wachsenden Damit habe er „nichts am Hut“. Fliehkräfte, die die Partei durchrütteln. Doch Zweifel sind angebracht, daß Je geringer der Wählerzuspruch, desto dem erst im Februar 1991 in die FDP ungebremster wuchern unter den ver- eingetretenen langjährigen Staatsbeam- bliebenen Resten der FDP die Erlö- ten der Kongreß in Gera wirklich ein sungsphantasien. Herzensanliegen ist. So einen Parteitag Wohin steuert das freidemokratische könne „man immer machen“ – lapidarer Panikorchester, wenn es denn über- O-Ton Kinkel noch nach dem nieder- haupt noch steuert? Die einzigen wirkli- schmetternden 16. Oktober. Das nährt chen Schlagzeilen trug ihm bislang das den Verdacht auf rhetorische Pflicht- sogenannte Berliner Manifest einer Cli- übung. que um den vormaligen Generalbundes- anwalt Alexander von Stahl ein. Der möchte die Partei auf strammen Rechts- Liberaler Existenzkampf kurs trimmen. Der populistisch-alerte „in der Gesäßtasche Alpenkönig aus dem benachbarten Österreich, Jörg Haider, läßt grüßen. des Bundeskanzlers“ Als Gegenpol dazu meldet sich ein Zirkel zurück, in dem die Justizministe- Denn der zwischen Flattrigkeit und rin Sabine Leutheusser-Schnarrenber- aufgesetzter Entschlußkraft schwanken- ger das Wort führt und dessen völlige de Schwabe, der die Rolle als Chef Auszehrung schon besiegelt schien. In „mittlerweile angenommen“ zu haben der blanken Not erinnert sich die FDP behauptet, liegt noch mit sich selbst im ihrer Sozialliberalen, die einst vor gut Konflikt. Er zeigt sich fortwährend ge- zwei Jahrzehnten die Richtung be- kränkt darüber, daß alle Welt vorwie- stimmten. gend ihm den traurigen Zustand seiner Für Gesprächsstoff sorgen nun wieder Couleur anlastet, „während doch ande- insbesondere jene 1971 zum Programm re auch ihren Teil dazu beitrugen“. Sol- erhobenen „Freiburger Thesen“ – che Mißstimmungen beeinträchtigen die Hauptautoren: der früh verstorbene Ge- Souveränität, die der programmatische neralsekretär Karl-Hermann Flach und Befreiungsschlag verlangt. der ehemalige Innenminister Werner In der Sache hat Kinkel wohl recht, Maihofer. Sogar der theoretisch nicht wenn er die von ihm gern als „Alt-Ele- gerade ausgewiesene Jürgen Möllemann fanten“ apostrophierten Hans-Dietrich plädiert mit flotter Inbrunst dafür, Genscher und Otto Graf Lambsdorff für „diese Grundorientierung“ („Freiburg den schleichenden Niedergang in die zwo“) fortzuschreiben. Gewinnt, was die auf völkisch-natio- * Walter Scheel, Werner Maihofer, Heiner Bre- nalen Vorstellungen fußende Stahl- mer, Hans-Dietrich Genscher.

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flüsterungen offensteht. Soll sie sich nach links oder rechts davonmachen, die Mitte ins Visier nehmen oder besser doch die Peripherie besiedeln? Für na- hezu alles gibt es Souffleure – etwa die Frankfurter Allgemeine, der „ein Platz am Rande nicht verkehrt“ erscheint. Da hierzulande aber nur die Behaup- tung, der politischen Mitte anzuhängen, ein halbwegs positives Image befördert, hören das die Führungsfiguren mit Grausen. Von Kinkel über Hermann Otto Solms bis hin zum irrlichternden Günter Rexrodt wird die freidemokrati- sche „Unverrückbarkeit“ beschworen. Direkter zeigt die FDP an der Basis – zum Beispiel auf dem jüngsten Parteitag des hessischen Landesverbandes – ihre Neigung zum Sprunghaften. Ermutigt von starkem Applaus sah dort die Delegierte Julia Kappel die Li- beralen „am Scheideweg“. Einen Spalt im besetzten Mitte-Links-Spektrum ver- teidigen zu wollen, hält sie längst für

A. SCHOELZEL vergebliche Liebesmüh – „auch wenn FDP-Rechter von Stahl das noch so bitter sein mag“. Zu suchen, Haider läßt grüßen heißt das im Klartext, ist also die rechte Nische, in die alsdann die entsprechen- Verantwortung zwingt. Gewiß ist dem den Themen einzuschleifen sind. Existenzkampf der FDP eine geraume Möglich, daß sich die Kappels und Inkubationszeit vorausgelaufen, ehe er Stahls noch in der Minderheit befinden, sich jetzt, wie der Grüne Joschka Fi- doch die vermeintliche Renaissance der scher stichelt, „in der Gesäßtasche des Sozialliberalen steht auf ebenso schwa- Kanzlers“ abspielt. chen Füßen. Deren Clou, den alten Aber was bringen derartige Einsich- „Freiburger“ Werner Maihofer aus der ten? Im ausgehenden Katastrophen- Versenkung zu holen, belegt wohl eher Wahljahr 1994, in dem die Liberalen ihr Unvermögen. weder über einen Genscher auf der Hö- Ein bißchen fühlt sich der 76jährige he seiner Finessen noch über zugkräfti- Rechtsprofessor aus Überlingen schon ge Inhalte verfügen, empfiehlt Fritz Flis- gelockt, aber er stellt Bedingungen. Zu- zar ein der Lage angepaßtes Verfahren: nächst einmal müsse die Partei den „Neue Themen“ müssen aus der Taufe Nachweis erbringen, „daß es ihr wirk- gehoben werden, die sich erst danach lich ernst mit dem Neuanfang ist“. In ei- „ihre Personen suchen“. nem „Weiter-so, wie ich es über zwei Erschwerend kommt sicher hinzu, Jahrzehnte hinweg erlebt habe“, will daß eine Partei, der die charismatischen sich der einstige Vordenker nicht mehr Vorleute fehlen, wenig hilfreichen Ein- verschleißen. Y K. HOLZER / ZEITENSPIEGEL FDP-Veteran Maihofer: Comeback unter Bedingungen

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Demoskopie Briten und Deutsche zu Europa Ergebnisse einer Mori-Emnid- Umfrage im Auftrag von Financial Erweitern oder vertiefen? Times und SPIEGEL. Was Deutsche und Briten von der Europäischen Union halten Alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe. enn es nach den Deutschen gin- Insgesamt ist die Zahl der EU-An- ge, sollte die Europäische Union hänger auf der Insel (37 Prozent; Fremde Nachbarn Wnicht noch größer werden, als sie Deutschland: 46 Prozent) immer noch jetzt schon ist (12 Mitglieder) oder mit größer als die der Gegner. Aber wäh- „Wie häufig haben Beginn des neuen Jahres sein wird (15 rend in Großbritannien die Ablehnung Sie in den letzten Mitglieder): Nur 24 Prozent der Bundes- innerhalb eines Jahres um 4 Punkte an- Jahren Deutschland/ bürger sind dafür, daß im Laufe der stieg, ging sie in der Bundesrepublik um Großbritannien nächsten fünf Jahre Länder wie Polen, 3 Punkte zurück. Schwere Zeiten für besucht?“ Ungarn, die Tschechische Republik John Major. oder die Slowakei in den Klub aufge- Denn seine Landsleute sind offen- nie einmal zweimal öfter nommen werden; 34 Prozent sind eher sichtlich viel argwöhnischer – und viel briten 94 4 1 – oder sogar entschieden dagegen. realistischer –, wenn es darum geht, den Nun wissen es die Staats- und Regie- Einfluß der Europäischen Union und ih- deutsche 73 14 6 4 rungschef der EU-Mitglieder also, die in rer Bürokratie auf den Alltag in den dieser Woche in Essen zum einstweilen Mitgliedsländern zu beurteilen. 47 Pro- letzten Gipfel unter deutscher Ägide zu- Bündnispartner sammenkommen. „Welches Land ist Ihrer Meinung nach Aber sie wissen auch, daß dies keines- EUrographie Deutschlands beziehungsweise Großbritanni- wegs die Meinung in allen Mitgliedstaa- „In welcher Stadt, glauben Sie, ist ens zuverlässigster politischer Verbündeter?“ ten ist. Die Briten etwa denken ganz an- der Sitz der Europäischen Union?“ ders darüber, sie wollen eine größere Briten Deutsche EU: 42 Prozent unterstützen die Erwei- briten/deutsche Weiß nicht USA 42 42 terung der Union, nur 26 Prozent sind ? 29 16 dagegen. Brüssel Frankreich 5 27 Aber Briten und Deutsche wollen die 52 56 Zusammenarbeit in der EU auch nicht Luxemburg Großbritannien 4 vertiefen, sondern am liebsten so lassen, 2 7 Deutschland 6 wie sie ist. Straßburg Die Zahlen sind das Ergebnis einer kein Land 11 6 8 17 Andere Umfrage, die der SPIEGEL gemeinsam Andere 7 3 mit der britischen Tageszeitung Finan- 9 4 cial Times, dem Londoner Büro der EU- Kommission und der Deutsch-Briti- schen Stiftung für das Studium der Indu- Ost-Erweiterung striegesellschaft in Auftrag gegeben hat- „Wie sehr würden Sie eine Ausdeh- briten deutsche te. Befragt wurden (zwischen dem 17. nung der Europäischen Union auf sehr befürworten 11 5 und dem 21. November) von der Londo- Länder wie Polen, Un- ner Agentur Mori insgesamt 1919 Briten garn, Tschechien und eher befürworten 31 19 und (zwischen dem 31. Oktober und die Slowakei in den weder/noch 20 24 dem 13. November) vom Bielefelder nächsten fünf Jahren Emnid-Institut insgesamt 2455 Deut- befürworten oder ab- eher ablehnen 14 23 sche. lehnen?“ In einer anderen, wichtigen Frage sehr ablehnen 12 11 driften die Urteile von Briten und Deut- schen ebenfalls auseinander: Jeder vier- te Brite (26 Prozent), aber nur jeder elf- te Deutsche (9 Prozent) hält die Mit- zent glauben, dieser Einfluß seigroß oder Engere Verbindungen? gliedschaft seines Landes in der Euro- sehr groß. In Deutschland, wo man sich „Würden Sie engere oder lockerere päischen Union für „eine schlechte Sa- ans gemeinsame Europa schon länger ge- Bindungen als jetzt zwischen den che“. wöhnen konnte, meinen das nur 26 Pro- Ländern der EU bevorzugen, oder Hauptgrund: 28 Prozent der Briten zent. Mehr als die Hälfte der Deutschen sollten die Bindungen bleiben, wie glauben, die Mitgliedschaft in der EU (52 Prozent; Großbritannien 45 Prozent) sie sind?“ habe sich negativ auf die Region ausge- sind, unabhängig von allen Fakten, da- wirkt, in der sie leben. Nur in den Augen von überzeugt, die EU habe wenig oder briten deutsche der Schotten überwiegen die Vorteile. gar keinen Einfluß auf ihren Alltag. engere Bindungen 27 23 In Deutschland sehen gerade mal 15 Ansonsten jedoch gibt es bei den Prozent eine Verschlechterung. Immer- fremden Nachbarn viele Gemeinsamkei- lockerere Bindungen 23 24 hin 17 Prozent finden, daß die Mitglied- ten: sollen gleichbleiben 39 35 schaft in der EU Vorteile bringt (Groß- i Auf die Jugendlichen im Alter biszu25 britannien: 14 Prozent). Jahren darf Europa in beiden Ländern

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Werbeseite DEUTSCHLAND hoffen: 46 Prozent sowohl der jun- go Sander, bei Emnid für den deutschen Gut, dabeizusein gen Briten wie der jungen Deut- Teil der Studie verantwortlich. „Sie wol- schen halten die Europäische Union len, daß die Entscheidungen in ihrer Nä- „Ist allgemein gesehen die Mitglied- für eine gute Sache; nur 10 Prozent he getroffen werden und überschaubar schaft in der Europäischen Union Ihrer sind anderer Meinung. sind.“ Meinung nach eine gute Sache, eine i Vor allem in strukturschwachen Ge- Und sie wollen auch selbst ein gewich- schlechte Sache oder weder gut noch bieten – Brandenburg, Mecklenburg- tiges Wort mitreden, wenn es um die schlecht?“ Vorpommern auf der einen, York- Zukunft der Gemeinschaft geht. Zwei briten deutsche shire, Humberside sowie im Norden Drittel der Deutschen wie der Briten gute Sache 37 46 Englands auf der anderen Seite – möchten die Entscheidung über eine – fühlen sich die Menschen durch die für 1999 vorgesehene – gemeinsame eu- schlechte Sache 26 9 EU-Mitgliedschaft besonders be- ropäische Währung von einer Volksbe- weder/noch nachteiligt. fragung abhängig machen. 30 29 i Gerade mal die Hälfte der Briten Und wenn es denn wirklich ein Refe- und Deutschen wissen überhaupt, rendum gäbe – wozu in der Bundesrepu- daß die so viel gescholtene EU- blik erst einmal die Verfassung geändert Europa im Alltag Kommission ihren Sitz in Brüssel hat werden müßte –, würden nicht nur die „Wie sehr, würden Sie sagen, beeinflußt (auch London und Berlin, Straßburg um ihre stabile Mark besorgten Deut- die EU Ihr tägliches Leben?“ und Luxemburg wurden genannt). schen (mit 53 Prozent), sondern auch i Immerhin 25 Prozent der Briten so- die stolzen Briten (mit 56 Prozent) eine briten deutsche wie 27 Prozent der Deutschen glau- gemeinsame Währung ablehnen. sehr viel 15 5 ben, das weitgehend machtlose Eu- Die vergleichsweise wenigen Befür- ropäische Parlament treffe die wich- worter einer gemeinsamen europäischen viel 32 21 tigsten Entscheidungen mit Einfluß Währung sind sich wenigstens in einem 34 30 auf das Leben des normalen Bür- Punkt relativ einig: Wenn es denn dazu wenig gers. kommt, sollte die Währung schon Ecu gar nicht 11 22 Das aber sollte sich nach Meinung heißen – mit starken zweiten Plätzen für der meisten Befragten ändern. Wobei Europound und Euromark. sie nicht nur mehr Macht für ihre na- Genannt wurde auch der Eurodollar. tionalen Parlamente (Bundestag, Un- Kein Wunder, denn Briten wie Deut- Pro und contra Eurogeld terhaus) fordern, sondern auch für ört- sche halten die USA für den zuverlässig- „Wenn es eine Volksabstimmung über liche, regionale Verwaltungen. 32 Pro- sten Verbündeten. Doch während bei eine gemeinsame europäische Währung zent sowohl der Deutschen wie der den Deutschen immerhin Nachbar gäbe, wie würden Sie entscheiden?“ Briten wünschen sich eine Schlüsselrol- Frankreich an zweiter Stelle steht (27 le für wichtige Entscheidungen an der Prozent), heißt die Antwort bei den Bri- dafür dagegen Basis, wo sie derzeit nur 12 Prozent ten „Keiner“ (11 Prozent). Erst auf briten (Großbritannien) beziehungsweise 25 Platz drei folgen Großbritannien bezie- 56 56 Prozent (Deutschland) der Vollmach- hungsweise Deutschland. 53 ten angesiedelt sehen. Insgesamt, so findet Emnid-Sander, „Die Leute haben wenig Vertrauen sei eine passive Unterstützung für Euro- 27 40 in die weit entfernten, abstrakten Insti- pa zwar immer noch vorhanden, „aber 33 tutionen in Brüssel“, kommentiert In- sie bröckelt, leider“. Y deutsche 50 Wo liegt die Macht? 58 53 „Welche der folgenden Institutionen trifft Ihrer Meinung nach die wichtigsten 45 Entscheidungen mit Einfluß auf das Leben eines normalen Bürgers in der EU und 24 welche der genannten Institutionen, glauben Sie, sollte diese Entscheidungen 32 treffen?“ trifft Entscheidungen Dez. 1993 April 1994 Nov. 1994 sollte Entscheidungen treffen „Wenn Sie für eine gemeinsame EU- Währung sind, was sollte dann deren briten deutsche künftiger Name sein?“ die Abgeordneten im 23 33 briten deutsche nationalen Parlament 27 33 Ecu 30 40 12 25 die örtlichen und regionalen Pound 20 2 Regierungen (Landesregierungen, Stadträte) 32 32 Deutsche Mark — 19 die Staats- und Bundesminister in 13 24 jedem Staat 15 18 Europound 25 2 Euromark 5 21 die Abgeordneten im Europäischen 25 27 Parlament 14 17 Eurofranc 1 1

16 15 Eurodollar 9 4 die EU-Kommissare 2 4 Andere 1 3 Mehrfachnennungen möglich

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DLRG zur Wachmannschaft des Konzentrationslagers Tre- Riß im blinka gehört haben soll und nach dem Krieg US-Bürger Präsidium wurde, ermitteln Darmstäd- Die rund 50 hauptamtli- ter Staatsanwälte wegen chen Mitarbeiter der Deut- Mordverdachts. Ermittlun- schen Lebens-Rettungs-Ge- gen wegen mutmaßlicher sellschaft (DLRG) bangen Teilnahme an Nazi-Verbre- um ihren Arbeitsplatz in der chen hatte schon die US- Essener Bundesgeschäftsstel- Justiz geführt und dem in- le. Schuld daran sind Um- zwischen 70jährigen wegen zugspläne der Gesellschaft. falscher Angaben die Das DLRG-Präsidium ist für US-Staatsbürgerschaft aber- eine Verlegung der Zentrale kannt. Als die USA den

in die Katastrophenschutz- B. NIMTSCH / MAGMA Mann 1993 abschoben, ver- schule im niedersächsischen Grundschulunterricht in Hamburg schaffte ihm das Bundesin- Bad Nenndorf. Der Bund nenministerium in Kenntnis hatte der DLRG die Schule, muß das 30köpfige Personal Schule der Ermittlungen Bleiberecht Schätzwert rund 30 Millionen des Hauses übernehmen. in Deutschland. Mark, zum symbolischen Gegen „die Vernichtung von Selbstbestimmter Preis von einer Mark angebo- 50 Arbeitsplätzen“ leisten Justiz ten. Der Haken: Die DLRG nicht nur der Betriebsrat der Rhythmus Lebensretter-Zentrale sowie Hamburgs Bildungssenatorin Verflochtene die Gewerkschaft ÖTV er- Rosemarie Raab will in dem bitterten Widerstand; ein Stadtstaat die sogenannte vol- Handlungen Riß geht auch durch das le Halbtagsgrundschule flä- In der brandenburgischen Präsidium. Nachdem nur chendeckend einführen. Da- Haftanstalt „Schwarze Pum- vier von zehn Präsiden ge- nach sollen, bundesweit erst- pe“ büßt ein Häftling prak- gen den Standortwechsel ge- mals, alle Grundschulkinder tisch noch immer wegen ver- stimmt hatten, erklärten täglich fünf volle Stunden in suchter Republikflucht. Der Präsident Joachim Pröhl und der Schule verbringen, statt DDR-Bürger Andreas Lüb- sein designierter Schatzmei- wie bisher mal früh, mal spät ke war 1988 wegen diverser ster, beide Umzugsgegner, nach Hause zukommen. Nach Betrugs- und Diebstahlsde- sie würden im kommenden dem neuen Modell erhalten likte in „Tateinheit mit unge-

C. OSTHOFF Jahr nicht für diese Ämter die Schüler nicht nur planmä- DLRG-Rettungsübung kandidieren. ßigen Unterricht, sondern auch Zeit zum Selberlernen, Spielen und für musische Ak- Kriminalität tivitäten. In welchem Rhyth- mus der Kindertag gestaltet wird, können die Schulen laut Verschollen in Prag Diskussionsentwurf zu einem Durch womöglich gezielte Tolpatschigkeit von Prager neuen Schulgesetz dann selbst Polizisten sind deutschen Sicherheitsbehörden vergange- bestimmen. Der Mehrbedarf ne Woche zwei international gesuchte Autohändler ent- an Lehrern soll durch längere wischt: die Brüder Dieter und Gerhard Helbig aus Wei- Arbeitszeiten der Pädagogen

den in der Oberpfalz, Generalvertreter von Mercedes- und durch Einsparungen bei A. SCHOELZEL Benz in Tschechien, der Slowakei und der Ukraine. anderen Schulleistungen ge- Strafanstalt „Schwarze Pumpe“ Die flüchtigen Brüder sind seit Ende November wegen deckt werden. Veruntreuung und Steuerhinterziehung in mehrstelliger setzlichem Grenzübertritt“ in Millionenhöhe zur Fahndung ausgeschrieben. Sie sollen Asyl Frankfurt (Oder) zu einer Lastwagen und Luxuslimousinen im Wert von 40 Millio- Freiheitsstrafe von vierein- nen Mark nach Prag, Moskau und in die Ukraine gelie- Seltsame halb Jahren verurteilt wor- fert, jedoch die Erlöse der Verkäufe nicht an Mercedes den. Die DDR-Richter hatten weitergeleitet haben. Außerdem stehen sie im Ver- Interessen hauptsächlich das Fluchtvor- dacht, osteuropäischen Autoschiebern Gelegenheit zum Bonns Innenministerium ver- haben abgeurteilt und die Diebstahl ihrer Fahrzeuge geboten zu haben, um an- sucht, eine seltsame Asyl- Vermögensdelikte ausdrück- schließend den Gegenwert von den Versicherungen ein- Entscheidung des eigenen lich als eine „Vielzahl mitein- zustreichen. Hauses zu vertuschen. So ander verflochtener Einzel- Die Brüder Helbig, die auch schon tschechische Regie- müssen sich hessische Behör- handlungen“ zur Fluchtvor- rungsbeamte und Minister unter anderem mit Gratis- den derzeit von der Bundes- bereitung eingestuft. Lübke Testwagen versorgt hatten, waren jetzt von Polizisten in regierung fragen lassen, war- hatte noch gut zwei Jahre ab- Prag gestellt worden. Als sie gegenüber den Beamten um sie im Falle eines gebürti- zusitzen, alser 1990 von einem barsch die Rechtmäßigkeit der Haftbefehle bestritten, gen Litauers, der jetzt in Süd- Hafturlaub nicht ins Gefäng- ließen diese die Brüder stehen, um die Papiere noch- hessen lebt, nicht längst nis zurückkehrte. Dieses mals prüfen zu lassen. Bei Rückkehr der Polizisten wa- „aufenthaltsbeendende Maß- Frühjahr wurde er erneut fest- ren die Brüder – welch Wunder – verschwunden. nahmen“ eingeleitet hätten. genommen und muß nun seine Gegen den Mann, der einst Reststrafe absitzen.

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Werbeseite SPIEGEL-ESSAY Der Preis der Versöhnung

RALPH GIORDANO

enn Sie kein Täter gewesen sind – wer dann?“ Das der nach 1945 verbal und psychologisch eine geradezu umwer- habe ich bei einer persönlichen Begegnung Markus fende Übereinstimmung aus. WWolf gefragt, den langjährigen Chef der Auslands- Wie nach 1945 wird die Opfer-Täter-Situation oft genug aufklärung im DDR-Ministerium für Staatssicherheit, nach- schamlos umgekehrt, wird auch heute am lautesten „Hexen- dem er zuvor erklärt hatte, er habe damals, wie bundesdeut- jagd“ und „Treibjagd“ von denen gerufen, die gestern noch die sche Nachrichtendienstler auch, „nur seine Pflicht getan“. wahren Verfolger waren. Wie damals wird allen, die nun straf- Bei aller Ähnlichkeit der schmutzigen Methoden von Ge- rechtliche und moralische Aufarbeitung anmahnen, Unver- heimdiensten – wie sehr Wolfs absichtsvolle Gleichsetzung söhnlichkeit, Haß, Nestbeschmutzung vorgeworfen, werden sie den strukturellen Unterschied zwischen den beiden deutschen von denen als „Richter“ und „Rächer“ denunziert, die so lange Teilstaaten negiert und ignoriert, läßt sich leicht illustrieren an machtergebene Willkürurteile gefällt und sich ohne jedes Motiv der Antwort auf eine zum Glück fiktiv gebliebene Frage: Was in der Rolle von Racheengeln gefallen hatten. wäre gewesen, wenn die Geschichte den umgekehrten Verlauf Wie damals funktionieren Repräsentanten und Praktikanten genommen hätte, also Deutschland nicht im Zeichen der de- des SED-Regimes die Anklage gegen sie in eine gegen das ganze mokratischen Republik, sondern dem des SED-Politbüros Volk um (was schon deshalb nicht stimmt, weil die Sympathien wiedervereinigt worden wäre? zum SED-Staat selbst zu seinen besten Zeiten nie auch nur mit Welche Haltung hätten dann, zum Beispiel, jene herr- dem Bruchteil jener Massenbegeisterung konkurrieren konn- schaftsgewohnten NVA- und Stasi-Größen an den Tag gelegt, ten, die für Hitler-Deutschland charakteristisch war). die heute am schrillsten auf die Rechte jener Demokratie po- Wie damals, weiter, wird persönliche Verantwortung nach chen, die sie und ihre „Organe“ gestern noch ebenso buch- oben und unten, rechts und links, auf jeden Fall aber von der ei- stäblich wie übertragen mit Füßen getreten haben? Wären genen Person weit weg delegiert; taugt die Justiz des Rechtsstaa- dann die Pläne zur Einrichtung von „Internierungslagern“ bis tes nur sporadisch für Verfahren gegen die unteren Glieder in an den Rhein verwirklicht worden? der Kette der staatlichen Gewalt (damals KZ-„Tötungsarbei- Aber genug des Schreckensszenarios. Es wird ohnehin nur ter“, heute „Mauerschützen“), während die Befehlshaber, von beschworen als Ouvertüre zum Zweiakter deutscher Katastro- wenigen Alibi-Ausnahmen abgesehen, straflos davonkommen phengeschichte in unserem Jahrhundert: Wie kann Vergan- werden. Und genau wie damals, sehen sich auch heute Regime- genheit, unliebsame, schlimme, tödliche Vergangenheit, mög- gegner dem Triumph schikanöser Vorgesetzter von gestern aus- lichst erfolgreich und zum eigenen Nutzen verdrängt werden? gesetzt. Damals, nach 1945, die Vergangenheit unter dem Vorzeichen des Hakenkreuzes, nun, nach 1989, unter dem des Hammer- und-Zirkel-Emblems. rst recht unheimlich wird mir zumute, wenn ich wieder Aufruhr? – DDR- und NS-System dürften nicht gleichge- höre: „Wer hier nicht gelebt hat, der kann auch nicht ur- setzt werden? Wie wahr! Nur, wer wagt es, dem Chronisten, Eteilen!“ Was immer daran wahr sein mag, es provoziert Überlebenden des Holocaust, solche Nivellierung zu unter- meine ungetrübte Erinnerung, Ähnliches hundertmal nach 1945 stellen? Kann ich mich doch nicht daran erinnern, daß die aus dem Munde von Leuten vernommen zu haben, die nie etwas Staatsführung der DDR und ihre Armee Pläne zur Eroberung anderes getan haben, als ihr damaliges Leben zu verschleiern, des Kontinents und der Welt ausgearbeitet oder gar ein zwei- statt durch Aufklärung zu gerechteren Urteilen beizutragen. tes Auschwitz vorbereitet hätten. Nein, ich leugne weder das ungleiche Kriminalgewicht von Nur: Wird denn ein so scheußliches System wie das des real Holocauststaat und SED-Herrschaft noch persönliche Tragö- existierenden Sozialismus etwa weniger scheußlich dadurch, dien durch den Einsturz lebenslanger Überzeugungen. Aber es daß es ein noch scheußlicheres gab? Genügte nicht seine ganz sind die synchronen Verdrängungskünste von einstund jetzt, die gewöhnliche Gemeinheit, das alltägliche Universum der büro- in mir die längst verschollenen Spruchkammersitzungen der kratischen Niedertracht über vier Jahrzehnte hin, um diesen weit zurückliegenden Entnazifizierungsjahre 1946 bis 1952 Staat als das zu erkennen, wachrufen: Niemand was er war? Warum nun wollte Nazi gewesen sein, absichtsvoll an ihn das alle nur Würstchen, für singuläre NS-Meßmodell kurze Zeit demütig ge- zu seiner Relativierung schrumpft auf kaum die oder Minimalisierung le- Hälfte ihres einstigen Her- gen? renmenschentums, winzi- Es sind, verdammt ge Rädchen in einem Sy- noch mal, die heutigen stem, das nun nicht mehr Verdränger selbst, die existierte und von dem sich immer wieder in die sich am schnellsten und ungewollte Nähe zu den gründlichsten die trennen gestrigen bringen! Für wollten, die ihm vorher mich, den aktiven Beob- am inbrünstigsten ange- achter der Szene seit fast hangen hatten. 50 Jahren, weist die Ver- Deutschland, Deine drängung nach 1989 mit Verdränger . . .

54 DER SPIEGEL 49/1994 Wenn bis hierher von Tätern die Rede war, habe ich haupt- Ich blättere in dem „Vernehmungsprotokoll des Beschuldig- sächlich an Hierarchen gedacht, klar oben angesiedelte Funk- ten Jürgen Fuchs, Berlin, den 5. Januar 1976“. Dabei stelle ich tionäre, unbezweifelbar Schuldige, egal, ob sie strafrechtlich mir die namenlose Einsamkeit des damals 25jährigen in der belangt werden können oder nicht. Bei ihrer Beurteilung fühle monatelangen Stasi-Haft vor, fahnde nach den Wurzeln seiner ich mich leidlich sicher aufgrund universaler Kriterien, die ich enormen Standfestigkeit: „Die dem Beschuldigten gestellten mir in einer daseinslangen Konfrontation mit den beiden Fragen wurden protokolliert, er verweigerte aber deren selbsterfahrenen Gewaltsystemen Nazismus und Stalinismus Kenntnisnahme.“ Erinnere mich an mein Entsetzen bei der erkämpfen konnte. Aber so sicher bin ich mir nicht immer an- Lektüre seiner erschütternden „Gedächtnisprotokolle“. gesichts überaus unterschiedlicher Reaktionen auf die Ausein- Frage mich, konsterniert: Wo sind die Verhörer heute? Was andersetzung mit der DDR-Epoche unterhalb dieser Ebene. tun sie? Hat auch nur einer von ihnen den damals „Vernom- Da sind die voller Wut. Wut zwar auch über blökende Über- menen“ aufgesucht? macht und superiores Gehabe aus dem Westen, über brutalen Manchester-Kapitalismus zu Lande, zu Wasser und auf der grünen Wiese, über soziales Unrecht und „Treuhand“-Un- ieser Staat hat über Jahrzehnte hin foltern lassen, mit glaublichkeiten. Vor allem aber Wut über die Fortsetzung des Angriffen auf den menschlichen Körper und auf die alten Unrechtsstaates unter den Bedingungen der Demokra- D menschliche Seele. Aus diesem Verhängnis gibt es tie: durch ein schleppendes, ja stagnierendes Strafrecht und kein leichtes Entkommen. Aber seine Last haben wir alle zu das drohende Versanden der moralischen Auseinanderset- tragen. zung. Wird es diesmal gelingen, die furchtbare Regel unseres Diese Gruppe wird es jedoch dazu nicht kommen lassen, sie Jahrhunderts zu durchbrechen, nach der Täter prinzipiell wird keinen Frieden schließen mit den Staatsterroristen von straflos bleiben, wenn ein Gewaltregime durch die Demokra- gestern, sondern auf ihrer Forderung nach Sühne und Gerech- tie abgelöst wird? Die Regel galt im Deutschland nach Hitler, tigkeit bestehen und die Opfer einklagen (nach meinen empi- im Italien nach Mussolini, im Spanien nach Franco, im Chile rischen Erfahrungen mit hoher Bereitschaft, zu differenzieren nach Pinochet, dem Argentinien nach der Mordherrschaft der und Bundesgenossen aus dem Westen zu akzeptieren). Obristen und in den Teilstaaten der zerfallenen Sowjetunion. Eine andere Gruppe reagiert geradezu allergisch auf alles Einzige Lehre daraus: Wenn ein Gewaltregime erst einmal und jedes, was von außen kommt. Manchmal gibt’s sogar den seine Macht errichtet hat, ist es zu spät. Dann werden wir, Schulterschluß einst keineswegs systemkonformer DDR-Bür- nachdem es implodiert oder von außen besiegt worden ist, im- ger und -Bürgerinnen mit dem verblichenen System – ehe per- mer wieder die gleichen hilflosen Gespräche führen, immer sönliche Aufrichtigkeit über- wieder den Zynismus und zeugen und die Barriere den Triumph der Täter, die durchbrechen kann. „Wie nach 1945 wird Ohnmacht der Opfer erle- Die dritte, meiner Mei- ben. nung nach größte Gruppe die Opfer-Täter-Situation oft Wiederholung aber kann besteht aus jenen, die, ver- nur durch Aufklärung und ständlicherweise, 40 Jahre schamlos umgekehrt“ Aufarbeitung verhindert nicht „falsch“ oder „um- werden. Ihren Widersachern sonst“ gelebt haben wollen, sage ich, nach so langen Er- gegenwärtig als ehemals „Staatsnahe“ Nachteilen ausgesetzt fahrungen mit deutscher Verdrängung: Diese „Alternative“ sind und nun trauern, und zwar über das eigene Los. An ihnen funktioniert nicht! Verdrängung bewirkt nichts, als die Mas- entdecke ich ein ganzes System unsicherer Verletztheit. se unaufgearbeiteter Vergangenheit ständig zur Gegenwart Dazu gehört die Neigung, die Charakteristik der DDR als zu machen und sie damit schuldlosen Generationen aufzu- „Unrechtsstaat“ zu ironisieren; seine Ankläger zu bezichtigen, bürden. sie stempelten alle, die in ihm gelebt und gearbeitet haben, Sollte also die Hypothek des real existierenden Sozialis- gleich mit zu „Verbrechern“; damals eigene Antriebe wie blin- mus auf die gleiche Weise behandelt werden wie das Erbe de Überzeugung, Opportunismus, Karrierestreben entweder des Nationalsozialismus, dann prophezeie ich Deutschland, bei sich auszuschließen oder sie so zu inflationieren, daß sie daß es noch in der Mitte des 21. Jahrhunderts von der un- unsichtbar werden. aufgearbeiteten stalinistischen Vergangenheit schwer ge- schüttelt wird. Den Schlußstrich-Apologeten und selbsternannten Toten- um Vorschein kommen da schwer versehrte Biogra- gräbern der DDR-Aufarbeitung aber sage ich voraus, daß phien, auf die das Wort von Christa Wolf zutrifft: „Wer sie scheitern werden, und zwar nach dem ehernen Gesetz Zsich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst ver- der antiken Tragödie. Ein Schicksal wird gerade durch jene kehrt.“ Maßnahmen, die es abwenden sollen, nur um so eher her- Neben natürlicher Anteilnahme daran will mich gleichzeitig beigeführt. In diesem Falle: Die Debatte um den Stasi-Staat die Ungerechtigkeit der Geschichte ersticken. Einfach, weil würde nicht beendet, sondern ewig dauern. ich aus einer Gesellschaft komme, die sich als der eigentliche Wer dabei, wie kürzlich Egon Bahr im SPIEGEL, gar Sieger der Geschichte entpuppt hat – die der alten Bundesre- noch das BRD-Modell des Großen Friedens mit den Haken- publik. Während ungeachtet des von ganz Deutschland 1939 kreuztätern samt seinem Kronzeugen, dem Adenauer-Inti- vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieges die Deutschen mus und Rassenkommentator Hans Globke, als Vorbild auf dem Territorium der späteren DDR qua Geographie da- rühmt, der muß nicht nur von allen humanen Geistern ver- durch zu historischen Verlierern wurden, daß der militärische lassen sein, sondern verrät auch zusätzlich noch seine totale Gegenschlag das Sowjetsystem für 44 Jahre bis an die Elbe ka- innere Beziehungslosigkeit zur Welt der Nazi- und der Stasi- tapultiert hatte. Opfer. Versöhnung? O ja, aus vollem Herzen! Aber um ei- Und doch nützt es nichts, die individuelle Anfrage bleibt: nen niedrigeren Preis als den schmerzender Aufrichtigkeit, Wo hat das eigene Ego während der 40 Jahre einer unsägli- Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ist sie nicht zu haben, Egon chen Parteiherrschaft gestanden? Wie hat es sich verhalten, Bahr! wie es mit der Macht gehalten? Ratio aus eigenen politischen Deutschland, Deine Verdränger . . . Y Irrtümern: Sich nicht verteidigen, gestehen – vor allem vor sich selbst. Giordano, 71, lebt als Autor in Köln.

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Software Ungehemmt lustvoll Computer-Lernprogramme über- schwemmen den Software-Markt – mit veralteter Drill-Pädagogik und überfrachteten Spielereien.

lempner Mario hat einen neuen Job. Das rasende Supermännchen Kmit der Schiebermütze, Hauptdar- steller eines Gameboy-Spiels und Sym- bolfigur der Nintendo-Generation, muß Kindern jetzt Rechnen, Schreiben und Erdkunde beibringen. „Super Mario“ befindet sich dabei in hinreichend bekannter Gesellschaft. Ob Mickymaus, Peter Pan oder Pumuckl: Gleich dutzendweise wechseln Zeichen- trickfiguren derzeit von Spielkonsolen Lernspiel „Mathe-Blaster“: „Riesige Bereitschaft zum Kaufen“

Lernspiele „Cad für Kids“, „Pumuckl“: „Male richtig, sonst komm’ ich in Wut“ und Fernsehern auf den PC-Bildschirm. Lern-Software, oft hastig auf den Macintosh-System sind nicht einge- Sie sollen jungen Computerbenutzern Markt geworfen, soll vor allem im deutscht. Einzig das Lernprogramm im Alter von drei bis zwölf Jahren Nach- Weihnachtsgeschäft Kasse machen. „Kleiner Bauernhof“, bei dem die Kin- hilfe geben. Und Hardware-Verkäufer wie Gateway der zusammen mit den Dinos Bronto Mit dem pädagogischen Geschick der („Family-PC“) oder Schadt Computer- und Rexi das Leben auf dem Lande er- Cartoon-Typen ist es allerdings nicht technik („Der High-Tech Familien PC“) kunden können, ist für Apple-Benutzer weit her. „Male richtig, sonst komm’ ich wollen ihre Rechner in Wohn- und Kin- zu haben. in Wut“, schnauzt Hilfslehrer Pumuckl derstuben plazieren. Immer mehr El- Besser hat es die PC-Gemeinde, die erschrockene Kids aus dem Lautspre- tern, haben Mitarbeiter des Computer- Microsofts Betriebssystem MS-Dos und cher der Multimedia-Anlage an, wenn Discounters Vobis beobachtet, bringen Windows benutzen. Von „Works für sie beim Ausmalen eines Bildes mit dem ihre Kinder beim PC-Kauf gleich mit. Kids“ bis zu „Merlins Mathe“, vom Cursor über die vorgegebenen Linien Ein Verkäufer des Vobis-Konkurrenten „Creative Writer“ bis zum „Rechenrie- geraten. Und der außerirdische „Adi“, Escom: „Die kennen sich da halt besser sen Adam“ reicht die kaum überschau- Held einer kompletten Serie (Werbeslo- aus.“ bare Vielfalt. Rund 10 000 elektronische gan: „Spielerisch lernen“), sorgt bei Die Nachfrage nach kindgerechter Lernspiele sind derzeit nach Schätzun- Erstkläßlern, die das Programm vorzei- Software, sagt Matthias Weh vom Ber- gen im Angebot. tig verlassen wollen, für Gewissensnot: liner Apple-Fachhändler Pandasoft, Der Markt expandiere „unheimlich“, „Wir werden uns doch nicht einfach so „steige ständig“. Pech für die Apple-Ge- bestätigt Corinna Medenus vom Stutt- trennen. Also komm, weiter geht’s.“ meinde: Die meisten Programme für das garter Software-Haus Heureka Klett,

58 DER SPIEGEL 49/1994 Werbeseite

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„die Bereitschaft zum Kaufen ist riesig“. Der Klett-Verlag, der traditionell die Schulen mit Büchern vom Atlas bis zur Lateingrammatik versorgt, hat sein Sorti- ment erweitert. Renner zur Weihnachts- Lernen mit Peter Pan zeit sind das spielerische Rechenpro- gramm „Mathe-Blaster“ und das Kon- Welche Programme für Kinder taugen struktionsprogramm „Cad für Kids“. „Eine Trendwende im Image“ sieht Jens Schubert, Inhaber eines der ersten MATHE-BLASTER gegebenen Bauteilen können Kin- deutschen Spezialgeschäfte für Lern- und Ein „Müllfiesling“ hat den kleinen der dreidimensional wirkende Ge- Spiel-Software im Berliner Bezirk Char- Außerirdischen „Spot“ entführt. bäude errichten und auf zehn un- lottenburg. Der PC komme weg vom Die Befreiung klappt nur, wenn der terschiedliche Arten wieder abrei- „Ballerspiel-Image“, Eltern fragten nach Spieler in vier verschiedenen Sze- ßen. Leselern- und Mathematikprogrammen. nen Aufgaben richtig rechnet. In Schubert: „Wir stehen erst am An- Spielpausen ist bei diversen Tests Cad für Kids (für PC, Windows); Alter: ab 7 fang.“ Reaktionsvermögen gefragt. Die Jahre; VERLAG: Heureka Klett, Stuttgart, 98 In Deutschland steht bereits in jedem Handlung ist abwechslungsreich, Mark. vierten Haushalt ein elektronischer verschiedene Schwierigkeitsgrade Rechner. Der Computer, lobt der Reut- sind wählbar. DER KLEINE BAUERNHOF linger PC-Lehrer Ulrich Kramer sein Me- Wie leben Enten, Kühe, Pferde, dium, bereite „dieKinder aufeinen unge- TITEL: Mathe-Blaster (für PC, Windows); Alter: Katzen auf dem Land? Sobald hemmten, lustvollen Umgang mit den 6 bis 12; VERLAG: Heureka Klett, Stuttgart, 98 Kinder einen Cursor mit der Com- neuen Technologien“ vor. Der Apparat Mark. putermaus über den Bildschirm be- wegen können, finden sie die Ant- wort im „kleinen Bauernhof“. Er- klärungen liefern zwei Zeichen- trick-Dinos über die Soundkarte, per Mausklick können kleine Fil- me und Animationen gestartet werden. Was sie entdecken wollen, können die Kinder frei bestimmen.

TITEL: Der kleine Bauernhof (für PC, Windows und Apple); Alter: ab 3 Jahre; VERLAG: Teach- Media, Ismaning, 109 Mark.

ADI Ein kleiner Außerirdischer paukt mit den Kindern Deutsch oder Ma- thematik. Die Programme sind für unterschiedliche Klassenstufen er- hältlich. Zusätzlich sind mehrere kleine Spiele enthalten, die erst zugänglich werden, wenn der Schüler im Lernprogramm eine be- stimmte Punktzahl erreicht hat.

B. GEILERT / GAFF TITEL: Adi (für PC, CD-Rom); Alter: ab Vorklas- Spezialgeschäft für Lernsoftware* se, je nach Programm; VERLAG: Coktel Vision, „Wir stehen erst am Anfang“ CREATIVE WRITER Dreieich (Vertrieb: Bomico, Kelsterbach), 99 Spielerisch können Kinder bei die- Mark. sei, anders als manche Eltern oder Leh- sem Programm Texte und Einla- rer, „geduldig“ und „erkläre immer wie- dungskarten gestalten. Zahlreiche PETER PAN der“. Grafiken werden zur optischen Ge- Die Möglichkeiten des Computers staltung angeboten, ein „Satzomat“ Mal hilft der Stift, mal der Radier- werden allerdings von manchen pro- erlaubt spaßige Nonsens-Formulie- gummi, wenn Peter Pan in Schwie- grammierenden Schlicht-Pädagogen rungen. rigkeiten gerät. Wer von den klei- kaum genutzt. Etliche Firmen, so die nen Helfern im Spiel „Peter Pan“ auf seiten des Helden eingreift, Bamberger Erziehungswissenschaftler TITEL: Creative Writer (für PC, Windows); Alter: entscheiden die Kinder, die den Friedrich Schönweiss und Rainer Wagen- ab 8 Jahre; VERLAG: Microsoft, Unterschleiß- Zeichentrick-Pan auf seinem häuser, „präsentieren schnell und lieblos heim, 129 Mark. Abenteuer begleiten. Kids ab 3 zusammengestellte Lernprogramme“. Jahre werden spielerisch mit logi- Vielen sei anzusehen, daß „als Autoren CAD FÜR KIDS schem Denken und den Möglich- nicht Pädagogen, sondern Programmie- Wie kommt der Swimming-pool ne- keiten des PC vertraut gemacht. rer fungierten“. ben das Haus? Wie wird ein Zim- Viele Kids sind dann rasch enttäuscht. mer mit Möbeln ausstaffiert? Mit TITEL: Peter Pan (für PC); Alter: ab 3 Jahre; „Zum Spielen und Lernen, interaktiv und dem Konstruktionsprogramm „Cad VERLAG: EA-Kids (Electronic Arts), Gütersloh, spannend“, verheißt etwa die Werbung für Kids“ und den zahlreichen vor- 99 Mark.

* In Berlin-Charlottenburg.

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Werbeseite DEUTSCHLAND für die Pumuckl-Reihe. Bei näherem Und in seinen Hilfetexten finden sich Hinsehen entpuppen sich die Program- schon mal Rechtschreibfehler. me, immerhin je 40 Mark teuer, als zum Wichtiger als korrekte Vermittlung Teil simple Bildschirm-Puzzles, die des Stoffes, klagen Pädagogen, sei den schnell langweilig werden. Fazit einer Programmierern oft, wie spaßig sich ih- Mutter: „Da liegen mir die Teile wenig- re Figuren auf dem Bildschirm bewe- stens nicht mehr im Weg herum.“ gen: Da läuft ein Feuerschlucker knall- Selbst bei den Amerikanern, auf dem rot an, bleibt ein Löwe in einem Zirkus- Markt der multimedialen Kinder-Soft- reifen hängen, fällt einem Zeichentrick- ware führend, kehrt Ernüchterung ein. Männchen zur Schadenfreude der Kin- Vielen Lernprogrammen, klagen zum der die schwere Bowling-Kugel ge- Beispiel debattierende Eltern im welt- räuschvoll auf die Füße. umspannenden Internet, sei eines ge- Entdeckendes Lernen, wie es der Multimedia-PC bieten könnte, findet sich nur in einer Handvoll Programme – „Ein wirklich einfaches vorwiegend eingedeutschten Versionen und verständliches Buch der US-Software-Produzenten David- son oder Knowledge Adventure. für Computerlaien“ „Cad für Kids“ mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, auf dem Computerbild- meinsam: Es gebe keinen Grund, wes- schirm Häuser zu konstruieren, einzu- halb Kinder manche Fertigkeiten am richten und abzureißen, gehört dazu, Computer lernen sollten. ebenso „Abenteuer Weltraum“, eine Tatsächlich setzen viele Programme spannende Entdeckungsreise durch den nur lehrerübliche Arbeitsbögen oder Kosmos. Microsofts „Creative Writer“ Karteikarten um. Mit ihnen wird der PC bietet etliche Werkzeuge zum Geschich- zur Drillmaschine mit endlosen Abfra- tenerzählen und Gestalten von Texten gevarianten und integrierter Leistungs- (siehe Kasten Seite 61). kontrolle. Selbst bei gut gemachten Program- Vor allem in der Mathematik produ- men, meint PC-Pädagoge Kramer, soll- zierten die Software-Hersteller „reine ten sich die Eltern mit vor den Bild- Abfrageprogramme“, die den Lernwilli- schirm setzen: „Es ist immer schlecht, gen „womöglich auch noch unter die Kinder allein zu lassen.“ Zumal El- lähmenden Zeitdruck setzen“, kriti- tern, die ihre Kinder mit Lern-Software siert Wagenhäuser, an der Entwicklung der Lern-Software „Alfons“ beteiligt. Pinguin Alfons, Produkt eines Nürn- berger Lehrmittel- verlags, bietet im- merhin den Wechsel zwischen Lernaufga- ben und Spiel, wie er von Reformpädago- gen gefordert wird. Bei Lehrern gilt das Programm als recht gelungen, wenn auch nicht ohne Macken. Zwar könnten die Kinder eine Hilfe- funktion aufrufen. Lernspiel „Adi“: „Es ist schlecht, Kinder allein zu lassen“ Aber was solle denn, wundert sich der Ulmer Lehrer Jochen sinnvoll beschäftigen wollen, vor dem Adam, „ein Leseanfänger mit einer Kauf ohnehin keine Beratung finden: In fünfsätzigen Erklärung anfangen?“ Warenhäusern und Computerläden Auch Zauberer Merlin im PC-Lern- kennt kaum ein Verkäufer die Program- programm „Mind Castle“ überfordert me, Vorführungen sind nicht üblich. die Kinder. Beim Versuch, den Wort- Die Beschäftigung mit der Lern-Soft- schatz von Siebenjährigen zu erweitern, ware lohnt sich auch für Eltern. Er- quält er Kinder mit der Aufforderung, kenntnis des Bonner Thomson-Verlags, ein anderes Wort für „toxisch“ zu fin- der für Kinder ein Anleitungsbuch zur den. Das Programm zwingt sogar zu fal- Microsoft-Textverarbeitung „Word für schen Antworten: Als Ersatz für „Vor- Windows“ herausbrachte: Überra- urteil, sehr persönliche und ungerecht- schend viele Erwachsene kauften das fertigte Verzerrung eines Urteils“ bietet Werk, weil sie zum erstenmal „ein wirk- der Wortzauberer nur die Alternative lich einfaches und verständliches Buch zwischen „Meinung“ und „Intoleranz“. auch für Computerlaien“ fanden. Y

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Werbeseite . T. MAYER / DAS FOTOARCHIV Bauer beim Giftspritzen: „Da geht kaum ein Tropfen verloren“

dann die Schnipsel in den Müllsack.“ Also sprach Bäuerin Mushardt bei der Umwelt Doch Mushardts Frau Ute, 31, will den benachbarten Müllverbrennungsanlage Müllhaufen in der Scheune unbedingt in Bremerhaven vor. Doch die Werks- umweltgerecht loswerden. Seit dem leitung hielt von den IVA-Beteuerun- Frühjahr legt sie sich mit Unternehmen gen wenig: Mushardt müsse eine „per- Schnipsel und ratlosen Behörden an, denn die sönliche Haftungserklärung“ unter- Rechtslage ist unklar. schreiben, falls bei der Verbrennung ih- Laut Gebrauchsanweisung sollen rer Kanister Gifte frei werden sollten. in den Sack die ausgedienten Verpackungen dem Dieses Risiko war Mushardt zu groß, „Hausmüll beigegeben“ werden, obwohl schließlich könne sie „nicht geradeste- Bauern bleiben auf verseuchten schon ein Spritzer mancher Giftreste et- hen“ für die Produkte der deutschen Pestizid-Verpackungen sitzen. wa Augen oder Haut verätzen kann. Chemieindustrie. Auch das Chemikaliengesetz greift bei Auch der örtliche Landhandel, von Die Chemieindustrie verweigert diesen Pestizidrückständen nicht. Da- dem Familie Mushardt Agrarchemika- die Rücknahme. nach gelten selbst solche Stoffe als lien wie den Fliegenkiller „Karate“ (ICI „mindergiftig“, bei denen „begründeter Agro), den Pilztöter „Opus Top“ Verdacht“ besteht, daß sie „krebserzeu- (BASF) oder den Gräserstopper „Gal- ennHans-HeinrichMushardt,34, gend, fruchtschädigend oder erbgutver- lant“ (Bayer) einkauft, verweigerte die mit der Spritze ausfährt, hat er al- ändernd“ seien. Rücknahme der Kanister. Die Wert- WlesimGriff.Im Führerhaus seines Auch „gründliches Spülen“ der Kani- stoffsammler vom Dualen System, das Treckers zeigt ein elektronisches Kon- ster könne nicht alle Giftstoffe beseiti- über den Gelben Sack auch Plastikbe- trollpult an, wieviel Agrarchemie er auf gen, geben selbst die Chemielobbyisten hälter erfaßt, ließen den giftigen Agrar- jeden Quadratmeter seines Landes vom Frankfurter Industrieverband Agrar müll ebenfalls stehen. sprüht: „Die Brühe kommt bei uns (IVA) zu; die hochkomplexen Chemika- Da informierte das Bauernpaar den punktgenau auf den Acker.“ lien würden teilweise in „die Behälter- bisherigen Vorsitzenden des Umwelt- Dank modernster Technik verteilt wand migrieren“. Aber derart geringe ausschusses im Bundestag, Wolfgang Mushardt jetzt weit weniger der teuren Mengen seien, so die IVA, in der Müll- von Geldern (CDU), Abgeordneter aus Herbizide, Insektizide und Fungizide auf verbrennung ohne „schädliche Emissio- Mushardts Wahlkreis Cuxhaven. Gel- seine 200 Hektar Pachtland beim nieder- nen“ durch den Ofen zu schicken. dern zeigte sich überrascht, daß die sächsischen Otterndorf nahe Cuxhaven als früher. Den Gifteinsatz konnte er mit Hilfe einer Beratung der Universität Kiel mehr als halbieren. „Da geht kaum ein Tropfen verloren.“ Um so mehr ärgert Mushardt ein unschöner Plastikberg, der in seiner Scheune wächst. Für die geleerten Kunst- stoffkanister der hochwirksamen Acker- gifte gibt es derzeit keine geregelte Ent- sorgung. Rund 3000 Tonnen der Plastikgebinde fallen in Deutschland pro Jahr an. Die meisten Landwirte lassen den gefährli- chen Müll irgendwo illegal verschwin- den, kippen ihn auf normale Deponien oder lagern ihn auf ihren Höfen. „In den alten Scheunen“, sagt Otto Petersen, Leiter des Landhandels Labag im nieder- sächsischen Freiburg, seien regelrechte Zwischenlager entstanden. Die Landwir- te fühlten sich von den Pestizidproduzen- ten „völlig im Stich gelassen“.

Von Kollegen erhielt Bauer Mushardt M. BÄSSLER einen Tip: „Mit dem Traktor drüber und Familie Mushardt, Pestizidbehälter: Fliegenkiller, Pilztöter, Gräserstopper

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Giftkanister als Hausmüll deklariert werden. Der Politiker vertröstete die Stasi Mushardts und verwies auf eine neue Gesetzesregelung, die derzeit in Bonn beraten wird. Eine überarbeitete Verpackungsver- Psych. ordnung soll künftig auch Behälter mit „anhaftenden Schadstoffen“ erfassen. Ob sich dadurch praktisch etwas ändert, am Ende ist zweifelhaft. Da die Entsorgung von Hausmüll nur rund ein Fünftel von dem Eine neue Studie belegt: Die Kader kostet, was für die Beseitigung von Pro- der Stasi waren im Wende- blemstoffen bezahlt werden muß, drängt die IVA darauf, daß die Kanister herbst 1989 früh demoralisiert. als „Ersatzbrennstoffe“ für die Müllöfen eingestuft werden. rich Mielke schwelgte im Pathos. Zwar verlangen die Hersteller der „Lieber stehend sterben als knieend hochwirksamen Chemikalien gegen Ak- Ein Knechtschaft leben“, gab der kerfuchsschwanz, Blattläuse oder Mehl- DDR-Minister für Staatssicherheit am tau bis zu 100 Mark pro Liter, wieder 28. September 1989 den Seinen als Paro- einsammeln wollen sie die leeren Gefä- le vor. ße freilich nicht, denn das wäre um- Neun Tage später, am Abend des ständlich und teuer. „Für die Rücknah- 7. Oktober, als Hunderte Ost-Berliner me solcher Gebinde“, sagt Hannelore im Bezirk Prenzlauer Berg demonstrier- Schmid von der IVA, „sind wir nicht zu- ten, befahl der Stasi-Chef: „Haut sie ständig.“ Empfohlen wird umweltbe- doch zusammen, die Schweine.“ wußten Landwirten statt dessen die Ungeklärt ist bis heute, warum der nächste Sammelstelle für Sondermüll. schwerbewaffnete, quasi-militärische Derartige Einrichtungen gibt es aller- Apparat der Tschekisten sich dann doch dings meistens nur in größeren Kommu- nahezu widerstandslos der gewaltlosen nen. Zudem nehmen sie oftmals ledig- Revolution ergab. lich kleine Mengen aus privaten Haus- Der Historiker Walter Süß, 47, hat halten an. beim Aktenstudium in der Berliner Weil Bäuerin Mushardt hartnäckig Gauck-Behörde eine Antwort gefun- weiterfragt, wo sie ihren giftigen Müll den. Sein Fazit: „Unter dem Druck der ordentlich entsorgen lassen kann, rea- demokratischen Volksbewegung machte gierten nun die örtlichen Behörden. Die die Staatssicherheit einen Prozeß be- Beamten wollen demnächst den Boden schleunigter innerer Erosion durch.“ auf dem Mushardt-Gehöft untersuchen Der Geheimdienst, glaubt Süß, taugte lassen. nicht mehr für den Bürgerkrieg. Die Begründung: Da Mushardts ihren In einer mit zahlreichen Dokumenten giftigen Müll nicht heimlich irgendwo untermauerten Studie hat der Historiker abkippen wollen, lagern sie ihn ja offen- bar auf dem Hof. * Bei einer Demonstration am 4. Dezember 1989 Und das ist verboten. Y vor der Stasi-Zentrale. W. M. WEBER Volkspolizisten in Leipzig*: „Haut sie zusammen, die Schweine“ Werbeseite

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erstmals den Zerfall der in der Visastelle Schlange Mielke-Truppe detailliert und wollten sich ein Visum beschrieben**. für West-Berlin oder die Wie gelähmt registrierte BRD holen“. danach die Berliner Zentrale „Selbst manchen reifen Of- des Ministeriums für Staats- fizier“, jammerte ein Möller- sicherheit (MfS) die von Kollege, hätten die 100 Mark Woche zu Woche anschwel- Begrüßungsgeld im Westen lende Zahl von Protestmär- mehr gelockt „als das, was schen im Wendeherbst. sich in den Jahren als Ideal Brennende Kerzen und Sta- dargestellt hat“. si-feindliche Parolen in vie- Am meisten aber, schreibt len Städten verunsicherten Süß, habe die Genossen die Mitarbeiter – und er- Erich Mielkes Auftritt am 13. munterten sie zur Rebellion November vor der Volks- von innen. kammer demoralisiert. Da In einer Aussprache be- stammelte der 81jährige mit klagten Anfang November ausgebreiteten Armen jenen erstmals 31 Stasi-Soldaten Satz, der als einziger den Sta- des Wachregiments Feliks si-Chef überleben dürfte: Dzierzynski „Mißtrauen, „Ich liebe, ich liebe doch al- Unverständnis und Angst“ le.“ der Bürger gegenüber dem „Das makabre Schau-

MfS. Die Garde, unter an- K. MEHNER spiel“, empörten sich Mitar- derem zuständig für den Stasi-Chef Mielke*: „Ich liebe doch alle“ beiter der Kreisdienststelle Schutz der Berliner Stasi- Jena, habe „das MfS insge- Zentrale, sei im Volk als „Knüppeltrup- Bei einer Sitzung der Parteikontroll- samt herabgewürdigt“. Mielke mußte pe“ verschrieen. Die Protestler kritisier- kommission im MfS erklärte laut Proto- sich zwei Tage später vor der versam- ten Privilegien ihrer Oberen und forder- koll ein Genosse unverblümt, die Beleg- melten Stasi-Spitze, dem Kollegium, ten „Veränderungen auch in unserem schaft fühle sich „durch die Partei belo- entschuldigen. Ein Major notierte: Ministerium“. gen und betrogen“. Ein anderer pflich- „Minister gesprochen / bedauert / konn- Bei Mielkes Stellvertreter Wolfgang tete ihm bei: „Wir werden angeschwin- te sich nicht mehr steuern / (psych. / Schwanitz häuften sich Beschwerden delt und schwindeln selber.“ physisch am Ende)“. Das geplante feier- und Anfragen aus den eigenen Reihen, Der desolate Zustand ihrer Kader etwa die: „Wer ist unser Feind? Sind die wurde den Stasi-Oberen spätestens vier Vertreter des Untergrundes jetzt An- Tage nach Öffnung der Mauer klar. Am Die Stasi-Offiziere dersdenkende?“ 13. November verbreitete das damalige rebellierten gegen ihre Die Parteileitung im MfS faßte die SED-Blatt Berliner Zeitung die Ente, Stimmung an der Stasi-Basis in dem Ap- auch Angehörige des MfS dürften in die Vorgesetzten pell zusammen: „Es muß erklärt wer- Bundesrepublik fahren. den, was das MfS eigentlich will und für Plötzlich, meldete Generalleutnant liche Stehbankett zum förmlichen Ab- was es da ist.“ Günter Möller, Chef der Hauptabtei- schied Mielkes, der am 17. November Die Generäle, so geht aus den Akten lung Kader und Schulung, fassungslos zurückgetreten war, fiel aus. hervor, waren ratlos. der Parteileitung, „standen die bei uns Mielkes Nachfolger Wolfgang Schwanitz konzentrierte sich darauf, in Übereinstimmung mit dem neuen Re- gierungschef Hans Modrow das Über- leben des Geheimdienstes zu organisie- ren. Vor allem das „inoffizielle Netz“ der Spitzel, forderte Schwanitz, müsse intakt bleiben. Doch dafür war es bereits zu spät. Die Inoffiziellen Mitarbeiter „seilen sich ab“, notierte Generaloberst Rudi Mittig, zweiter Mann im Ministe- rium. Der Countdown der Stasi begann Anfang Dezember. In der DDR über- stürzten sich die Ereignisse: Die SED- Führung trat zurück, in der Volkskam- mer wurden die ersten Berichte über korrupte Parteibonzen verbreitet. Der Devisenbeschaffer Alexander Schalck- Golodkowski, dessen unsaubere Ge-

* Vor der DDR-Volkskammer am 13. November

EUROPAFOTO 1989. ** Walter Süß: „Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit. Ein Kapitel aus dem Spätherbst

OST- UND 1989“ (Schriftenreihe der Gauck-Behörde, Berlin Verwüstete Stasi-Zentrale in Berlin: „Wer ist unser Feind?“ 1994).

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schäfte der SPIEGEL bald darauf ent- tarnte, floh in den Westen. Schwanitz Parteien telegrafierte an die Bezirks- und Kreis- ämter: „Versuche von Terrorhandlun- gen, Geiselnahmen und ähnliches sind nicht auszuschließen.“ „Sepp, bleib Auch die Bürgerrechtler befürchteten eine Eskalation. Gemeinsam riefen das Neue Forum, Demokratie Jetzt, der De- mokratische Aufbruch und andere Op- an dem Thema dran“ positionellen-Zirkel am 3. Dezember dazu auf, „Kontrollgruppen“ zu bilden. Schwarz-grüne Bündnisse verändern die politische Landschaft Die sollten verhindern, daß „Finanz- und Sachwerte ins Ausland verbracht“ sowie „wesentliche Akten vernichtet“ werden. Am nächsten Morgen verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Ost-Republik: 300 Erfurter hat- ten erstmals eine Stasi-Zentrale be- setzt. Schwanitz befahl umgehend per Fern- schreiben an alle Kreis- und Bezirksäm- ter, andernorts sei der „Zutritt unbe- rechtigter Personen unbedingt zu ver- hindern“. Alle Mittel, „außer geziel- te Schußwaffenanwendung“, seien er- laubt. Doch die Generäle konnten nicht mehr auf ihre Kämpfer rechnen. Kreis- ämter kündigten über Telex geschlossen den Gehorsam auf und streckten die Waffen. Eine Rostocker Stasi-Einheit telegrafierte an Schwanitz zurück: „Seid Ihr des Wahnsinns? Wollt Ihr noch nachträglich bewaffnete Auseinander- setzungen provozieren?“ In Leipzig, der Hauptstadt der Oppo- sition, notierte Generalmajor Manfred Hummitzsch nach einer Dienstbespre-

chung: W. ZIEGLER / ZEITENSPIEGEL Bündnispartner Hanisch, Schineller: Wertkonservative Wurzeln sind die Substanz – alle Frauen ab 16 Uhr nach Hause – Türen und Fenster so verbarrikadieren, ie ersten Grünen im Rathaus von Pakt mit Schineller: „Vor allem auf daß keiner reinkommt – grundsätzlich Speyer gebärdeten sich als Revo- der menschlichen Ebene funktioniert keine Schußwaffen – alle anderen Dluzzer. Bei sommerlichen Parla- das sehr gut.“ Hilfsmittel – Volkspolizeikräfte von au- mentssitzungen tappten die Vertreter Hanisch darf in der pfälzischen ßen – wir müssen diesen Montag über- der Protestpartei barfuß durch den Domstadt nun ein ökologisches Müll- stehen – Ruhe, Besonnenheit, nicht Saal. Erschrockene Ratsherren, erin- konzept einführen. Im Gegenzug ak- durchdrehen. nert sich Christdemokrat Werner Schi- zeptiert er die kommunale Beteiligung Am Abend waren die Stasi-Zentralen neller, 46, an jene Zeiten, bangten ob an einem nahen Flugplatz, den vor al- in Leipzig und 19 weiteren Orten von dieses Anblicks um „die Würde des lem BASF-Manager aus Ludwigshafen Arnstadt bis Zittau besetzt. Hohen Hauses“. nutzen. Der Speyerer CDU-Kreisvor- Am schlimmsten traf es die Stasi- Inzwischen tragen die Grünen festes sitzende Hans-Peter Brohm, 48, freut Chefs im eigenen Revier: Auf einem Schuhwerk und stellen mit Bürgermei- sich über solchen Pragmatismus und Exerzierplatz rebellierte in der Nacht ster Schineller zusammen die Stadtre- rät zu „Koalitionen mit den Grünen das Kommando 3 des Wachregiments gierung. auf Landes- und Bundesebene“. Feliks Dzierzynski gegen seine Vorge- Nach der Kommunalwahl vom Juni Über die politische Landkarte setzten und bildete einen „Soldatenrat“. dieses Jahres hat die Öko-Partei mit Deutschlands hat sich, kaum bemerkt, Nur mit Mühe konnte ein Offizier die der CDU und einer mittelständischen ein Flickenteppich aus schwarz-grünen Gardisten davon abhalten, mit Kerzen Wählergruppe in Speyer (48 000 Ein- Verbindungen gelegt. zur Autobahn zu marschieren und den wohner) ein festes Abkommen unter- In Hunderten von Städten, Kreisen Verkehr zu blockieren. schrieben – der erste schwarz-grüne und Gemeinden, ob in Gladbeck im Der „Kampfwert“ des Regiments sei Bund in einer kreisfreien Stadt. Westen, in Greifswald im Osten oder „gleich Null“, erkannte General Schwa- Die „historische Koalition“ (Schinel- in Uetersen in Norddeutschland, wird nitz und zog die Elitetruppe aus der Sta- ler) in der einstigen SPD-Hochburg die Zusammenarbeit, die kürzlich noch si-Zentrale in der Normannenstraße ab. will unionstypische „Leistungsorientie- weithin als Tabu galt, schon im Alltag Zur gleichen Zeit beschloß der Runde rung“ mit grüner „BürgerInnennähe“ eingeübt. Jetzt prüfen Parteistrategen Tisch, den Geheimdienst „unter ziviler verbinden. Umweltdezernent Frank mit wachsender Neugier, ob die Ko- Kontrolle aufzulösen“. Y Hanisch, 29, von den Grünen lobt den operation in den Kommunen eine Ba-

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Werbeseite DEUTSCHLAND sis für weitergehende Verbindungen ist. Wenn Bündnisgrüne und CDU sich weiter annähern, könnte die Öko-Partei die Rolle der schwindsüchtigen FDP übernehmen – als Mehrheitsbeschaffer sowohl für Sozial- als auch für Christde- mokraten. Seitdem Bündnisgrüne und Christenunion gemeinsame Sache bei der Wahl Antje Vollmers zur Bundes- tagsvizepräsidentin gemacht haben, ist die schwarz-grüne Alternative denkbar, auch in Bonn. Ursache sind nicht nur parteitaktische Überlegungen, sondern auch Verände- rungen im gesellschaftlichen Problem- bewußtsein. Als „neue, globale Heraus- forderungen“, analysiert der Bonner CDU-Fraktionsvize Heiner Geißler, 64, würden heute die Bürgerkriege und Umweltkatastrophen betrachtet. „Für die Bewältigung dieser Probleme wollen die Menschen Konzepte sehen“, meint der Christdemokrat. Die Kompetenz dafür „trauen sie eher der CDU oder den Grünen zu als den Liberalen oder der SPD“. Der baden-württembergische Bun- destagsabgeordnete Rezzo Schlauch, 47, von den Bündnisgrünen pflichtet bei: Die Schwarz-Grün-Debatte zeige, daß „der Wunsch nach Reformen in Deutschland Dimensionen angenom- men hat, für die in den bisher üblichen Parteiverbindungen kein Raum ist“ (siehe Streitgespräch Seite 79). Der Wandel durch Annäherung funk- tioniert vielerorts auch ohne feste Ver- einbarungen. Im Kreis Pinneberg bei Hamburg ist Grünen-Fraktionschef Matthias Böttcher, 35, „überrascht, was mit der CDU von Fall zu Fall möglich „Wenn’s sein muß, paktiere ich auch mit dem Teufel“ ist“. Gegen SPD-Stimmen fördern die Pinneberger Schwarz-Grünen zum Bei- spiel ein Projekt für ausländische Kinder sowie eine Werkstatt für psychisch Be- hinderte. Überdies wollen CDU und Grüne eine Erziehungsberatungsstelle, die von der SPD geschlossen wurde, wieder öffnen. Selbstbewußt treten die Vertreter der Öko-Partei auch in Freiburg auf, wo sie bei den Kommunalwahlen im Juni zur zweitstärksten Partei hinter der CDU avancierten. Stadtrat Dieter Salomon, 34, der auch dem Stuttgarter Landtag angehört, sagt: „Wir setzen die The- men.“ Die Freiburger CDU zieht mit: Kürz- lich setzte die schwarz-grüne Allianz im Stadtparlament die Miete für 1300 kom- munale Wohnungen herauf. Nüchterne Analyse des Freiburger CDU-Chefs Pe- ter Weiß: „Die Grünen sind eine bür- gerliche, ja sogar stinkbürgerliche Partei geworden.“ Wertkonservative Wurzeln, Heimat- und Naturbewußtsein sowie die Skepsis gegenüber zuviel staatlicher Lenkung sind häufig die Grundsubstanz schwarz- grüner Verbindungen. Sogar im stockschwarzen Bayern ha- ben Grüne wie der Landtagsabgeordne- te Sepp Daxenberger „den kleinen Dienstweg“ zur CSU schon gefunden. Wenn’s sein muß, spottet der Biobauer aus Waging, „paktiere ich auch mit dem Teufel“. Zuweilen kommen CSU-Mitglieder auf Daxenberger zu – um ihn zur Oppo- „Keine Bewegung bei den Knechten der SPD-Landesregierung“ sition zu ermuntern. Als die bayerische Regierung zum Ärger der Landwirte die Anzahl der Schlachthöfe drastisch redu- zieren wollte, sei er von CSU-Kollegen unter vier Augen bedrängt worden: „Sepp, bleib an dem Thema dran!“ Noch näher sind sich die ungleichen Partner im SPD-beherrschten Saarland gekommen. Dort fordert der CDU- Fraktionschef Peter Müller, 39, unver- hohlen: „Wir müssen über kurz oder lang eine schwarz-grüne Koalition auf Länderebene eingehen.“ Der von Müller umworbene Anführer der Grünen im Saarbrücker Landtag, Hubert Ulrich, 36, flirtet zurück: Im Land von Oskar Lafontaine, findet Ul- rich, seien die Sozis „sehr vernagelt“. Mit Unionschristen hingegen pflegt der Wirtschaftsingenieur „ein klimatisch gu- tes Verhältnis“. Um das Klima weiter zu verbessern, will Christdemokrat Müller sogar „ein paar heilige CDU-Kühe schlachten“. Der Jurist plädiert, ganz im Sinne der Grünen, neuerdings für ein Einwande- rungsgesetz und die Möglichkeit bun- desweiter Volksbegehren. Außerdem müsse die Christenpartei auch ihre „soziale Kompetenz“ zurückgewinnen: „Wirtschafts- und Finanzpolitik allein si- chern uns keine dauerhaften Mehrhei- ten.“ Müller und Ulrich stützen ihre Liai- son auf praktische Erfahrungen in den Landkreisen Saarlouis und Merzig-Wa- dern. Nach den Kommunalwahlen vom Juni kam es dort zu „wechselnden Mehrheiten mit schwarz-grüner Ten- denz“ (Ulrich). In Merzig-Wadern räumten die Christdemokraten den Grünen in sämt- lichen Ausschüssen einen Sitz frei, ob- gleich die Öko-Partei darauf gar keinen Anspruch hat. Gegen die sturen Sozis drückten die CDU-Vertreter zudem den

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Naturschützer Dieter Heinrich als eh- die CDU nach seiner Beobachtung „voll abgedriftet. Im Bundestag haben sie renamtlichen Beigeordneten durch. auf unserer Seite“. nur noch über die Nato, den Paragra- Heinrich, der als Parteiloser für die Frust über bornierte Sozialdemokra- phen 218 oder das staatliche Gewalt- Grünen antritt, freut sich über das ten, die in jahrzehntelanger Machtaus- monopol debattiert. Nun sehen wir ei- „Goodwill“ der CDU: „Da kommt was übung immer mehr erstarrten, ist auch ne Rückkehr zu den ökologischen ins Rollen.“ in Nordrhein-Westfalen ein Hauptgrund Wurzeln dieser Partei, und da erken- Eine formelle Schwarz-Grün-Koaliti- für die neuen Bündnisse. In 16 Gemein- nen wir auch einiges an christdemokra- on ist in Merzig-Wadern nur deshalb ge- den und Kreisen gingen Schwarze und tischem Gedankengut. scheitert, weil die CDU sich nicht vom Grüne nach den Kommunalwahlen im Schlauch: Wir dürfen nicht nur auf das Import französischen Atomstroms aus Oktober Partnerschaften ein, so auch in hören, was in den Parlamenten gesagt dem nahen Kraftwerk Cattenom jenseits Mülheim an der Ruhr. wird. Ich glaube, daß zum Beispiel in der Grenze abbringen ließ. CDU-Krei- In der 178 000-Einwohner-Stadt wa- den Elternhäusern ungeheuer viel in schef Jürgen Schreier findet das nicht ren die Sozialdemokraten fast 50 Jahre Bewegung geraten ist, bei mir im dramatisch: „Wir sind verlobt, nicht ver- ohne Unterbrechung an der Macht ge- Schwäbischen jedenfalls sehe ich das heiratet.“ wesen. Ob im Landkreis Aachen oder in massiv. Die Jungen sitzen am Tisch Einig im Widerstand fühlen sich die Gladbeck, der SPD-Filz hatte sich aller- und fragen die Alten: Was machst du schwarz-grünen Kreispolitiker gegen ei- orten festgesetzt. Die Grünen in Glad- eigentlich in deiner BASF oder bei ne von der Saarbrücker SPD geplante beck, meint Ratsmitglied Franz Wege- deinem Daimler-Benz? Bringt uns das Sondermülldeponie. Während der Grü- ner, hätten gleichsam vor der „Wahl weiter? Oder versaut das meine Um- nen-Helfer Heinrich „bei den Knechten zwischen CDU und CSU gestanden“. welt? Bei manchem erfolgreichen der Landesregierung keinen Millimeter Wegener: „Da haben wir uns für die Techniker, der zeitlebens CDU-An- Bewegung“ erkennen kann, zeigt sich CDU entschieden.“ hänger war, gerät da das Weltbild ins Wanken. Geißler: Daß wir eine neue Generation haben, die sehr umweltbewußt aufge- SPIEGEL-Streitgespräch wachsen ist, merke ich in meiner eige- nen Familie. Wenn ich zu Hause ir- gendwelchen Abfall in den falschen Müllsack stecke, gibt das ein Riesen- „Das Weltbild wankt“ theater. Früher habe ich auch gern Zweige im Garten verbrannt. Mein Heiner Geißler und Rezzo Schlauch über die schwarz-grüne Annäherung jüngster Sohn, der Diplom-Ingenieur ist, sagt aber: Wehe, du machst das noch einmal! SPIEGEL: Herr Geißler, können Sie sich senen Versuch, Linke und Bürgerliche SPIEGEL: Ist das ein Erfolg der Grü- Herrn Schlauch als Minister in einer als Blöcke gegeneinanderzustellen. nen? CDU-geführten Landesregierung vor- Mich hat das immer sehr befrem- Schlauch: Auf jeden Fall. Andere mö- stellen? det. gen das Thema Ökologie eher erkannt Geißler: Ja, weil ich glaube, daß er nicht Geißler: Wir können heute die Grünen haben, aber erst durch die Grünen hat ideologisch an die Politik herangeht. weder mit den Braunen noch den Tief- es sich im Bewußtsein der Menschen Bei den Grünen gehört er offenbar zu Roten in einen Topf werfen. Aber in und in der Politik festgesetzt. Das ist denen, die auch einmal einen Kompro- den achtziger Jahren sind sie ziemlich unser genuiner Erfolg, den die Grünen miß schließen können. Das ist die Voraussetzung für jede Zusammenarbeit. SPIEGEL: Herr Schlauch, würden Sie mit Herrn Geißler antreten? Schlauch: Mit Heiner Geißler kann ich mir das gut vorstellen, aber mit vie- len anderen CDU-Politi- kern nicht. SPIEGEL: Bis vor zwei Jah- ren haben Christdemokra- ten die Grünen als radikale Partei eingestuft. Es war CDU-Programm, sie in ei- nem Zuge mit Kommuni- sten und Rechtsextremi- sten zu nennen – ist das vorbei? Schlauch: Dieses Phan- tombild entsprang dem ideologischen Lagerden- ken der CDU, dem verbis-

Das Streitgespräch moderierten

die SPIEGEL-Redakteure Christia- J. H. DARCHINGER ne Kohl und Dietmar Pieper. Christdemokrat Geißler, Grünen-Politiker Schlauch: „Ungeheuer viel in Bewegung“

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DEUTSCHLAND B. NIMTSCH / GRÖNINGER Umweltproblem Müll-Recycling: „Jetzt muß gehandelt werden“

leider lange Zeit nicht wirklich begriffen Geißler: Vorsicht! In der praktischen haben. Umweltpolitik liegen wir ganz weit Geißler: Damit wir uns nicht mißverste- vorn – mit einer Öko-Bilanz, die in hen: Mein Sohn wählt CDU. Und den Europa ihresgleichen sucht: Kat-Auto, ersten deutschen Öko-Bestseller hat vor bleifreies Benzin, FCKW-Verbot. Wir 20 Jahren ein CDU-Bundestagsabge- haben die Sanierung verschmutzter ordneter geschrieben*. Flüsse und Seen vorangetrieben und Schlauch: Herbert Gruhl hat dann so den Fabriken Filter für ihre Abwasser- viel Ärger in seiner Partei bekommen, rohre und Schornsteine verpaßt. Das daß er die Grünen mitbegründet hat. alles gegen den Widerstand der Groß- Geißler: Wir hätten ihn bei uns halten industrie. müssen, das hat auch Helmut Kohl vor Schlauch: Mir kommen gleich die Trä- einigen Tagen im CDU-Präsidium ge- nen! Solche Einzelmaßnahmen sind ja sagt. Aber die Partei war damals leider in Ordnung. Aber wenn es ans Einge- nicht soweit. machte geht, steht Kohl Gewehr bei Fuß im Vorzimmer der Großindustrie. Eine wirksame Förderung von Sonnen- „Die Frage ist, setze und Windenergie wird von CDU und FDP weiterhin politisch blockiert. An- ich beim Zapfhahn oder stelle effektiver Müllvermeidung hat beim Auspuff an?“ uns diese Regierung den dubiosen Grünen Punkt beschert. Wir könnten Heiner Geißler schon heute das Auto mit Dreiliterver- brauch haben, wenn man damit begon- SPIEGEL: Jetzt wäre sie es? nen hätte, über die Mineralölsteuer Geißler: Aber sicher. Was Gruhl ge- den Benzinpreis stufenweise zu erhö- schrieben hat, zum Beispiel über den hen. Das hat die CDU verpennt. schonenden Umgang mit Rohstoffen, Geißler: Wer nicht tanzen kann, gehört längst zum politischen Einmal- schimpft auf die Musikkapelle. Die eins. Wir sind ja schon viel weiter. Wir ökologische Steuerreform ist richtig, haben die soziale Marktwirtschaft, sozu- und sie wird auch kommen. Die Frage sagen das Heiligtum der CDU, pro- ist aber, setze ich beim Zapfhahn oder grammatisch um den Begriff der Ökolo- beim Auspuff an, um die Umwelt zu gie erweitert. schützen? Eine Steuer auf Abgase, Schlauch: Das sind doch leere Worte. zum Beispiel auf Kohlendioxid, er- Wenn es konkret ans Politikmachen scheint mir sinnvoller als eine Steuer geht, bleibt nichts davon übrig. Die Ko- auf den Spritverbrauch. alitionsvereinbarung der Bonner Regie- Schlauch: Zum Diskutieren unter rung zeigt uns nun wahrlich nicht den Fachleuten war lange genug Zeit, jetzt Weg zum ökologischen Wirtschaften. muß gehandelt werden. Und da fehlt in Ihrer Partei offenbar der politische * Herbert Gruhl: „Ein Planet wird geplündert“. Wille. Wenn ich bei Diskussionsveran- S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1975. staltungen die Öko-Steuer fordere,

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werde ich von Ihren Leuten als Toten- durch Verpackungen aus Stärke zu er- gräber der Wirtschaft beschimpft. setzen. Geißler: Eine allgemeine Energiesteuer Schlauch: Das ist eine interessante Per- ist eben nicht das Gelbe vom Ei. spektive, aber einstweilen bleibt es SPIEGEL: In Baden-Württemberg haben Wortgeklingel. Sie haben auch schon oft Grüne und CDU schon häufiger ge- von der multikulturellen Gesellschaft meinsame Sache gemacht, nicht nur gesprochen, Herr Geißler, und trotz- beim Naturschutz, sondern zum Bei- dem will die CDU an das Thema Ein- spiel auch bei der Wiedereinführung der wanderungsgesetz nicht heran. Dorfschulen. Gibt es gemeinsame kon- Geißler: Das ist im Moment auch gar servative Wurzeln? nicht nötig. Ein Einwanderungsgesetz Schlauch: In diesem Punkt zeigt sich tat- wird ab dem Jahr 2000 akut, wenn die sächlich eine grundsätzliche Nähe. Grü- Sterberate um 300 000 Personen über ne und CDU wollen beide die Stärkung der Geburtenrate liegt. kleiner Lebenskreise nach dem Prinzip Schlauch: Das Problem der Zuwande- der Subsidiarität. Was eine kleine Ein- rung nur im Hinblick auf die Bedürfnis- heit leisten kann, soll ihr nicht von einer größeren Einheit abgenommen werden. Ein Netz von Dorfschulen funktioniert „Grüne und CDU wollen besser als eine zentrale Lehranstalt. die Stärkung Geißler: Gerade mit Blick auf Europa ist Subsidiarität ein sehr fortschrittliches kleiner Lebenskreise“ Thema. Der Nationalstaat, in Deutsch- land zur Zeit noch als Garant der Rezzo Schlauch Grundrechte unentbehrlich, wird an Be- deutung verlieren . . . se der Deutschen zu diskutieren, halte Schlauch: . . . und die lokale und regio- ich für ethisch sehr bedenklich. nale Einheit wird an Bedeutung gewin- Geißler: Wir stehen vor hochmorali- nen. Da stimmen wir überein. Aller- schen Fragen, richtig. Nur junge, gut dings muß Europa noch sehr viel demo- ausgebildete Leute zu nehmen, wie es kratischer und auch ökologischer wer- die Amerikaner machen, wäre in den. Die Brüsseler Agrarpolitik, die ja Deutschland nicht konsensfähig. Des- von der CDU mitgetragen wird, ist völ- halb schlage ich vor, daß der Bundestag lig verfehlt. noch in dieser Legislaturperiode eine Geißler: Ein zentrales Thema für mich Enquetekommission einsetzt, die Krite- ist der Zusammenhang zwischen Land- rien für die geregelte Zuwanderung er- wirtschaft und Armut auf der Welt. Wir arbeitet. brauchen eine neue Außenhandelspoli- SPIEGEL: Werden Sie diesem Vorschlag tik, damit arme Agrarstaaten ihre Pro- zustimmen, Herr Schlauch? dukte bei uns verkaufen können. Umge- Schlauch: Das hängt davon ab, ob es kehrt müssen wir unseren Bauern neue sich bei einer solchen Kommission um Märkte eröffnen. Ich denke vor allem eine Alibiveranstaltung handelt oder an nachwachsende Rohstoffe. Tech- nicht. Ich wünsche mir in der CDU nisch wäre es schon heute kein Problem, mehr Mut und Pragmatismus. Die glei- die üblichen Kunststoffverpackungen chen Leute, die gern ein bißchen S. SCHULZ Zukunftsmodell Dorfschule: „Besser als eine zentrale Lehranstalt“

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gen Ressorts haben die Li- beralen ja besetzt. SPIEGEL: Flirten die Grü- nen mit der CDU, um die SPD unter Druck zu set- zen? Schlauch: Bei einigen Grü- nen gibt es eine neurotische Fehlfixierung auf die SPD. Wenn das jetzt therapiert wird, ist das schon ein Ge- winn. Diese Leute werden dann erkennen, daß es vor allem in den Ländern keine großen Unterschiede zwi- schen CDU und SPD gibt. Geißler: Die Sozialdemo- kraten haben den Grünen viele Verletzungen zuge- fügt. Die werden das nicht vergessen. Schlauch: Rudolf Schar- ping hat einen granatenmä- ßigen Fehler gemacht, als er unsere berechtigte For-

H. SCHWARZBACH / ARGUS derung nach einem Sitz im Streitfall Bundeswehr: „Im Moment sind die Inhalte so, daß eine Koalition unmöglich wäre“ Bundestagspräsidium ab- prallen ließ. In der SPD Schwarz-Grün an die Wand malen, ste- Geißler: Im Moment sind die Inhalte so, herrscht offenbar noch immer ein ver- hen in ihrer eigenen Partei nicht für die daß eine Koalition unmöglich wäre. In bohrtes Block- und Lagerdenken, das entsprechenden Inhalte gerade. einigen Ländern, in Baden-Württem- die CDU weitgehend überwunden hat. SPIEGEL: Herr Geißler hat doch schon oft berg zum Beispiel oder im Saarland, Deshalb ist auch die schwarz-grüne von Parteifreunden Prügel bezogen. gibt es schon eine ganz ordentliche Dis- Kommunikation entspannter. Geißler: Die Grünen wollen die Bundes- kussionsbasis. Was die Zukunft bringt, SPIEGEL: Gemessen an den erstarrten wehr auflösen. Nennen Sie das Pragma- steht auf einem ganz anderen Blatt. Frei- und Sozialdemokraten wären tismus? Schlauch: Mich stört bei der CDU, daß Bündnisgrüne und CDU also die moder- Schlauch: Das istein Beschlußder Partei, sie über Schwarz-Grün fast nur taktisch neren Parteien? den ich nicht für umsetzbar halte. spricht. Kaum bricht ihr der Koalitions- Geißler: Und wie ist das mit den Atom- partner FDP weg, entdeckt sie ihr grü- kraftwerken? Die Grünen verlangen die nes Herz. „In der SPD herrscht Abschaltung innerhalb von zwei Jah- Geißler: Sie können Verschiebungen im ein verbohrtes ren . . . Parteiengefüge nicht von politischen In- Schlauch: . . . für mich ist das ein Pro- halten trennen. Die CDU ändert sich, Block- und Lagerdenken“ grammpunkt, der diskutierbar ist . . . die Grünen ändern sich. Das neue Buch Geißler: . . . und sagen noch nicht ein- von Joschka Fischer . . . Rezzo Schlauch mal, woher die 130 Milliarden Mark für SPIEGEL: . . . das Sie vor drei Monaten die Schadensersatzforderungen der Be- in Bonn zum Entsetzen einiger Ihrer Geißler: Es gibt neue, globale Heraus- treiber kommen sollen. Parteifreunde vorgestellt haben . . . forderungen, mit denen die Menschen Geißler: . . . ist bei den Grünen auch täglich konfrontiert sind: Armut, Bür- noch nicht konsensfähig. Fischer be- gerkriege, Umweltkatastrophen, Ar- „Es gibt in einigen schreibt darin die Westbindung der beitslosigkeit. Für die Bewältigung die- Ländern eine ordentliche deutschen Außenpolitik mit sehr ver- ser Probleme wollen die Menschen Kon- nünftigen Ansätzen. zepte sehen. Und die entsprechende Diskussionsbasis“ SPIEGEL: Herr Geißler, sind die Grünen Kompetenz trauen sie eher der CDU die künftigen Ersatzpartner der Union oder den Grünen zu als den Liberalen Heiner Geißler als Alternative zu den untergehenden oder der SPD. Liberalen? Schlauch: Das Außergewöhnliche an Schlauch: Jetzt bringen Sie Papiertiger! Geißler: Dort, wo die FDP aus den Par- Schwarz-Grün ist, daß alle sagen: Das Geißler: Wir können die Kernkraftwer- lamenten ausscheidet, bleibt uns zu- paßt nicht, das ist nicht machbar. Und ke nicht einfach abschalten. nächst nur die SPD als Partner. Dieses trotzdem geht die Debatte weiter, weil Schlauch: Aber wir müssen im Rahmen Korsett ist zu eng. Die FDP kann sich ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis eines Ausstiegsszenarios jedem Atom- auch wieder erholen. Aber dafür dahintersteckt. Offenbar hat der kraftwerk einen Stempel aufdrücken, braucht sie eine liberale Erneuerung. Wunsch nach Reformen in Deutschland wann seine Zeit abgelaufen ist. Die In- Ein Fehler wäre es wohl, wenn sich die Dimensionen angenommen, für die in dustrie handelt da offenbar flexibler und FDP als Partei des Sozialabbaus darstel- den bisher üblichen Parteiverbindungen pragmatischer als die Regierungspartei- len würde. Das ist kein Zukunftsthema. kein Raum ist. Darin sehe ich das ei- en. Sie müßte vielmehr auf die drängenden gentlich Interessante der Diskussion. SPIEGEL: Herr Geißler, Herr Schlauch, Fragen der Wirtschafts- und Außenpoli- SPIEGEL: Herr Schlauch, Herr Geißler, sind die schwarz-grünen Differenzen zu tik wegweisende Antworten geben. Die wir danken Ihnen für dieses Ge- überwinden? dafür in der Bundesregierung zuständi- spräch. Y

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„Besitztümer oder Kapitalvermögen, Nazi-Erbe das ich mein eigen nennen könnte, be- sitze ich nirgendwo“, ließ er jedenfalls das Finanzamt wissen. Das für 20 000 Mark angeschaffte Auto, ein offener, Tarnname sechssitziger Mercedes, sei für ihn „nur ein Mittel zum Zweck“. Denn: „Nur mit seiner Hilfe ist es mir möglich, meine Wolf tägliche Arbeit zu leisten.“ So blieb die Offerte aus Buxtehude In diesen Wochen entscheidet sich fürs erste ungenutzt. Vier Monate spä- die Zukunft von Hitlers Obersalz- ter änderte sich alles. „Wolf“ trat ein für allemal aus dem Schatten der Anonymi- berg: Bonn und Washington strei- tät: Unter seinem richtigen Namen ten um die Renovierungskosten. Adolf Hitler wurde er am 30. Januar 1933 zum deutschen Reichskanzler er- nannt. ie Kommerzialratswitwe Margare- Nun griff der Bergfreund am Ober- te Winter-Wachenfeld aus Buxte- salzberg flugs zu. Und mit weiteren gut Dhude mißtraute den lausigen Zei- 130 000 Reichsmark arrondierte er nach ten ebenso wie dem Regierungsrat aus und nach sein Anwesen. Mal kaufte er München, der ihr Landhaus auf dem einen Hausanger hinzu, mal einen Zier- Obersalzberg samt zwei Tagwerken garten aus der Nachbarschaft, da einen Grund aus dem Jakobsbichlfeld kaufen Hühnerstall und dort ein Stück Bezirks- wollte. straße. Jedenfalls verknüpfte sie am 17. Sep- Das Wochenendhäuschen der Witwe tember 1932 in ihrem schriftlichen Ver- aus Buxtehude blähte sich zu Hitlers kaufsangebot vor dem Preußischen No- „Berghof“ samt Kegelbahn, Kinosaal tar Heinrich Drewes in Stade den Preis und versenkbarem Riesenfenster mit von 40 000 Mark vorsichtshalber mit Blick zum sagenumwobenen Unters- dem Goldpreis (1 Mark gleich 1/2790 kg berg. Ab Sommer 1933 war das Besitz- Feingold) und stabilen Währungen wie tum von einem lückenlosen Drahtzaun dem US-Dollar, dem Schweizer Fran- umzingelt und von strammen SS-Posten ken oder dem holländischen Gulden. bewacht. Ein Schild warnte Passanten: Der Kaufanwärter war auf dem Ober- „Eintritt verboten! Scharfe Hunde!“ salzberg längst heimisch. Er hatte sich Sperrgebiet ist Hitlers Obersalzberg mal da, mal dort eingemietet, pirschte auch nach Kriegsende noch lange ge- schon seit Jahren unter dem Tarnnamen blieben. Ende April 1945 fand eine Staf- Wolf mit seinem Schäferhund durch die fel der britischen Royal Air Force – 1000 Meter hoch gelegene Streusiedlung trotz schwerer Flak und von SS-Maiden im Salzkammergut. Und nicht selten bedienten Nebelwerfern – den Weg ins war der Spaziergänger klamm. Berchtesgadener Land und belegte Hit- KEYSTONE Braun, Hitler auf dem Obersalzberg: „Der Führer lebt in unseren Herzen“

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DEUTSCHLAND HELLER / ARGUM Touristenrummel an Hitlers Teehaus: „Wir haben einfachere Immobilien“

lers Alpenrefugium mit 1181 Tonnen aus ihrer Heimat vertrieben. Hitlers Sprengbomben. Spendensammler und Kassenwart Mar- Was übrigblieb – vor allem der ehe- tin Bormann raffte für Führer und Par- malige Platterhof (heute Hotel Gene- tei fast 800 Tagwerk zusammen. Die ral Walker) und ein Gutshof –, nutzen meisten Partner erwiesen sich freilich seither die Amerikaner als „Armed als entgegenkommend – so etwa Hele- Forces Recreation Center“ zum Ski- ne Bechstein, Gattin des Berliner Pia- und Schlittenfahren und zum Golfspie- nofabrikanten, die Hitler mehrfach len. Zuletzt durften sich dort je eine während seiner Festungshaft in Lands- Woche lang die Kämpfer aus dem berg besucht hatte. Irak-Krieg erholen. Schon seit Mitte des vorigen Jahr- Nur Hitlers Teehaus auf dem Kehl- hunderts war das hochgelegene Alpen- stein und das reprivatisierte „Hotel dorf Sommerfrische von Adligen, Mili- Türken“ samt Bunker sind für Touri- sten zu besichtigen. Trotzdem zieht der Hitler-Berg jährlich 300 000 Besucher Kampf gegen an, darunter viele Amerikaner und Ja- eine Wallfahrtsstätte paner. Schon bald könnte sich am Obersalz- für braune Geister berg was ändern. Wegen der Reduzie- rung ihrer Truppen in Europa von tärs und Industriellen gewesen. Sani- 300 000 auf 100 000 müssen die Amis tätsräte und Infanteriegeneräle, Stu- mindestens eines ihrer drei bayerischen dienratsgattinnen und Oberstabsarzt- Erholungszentren in Garmisch, am witwen beherrschten die Szene. Chiemsee und in Berchtesgaden auflö- Fügsam und frühzeitig überließ diese sen. deutsche Elite im Bergdorf den land- Hitlers Hinterlassenschaft wollen die hungrigen NS-Aufkäufern das Feld. Amerikaner nur weiter nutzen, wenn Die renitenten Ureinwohner von Ober- Bundesfinanzminister Theo Waigel die salzberg, arme Bauern, wurden dage- rund 30 Millionen Mark für die Reno- gen brutal zum Nachgeben gezwun- vierung der Gebäude übernimmt – an- gen. gesichts leerer Kassen äußerst fraglich. Den Besitzer des Oberwurflehens, Noch im Dezember soll die Entschei- Josef Hölzl, schwärzte der Hitler-Se- dung fallen. kretär Bormann beim Straßen- und Die Amerikaner haben Härte signa- Flußbauamt Traunstein an. Der Wider- lisiert: Wenn Bonn nicht zahlt, wollen spenstige sei, so Hitler-Intimus Bor- sie den Obersalzberg aufgeben. mann in einem Brief, „seiner Aufgabe Hitler hatte einst ungeniert hinge- als Straßenwärter in keiner Weise ge- langt: 70 Hauseigentümer mußten nach wachsen“, und deshalb müsse „baldigst 1933 weichen. 400 Menschen wurden ein anderer Straßenwärter mit der

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Pflege der Straße beauftragt werden“. Dem Arbeitslosen drohte Bormann Musik dann mit einem Enteignungsverfahren. Schließlich knöpfte er ihm das ganze Anwesen samt sieben Hektar Grund ab – für „nicht mehr als wie RM 1,- Störendes für den qm“ (Bormann). Auf den Obersalzberg zog sich Hit- ler mit seiner Geliebten Eva Braun zu- Geblätter rück. Dort siedelte sich auch viel brau- ne Prominenz an. Bormann baute für Nach Jahren des Fleißes und der sich und seine zuletzt zehn Kinder Mühsal hat die evangelische Kirche eine Villa. Hermann Göring errichte- te einen Prachtbau mit beheiztem ein neues Liederbuch geschaffen. Schwimmbad. Davon blieben nur Rui- nen übrig. ls Günter Vogelsang vor 15 Jahren Was aus dem Obersalzberg wird, an die Arbeit ging, konnte er seine wenn die Amis abrücken sollten, ist Adrei Aktenordner noch in der Ta- noch unklar. Der bayerischen Staatsre- sche mit sich herumtragen. Zuletzt gierung schwant Schlimmes. Schon in brauchte der hannoversche Diakon der der Vergangenheit haben Nazi-Nostal- Evangelischen Kirche in Deutschland giker immer mal wieder Sprüche wie einen VW-Bus, um „über hundert Ord- diesen an die Bunkerwände gesprüht: ner“ zu den Redaktionssitzungen zu „Der Führer lebt in unseren Herzen.“ schaffen, denn es sollte ein Bestseller Ministerpräsident Edmund Stoiber entstehen, gedacht für rund 30 Millio- will „alles tun“, um nicht „eine Wall- nen deutschsprachige Protestanten. fahrtsstätte für braune Geister“ entste- Hunderte von Theologen, Kirchen- hen zu lassen. Staatskanzlei-Sprecher musikern und Laien beugten ihre ge- Günter Schuster: „Wir werden so was lehrten Häupter über Originalmanu- niemals zulassen.“ skripte, stritten jahrelang um Kommata Werner Böhme, im bayerischen Fi- und Apostrophe. Anschließend mußten nanzministerium für den Nazi-Nachlaß noch Dutzende von Gremien der 26 be- zuständig, ist „froh, daß das Problem teiligten Landeskirchen das Opus ma- vorerst noch in der Schwebe ist“, rech- gnum absegnen. Denn das neue „Evan- net aber mit einer „sehr kurzfristigen gelische Gesangbuch“ soll mindestens Entscheidungsbekanntgabe“ und seufzt ebensolang halten wie sein Vorgänger, schon jetzt: „Wir haben einfachere Im- das 1950 erschienene „Evangelische Kir- mobilien.“ chengesangbuch“. Ein Rückgabe-Hickhack wie in den Vorletzten Sonntag, zu Beginn des neuen Ländern steht nicht zu befürch- neuen Kirchenjahres am ersten Advent, ten. Eine Interessengemeinschaft frü- sollte Vogelsangs Lebenswerk in der herer Eigentümer hat sich längst aufge- Mehrzahl der Landeskirchen festlich aus löst. „In der zweiten und dritten Gene- der Taufe gehoben werden. Doch über ration“, so ihr ehemaliger Anwalt Os- all der Auswahl hatte manch beseelter kar Steuer, „sind die Leute nimmer so Ausschuß ganz irdisch den Redaktions- recht interessiert.“ Y schluß vergessen. Und so nahmen die J. OBERHEIDE / ARGUM Gesangbuch-Werbung (in der Münchner U-Bahn): „Extrem dünnes Papier“

94 DER SPIEGEL 49/1994 sangesfrohen Protestanten in vielen Kir- chen, etwa in Hamburg, Bayern oder Mecklenburg, doch wieder das alte Buch oder sogar Liedzettel zur Hand. Mit Fotokopien mußten sich etwa die enttäuschten Gottesdienstbesucher in Hamburgs Hauptkirche St. Michaelis begnügen. Skurrile Begründung der Bi- schöfin Maria Jepsen: „Das Geblätter in den ungewohnten Büchern wäre sehr störend gewesen, zumal die Seiten aus extrem dünnem Papier sind.“ Dabei war die Abschaffung der Zet- telwirtschaft einer der Hauptgründe für die kirchliche Kraftanstrengung. Seit den sechziger Jahren sangen die Gläubi- gen allerorten amerikanische Spirituals („Go, tell it on the mountain“), fromme Popsongs („Gib uns Frieden jeden Tag“) oder majestätische Choräle aus England („O come, all ye faithful“) von meist fotokopierten Blättern ab. Das al- te Gesangbuch blieb immer häufiger lie- gen. Der neue Wälzer ist mit 535 statt bis- her 394 Liedern nicht nur dicker gewor- den, sondern auch moderner und inter- nationaler. Wem es während der Predigt zu langweilig wird, kann an Hand von Liedtexten etwa Grundbegriffe der pol- nischen Sprache studieren oder Suaheli- Wörter üben. Neben Klassikern des deutschen Liedgutes wie Matthias Claudius’ „Der Mond ist aufgegangen“ oder Paul Ger- hardts „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ mußten die Redakteure zäh- neknirschend auch erzkatholische Schmachtfetzen wie „Stille Nacht“ oder „Großer Gott, wir loben dich“ ins rund 20 Mark teure Buch aufnehmen – das ökumenisch gesinnte Gemeindevolk, dem Kirchengründer Martin Luther aufs Maul zu schauen empfahl, hatte sich die Schlager der Konkurrenz beharrlich er- sungen. Soweit konnten sich die frommen Ex- perten noch einigen. Doch weil der deutsche Protestantismus alles ist, nur nicht zentralistisch, beharrten 15 der Landeskirchen auf eigenen, teils identi- schen Regionalanhängen von mehreren hundert Seiten. Die Eigenbrötler haben nun Liefer- schwierigkeiten: In Bayern etwa können die gläubigen Protestanten den Wälzer noch längst nicht kaufen, weil die Schlußredaktion ihren Termin um mehr als zwei Monate überzogen hat. Eine evangelische Buchhandlung in München behilft sich einstweilen, indem sie Inter- essenten verzierte Geschenkgutscheine verkauft. Dabei hatte die bayerische Landeskir- che sogar eifrig Werbung gemacht. Für 1,4 Millionen Mark entwarf eine Agen- tur Plakate und produzierte Radio- Spots. Ein Slogan: „Sie sind in Not. Was tröstet Sie?“ – das evangelische Gesang- buch. Y

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WIRTSCHAFT

Beschäftigung SCHUFTEN WIE DIE PFERDE Vor Monaten zitterten viele Beschäftigte noch um ihre Jobs, wie keine andere Branche hat die Metallindustrie Arbeitsplätze abgebaut. Jetzt ist wieder Arbeit da, doch es fehlt an Personal. Mit Überstunden und Samstagsarbeit werden die Aufträge erledigt. „Die Leute sind ausgequetscht“, sagt ein Betriebsrat.

m Lager der Friedrichshafener Zahn- schlimmsten Rezession der Nachkriegs- schrumpften Mannschaften zum Teil be- radfabrik (ZF) sind die ruhigen Zeiten zeit, jetzt kommen die Aufträge so mas- reits erreicht. Ivorbei. Die Gabelstapler eilen zwi- senhaft, daß die reduzierten Belegschaf- Sonderschichten, Samstagsarbeit und schen den Regalen hin und her und hie- ten offenbar kaum damit fertig werden. jede Menge Mehrarbeit – bei ZF in ven die georderten Teile heraus. Jeder In der Autoindustrie geht es aufwärts, Friedrichshafen haben Arbeiter binnen Handschlag, jede Minute zählt. eilig ordern auch die Hersteller wieder. kurzem bis zu 60 Tagen Überstunden Der Kundendienst des Getriebeher- Der Sog erfaßt Zulieferer, Rohstofflie- angehäuft. Bei Mercedes in Wörth stellers, die Versuchsabteilung, die Mon- feranten, Maschinen- und Werkzeug- könnten die Arbeiter ihren Resturlaub tage fordern pausenlos Nachschub, um bauer. Bei ZF sind die Aufträge um 25 nicht nehmen, sagt Betriebsrat Rheude: die Aufträge der Kunden zu erfüllen. Prozent in die Höhe geschossen, andere „Die Leute schuften wie die Pferde.“ „Wir schaffen die Arbeit von vorne bis Zulieferer haben Zuwächse zwischen 16 Endlich ist wieder Arbeit da, und hinten nicht“, stöhnt Lagerarbeiter Atti- und 20 Prozent. Im Maschinenbau, so doch freut sich keiner so recht. Statt la Öncel. meldete der Branchenverband VDMA, dessen klagen viele über Chaos. Es fehlt Vor kurzem noch reichte die Arbeit sei die Kapazitätsgrenze der ge- an Personal. von vorne bis hinten nicht. Produktions- einbrüche von über 30 Prozent zwangen die Beschäftigten zu Kurzarbeit, jede Stelle, die verzichtbar schien, wurde ge- strichen. Auch Lagermann Öncel verlor seinen Job. Erst raus, dann wieder rein. Die Hälfte der über 300 gekündigten Arbeiter und Angestellten stellte die Friedrichshafe- ner Geschäftsleitung wieder ein – keine sechs Monate nachdem der letzte Sozial- plan verhandelt wurde. Mitarbeiter, die jetzt noch bereit sind, ihren Arbeitsplatz gegen Abfindung zu räumen, schickt die Personalleitung wieder weg. Vor einem Jahr noch, wundern sich die Beschäftig- ten, hatte das Unternehmen solche Leute dringend gesucht. In vielen Betrieben wundern sich die Mitarbeiter, die vor Monaten noch um ihre Jobs zitterten. Fichtel & Sachs in Schweinfurt versucht einen Teil der weg- rationalisierten Leute zurückzuholen. „Bei uns fehlen mindestens 100 Leute“, sagt Gerd Rheude, Betriebsrat im Mer- cedes-Werk Wörth. Bei MAN in Nürnberg, bei Sauer Sundstrand in Neumünster, bei Krupp Widia in Essen, bei FAG Kugelfischer in Schweinfurt, überall jammern die Be- triebsräte über Personalengpässe. „In der Produktion sind wir ausgelutscht“, beschwert sich ZF-Betriebsrat Tankred Hergert, „und die Leute im Lager wer- den verrückt.“ Verwirrte Welt. Vor wenigen Mona- ten noch litt die Metallindustrie unter der W. BACHMEIER * Mercedes-Produktion in Sindelfingen. Arbeiter in der Autoindustrie*: Die reduzierten Belegschaften werden mit den

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Wie keine andere Branche hat die In Produktion und Metallindustrie in den vergangenen Kontrolle, so ZF-Be- zwei Jahren Arbeitsplätze abgebaut triebsrat Hergert, fehle (siehe Grafik Seite 100). Kleinere Fir- die Zeit, die neueinge- men wie der Getriebehersteller Sauer stellten Kräfte anzuler- Sundstrand in Neumünster haben ihre nen. Monteure, die die Mannschaft fast bis auf die Hälfte redu- Kontrolle mit überneh- ziert. „Die haben so viele Leute rausge- men müssen, könnten hauen, daß das Personal jetzt nicht mehr zum Teil die Pläne reicht“, sagt Horst Strutz von der IG und Zeichnungen gar Metall. nicht richtig lesen. Überwiegend in der Produktion ha- „Das Schlimmste, was ben die Personalchefs geholzt. Unge- uns passieren konnte“, lernte wie gutausgebildete Facharbeiter höhnt Hergert, „waren mußten gehen, langjährige Beschäftigte neue Aufträge.“ verloren ihre Jobs, in vielen Betrieben „Hinterher ist man gibt es kaum noch Gesichter, die älter immer klüger“, meint als 55 sind. ZF-Vorstand Uwe Ber- Die Betriebsräte haben die Rationali- ner. Die Firma, die ge- sierungen mitgetragen, schlanker und rade komplett umstruk- fitter sollten die Unternehmen werden. turiert wird, sei von Doch im Zuge der Rezession hieben die dem Order-Boom über- Kostenmanager nach Ansicht vieler Ar- rascht worden. „Der beitnehmervertreter zu tief. „Mußten es Aufschwung“, so Ber- denn so viele sein?“ fragt Wolfgang ner, „kommt eigentlich Osenkopf, Gesamtbetriebsratschef bei um ein Jahr zu früh.“ MAN. Wie ZF stecken die Gute Frage. Mercedes in Wörth hat meisten Betriebe mit- seit 1991 jeden fünften von 15 000 Ar- ten im Umbruch. beitsplätzen vernichtet. In diesem Som- Schlanke Produktion, mer offerierte die Geschäftsführung die flexiblere Abläufe, Gruppenarbeit – kaum

WEISSBACH eine Firma, die ihre Ar-

W.-D. beitsweise nicht kom- Protest gegen Entlassungen (1993) plett umkrempelt. „Hinterher ist man klüger“ Bei ZF werden die er- sten Produktivitätsef- letzten 200 Auflösungsverträge, viele fekte frühestens im nächsten Jahr erwar- jüngere Facharbeiter nahmen dankend tet. Bis dahin sollen 1000 Neueinstellun- an. „Die fehlen jetzt an allen Ecken und gen mit überwiegend befristeten Verträ- Kanten“, beobachtet Arbeitnehmerver- gen den Mangel abfedern. Mercedes in treter Rheude. Wörth überbrückt den Engpaß mit stu- Die verkleinerte Belegschaft muß dentischen Hilfskräften und Überstun- 6000 Laster mehr als im Vorjahr montie- den. Sauer Sundstrand fordert von sei- ren, der Arbeitsdruck an den Bändern nen Beschäftigten noch mehr Flexibili- ist gewaltig gestiegen. „Die Leute sind tät. ausgequetscht“, sagt Rheude, „die kön- Die meisten Firmen denken gar nicht nen nicht mehr.“ daran, neue Leute einzustellen. Bei vie- Wichtige Materialien fehlen, weil die Lieferanten von Mercedes mit ihrem ebenso zusammengeschnurrten Perso- „Der Aufschwung nal die vielen Aufträge nicht rechtzeitig kommt um schaffen. Die Mercedes-Arbeiter bauen Provisorien anstelle der benötigten Spe- ein Jahr zu früh“ zialfedern ein, die dann am fertigen Fahrzeug wieder ausgewechselt werden len geht der Kahlschlag sogar weiter, müssen. vor allem in den großen Konzernen und Die Monteure von Hella, die Auto- nicht nur in der Metallindustrie. lampen herstellen, hatten Schwierigkei- Die Manager aus der Chemiebranche ten, die Bleche zu bekommen, die sie gaben in der vergangenen Woche offen für die neuen Scheinwerfer brauchten. kund, wie wenig Aufschwung und Ar- Bei ZF kommt die Härterei nicht voran, beitsplätze zusammenhängen: Die Ge- weil die Rohstoffe der Lieferanten feh- winne steigen, der Personalstamm wird len. weiter schrumpfen. Mehrere tausend Im Lager des Friedrichshafener Ge- Jobs wollen die Konzerne Hoechst und triebebauers klagen die Vormänner Bayer in den nächsten Monaten strei- über eine wachsende Fehlerquote. Die chen (siehe Interview Seite 102). hastenden Arbeiter holen falsche Teile Rationalisierung und Leistungssteige- aus den Regalen, die Kundschaft schickt rung stehen weiterhin auf dem Plan. Die massenhaften Aufträgen kaum fertig sie dann wieder zurück. Kostenrechner schneiden das Personal-

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WIRTSCHAFT

Belegschaft schlagkräftiger zu ma- Eiserner Sparkurs chen. Seit 1991 hat die Firma in ih- Volkswagen Entwicklung der Metall- und Elektro-Industrie ren fünf Werken 2300 unproduk- 4,28 tive Arbeitsplätze gestrichen. In 4,23 4,17 4,09 diesem Jahr wurden allein in Lipp- 3,97 3,83 stadt über 350 neue Dauerjobs ge- Tschüß, schaffen. Beschäftigte in Millionen 3,56* Doch die alten Mitarbeiter, die *geschätzt mit Abfindungen und Vorruhe- Michael standsregelungen herausgelockt worden waren, will das Unterneh- VW verschickt Arbeiter von men gar nicht wiederhaben. „Wir haben hauptsächlich junge Leute Emden nach Hannover. Demotiviert 2,5 eingestellt, die flexibel sind“, sagt hausen sie in einer Kaserne. Werksleiter Lars Barten. 2,0 „Wir erwarten heute mehr von n der Prinz-Albrecht-Kaserne ist die 1,5 Netto-Gewinn den Beschäftigten“, so der Werks- Stimmung auf dem Nullpunkt. Der 1,0 in Prozent des Umsatzes leiter. Ein Monteur bei Hella, der IBiervorrat geht zur Neige, jetzt kreist 0,5 gewohnt war, den immergleichen die Weinbrandflasche. Mit geröteten 0,0 Handgriff zu machen, muß heute Augen schimpfen die jungen Männer –0,5 einen kompletten Scheinwerfer auf die Unterkunft: „Das ist doch nicht –1,0 fertigen können. „Flexibel sein auszuhalten hier.“ heißt mehr machen“, beschreibt Es sind keine Soldaten, die der Dienst Monteurin Rosa Edelmann die am Vaterland allabendlich zum Frust- neuen Verhältnisse aus Arbeit- saufen veranlaßt. Die etwa 120 Kaser- nehmersicht. „Wir sollen inzwi- nenbewohner arbeiten im VW-Kon- 1988 89 90 91 92 93 94 schen jeden Arbeitsplatz beherr- zern. Bis vor wenigen Tagen waren sie schen.“ noch im 220 Kilometer entfernten Werk korsett weiterhin so eng wie möglich, „Wir stehen ganz schön unter Emden beschäftigt, jetzt sind sie Reserven sind kaum vorgesehen. Die Druck“, sagt ein Meister. Die Kunden zwangsversetzt nach Hannover. ZF-Getriebebauer haben in diesem Jahr drängeln, und die neueingestellten Die Leute aus Emden bekamen als er- den gleichen Umsatz erwirtschaftet wie Leute müssen innerhalb kürzester Zeit ste VW-Werker die Auswirkungen des 1990 – mit rund 5000 Leuten weniger. angelernt werden. „Generationenvertrags“ zu spüren, den Die Belegschaften sind überlastet, die Die Modernisierung des Betriebes Betriebsrat und Vorstand vor kurzem Stimmung in den Werkshallen ist ge- haben Vorstand und Arbeitnehmerver- unterzeichnet haben. Danach will der drückt. Weil die Unternehmen in der treter in enger Abstimmung betrie- Konzern älteren Beschäftigten nur dann Krise wenig Rücksicht zeigten, sind die ben. noch die großzügige Vorruhestandsre- Mannschaften bitter enttäuscht. „Die Für Wolfgang Heyn, Leiter der gelung gewähren, wenn sich jüngere Leute haben das Gefühl, daß sie fallen- Kraftfahrzeug-Lichttechnik, ist der Kollegen jeweils in das VW-Werk ver- gelassen wurden wie heiße Kartoffeln“, überraschende Auftragsboom eine Be- setzen lassen, in dem gerade Bedarf an sagt ZF-Mitarbeiterin Lydia Huber. Das währungsprobe für das Konzept. zusätzlichen Beschäftigten herrscht. Vertrauen in die Geschäftsleitung, „Man darf nicht erwarten“, sagt der Bei deren Rekrutierung ist VW nicht meint Huber, sei zerbrochen. Manager zuversichtlich, „daß man nur zimperlich. „Die haben uns die Pistole Jetzt räche sich, daß die Industrie sich mit Personalabbau in die richtige Rich- auf die Brust gesetzt“, berichtet Jens in der Rezession auf Kosten der Beleg- tung kommt.“ Y Fuhlhage, 24, der in Emden als Vertrau- schaften saniert habe, schreibt die Wo- chenpost. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist es kälter geworden. Amerikanische Unternehmensberater warnen ihre Klientel schon länger vor dem personellen Kahlschlag. Eine Stu- die mit mehreren hundert Firmen hat ergeben, daß der Schnitt häufig die er- hoffte Kostenentlastung nicht bringt. Nur gut 40 Prozent der Firmen, die kon- tinuierlich Jobs gestrichen hätten, ver- zeichneten hinterher eine erhöhte Pro- duktivität. Aber bei fast allen sank die Motivation der Restmannschaft auf Null. Gerade Unternehmen aber, die be- weglicher werden wollen, brauchen mo- tivierte Belegschaften. Die Anforderun- gen in den Produktionshallen haben sich radikal verändert: Flexibel und belast- bar sollen die Mitarbeiter sein, mitden- ken, teamfähig sein. Qualitäten, die nur behutsam zu entwickeln sind.

Der Lippstädter Autolichthersteller W. SCHMIDT / NOVUM Hella hat die Rezession genutzt, um die Unterkunft für VW-Arbeiter in Hannover: „Wer sich weigert, fliegt raus“

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ensmann tätig war: „Wer sich weigert, nach Hannover zu gehen, fliegt raus.“ Der Konzern will Entlassungen ver- meiden, die sonst nötig wären. Das Werk Emden, in dem der VW-Passat gebaut wird, ist seit Jahren nicht voll ausgelastet, 1600 Arbeitsplätze sind überflüssig. Das Werk Hannover hingegen, in dem der Transporter montiert wird, benötigt dringend Arbeitskräfte. Für die VW-Manager liegt deshalb na- he, Mitarbeiter von Emden nach Hanno- ver zu versetzen. Bei den Beschäftigten allerdings wachsen Wut und Enttäu- schung über ihren Arbeitgeber und die Betriebsräte, die diesem Vertrag zuge- stimmt haben. Die Verschickungsaktion, zunächst befristet bis Ende 1995, war mangelhaft vorbereitet. In der Prinz-Albrecht-Ka- serne, wo vergangene Woche erst die

letzten Soldaten ausgezogen sind, fehlt es T. RAUPACH / ARGUS an allem. Verkehrsunfall: Mietwagen nur nach Preisvergleich Ein Jahr lang müssen die Arbeiter in kargen Dreibettzimmern hausen. Wer heiratet, sein Haus steht mitten im weil Zimmermann einen zu teuren Un- ein persönliches Umfeld schaffen will, Rohbau: „Ich weiß nicht, wie ich das fallersatzwagen gefahren habe. „Ich findet gerade mal Platz für den eigenen jetzt fertigkriegen soll.“ Kein Wunder, soll über 400 Mark nachzahlen“, sagt Radiowecker. Im Frauentrakt gab es ta- daß jene, die sich von Emden nach der Duisburger Facharbeiter. Deshalb gelang kein warmes Wasser, Duschen Hannover versetzen lassen mußten, will er vor Gericht ziehen. und Toiletten sind total verdreckt – falls nicht gerade motiviert an die Arbeit Zimmermann ist Opfer eines Streits sie überhaupt funktionieren. Jeweils gut gehen. zwischen Versicherern und Autover- 30 Personen teilen sich eine Küche mit Einige Beschäftigte haben bereits die mietern, der in mittlerweile 20 000 vier Kochplatten. Konsequenzen gezogen. Der Frauen- Prozessen vor deutschen Gerichten „Wir gehen uns gegenseitig auf die trakt ist nur noch halb belegt, in der ausgetragen wird. Die Assekuranzfir- Nerven“, klagt einer. Abends lärmt ersten Woche sind etwa 15 Arbeiterin- men wiesen Hunderttausende von die Spätschicht, im Gegenzug rächen sich nen wieder nach Hause gefahren. Rechnungen für Ersatzwagen zurück. die Frühschichtarbeiter morgens um Doch auch Männer geben auf. Ver- Bis vor zwei Jahren zahlten die halb fünf mit gebrüllten Kommandos: gangene Woche warteten Mitglieder Haftpflichtversicherer einem unschuldi- „Kompanie rausgetreten!“ der Frühschicht vergebens auf einen gen Unfallopfer anstandslos ein Miet- Wegen der miserablen Unterbringung Freund. Als sie den vermeintlichen auto. Dann kündigten die Versicherer stoppte der Emder Betriebsrat vergange- Langschläfer wecken wollten, fanden die Preisempfehlungen, die sie jahre- ne Woche die Umsiedlungsaktion. Jetzt sie auf seinem Bett nur einen Zettel: lang mit den Vermietern ausgehandelt wird eilig renoviert, schon diesen Montag „Hab’ in den Sack gehauen. Tschüß, hatten. Doch das Bundeskartellamt sollen weitere Arbeiter kommen. Michael.“ Y kassierte die neue Preisliste der Asse- Einige Betriebsräte des VW-Konzerns kuranz aus wettbewerbsrechtlichen fragen sich mittlerweile, ob ihre Versu- Gründen wieder ein. che, die Arbeitsplätze zu sichern, beson- Autoversicherung Weil ihnen die Preise zu hoch wa- ders gelungen sind. In der vergangenen ren, gründeten sechs Versicherer dar- Woche sorgte ein neuer Plan, nach dem aufhin eine eigene Autovermietung. weitere 50 000 Arbeitsplätze im Konzern „Wir werden beweisen, daß es auch abgebaut werden sollen, für Unruhe. Be- Geht auch billiger geht“, sagt Georg Mehl, Vor- reits nach Einführung der Viertage- standsvorsitzender der Württembergi- woche, die 20 000 Stellen sichern soll, schen Versicherung und einer der In- mußten sich die Betriebsräte harte Kritik billiger itiatoren. gefallen lassen. Seitdem kürzt die Assekuranz immer Viele trifft die Einbuße von 14 bis 16 Die Haftpflicht kürzt Rechnungen häufiger Rechnungen für Unfallersatz- Prozent des Lohns so hart, daß sie den für Unfallersatzwagen, viele Kun- wagen. „Das bundesweit tätige Miet- Abbau von mehreren tausend Arbeits- wagenunternehmen Carpartner rechnet plätzen als das geringere Übel ansehen. den ziehen deshalb vor Gericht. nach einem erheblich günstigeren Tarif Denn jeder Beschäftigte geht davon aus, ab“, schreibt beispielsweise die Volks- daß es ihn nicht trifft. olfgang Zimmermann konnte fürsorge. Da der Kunde zu Preisver- So war es auch in Emden. Zunächst nicht klagen. Als ihm ein hekti- gleichen verpflichtet sei, haben wir hieß es, wer verheiratet oder aus anderen Wscher Autofahrer beim Zurück- „unserer Abrechnung kurzerhand die Gründen an den Standort gebunden sei, setzen die Front seines Wagens einge- Konditionen der Firma Carpartner zu- müsse nicht umsiedeln – was einen regel- drückt hatte, zahlte die Versicherung grunde gelegt“. So wird oft nur die rechten Heiratsboom auslöste. des Unfallverursachers prompt alle Aus- Hälfte der Kosten erstattet. Doch die Härtefallregeln waren von lagen. Über 70 Versicherer haben bereits vornherein brüchig. „Jeder hat in Emden Doch einige Monate später kam die Kooperationsverträge mit Carpartner was hinterlassen“, sagt VW-Arbeiter böse Überraschung. Die zunächst so ku- unterzeichnet. Das Kölner Unterneh- Achim Bruns. Er ist seit vier Jahren ver- lante Versicherung fordert Geld zurück, men, das im Haus der Roland Rechts-

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WIRTSCHAFT

schutz-Versicherung residiert, besitzt selbst keine Autos. Es vermittelt die Chemie Kunden an Unternehmen wie Hertz, mit denen ein Partnerschaftsvertrag über besonders vorteilhafte Konditio- nen abgeschlossen wurde. Auf einem Spitzenplatz Wer in Köln unter einer kostenlosen Telefonnummer anruft, wird erst einmal Bayer-Chef Manfred Schneider über Rekordgewinne und Arbeitsplätze darauf hingewiesen, daß es vielleicht gar nicht so günstig sei, ein Auto zu mieten. Schließlich könne alternativ ein Nut- zungsausfall zwischen 30 und 150 Mark am Tag gewährt werden. Natürlich ist diese Lösung für die beteiligten Versi- cherer billiger als die Finanzierung eines Mietwagens. Besteht ein Unfallopfer dennoch auf einem Ersatzwagen, darf der nicht teu- rer als bei Carpartner sein, mehr zahlen die meisten Versicherer nicht. Die Prei- se der Autovermieter geraten dadurch erheblich unter Druck. „Die Versiche- rungsbranche will uns aushungern“, sagt Klaus Langmann-Keller, Geschäftsfüh- rer des Bundesverbandes der Autover- mieter Deutschlands. Kleinere Unternehmen, die oft 90 Prozent ihres Geschäfts mit Unfaller- satzwagen machen, sind besonders hart betroffen. Gleich um 40 Prozent fiel die- ses Geschäft bei der Augsburger Greif Autovermietung, die keinen Partner- vertrag hat. Über 250 der 1300 Betriebe, so Langmann-Keller, hatten seit Anfang 1993 aufgegeben oder Konkurs ange- meldet.

Die Autovermieter hoffen nun auf N. NORDMANN das Bundeskartellamt. Die Beamten er- Bayer-Chef Schneider: „Mißtrauen überrascht mich nicht“ mitteln seit einiger Zeit schon wegen des Verdachts der Kartellabsprache und des SPIEGEL: Keiner kann das Geldverdie- handelt es sich leider in erster Linie abgestimmten Verhaltens gegen die nen besser als Bayer, wurde Ihr Zwi- um unsere deutschen Standorte, wo Versicherer. schenergebnis kommentiert. Täuscht wir Arbeitskosten pro Stunde von über Ende Oktober transportierten die unser Eindruck, daß Sie Ihre Erfolge 70 Mark zu tragen haben. Dadurch Berliner Wettbewerbshüter Unterlagen früher zurückhaltender dargestellt ha- werden die Produkte so teuer, daß wir aus den Büros von Carpartner und der ben? sie nicht wirtschaftlich verkaufen kön- Württembergischen Versicherung ab. Schneider: Ob wir das Geldverdienen nen. Deren Leiter der Schadensabteilung, am besten können, lasse ich einmal da- SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, die Be- Harald Penning, ist gleichzeitig Ge- hingestellt. Aber unser operatives Er- gehrlichkeit der Gewerkschaften zu schäftsführer der Kölner Autovermie- gebnis 1994 kann sich in der deutschen wecken? tung. Industrie durchaus sehen lassen. Wir er- Schneider: Ich habe Verständnis dafür, Nach einer ersten Durchsicht des Ma- reichen damit einen Spitzenplatz. Es daß die Arbeitnehmer mehr Geld wol- terials hat das Amt Indizien für den Ver- liegt im Interesse des Unternehmens, al- len, zumal höhere Steuern und Abga- dacht, daß die Versicherer bei der Auto- so der Mitarbeiter und Aktionäre, dies ben die Nettoeinkommen immer stär- vermietung ihre Marktordnung selbst auch klar zu sagen. ker schmelzen lassen. Doch wir kön- machen wollen. Insbesondere stößt dem SPIEGEL: Wen wollen Sie damit beein- nen Geld, das wir beispielsweise mit Bundeskartellamt eine Service-Gebühr drucken? unseren Pharmaprodukten in den USA von 70 Mark auf, die Versicherungsun- Schneider: Niemanden. Daß man hier- oder Japan verdienen, nicht für höhere ternehmen bei jeder Anmietung an Car- zulande mit wirtschaftlichen Erfolgen Löhne in der deutschen Chemiepro- partner zahlen müssen. aber eher Mißtrauen und irritierte duktion ausgeben, denn dann gefähr- Die Autovermieter sehen darin einen Nachfragen hervorruft, überrascht mich den wir die Wettbewerbsfähigkeit un- Beweis, daß die Carpartner-Preise zu nicht. serer Pharmasparte. niedrig angesetzt sind und nur mit Sub- SPIEGEL: Wie verträgt sich der stolze SPIEGEL: Sind Ihnen die Interessen der ventionen der Assekuranzfirmen auf- Gewinn mit dem Plan, nochmals 1500 Aktionäre wichtiger als die der Be- rechterhalten werden können. Arbeitsplätze abzubauen? schäftigten? Philip Metzler, Geschäftsführer der Schneider: Im internationalen Vergleich Schneider: Diesen Gegensatz sehe ich Augsburger Greif Autovermietung, ver- ist unsere Rentabilität gar nicht so stolz. überhaupt nicht. Die Beschäftigten mutet deshalb: „Sobald Carpartner Da liegen wir auf einem guten Mittel- wollen sichere Arbeitsplätze, und nur niedrigere Preise auf dem Markt durch- platz. Im übrigen bauen wir diese Ar- rentable Arbeitsplätze sind auf Dauer gedrückt hat, verschwindet die Firma beitsplätze in Bereichen ab, die nach sicher. Das wiederum wollen auch die wieder.“ Y wie vor Schwierigkeiten haben. Dabei Aktionäre, die uns ihr Kapital anver-

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traut haben, damit wir es angemessen Atommanager brauchen Zeit. Lieber tung in der Atomfabrik La Hague in der verzinsen. heute als morgen möchten sie aus der Normandie ist in zwei Kontrakten fest- SPIEGEL: Wollen Sie die Bayer-Aktie teuren Wiederaufarbeitung von abge- gehalten (Alt- und Neuverträge). Das demnächst an der New Yorker Börse brannten Kernbrennstoffen aussteigen. sind Verpflichtungen über das Jahr 2000 einführen? Überdies wollen die Reaktorbetreiber hinaus mit erheblichen Abhängigkeiten; Schneider: Grundsätzlich ja. New York von der unwirtschaftlichen Fabrik für kündbar nur unter äußerst kostenträch- ist schließlich nach wie vor die größte sogenannte Mischoxid-Brennelemente tigen Bedingungen. Börse auf dem wichtigsten Markt der (Mox) im hessischen Hanau Abschied So könnten die Neuverträge noch bis Welt. Doch unser Gang nach New York nehmen, wo aus den alten Brennstäben zum bevorstehenden Jahresende aufge- ist eine Frage der Bedingungen. Zwei abgetrenntes Plutonium zu neuem ato- kündigt werden, gegen eine Vertrags- Abschlüsse, einer nach deutschen, einer maren Brennstoff verarbeitet werden strafe von einer Milliarde Mark. Von nach US-Prinzipien, sind für uns nicht sollte. Kommt es zu diesem Abschied, Neujahr 1995 an kostet der Ausstieg akzeptabel. Sobald die Börsenbehörde wäre dies das Ende des überflüssigen, gleich 200 Millionen Mark mehr. in New York unsere Bilanz anerkennt gefährlichen und unnützen zivilen Um- Auf das Geld wollte die Cogema in ih- oder ein Kompromiß auf internationaler gangs mit dem Bombenstoff Plutonium rem Angebot der vorigen Woche erst Basis gefunden worden ist, werden wir – und zugleich ein wichtiger Baustein für mal verzichten und statt dessen die Frist uns um eine Notierung an der Wall den von Parteien, Regierung und einer möglichen Kündigung bis Ende Street bemühen. Y Strommanagern angestrebten Energie- Juni 1995 verlängern. Ein Angebot mit konsens. Pferdefuß: In Wahrheit wollen die Ver- Neue Gespräche über einen solchen handlungsführer der Cogema ihre deut- Kernenergie Kompromiß, der den geordneten Rück- schen Partner nur in noch größere Ab- zug aus der friedlichen Atomnutzung re- hängigkeit bringen. geln könnte, sind noch nicht in Gang ge- Hinter den Kulissen versuchen die kommen. Doch es gibt, allen Dementis Franzosen alles, um die deutschen Verführerische zum Trotz, immer mehr Bewegung in Elektrizitätsversorgungsunternehmen der Diskussion. (EVU) im Boot zu behalten. Ihr Intern haben die Atomherren längst Trumpf: Die Wiederaufarbeitungsver- Angebote verabredet, daß sie, gleichsam als Mor- träge garantieren bislang einen rechtlich gengabe für die Atomkritiker, den End- noch unanfechtbaren Entsorgungsnach- Deutscher Atomausstieg auf lagerstandort für hochradioaktiven Müll weis, der nach dem deutschen Atomge- Raten? Da möchten die Franzosen im niedersächsischen Gorleben aufge- setz Grundlage für den Betrieb eines je- ben könnten (SPIEGEL 48/1994). den Kernkraftwerks ist. Und selbst wo kräftig kassieren. Selbst die bislang stets geforderte Opti- sich Klemmen ergeben, kann die Coge- on auf den Bau neuer, angeblich siche- ma helfen – gegen Geld natürlich. er Partner in Paris gab sich unge- rer Meiler (Atom-Jargon: „Fadenriß- So müßten die deutschen EVU ei- wöhnlich milde. Großzügig räumte Vermeidungs-Reaktor“) wollen die gentlich das bei der Wiederaufarbeitung Ddie französische Atomfirma Coge- Stromer unter bestimmten Umständen anfallende gefährliche Plutonium zu- ma vergangene Woche den deutschen fallenlassen. rücknehmen. Sie wissen aber nicht, wo- Stromvertretern Bedenkzeit ein – auf ei- Womöglich ist es der Einstieg in den hin damit. 10 Tonnen des Bombenstof- ne Vertragsstrafe in Höhe von 200 Mil- Ausstieg. Doch davor stehen äußerst fes sind schon in Hanau gebunkert, wei- lionen Mark solle vorerst verzichtet wer- schwierige Verhandlungen, die größten- tere 30 werden bis zum Jahr 2000 noch den. teils mit den komplizierten Vertragsbin- angeliefert. Daraus sollten, in einer neu- Scheinbar ein gutes Angebot, denn dungen an die französische Cogema zu- gebauten Fabrik der Siemens AG, ur- die in Bedrängnis geratenen deutschen sammenhängen. Die Wiederaufarbei- sprünglich 900 Tonnen Mox-Brennele- SIPA Französische Atom-Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague: Angebot mit Pferdefuß

DER SPIEGEL 49/1994 103 WIRTSCHAFT

Die Plutoniumfabrik viel, wie alle 56 französischen Atom- kraftwerke zusammen abgeben dür- La Hague in Frankreich gibt weit mehr fen. radioaktive Stoffe an die Umwelt ab Zugleich werden beim Zersägen der als bislang vermutet. Atomexperten abgebrannten Brennelemente unge- des Pariser Energieinformationszen- heure Mengen strahlenden Mülls pro- trums WISE ermittelten jetzt im Auftrag duziert. Pro Tonne abgebrannten von Greenpeace, daß sich die Mengen Urans, so fanden die WISE-Forscher strahlender Abgase und Abwässer aus heraus, fallen in La Hague bei der Plu- der Wiederaufarbeitungsanlage in der toniumgewinnung rund 24 Kubikmeter Normandie in den letzten zehn Jahren Strahlenmüll an. Verglichen mit der di- mehr als verdoppelt haben. Allein im rekten Endlagerung ausgebrannter vergangenen Jahr gelangten demnach Kernbrennstäbe erfordert die Wieder- rund 130 000 Terabecquerel radioak- aufarbeitung damit fast zehnmal so- tives Tritium aus der Anlage in die Um- viel Raum in einem zukünftigen Endla- gebung. Das ist mehr als doppelt so- ger.

mente gefertigt werden. Doch dieser und trotz großer Risiken wegen man- Neubau, in den bereits eine Milliarde gelnder Zwischenlagermöglichkeiten für Mark investiert wurde, wird durch Ge- den Strahlenmüll zum Ausstieg aus der nehmigungsprobleme blockiert. Der- Plutoniumwirtschaft entschlossen sind. weil zerrinnt für das aufgehäufte Pluto- Seit das Lüneburger Verwaltungsge- nium die Zeit. richt einen Transport von Castor-Behäl- Binnen zwei, drei Jahren zerfällt Plu- tern mit Nuklearmaterial ins Zwischen- tonium teilweise zu radioaktivem Ame- lager Gorleben vereitelte, nutzen die ricium. Für die Herstellung von Brenn- Franzosen nun eine gewisse Verunsiche- elementen wird das Zeug erst wieder rung in der Strombranche: Wenn deut- tauglich, wenn es, für weitere Milliarden sche Gerichte weiter die Atomlager Mark, nochmals in La Hague aufgear- blockieren, fürchten einige EVU-Ver- beitet würde. treter, künftig ohne La Hague womög- Die Franzosen wissen einen Ausweg: lich auch ohne Entsorgungsnachweis da- In Cadarache bei Aix-en-Provence re- zustehen. novieren sie derzeit eine Brennelemen- Doch die deutschen Konzerne blei- tefabrik, in der Mox-Brennstäbe herge- ben, wie es scheint, standhaft. Sie setzen stellt werden sollen – nur für die Deut- auf eine neue Runde von Konsensge- schen. Für 150 Tonnen Brennelemente sprächen. Dabei wollen sich die Atommanager für ihren radioaktiven Abfall Zwischen- Es lohnt nicht, die lagermöglichkeiten in Deutschland ein- Milliarden-Fabrik handeln. Im Gegenzug würden sie die Plutoniumproduktion beenden, Rest- in Betrieb zu nehmen laufzeiten für ihre Atommeiler verein- baren und sogar auf die bislang gefor- haben die EVU sich bei den Franzosen derte Option auf eine neue Reaktorlinie schon festgelegt, über weitere 350 Ton- verzichten – praktisch das Ende der nen wird derzeit verhandelt. deutschen Nuklearzeit. Für die Mox-Fertigung in Hanau Mit dem neuen Reaktortyp wollten bleibt dann nicht mehr viel übrig, wenn die Strommanager sich ursprünglich die sie dereinst genehmigt würde. Es lohnt weitere Atom-Zukunft offenhalten. Seit womöglich gar nicht, die Milliarden-Fa- fast sechs Jahren arbeitet die französi- brik in Betrieb zu nehmen – doch ohne sche Framatome in Kooperation mit Hanau sind die deutschen EVU voll- Siemens an einem Meiler, der speziellen ständig in der Hand der Cogema. Sicherheitsanforderungen genügen soll. Und die Franzosen locken mit weite- Doch die meisten deutschen Strompro- ren verführerischen Vertragsangeboten. duzenten sahen nie einen dringenden Sie sind bereit, die Brennelemente sogar Bedarf für das angeblich supersichere ohne weitere Verarbeitung zwischenzu- Kraftwerk. Öffentlich haben sie das na- lagern, was den Deutschen vorüberge- türlich nie zugegeben. hend aus der Klemme helfen würde. Um den Ausstieg nun politisch zu er- Voraussetzung allerdings: Die deut- leichtern, soll der bayerische Minister- schen Strommanager müßten von einer präsident Edmund Stoiber behilflich Kündigung der Neuverträge Abstand sein. Er ist bereit, mittels eines Pro-for- nehmen. ma-Verfahrens den Meiler auf dem Pa- Die Cogema-Manager hatten er- pier für genehmigungsfähig zu erklären, schrocken registriert, daß immer mehr wenn kein konkreter Standort benannt Stromversorger, darunter das RWE und werden muß. Das wäre dann, meint ein die Hamburgischen Electricitäts-Werke, Atommanager, die „weiße Salbe“ für unter dem Druck des Silvestertermins die Hardliner. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

Luftfahrt Video SAS verärgert Erfolg Partner mit Mr. Bean Die skandinavische Fluglinie Mit den skurrilen Abenteu- SAS verhandelt außer mit ern des trotteligen Helden der Lufthansa auch mit Bri- „Mr. Bean“ hat Philips einen tish Airways und weiteren überraschenden Erfolg. Zwei europäischen Gesellschaften Monate nach dem Start wur- über eine enge Kooperation. den in Deutschland bereits Vor kurzem hatte SAS-Chef mehr als 250 000 Kaufvideos Jan Stenberg durchblicken der Reihe abgesetzt. Nun soll lassen, daß er gern die Deut- der vom britischen Komiker schen als Partner gewinnen Rowan Atkinson dargestellte

würde. Die anderen Koope- WATTENBERG / DPA Sonderling auch noch den rationskandidaten, darunter Flugzeugwartung in Lemwerder stockenden Absatz der CD-i- Air France und KLM, sind Spieler ankurbeln. Für „die über die vorzeitige öffentli- Norddeutschen Landesbank Optionsgeschäfte ultimative Spielmaschine“ che Festlegung verärgert. Be- und der niedersächsischen (Philips), die neben Musik- sonders die Swissair ist beun- Landesregierung hatte der Schadensersatz ruhigt, da sie bisher schon Dasa-Vorstand auf einem mit der SAS zusammenarbei- Wettbewerbsverbot bestan- für Bankkunden tet und sich gute Chancen für den. Die neuen Eigentümer Die übliche Aufklärung der eine stärkere Kooperation sollten sich verpflichten, Banken über die Risiken von ausrechnete. Ein Swissair- nicht in das lukrative Ge- Optionsgeschäften reichen Manager flog eigens nach schäft mit der Wartung mili- offenbar nicht aus, Stockholm, um sich nach tärischer Flugzeuge und An- den Kreditinstituten drohen dem Stand der Verhandlun- lagen einzusteigen. Das Bun- Schadensersatzforderungen gen zu erkundigen. deskartellamt wollte den in Milliardenhöhe. Das sind Vertrag für nichtig erklären, die möglichen Konsequenzen Flugzeugindustrie wenn der diskriminierende eines Urteils des Landge- Passus nicht deutlich abge- richts Düsseldorf. Die Rich- Militär-Aufträge mildert würde. Das Wettbe- ter verurteilten in drei Fällen werbsverbot ist jetzt auf fünf die Bank für Gemeinwirt- für Lemwerder Jahre beschränkt. Bis Lem- schaft (BfG) sowie einen ih- Beim monatelangen Ver- werder die Bundeswehr-Auf- rer Angestellten zu Scha- tragspoker um das Flugzeug- träge in fünf Jahren überneh- densersatz von insgesamt wartungswerk Lemwerder men darf, wird die nieder- 420 000 Mark (AZ: hat die Daimler-Benz-Toch- sächsische Regierung die 8 0 308/93; 309/93; 327/93).

ter Dasa eingelenkt. In dem Verluste des Werks mit staat- Das Landgericht erkannte, T. LARKIN / REX FEATURES Verkaufsvertrag mit der lichen Finanzhilfen mildern. daß weder die Bank noch ihr Mr. Bean Mitarbeiter bei der Abwick- lung von Optionsgeschäften CDs auch die neuen Com- Europa hat Konjunktur den gesetzlich vorgeschriebe- pact-Discs mit Bildaufzeich- Wirtschaftsprognose für die führenden EU- Staaten; nen Aufklärungspflichten nung abspielt, hat der Kon- Angaben in Prozent nachgekommen sei. So heißt zern nun in aller Eile fünf es in dem Urteil, die von der Mr.-Bean-Videos aufgelegt. DEUTSCHLAND FRANKREICH GROSSBRITANNIEN BfG den Kunden zur Unter- schrift gereichte Aufklä- März-Gruppe 3,4 3,2 3,2 3,8 2,5 3,0 2,2 2,7 2,8 rungsschrift „Verlustrisiken bei Börsentermingeschäften“ Kapital Reales Wachstum des genüge „in keiner Weise den fast aufgezehrt Bruttosozialprodukts Erfordernissen, die die Rechtsprechung für eine aus- Die Finanzlage der Nah- 3,3 reichende Aufklärung aufge- rungsmittelgruppe Gebr. 2,8 2,2 2,4 2,1 2,5 2,9 1,7 1,9 stellt hat“. Die Aufklärungs- März AG ist sehr viel schrift stammt vom Bundes- schlechter als bisher darge- Inflationsrate verband deutscher Banken stellt: Zwei Drittel ihres Ei- e.V. und wird von allen Ban- genkapitals sind aufgezehrt. 11,3 11,0 Quelle: EU ken genutzt. Sollte dieses Ur- Das hochverschuldete Kon- Arbeitslosenquote 10,6 9,4 teil auch vor dem Bundesge- glomerat aus Fleischfabri- 8,5 richtshof bestehen, können ken, Brauereien und Molke- 7,3 7,6 7,0 6,4 Bankkunden für alle Verlu- reien machte im abgelaufe- ste, die sie seit 1989 bei Ter- nen Geschäftsjahr 1993/94 mingeschäften erlitten ha- rund 300 Millionen Mark ben, Schadensersatz fordern Verluste. Damit sind in der 1994 1995 1996 1994 1995 1996 1994 1995 1996 – einschließlich der gezahlten AG bis auf das Grundkapital Gebühren. alle Rücklagen aufgebraucht.

DER SPIEGEL 49/1994 105 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . LICHTBLICK SAUER / Subventionskandidaten Eko-Stahl, Sabena: Selbst altgediente Brüsseler Bürokraten wundern sich über die offene und

sich ein Bonner EU-Experte, „die Sitten Subventionen verrohen.“ Die EU-Mitglieder waren allerdings schon immer erfindungsreich, wenn es galt, die eigenen Interessen durchzuset- „Die Sitten verrohen“ zen. Das komplizierte Regelwerk, nach dem in Brüssel Beihilfen genehmigt Bonn will Hilfen für Eko-Stahl, Paris stellt Bedingungen – werden, fördert dieses Verhalten. Nach dem Vertrag über die Europäi- ein Lehrstück europäischer Erpressung. Ein Sündenfall, mit politischer sche Gemeinschaft für Kohle und Stahl Drohung durchgesetzt, dient als Präzedenz für den nächsten. aus dem Jahre 1951 ist grundsätzlich je- de Beihilfe aus der Staatskasse für Koh- le und Stahl verboten – es sei denn, der ine kleine Geiselnahme hier, etwas derte Brüsseler Bürokraten waren baff. Ministerrat genehmigt einstimmig Aus- Druck da – ein bißchen politisch- Ein Kommissionsmitglied: „So knallhart nahmen. Ekriminelle Energie hat im politi- und so offen – das ist einmalig.“ Die Subventioniererei des gesamten schen Alltagsgeschäft Europas noch nie Die direkte Art mag neu sein, das übrigen Bereichs der Wirtschaft außer geschadet. Vorgehen nicht. Erst vor wenigen Wo- Kohle und Stahl richtet sich nach Arti- Auf dem Gipfel der Europäischen chen demonstrierten die Italiener, wie keln 92 und 93 des EG-Vertrags. Da- Union am kommenden Wochenende in durch Verbindung von Entscheidungen, nach hat die Kommission zu prüfen, ob Essen werden die Regierungschefs über die nichts miteinander zu tun haben, im eine von einem Mitglied geplante Bei- einen besonders eindrucksvollen Fall re- Europa der Zwölf Vorteile zu erlangen hilfe den Wettbewerb im Binnenmarkt den. Bonn möchte sich endgültig 910 sind. tangiert. Millionen Mark Subventionen für das Die Italiener waren von der Brüsseler Aber die Kommission kann den Eko-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt von Kommission zu einer Strafe in Milliar- Staatszuschuß aus sozialen oder regio- den EU-Partnern genehmigen lassen. denhöhe verurteilt worden; sie hatten nalen Gründen auch dann genehmigen, Einem dafür notwendigen einstimmi- sich nicht um die Milchmenge geküm- wenn der Wettbewerb verletzt wird. Ei- gen Votum im Industrieministerrat ne „auf der Welt einmalige Praxis“, schien schon im November nichts entge- räumt der für die Beihilfen zuständige genzustehen. Doch ein Anruf „unmittel- Ein Wink von oben EU-Kommissar Karel van Miert ein, sie bar aus dem Hause Balladur“ (Wirt- hielt die verlange von der Kommission „äußerst schaftsminister Günter Rexrodt) bei delikate Entscheidungen“. Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn Lufthansa zurück Immer häufiger muß sich der Euro- hatte kurzfristig die Abstimmung der In- päische Gerichtshof (EuGH) mit dem dustrieminister gestoppt. Der Regie- mert, dieBrüssel jedem Mitglied zuweist. Ergebnis der Feilscherei befassen. Erst rungschef in Paris ließ mitteilen, daß Die EU will so die Überproduktion be- kürzlich machte sich der Brüsseler An- Frankreich der Stahlsubvention nun grenzen. Wer zuviel produziert, so lautet walt Romano Subiotto nach Luxemburg doch noch nicht zustimmen könne. die Regelung, der auch die Italiener zuge- auf. Persönlich gab er beim EuGH eine Man habe nichts gegen Eko, versi- stimmt haben, muß Strafe zahlen. 71seitige Klageschrift ab. cherte der Anrufer. Erst aber müsse Pa- Doch die italienische Regierung fand Subiotto handelte im Auftrag von ris bei der Brüsseler Kommission eine einen Weg, billiger davonzukommen: Sie sechs europäischen Luftfahrtgesellschaf- Sonderregelung für eine notleidende blockierte die Finanzierung der EU für ten; die wollen eine im Sommer von Werft in Nantes durchsetzen. Man hoffe das nächste Jahr. Die muß einstimmig im Brüssel genehmigte Geldspritze für die auf deutschen Beistand. Danach sei Rat beschlossen werden. Air France nicht hinnehmen. Frankreich gern bereit, dem Eko-Deal Schließlich wurde den Italienern ein Die Lufthansa hätte sich der Klage zuzustimmen. Nachlaß ihrer Milchstrafe in Höhe von gern angeschlossen. „Ein Wink von Selbst altgediente, im täglichen Polit- über einer Milliarde Mark zugestanden. oben“, so ein Eingeweihter, hielt die Tauschgeschäft der Europäer bewan- „Geiselnahme kommt in Mode“, empört deutsche Fluggesellschaft zurück. Kohl

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WIRTSCHAFT

Die Deutschen können beim Subven- tionspoker durchaus mithalten. Ein Exporte Kommissar spöttelt über die Bonner Regierung, die freien Handel und fairen Wettbewerb gern als ihr Ideal ausgibt: „Der Spagat wird immer größer.“ Teures Gegenüber der Kohle verhielt sich die deutsche Regierung schon immer recht großzügig. So richtig in die Kasse aber Geschenk greift sie erst seit der Vereinigung. In den neuen Ländern gibt es Regio- Siemens war – eines Auftrags we- nalhilfen und außerdem großzügige gen – nett zu den Chinesen. Doch Sonderkonditionen für mecklenburgi- sche Werften sowie Staatshilfen für die die zeigten sich nicht dankbar. Chemie, die Autoindustrie und den Schwermaschinenbau. Jetzt soll knapp ie China-Reise des Staatssekretärs eine Milliarde für Eko-Stahl hinzukom- für Wirtschaft schien eine Routine- men – kein Bonner Vertreter kann es Dangelegenheit. Doch dann traf sich noch leisten, in Brüssel gegen die Dieter von Würzen am 7. Juni auf den

F. HOLLANDER / DIAGONAL ausufernde Subventionitis aufzubegeh- chinesischen Elektrizitätsminister Shi knallharte Feilscherei ren. Dazhen. Insgeheim ist Bonn schon dabei, sich Bitter beklagte sich der Chinese über selbst habe einen solch unfreundlichen ein weiteres Privileg genehmigen zu las- die Münchner Weltfirma Siemens. Akt gegen seine Freunde in Paris ge- sen. Die Deutschen möchten durchset- „Unpassend“ habe das Unternehmen stoppt. zen, daß auch für die Nachfolgeorgani- sich verhalten: Siemens hatte zu spät Bei Air France geht es um 20 Milliar- sationen der Treuhand die großzügige den Francs, fast 6 Milliarden Mark Entschuldungspraxis ehemaliger DDR- Staatsgeld. Dafür könne man, erboste Firmen auf Staatskosten beibehalten sich der britische Verkehrsminister wird. Brian Mawhinney, glatt zwei Drittel von Dreh- und Angelpunkt des europäi- British Airways kaufen. schen Subventionsspiels war stets die Ein Sündenfall, mit politischer Dro- Notwendigkeit, bei Kohle und Stahl ein hung durchgesetzt, dient als Präzedenz einstimmiges Votum im Rat zu errei- für den nächsten. Nun stehen die Grie- chen. „Das ist“, so ein Wettbewerbsex- chen mit Olympic und die Belgier mit perte der Kommission, „eine Einladung Sabena, die beide schon Subventionen zur Erpressung.“ bekommen haben, wieder vor der Tür. Was die Franzosen in diesen Tagen Mit ausdrücklichem Hinweis auf Air beweisen. Da ihre Werft-Subvention ein France fordert auch die spanische Flug- Fall für die Kommission ist, haben sie linie Iberia rund 1,6 Milliarden Mark Eko-Stahl, das sie mit ihrer Stimme kip- Staatshilfe. Ohne öffentliche Finanz- pen können, als Faustpfand genommen. spritze könnte das Unternehmen binnen Die Verschiebung der Eko-Entschei- drei Monaten bankrott sein. dung, von den Franzosen lediglich aus taktischen Gründen provoziert, hat die Italiener und Spanier ermuntert. Ihnen

Am Tropf des Staates reichen die bisher genehmigten Beihil- M. DARCHINGER fen für ihre Stahlindustrie nicht aus. Exportförderer von Würzen Subventionen für Rohstahl 133 in ausgewählten Ländern der EU; Hängen sich die Südländer mit neuen Überraschung in Peking Durchschnittswerte 1975 bis 1993 Forderungen an die Eko-Entscheidung, dann könnte Rexrodts 910-Millionen- versucht, sein Gebot für einen chinesi- in Mark je Tonne Mark-Spritze für Eisenhüttenstadt noch schen Auftrag aufzubessern. Nun kann 97 kippen. China es kaum noch annehmen, ohne Ein Ende des Subventionsgefeilsches einen Mitbewerber aus dem mächtigen 83 im Gemeinsamen Markt ist nicht abzu- Japan zu verprellen. sehen. Die Lage droht sich sogar zu ver- Es geht um den Bau einer „Hoch- 63 schlechtern. spannungsgleichstrom-Übertragungslei- Nach dem Gipfel in Essen überneh- tung“ vom Wasserkraftwerk Tianshen- men die Franzosen von den Deutschen qiao in die Stadt Kanton, über eine für sechs Monate die EU-Präsident- Strecke von 930 Kilometern. Im Wett- schaft. Schon haben Pariser Diplomaten bewerb stehen die Konzerne GEC-Alst- in Brüssel vorgefühlt, ob nicht die Bei- hom, Asea Brown Boveri (ABB) in hilfengenehmigung im EU-Vertrag ge- Verbindung mit den Japanern (Marube- 11 nauso geregelt werden sollte wie im al- ni) und Siemens. ten Vertrag für Kohle und Stahl. Am 18. April machte Peking nach Der Gedanke an die Konsequenz dem Ende der Ausschreibungsfrist die muß das Herz eines jeden Subventions- Preisliste öffentlich. Alsthom war mit jägers in der Union schneller schlagen Deutsch- Frank- Groß- Italien Spanien * 262 Millionen Dollar am teuersten, Sie- land reich britan- lassen. In Zukunft wäre dann jede Bei- mens lag mit 232 Millionen Dollar an nien * von 1984 bis 1993 hilfe von der Einstimmigkeit im Rat ab- zweiter Stelle. Am billigsten war mit 180 hängig. Y Millionen Dollar ABB/Marubeni. Noch

DER SPIEGEL 49/1994 109 WIRTSCHAFT in diesem Jahr wollen die Chinesen über kämpfer im Internet“ versprechen sie den Zuschlag entscheiden, und Siemens Werbung Anleitungen, „wie sich auf dem Info- hat nicht die besten Chancen. Deshalb Highway ein Vermögen machen läßt“ – bot Hubert Essel, beim Münchner Kon- Name ihrer neuen Firma: Cybersell. zern für das China-Geschäft zuständig, Da kriegen sie womöglich ein Zu- den Chinesen, als die Preise der Kon- Pinnwand kunftsgeschäft zu fassen. Mindestens kurrenz bekannt waren, eine Finanzie- 100 Milliarden Dollar, schätzen Exper- rungshilfe mit staatlich garantierten, ten, wird die Infobahn kosten, die Präsi- extrem niedrigen Zinssätzen an. Die mit Logo dent Bill Clinton für Forscher und Ge- Nachbesserung verstößt gegen interna- schäftsleute, Behörden und Normalver- tionales Wettbewerbsrecht. Werber entdecken den Computer- braucher bauen will. „Siemens und Regierungsstellen freu- monitor als Reklamefläche für ein Der komplexe Verbund von Compu- en sich, einen Kredit über mindestens tern, Kabelnetzen und Hunderten von 8,2 Milliarden Yen (80 Millionen Dol- Millionenpublikum. Fernsehkanälen soll die Kommunikati- lar) ausschließlich für das Tian-Guang- on der Menschen revolutionieren und Stromleitungsprojekt anbieten zu kön- aurence Canter und Martha Siegel, ihnen jede nur denkbare Information di- nen, wenn Siemens diesen Kontrakt er- Anwälte in Scottsdale (US-Staat rekt ins Terminal auf dem Schreibtisch hält“, schrieb Essel am 18. April. Die LArizona), investierten 40 Dollar, liefern: den Versandhauskatalog oder Bedingungen für den Regierungskredit um schnelles Geld zu machen. Wenig den elektronischen Brief von Onkel seien märchenhaft: Laufzeit 40 Jahre, später hatten die geschäftstüchtigen Theo, das Wunschvideo oder den Bank- die ersten 10 Jahre tilgungsfrei, ein Zins Eheleute, so behaupten sie wenigstens, auszug. Und eben auch Werbung. von 0,75 Prozent. Aufträge im Wert von 100 000 Dollar Denn Clintons Jahrhundertprojekt Solche Konditionen sind bei Exporten gebucht. läßt sich aus Anschluß- und Nutzerge- in Länder der Dritten Welt durchaus üb- lich. Aber im Fall Siemens will nun, da die Sache schiefgegangen ist, in Bonn keiner eine Zusage gegeben haben. „Die Bundesregierung“, so Wighard Härdtl, Staatssekretär im Entwicklungs- hilfeministerium, „kann Siemens als Geldgeber nicht gemeint haben.“ Stimmt, es war der Freistaat Bayern. Der, so heißt es in einem Vermerk des Bonner Wirtschaftsministeriums, sei als Finanzier zugunsten von Siemens und China eingesprungen. Die Regierung Stoiber bestätigte dem zuständigen chi- nesischen Minister ihre Hilfsbereitschaft in einem Schreiben im Mai. Deshalb glaubte Staatssekretär von Würzen, alles sei in bester Ordnung, als er beim Elektrizitätsminister Shi Daz- hen vorsprach. Der belehrte ihn eines Besseren: „Wenn Siemens ehrlich be- müht gewesen wäre, ein günstiges An- gebot rechtzeitig abzugeben, hätte Sie- mens seine Konkurrenzfähigkeit behal- ten.“ Jetzt sei das günstige Siemens-An- gebot nicht mehr „berücksichtigungsfä- hig“. Peking wagt es nicht, die Siemens- Konkurrenten ABB und – vor allem – Marubeni zu verärgern. Das bayerische Billigangebot steht trotz der schroffen Reaktion noch im- VW-Werbung im Internet: „Die Infobahn mit Reklame pflastern“ mer. Um die Chinesen freundlich zu stimmen, wurde jedoch der Zusammen- Für die Akquisition nutzten die Ad- bühren allein nicht finanzieren. „Wenn hang mit dem Bau der Stromleitung vokaten eine noch wenig verbreitete wir den Information-Highway bauen durch Siemens gelöst. Nun soll China Methode der Werbung. Von ihrem Per- wollen“, erklärte Brendan Clouston, das Geld bekommen, wenn Siemens sonalcomputer (PC) aus, den sie über Manager des US-Kabelriesen TCI, überhaupt bei Infrastruktur-Investitio- einen Signalwandler an die Telefon- „müssen wir ihn mit Reklame pfla- nen in der Provinz Guangdong zum Zu- buchse geklinkt hatten, sandten sie zahl- stern.“ ge kommt. reichen Empfängern im weltgrößten Wie die digitale Werbung aussehen So ließe sich die leidige Angelegen- Datennetz Internet einen elektroni- soll, zeichnet sich erst in Umrissen ab. heit vielleicht doch noch zu einem guten schen Brief, in dem sie ihre Dienste an- Schlichtwerbung auf dem Monitor, wie Ende bringen. Bleibt nur ein Problem: boten. sie mit Firmenhinweisen seit Jahren im Im Bonner Entwicklungshilfeministeri- Zwar protestierten Netzwerker gegen Bildschirmtext der Telekom betrieben um rätseln die Beamten, wie die Bayern die digitale Massenpost, die ihnen die wird, taugt nicht zum Vorbild. In der ihre teure Hilfe für den Heimatkonzern Computerbriefkästen verstopfte. Doch Branche, vor allem bei den amerikani- legal verbuchen und – vor allem – be- die Anwälte legen nun nach: In einem schen Kreativen, hat ein Wettrennen zahlen wollen. Y „Handbuch für Marketing-Guerilla- eingesetzt, wer den Kunden aus Indu-

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strie und Handel als erster ein schlüssi- ges Konzept bieten kann. Denn Datennetze verlangen den Wer- bestrategen Ungewohntes ab. Den Computerbildschirm betrachten viele Benutzer, anders als den Fernseher, als eine individuell gestaltbare Oberfläche, die für Arbeit, Spiel und Kommunikati- on eingesetzt wird. Werbung auf dem Monitor kann da leicht wirken, als habe jemand ungefragt ein Persilplakat in der Wohnküche aufgehängt. Hinzu kommen technische Probleme. Detailreiche Grafiken, Töne oder Vi- deos, ohne die ein Werber in elektroni- schen Medien nur schwer auskommt, brauchen derzeit oft noch reichlich Zeit, bis sie aus den Tiefen des Datennetzes in den Computer zu Hause übertragen sind. Und die Vielfalt der Software, die Endverbraucher für elektronische Kom- munikation einsetzen, garantiert jede Menge Durcheinander in der neuen Re- klamewelt. Von deren Gestaltung, resümierte deshalb die Fachzeitschrift Werben & Verkaufen, „sind die Werber genauso weit entfernt wie die Computerspeziali- sten“. Wie groß die Unsicherheit der Branche hierzulande noch ist, zeigte vo- Teleshopping im Internet: „Der gläserne Kunde ist technisch bereits Realität“ rige Woche ein Symposium des Burda- Verlages in München, Thema: „Wie In Dortmund etwa hat der Internet- den Monat kommen nach Schätzungen wirbt man auf dem Information-Super- Experte Rainer Klute, 33, das Netz- rund 1000 Firmen hinzu. highway?“ Werbestudio Nads mit gegründet. Die So präsentiert der texanische PC-Pro- Statt Antworten waren dort vor allem Firma, die mit dem führenden deut- duzent Dell seinen Katalog zum Blät- Platitüden zu haben: „Unser Problem“, schen Internet-Dienste-Anbieter Eunet tern und Bestellen am Bildschirm. Und verkündete etwa Nicholas Negroponte, zusammenarbeitet, wird demnächst im die Hyatt-Hotelkette lockt im Netz mit Chef des Media Lab im Massachusetts Netz für den Initiativkreis Ruhrgebiet Wochenend-Sonderofferten. Institute of Technology, „ist der Mangel und den High-Tech-Hersteller Rank Anbietergemeinschaften haben sich an Imagination.“ Xerox werben. gebildet, in denen sich Versandhändler, Daran allerdings scheint es, während In Berlin plant die Firma Pixelpark ei- Verlage, Dienstleister und Werbestu- große Werbeagenturen noch abwarten, nen Online-Dienst mit Musikdatenban- dios unter einer gemeinsamen elektroni- bei kleinen Studios nicht zu hapern. ken und elektronischen Pinnwänden, schen Adresse zusammenschließen. Bei- Dort spezialisieren sich Computerexper- auf denen die Datenreisenden ihre digi- spiele: ein Dienst der kultigen amerika- ten auf die elektronischen Netze, die ein talen Botschaften hinterlassen können – nischen High-Tech-Zeitschrift Wired internationales Millionenpublikum mit und nicht nur sie: Sponsoren, darunter mit Serviceangeboten von Volvo und Kraftsprüchen über Schokoriegel oder Musikverlage, Getränkebrauer und Club Mediterrane´e, das amerikanische mit Traumfotos von Traumautos errei- Sportschuhhersteller, wollen dort ihre Internet Shopping Network mit über chen können. Logos plazieren und sich so einer jungen 600 angeschlossenen Firmen oder der Käuferschicht empfehlen. Computerverbund Norddeutsche Da- Auch auf der Deutschen Datenauto- tenautobahn, wo sich Infos der Zeit- bahn (DDA), einem Internet-Service schrift Geo, die Computer Zeitung oder der Frankfurter Software-Firma FSAG, der SPIEGEL anwählen lassen. ist Werbung präsent. Dort können Netz- Ausgelöst wurde die Bonanza-Stim- nutzer den VW Polo einer virtuellen In- mung durch die Erfindung des World spektion unterziehen. Das Internet, Wide Web (WWW) – eines Navigations- schwärmt DDA-Chefin Michaela Merz, systems, das auch weniger computer- sei „das ideale Werbemedium“. kundigen Benutzern die Streifzüge Studios wie Nads gehören zu einer durch die Weiten des Internet ermög- neuen Generation kleiner Agenturen, licht. Symbole oder Querverweise die sich Pionierarbeit vorgenommen ha- („Links“) im übermittelten Text genü- ben. In den USA ist davon schon mehr gen dem Datenreisenden, sich mit der zu besichtigen als hierzulande: Ihr Test- PC-Maus durch Katalog- und Bestellsei- gelände finden die Werber weniger in ten aller möglichen Anbieter zu klicken. kommerziellen Datendiensten wie Com- Das Internet, befand das ameri- puServe als vielmehr im wuchernden In- kanische Wirtschaftsmagazin Business ternet, das nach jüngsten Schätzungen Week, sei ein Muß für alle, „die lernen

J. SCHWARTZ weltweit 32 Millionen Teilnehmer zählt. wollen, wie sie in der 500-Kanäle-Zu- Netzwerber Klute Knapp 22 000 Firmen haben sich dort kunft ein Geschäft machen können“. Pionierarbeit im Studio bereits mit Angeboten angesiedelt, je- Und Donatus Schmid, Marketingmana-

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WIRTSCHAFT

ger beim Zentraleuropa-Ableger der amerikanischen Computerfirma Sun, Datennetze begeistert sich: „Die Reichweite des In- ternet ist größer als die jeder Anzeige.“ Die deutschen Top-Werber wollen das noch nicht so recht glauben. Digitale „Der Bürger zahlt drauf“ Reklame, meint Jens Putze, Spitzenma- nager im Werbekonzern Saatchi & Saat- Kommunikationsmanager Lutz Meyer-Scheel über Telefon-Konkurrenz chi, sei zwar „ein heißes Eisen“. Doch derzeit fehlten in Deutschland Gesamt- konzepte und Kunden, die mitspielen. SPIEGEL: Die Postminister der Europäi- Netz- und Fernmeldemonopole sind ein Vor allem mangele es an Kenntnis- schen Union haben beschlossen, daß großes Hindernis für die Entfaltung der sen, räumt Christof Baron bei Ogilvy & 1998 die Monopole der staatlichen Tele- Telekommunikation innerhalb der EU, Mather in Frankfurt unumwunden ein: fongesellschaften wegfallen. Ist das ein und es gibt wohl keinen privaten Anbie- „Kaum einer kennt sich wirklich aus, vernünftiger Zeitplan? ter, der sich nicht schon über die Deut- daher ist der unbestreitbare praktische Meyer-Scheel: Absolut, wenn die Ent- sche Telekom geärgert hat. Nutzen dieser Medien für die Branche scheidung wirklich verbindlich ist und SPIEGEL: In Deutschland drängen vor wohl noch nicht allen klar.“ die Liberalisierung nicht weiter auf die allem einige Stromkonzerne darauf, die Die Europäer, so sieht es aus, sind lange Bank geschoben wird. Denn die Monopole schon 1995 zu streichen, und auch hier die Nachzügler. In den USA auch Postminister Bötsch werden nächstes Jahr immerhin bereits macht sich offenbar dafür zwölf Prozent der werbetreibenden Fir- stark. Ist derart schnelles Vor- men in die Datennetze gehen. In gehen sinnvoll? Deutschland dagegen stellte das Münch- Meyer-Scheel: Das halte ich ner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung für gefährlich. Denn der nur geringe Bereitschaft fest, die Com- Übergang vom Monopol zum puternetze anders zu benutzen als für Wettbewerb muß gut vorbe- Datenbankrecherchen und den Aus- reitet werden, sonst gibt es ein tausch elektronischer Post. Es gebe halt, Chaos. klagt Niko Sakakis von der Düsseldorfer SPIEGEL: Das behauptet der Thomas Koch Media, „keine validen Monopolist Telekom auch. Zielgruppendaten“. Aber es klingt wie Zweckpes- So ganz stimmt das nicht. Amerikani- simismus, wenn etwa Tele- sche Studien förderten – keine sonderli- kom-Chef Ricke vor gewalti- che Überraschung – zutage, daß in den gen Ertragseinbrüchen bei zu Netzen vor allem die Kundschaft der schnellem Wegfall der Mono- Zukunft anzutreffen ist: junge Onliner, pole warnt. die über mehr Zeit als Kaufkraft verfü- Meyer-Scheel: Ein Blickin die gen. Noch. Bilanz der Telekom zeigt, daß Internet-Nutzer sind, ergab die Aus- es leider keine übertriebene wertung von elektronisch versandten Schwarzmalerei ist. Der öf- Fragebögen, in der Mehrzahl männlich fentliche Telefondienst ist (86,5 Prozent), Studenten oder Berufs- doch das einzige Geschäft, in anfänger im wissenschaftlich-techni- dem die Telekom derzeit Ge- schen Bereich und im Durchschnitt 30 winne macht. In nahezu allen Jahre alt. Manager, die über den Kauf anderen Bereichen vom Mo- neuer Computer mitentscheiden, tauch- bilfunk bis zur Datenkommu- ten bei den Stichproben nur als Minder- nikation macht sie Verluste, heit von vier Prozent auf. und diewerden dramatischzu- Genauere Daten wären bequem zu nehmen, wenn die Konkur- erhalten – durch Werbung im Daten- renz schon in den nächsten ein netz. Jetzt schon nutzen viele Reklame- oder zwei Jahren ungehindert anbieter diese Möglichkeit: Sie können losschlagen kann. Die Verlu- genau feststellen, wann, wie oft und wie ste müßte die Telekom dann lange ein Interessent ihre elektronischen durch andere Gebühren oder Anzeigen betrachtet. vermutlich sogar aus Steuer- So beobachtet Paper Direct, eine H. SCHWARZBACH / ARGUS geldern kompensieren. amerikanische Firma für Bürobedarf, Lutz Meyer-Scheel SPIEGEL: Die Abschaffung im WWW aufmerksam, wie Kunden der Monopole wird ja schon den farbigen Bildschirmkatalog durch- führt seit vier Jahren die Info AG in Hamburg. seit längerer Zeit diskutiert. blättern. Wenn sich die Onliner an be- Bei der Fernübertragung von Computerdaten – Hat die Telekom da nicht stimmten Stellen irritiert zeigen, zum das Staatsmonopol wurde hier schon vor eini- wertvolle Zeit verschlafen? Beispiel durch hektisches Hin- und Her- gen Jahren beseitigt – ist die Firma der größte Meyer-Scheel: Wenn man klicken mit der Computermaus, „wird Konkurrent der Telekom. Die Firma, deren Ak- sich die Bereiche anschaut, in der Katalog im Handumdrehen geän- tienmehrheit bei der France Telecom liegt, hat denen schon Wettbewerb dert“, sagt ein Firmensprecher. Frank in Deutschland ein Netz mit 80 Knoten aufge- herrscht, etwa bei den Daten- Simon von der Hamburger Firma Pop, baut, über das rund 4000 Kunden, darunter die diensten, dann muß man fest- die an der Norddeutschen Datenauto- Autovermieter Europcar und Avis, ihre Daten- stellen, daß die Telekom im- bahn baut: „Der gläserne Kunde ist kommunikation abwickeln. mer noch viel zu träge rea- technisch bereits Realität.“ Y giert. Andererseits istesunge-

112 DER SPIEGEL 49/1994 heuer schwierig, einen Moloch wie die Bundespost innerhalb weniger Jahre auf ein betriebswirtschaft- Wachstumsmarkt 820 Die beliebtesten Telekom-Dienste lich sinnvolles Format zu trimmen. Telekommunikation 722 in Deutschland Die gewachsenen Strukturen solch Umsatz in Milliarden Anschlüsse in Millionen einer Behörde, die beamtenrecht- Dollar 613 lichen Fesseln, die Bindungen an 533 WELTWEIT Telefon 37,73 ISDN 1,66 bestimmte Lieferanten, all das 440 Kabel-TV 14,47 Datex J (Btx) 0,66 kann man wohl nicht so leicht auf- 379 brechen. Aber die kommenden 260 Telefax 1,42 Eurosignal 0,17 drei Jahre müssen reichen. 215 186 * SPIEGEL: Was wird das größte 157 Funktelefon 2,90 Cityruf 0,33 118 134 Problem der Telekom sein? IN EUROPA Meyer-Scheel: Zuallererst muß Stand Oktober 1994 * Netze D1, D2 und C die Produktivität gewaltig gestei- gert werden, und sie muß viel ser- 1990 1992 1994 1996 1998 2000 Quelle: Telekom viceorientierter arbeiten. Tech- nisch ist die Telekom fit, aber sie muß Geschäft, in dem die Telekom ihre Ge- Meyer-Scheel: Wenn der Wettbewerb beinhart rationalisieren, denn die Pro- winne macht. unkontrolliert abläuft, wird der Bürger duktivität ist im internationalen Ver- SPIEGEL: Glauben Sie nicht, daß die pri- sicher die Zeche bezahlen. Deshalb müs- gleich auf den hinteren Plätzen. British vaten Anbieter per Lizenz verpflichtet sen die neuen Lizenzbewerber unbedingt Telecom will künftigmit etwa 100 000Be- werden, ihre Dienste auch auf die Pro- verpflichtet werden, auch den kleinen schäftigten zwei Drittel des Umsatzes er- vinz auszudehnen? Mann zu bedienen. Dann werden mittel- zielen,den die Deutsche Telekommit200 Meyer-Scheel: Über Mobilfunklizenzen fristig auch die Ortsgespräche wieder bil- 000 Leuten nach dem Rationalisierungs- gibt es ja bereits derartige Verpflichtun- liger. programm schaffen will. Aber die Briten gen. Bei den erdgebundenen Telefon- SPIEGEL: Welche Auswirkungen hätte ei- haben auch zehn Jahre gebraucht, bis sie diensten bin ich sehr skeptisch. Ich glau- ne vorzeitige Streichung der Monopole diese Position erreicht haben. be nicht, daß die Stromkonzerne daran für den geplanten Börsengang der Tele- SPIEGEL: Welches Szenario sehen Sie, denken, auch den Privatkunden im kom? wenn die Monopole schon 1995 fallen? Bayerischen Wald mit einem anderen Meyer-Scheel: Das wäre eine Katastro- Meyer-Scheel: Es wird in der Telekom- auf der Nordseeinsel Juist durch einen phe, denn die Aktie einer Telekom, die munikation das gleiche passieren, was in konventionellen Telefondienst zu ver- gewaltige Verluste macht, wäre für Emis- der amerikanischen Luftfahrt Ende der binden. Die denken an internationale sionsbanken und Kleinanleger uninteres- siebziger Jahre abgelaufen ist. Die Zahl Verbindungen und haben überwiegend sant. Sie wäre dann nur noch für Konkur- derAnbietersteigtsprunghaft an, und die Firmenkunden im Visier, und ein wirk- renten wie AT&T oder British Telecom Preise sinken drastisch. Die Deutsche reizvoll, die so ihre strategische Position Bahn, die Stromkonzerne, die Stadtwer- weiter verbessern können. ke und viele andere Versorgungsunter- „Ich sehe einfach keine SPIEGEL: Werden die Amerikaner mit nehmen haben in den vergangenen Jah- Visionen in den Köpfen AT&T an der Spitze nicht ohnehin in ren zum Teil riesige Kommunikations- zehnJahren dieführendeRolle inEuropa netze für interne Zwecke aufgebaut. Ins- deutscher Manager“ spielen? besondere bei den Stromkonzernen, die Meyer-Scheel: AT&T wird in zehn Jah- jetzt mit Macht auf den Markt drängen, lich flächendeckendes terrestrisches Netz ren sicher mit zu den drei oder vier füh- sind diese Netzkapazitäten weitaus grö- kann im Moment noch keiner anbieten. renden Anbietern inEuropagehören, die ßer,alsesfürdeneigenenBedarf notwen- SPIEGEL: Für die Firmen, die seit langem sich den Markt untereinander aufteilen. digwäre. Wenn dasNetzmonopol der Te- über die hohen Kommunikationskosten SPIEGEL: Welche Gruppen werden die lekom wegfällt, können die Bundesbahn in Deutschland klagen, ergäbe sich im- anderen Spitzenpositionen belegen? und die Stromkonzerne diese Netze, die merhin schnell eine Entlastung. Meyer-Scheel: In dem einen Konglome- sie mit überhöhten Preisen und mit Steu- Meyer-Scheel: Auch die Industrie kann rat werden deutsche Industrieunterneh- ergeldern finanziert haben, anderen Fir- kein Interesse an einer schwachen Tele- men sehr eng zusammenarbeiten. Eine men zu Grenzkosten anbieten. Volks- kom haben. Denn irgendwann werden weitere Allianz wird sich aus den großen wirtschaftlich ist das absolut unsinnig. die Stromkonzerne ihre Marktmacht nut- Telekomgesellschaften bilden, und da SPIEGEL: In welcher Größenordnung zen und die Preise wieder anheben, die haben die Deutschen, wenn sie in den darf man sich diese Tarife vorstellen? haben ja Erfahrung damit, wie man Mo- nächsten drei Jahren ihre Produktivität Meyer-Scheel: Ich gehe davon aus, daß nopolpreise berechnet. Warum sollten wesentlich steigern, reelle Chancen, die die sogenannten alternativen Netze zum sie es beim Telefon anders machen? Führungsrolle zu übernehmen. halben Preis der Telekom angeboten SPIEGEL: Weil es dann keine Monopole SPIEGEL: Gilt Ihr Optimismus auch für werden. So verliert das Bundesunterneh- mehr gibt. die deutschen Hersteller in der Kommu- men auf einen Schlag einen Großteil sei- Meyer-Scheel: Aber es wird Oligopole nikationsindustrie? ner Kunden auf den Mietleitungen. geben, und da lebt essich sehr gut, wiedie Meyer-Scheel: Leider nicht. Wir entwik- SPIEGEL: Wie steht esum das Telefonmo- Stromkonzerne zeigen. Es kann doch keln zwar technisch brillante Produkte, nopol? nicht sein, daß die Gewinne bei den doch wir sind unfähig, sie zu vermarkten. Meyer-Scheel: Die großen Konglomera- Stromkonzernen kapitalisiert werden Daran wird sich vermutlich nicht viel än- te um Veba und RWE werden sich zuerst und die Verluste der Telekom sozialisiert dern, denn ich sehe einfach nicht die Vi- einmal die Rosinen aus dem Geschäft werden. sionen in den Köpfen der Manager, die in herauspicken und die lukrativen Bal- SPIEGEL: Muß man nicht ohnehin be- den deutschen Elektronikfirmen das Sa- lungsräume miteinander verbinden. Da- fürchten, daß der Wettbewerb dem Pri- gen haben. Ich fürchte deshalb, daß die durch wird ein beachtlicher Teil der in- vatmann nur wenig bringt? Die Verteue- Elektronikindustrie ihre Position als nerdeutschen Ferngespräche an der Tele- rung der Ortsgespräche istdoch schon be- Weltmeister im Chancen-Verspielen be- kom vorbeilaufen, und das ist bislang das schlossen. hält. Y

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Rechtsextremisten „DIE BESTEN KRIEGER“ Andrian Kreye über amerikanische Skinheads und ihre Verbindungen zu Deutschland

Kreye, 32, lebt als Autor in New York. Doch die jungen, prügelwütigen Skin- ne. Eine neue Generation hat sich auf- Eine Sammlung seiner Reportagen ist heads, die zum Klan-Aufmarsch nach gemacht, Haß und Gewalt zu verbrei- bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Pulaski gekommen sind, zeigen wenig ten: die „White Power Generation“. Titel „Aufstand der Ghettos“ erschie- Respekt vor den alten Herren, die ein- Moderne Rassisten, die mit Computer- nen. ander schon morgens bei Rührei mit Netzwerken und Management-Metho- Speck das bekannte Lied von der jüdi- den arbeiten, die sich Skinhead-Gangs s ist Nacht in Pulaski (US-Staat schen Weltverschwörung klagen. Mit- als Schlägertruppen halten und Teen- Tennessee). 30 stockbesoffene tags beim Festzug, zu dem sie mit Ha- ager mit Rockmusik rekrutieren. ESkinheads lungern in einem Motel- kenkreuzflaggen und -armbinden anrük- Sie predigen den Umsturz, denn die zimmer herum, und sie brüllen: „White ken, brüllen die rund 200 Jung-Rassi- Neonazis und Skins der USA geben sich Power! Sieg Heil!“ Aus einem Kasset- sten immerhin noch: „Nigger! Nigger! nicht mehr damit zufrieden, Schwarze tenrecorder dröhnt deutscher Nazirock Go, go, go!“ Am Abend aber wird nur aus dem Dorf zu jagen oder zu lynchen von „Störkraft“. noch gesoffen und randaliert. wie der alte Klan. Die White-Power-Ge- Die Jungs reichen Bierdosen herum, Der Ku-Klux-Klan hat abgewirtschaf- neration träumt von der „Weißen Welt- nehmen einander in den Schwitzkasten tet in der amerikanischen Rassistensze- revolution“. und tanzen torkelnd durch den Raum. An der Tür lehnt einer mit Ziegenbart, der kaum noch gerade stehen kann. Mit einem Schlag schiebt er den Riegel vor. Ein bulliger Bursche versucht, sich am Ziegenbart vorbeizudrücken, aber der packt ihn am Hemd und schubst ihn in die Menge zurück. „Was weißt du schon, was es heißt, für die weiße Rasse zu kämpfen?“ schreit er ihn an. Die Stimme des Ziegenbarts schnappt über. Die anderen tanzen Pogo auf dem Bett, bis der Rahmen auseinanderbirst. „White Power! White Power!“ skandie- ren sie und den Refrain eines Songs der Band „Skrewdriver“: „Nigger! Nigger! Go, go, go!“ Richard Ford, ein Mann mit pocken- narbigem Bulldoggengesicht, ist am nächsten Morgen außer sich. „Die Skin- heads haben überhaupt keinen Sinn für Tradition“, quengelt er. „Fünf Hotel- zimmer haben sie zerstört. Und Bierfla- schen auf fahrende Autos geworfen. So kann man nicht für die weiße Rasse kämpfen.“ Ford, seit zehn Jahren „Imperial Wi- zard“ des Ku-Klux-Klans im US-Bun- desstaat Florida, hat zusammen mit an- deren Rassistenführern in das verschla- fene Hillbilly-Nest Pulaski in den Hü- geln von Tennessee geladen, weil hier der Geburtsort des Klans ist. In der Weihnachtsnacht des Jahres 1865 zogen

sich ehemalige Angehörige der besieg- CONTACT / FOCUS ten Südstaatenarmee hier zum ersten- mal Kapuzen über, um Yankees und Schwarze zu erschrecken. Wenige Jahre später war aus dem trüben Weihnachts-

scherz ein rassistischer Geheimbund ge- FOTOS: T. MUSCIONICO / worden. Skinheads beim Extremisten-Treffen in Pulaski (US-Staat Tennessee): „Bierflaschen

116 DER SPIEGEL 49/1994 „Die Situation ist heute gefährlicher ko. Unser Treffpunkt denn je“, fürchtet Danny Welch von ist ein Parkplatz vor Klanwatch, einem Institut in Alabama, dem Redeye Saloon. das die Umtriebe amerikanischer Ein 74er Cadillac- Rechtsextremisten beobachtet. 8 Waf- Straßenkreuzer fährt fenarsenale, 13 Sprengstofflager und ei- vor, dunkelgrau mit ne ganze Reihe von geplanten Bomben- Heckflossen, am Steu- anschlägen registrierte Klanwatch im er Tom Metzger, ein Jahr 1993. „Früher gab es ein paar rassi- aufgepumptes Kraft- stische Gruppen mit Tausenden von paket, die muskulösen Mitgliedern“, sagt Welch. „Jetzt gibt es Arme tätowiert, der ungefähr 300 Gruppen mit jeweils weni- Schädel rasiert. Auf gen Anhängern. Und fast jede dieser dem Beifahrersitz sein Gruppen hat ein Gewaltpotential, das Sohn John, ein dickli- wir bisher nicht kannten.“ cher 26jähriger, ein Aus gewalttätigen Rassisten sind ras- feixendes Grinsen auf sistische Terroristen geworden. Für sol- dem Gesicht. che Leute ist der Ku-Klux-Klan die fal- John ist der Leiter sche Adresse. Die US-Skinheads re- des „Aryan Youth spektieren niemanden, allenfalls die Movement“ und re- drei Instanzen der rassistischen Dreifal- krutiert im ganzen tigkeit – Adolf Hitler, die „Church of Land Skinheads. Er The Creator“ (COTC) und den Paten kam in die Schlagzei- der Skinheadbewegung, Tom Metzger. len, als er mit ein paar Metzger lebt in Fallbrook in Südkali- Kampfgenossen wäh- Skinhead-Führer Metzger: „Könige der Fleischfresser“ fornien, in einer häßlichen, konturlosen rend einer Fernseh- Neubausiedlung zwischen der Wüste Talkshow eine Schlägerei anzettelte, bei bekommt den besten Tisch, und später und dem Meer. Im Norden liegt Los der sie dem Talkmaster Geraldo Rivera nötigt sie ihn zum Tanzen. Angeles, im Süden die Grenze zu Mexi- das Nasenbein zertrümmerten. Metzger bestellt Bier und Gin Tonic. Metzger redet über sein gegenwärti- Dann legt er los: „Wir trauen der tradi- ges Lieblingsthema – die rassistische In- tionellen Rechten nicht mehr. Die alten ternationale. Die USA sind dafür die Kräfte wie der Klan sind zu engstirnig. beste Basis. Niemand kann hier wegen Es geht um mehr, als ein paar Märsche Hetzreden oder Wehrsportübungen be- zu veranstalten oder ein paar Schwarze langt werden. Die amerikanische Ver- aufzuhängen.“ fassung garantiert absolute Redefrei- Der 55jährige Fernsehmechaniker ist heit. Die Waffengesetze setzen wirksam die Schlüsselfigur der modernen Rechts- erst bei schweren Automatikwaffen an. Deswegen suchen viele internationale Rechtsextremisten Kontakt zu amerika- nischen Partnern. Gary „Rex“ Lauck von der NSDAP-AO aus dem Bundes- staat Nebraska versorgt Neonazis in Deutschland und acht weiteren europäi- schen Ländern mit Propagandamaterial. Und auch Tom Metzger pflegt schon seit Beginn seiner rassistischen Laufbahn in- ternationale Kontakte. 1976 trat er in Kalifornien mit Manfred Roeder auf, der Anfang der achtziger Jahre mit sei- nen „Deutschen Aktionsgruppen“ Asy- lantenheime anzündete. Im Redeye Saloon gibt sich Tom Metzger jovial: „Wo gibt’s hier was zu trinken?“ Bei jedem Schritt stemmt er Nazi-Devotionalien seine Beine in den Boden wie ein Elite- Weltrevolutionärer Größenwahn kämpfer beim Vormarsch. Der Redeye Saloon ist eine schmucklose Kneipe mit extremisten-Bewegung. Er hat die einem Tresen, zwei Billardtischen und Techniken entwickelt, mit denen einer Bühne, auf der eine Countryband Rechtsradikale weltweit Medien mani- spielt. pulieren. Metzger war der erste US- Viele Marineinfanteristen hängen Rechte, der eine eigene Sendung im Ka- hier am Wochenende herum, die im na- belfernsehen produzierte („Race and hen Standort Camp Pendleton statio- Reason“), Computer-Netzwerke instal- niert sind. Stiernackige Burschen mit lierte und Rockfestivals für Skins veran- Bürstenschnitten, die Metzger respekt- staltete. voll die Hand schütteln oder ihm lin- Metzger hat eine lange Karriere hin- kisch auf die Schulter hauen. Der Rassi- ter sich. Er war Klanführer, arbeitete in stenführer ist eine lokale Berühmtheit. den siebziger Jahren als Wahlkampfma- auf Autos geworfen, Hotelzimmer zerstört“ Auch die Bedienung zeigt Respekt. Er nager für den rechtsradikalen Politiker

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David Duke, versuchte sich als Kandi- dat in der Lokalpolitik und unterhielt Kontakte zur Terrorgruppe „The Or- der“. Mitte der Achtziger gründete Metzger die White Aryan Resistance Rassisten-Basis USA (WAR). Die Vereinszeitung WAR ist seither das Zentralorgan der Skinheads. Rechtsextreme in Amerika unterstützen die deutsche Szene Seine Rhetorik ist simpel genug, als daß sie seine Gefolgschaft verwirren könnte. Alle Macht der weißen Rasse, ie USA sind ein Hauptstütz- nales Netz „Arischer Revolutionä- eine große Portion Nazi-Thesen und punkt des internationalen re“ aufzubauen. Er spielt seine inter- fürs Underdog-Gefühl ein bißchen DRechtsextremismus. Unter nationalen Verbindungen wegen linksradikale Phrasendrescherei. Metz- dem Schutz der von der Verfassung laufender Ermittlungen gegen ihn ger wettert gegen den Kapitalismus, die garantierten Meinungsfreiheit kön- herunter, führte aber in seinem Pro- multinationalen Konzerne und Umwelt- nen Rechtsradikale dort Nazi-Pro- pagandablatt WAR bis September verschmutzung. Er hält Plädoyers für pagandamaterial herstellen und ver- vorigen Jahres Postfachadressen von freie Abtreibung, die Emanzipation der treiben, das in Deutschland und in Organisationen aus 13 Ländern an. Frau und die Rechte des Volkes. vielen anderen Ländern illegal ist. Metzger bedient sich bei der Ideolo- Als wichtigste US-Rechtsextremi- Richard Butler, Aryan Nations: gie der 68er Generation und bei der sten mit Verbindungen nach Er unterhält in Idaho ein Camp, in Taktik der linken Guerilla. Lachend Deutschland gelten: dem rund hundert Rassisten zusam- sagt er: „Ich habe die Baader-Meinhof- menleben. Einmal im Jahr veranstal- Gruppe sehr bewundert. Überhaupt ar- Mark Weber, Institute for Histori- ten die Aryan Nations ein Sommer- beite ich gern mit Linken zusammen. cal Review (IHR): lager mit paramilitärischem Trai- Das IHR ist eine pseudowis- ning, zu dem auch regelmäßig deut- senschaftliche Organisation, sche Neonazis anreisen. die weltweit die Arbeit von Leugnern des Holocaust ko- Ku-Klux-Klan: ordiniert und ihnen in ihrem Die meisten Überseekontakte des Journal of Historical Review Ku-Klux-Klan beschränken sich auf (Chefredakteur: Weber) ein Brieffreundschaften. Im Adressen- Forum bietet. Offiziell di- verzeichnis der Knights of the Ku- stanzieren sich Weber und Klux-Klan finden sich jedoch Hin- das IHR von Neonazis, doch weise auf Kontakte zu deutschen Or- das Institut arbeitet eng mit ganisationen. rechtsradikalen Leitfiguren wie Ernst Zündel, Fred Dennis Mahon, White Knights of Leuchter und David Irving The Ku-Klux-Klan: zusammen. Mahon erregte 1991 großes Aufse- hen, als er in Berlin einen Ku-Klux- Willis Carto, Liberty Lobby: Klan ins Leben rief und vor den Ka- Carto ist ein Veteran der meras des Fernsehsenders RTL eine Klan-Inszenierung bei Berlin* amerikanischen Rechtsradi- Kreuzverbrennung inszenierte. Das Pathetischer Hokuspokus kalen. Er gründete das IHR und die BKA ließ ihn daraufhin als Mitglied Populist Party, die 1988 einen Kan- und Gründer einer terroristischen Linksradikale sind meistens gebildeter didaten in die Präsidentschaftswah- Vereinigung auf die Interpol-Fahn- und intelligenter als die Rechten.“ len schickte: den ehemaligen Ku- dungsliste setzen. Als Talkshowgast plauderte er schon Klux-Klan-Führer David Duke. mit TV-Idolen wie Oprah Winfrey und Carto ist eine wichtige Materialquel- Rick McCarty, Whoopi Goldberg, und er liebt es, Jour- le für deutsche Neonazis. Church of The Creator (COTC): nalisten seinen Brutaldarwinismus zu er- McCarty versucht, Rassismus klären: „Weiße waren die besten Krie- Gary „Rex“ Lauck, NSDAP-AO: zur Religion hochzustilisieren. Die ger, und wir haben immer die besten Er gilt bei seinen amerikanischen COTC unterhält inzwischen Aus- Waffen gehabt. Wir waren die Könige Kampfgenossen als Verrückter, landsabteilungen in 37 Ländern, un- der Fleischfresser und haben uns nach beim Bundesverfassungsschutz als ter anderem in Deutschland, der oben getötet. Darauf sollten wir stolz wichtigste Adresse deutscher Neo- Schweiz und Südafrika. sein.“ nazis für Propagandamaterial und Metzgers Vertrauter Dennis Mahon, unterhält die amerikanische Abtei- Hans Schmidt, German-American ein Klanführer aus dem US-Staat Okla- lung der „NSDAP-Auslands- und National Political Action Committee homa, rekrutierte vor drei Jahren Skin- Aufbauorganisation“. Laucks Nazi- (GANPAC): heads in Deutschland, mit denen er bei Zeitung The New Order erscheint in Schmidt diente während des Dritten Berlin eine Kreuzverbrennung insze- zehn Sprachen, unter dem Titel NS- Reiches bei der Hitlerjugend, später nierte. Kampfruf auf deutsch. bei der Waffen-SS. Nach dem Krieg Mitte Februar dieses Jahres reiste setzte er sich in die USA ab, wo er Metzger mit seinem Sohn nach Tokio, Tom Metzger, seither Holocaust-Revisionismus be- wo er auf Einladung des Geschäftsman- White Aryan Resistance: treibt. GANPAC gibt vor, die „52 nes Ted Arai eine Rede vor japanischen Der „Pate der Skinhead-Bewegung“ Millionen Amerikaner deutscher Nationalisten hielt. Und Sohn John ver- versuchte schon früh ein internatio- Abstammung zu repräsentieren“.

* Mit Klanführer Mahon.

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Werbeseite GESELLSCHAFT suchte im April, nach München und Auschwitz zu reisen, um sich mit deut- schen Neonazis an der KZ-Gedenkstät- te zu treffen. Allerdings wurde John Metzger schon bei der Zwischenlandung in Frankfurt festgenommen und nach Hause ge- schickt. Vater Tom mobilisierte darauf- hin seine Truppen per Hotline. „Arier- Alarm, Arier-Alarm“, kam es in jener Woche vom Band. „Die Deutschen müssen lernen, daß sie so nicht mit uns umspringen können. Es gibt nur eine Sprache, die die Deutschen verstehen – Profiteinbußen. Erkundigt euch nach deutschen Firmensitzen in den USA. Es muß ihnen weh tun.“ Metzgers Truppen haben den weltre- volutionären Größenwahn ihres ideolo- gischen Paten längst übernommen. In Los Angeles stand eine Gang von WAR-Skins vor Gericht, die „Fourth Reich Skinheads“ aus Orange County. Ihr Plan war allerdings erheblich schlichter als Metzgers Idee von der Weltrevolution. Sie wollten schwarze Skinheads, Klan-Mitglieder in Pulaski: Bisher unbekanntes Gewaltpotential Prominente ermorden, Kirchen und Synagogen sprengen und dadurch Ras- Band Nummer 112: Fisher und Boese die Rohrbomben als Granaten her. Du senunruhen in Gang bringen. treffen sich mit zwei Undercover-Agen- wirfst sie zwischen die Bankreihen, Leu- Die Fourth Reich Skinheads gehörten ten, die als Abgesandte der Rassistenor- te rennen in alle Richtungen, schwere zu einer neuen Sorte Skins. Sie rekru- ganisation Church of The Creator posie- Verwüstung, wir hauen ab. Das ist es.“ tierten sich nicht wie bisher aus dem ren. Die Skins kommen mit den Agen- Am anderen Ende des Kontinents, in Heer der Arbeitslosen und Asozialen, ten überein, daß der Überfall auf eine Niceville im Nordwesten Floridas, hat sondern aus weißen Vorstadtjugendli- Kirche in South Central das meiste Auf- die COTC den Rassenkrieg längst sehen erregen würde. Auf Band 202 ausgerufen. Sie haben sich dafür das überlegen sie mit einigen jüngeren Skin- Kürzel Rahowa („Racial Holy War“) Sie wollten den Rapper heads und ihren vermeintlichen Mento- ausgedacht. Sämtliche „mud races“ Ice-T ermorden ren, was sie dafür brauchen. (Schlammrassen) und alle Juden müß- „Zuerst einmal die Waffen“, beginnt ten vernichtet werden, denn, so lautet und Synagogen sprengen Fisher. „Automatische Gewehre und ihr Slogan, „dieser Planet ist unser“. Schrotflinten, weil, wenn du da rein- Bis vor zwei Jahren war die COTC ein chen, die aus der Langeweile ihrer gehst, willst du ja nicht dastehen und Unikum, eine Rassistensekte, die be- Shopping-Mall-Welt ausbrechen und ih- peng, peng, peng – dann mußt du das hauptete, daß das Christentum eine re liberalen Eltern zum Wahnsinn brin- Magazin wechseln. Du willst den Abzug Verschwörung der Juden sei, um die gen wollen. durchziehen, ein paarmal hin- und her- weiße Rasse zu schwächen. Vor einein- Zwei bleiche Jüngelchen sitzen am schwenken, und dann willst du ver- halb Jahren übernahm Rick McCarty letzten Verhandlungstag auf der Ankla- dammt noch mal abhauen.“ die Organisation. gebank: Chris Fisher, 20, und Daniel Ein FBI-Agent wirft ein: „Hast du Rick McCarty entspricht ganz dem Boese, 17. Richter Mathew Byrne nicht gesagt, daß du Rohrbomben mit- Bild des modernen Vorstadtrassisten. spricht das Schlußwort: „Diese jungen bringst?“ Fisher: „Yeah. Wir nehmen Er trägt einen dunkelblauen Blazer, ein Männer wollten mit ihren Taten eine rosaweißgestreiftes Botschaft senden. Ich werde mit mei- Hemd, Khakihosen nem Urteil eine Botschaft an all die sen- und einen sauber ge- den, die ebenso denken.“ Beide Ange- stutzten Schnurrbart. klagten erhalten die jeweils für ihre McCarty war früher Straftaten vorgesehene Höchststrafe: mal Sannyasin und Fisher acht Jahre, Boese viereinhalb. Vertreter, jetzt ver- Die Mädchen im Publikum brechen in dient er sein Geld als Tränen aus. Die verurteilten Jungs las- Psychotherapeut. Als sen sich mit stoischer Miene abführen. Sannyasin lernte er das Das Urteil ist hart. Einem Reporter, Sektentum, als Vertre- der einwendet, daß die beiden Skins so ter das Geschäft, als jung und zerbrechlich aussehen, schiebt Therapeut die Mani- Staatsanwalt Marc Greenberg statt einer pulation. Antwort eine dicke Akte über den Tisch Nervös läuft er – Abschriften von Tonbandaufnahmen, durch das Hotelzim- die verdeckte FBI-Ermittler gemacht mer, in dem das Inter- haben. „Als sie noch aktiv waren“, sagt view stattfindet, schaut Greenberg, „haben sie sich nicht so zim- in Ecken und Schrän- perlich angestellt.“ Tätowierte US-Skins: Jung und prügelwütig ke. „Rassismus ist eine

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Ware, die hoch im Kurs steht“, will er er- Er lächelt mitleidig, als kannt haben. „Mit gutem Marketing der Altrassist Richard kann man viel erreichen. Wir verschicken Ford schnaufend ange- unser Material nach ganz Europa, nach laufen kommt und ver- Rußland, Südamerika und Südafrika. kündet, daß die Feier Wir haben COTC-Filialen in 37 Län- ausfällt. „Letztes Jahr dern.“ hat es auch schon nicht Unter McCarty ist die COTC in den geklappt“, sagt er und letzten Jahren zu einer der einflußreich- zuckt mit den Schul- sten, aber auch gewalttätigsten Rassi- tern. stenorganisationen angewachsen. Viele Dan Sims fährt seine Skinheads nehmen die Aufforderung Glatzköpfe zurück ins zum heiligen Rassenkrieg wörtlich. Richland Inn Motel, in In der Nähe von San Francisco verhaf- dem die „Hammer tete die Polizei den 19jährigen Jeremy Skins“ aus Georgia fei- Knesal, der im Kofferraum seines grünen ern. Die ersten Bierki- Volvos Propagandamaterial, Gewehre sten sind schon weg. und Rohrbomben transportierte. Rassistenführer McCarty: Haß und Gewalt auf neue Art „Hier wird es heute Knesal hatte eine Woche zuvor eine noch ein paar gebro- Bombe im Büro der Bürgerrechtsorgani- Meistens ist so eine Kreuzverbrennung chene Nasen geben“, sagt Sims. Einige sation NAACP gelegt und eine Schwu- eine pathetische Angelegenheit, mit der Jungs fangen an, sich gegenseitig her- lenbar in die Luft gejagt. Zusammen mit Fackelzug, großen Reden und Hokus- umzustoßen. Sie brauchen den Adrena- zwei weiteren COTC-Skinheads wollte er pokus, aber heute steht noch nicht ein- linstoß, sonst war das Wochenende ein die Rapstars Ice-T und Ice Cube ermor- mal das Holzkreuz. Reinfall. Wenn siekeine politischen Geg- den, Synagogen und Militäranlagen Zehn Meter ist es hoch und aus soli- ner oder sonstige Opfer finden, verhauen sprengen. In New York trainieren die dem Mahagoni. Deswegen ist es zu sie sich eben gegenseitig. COTC-Skinheads unter der Anleitung schwer, um es ohne einen Kran aufzu- Amerika werdendieUS-Skins nicht er- ihres Ostküstenchefs Carl Hess während stellen. Einen solchen Kran gibt es hier obern. Sie stoßen nicht einmal auf Sym- in der Provinz allerdings nicht. Gegen pathie, denn die Amerikaner sind vor al- sieben rollen ein paar Autos auf die lem auf zwei geschichtliche Leistungen in Als „Verräter“ von Festwiese, darunter ein alter Pontiac diesem Jahrhundert stolz – den Sieg über den Glatzen voller Skinheads. Am Steuer sitzt Dan die Nazis im Zweiten Weltkrieg und die Sims, ein schmaler Bursche mit sensi- Errungenschaften der Bürgerrechtsbe- halb totgeprügelt blen Gesichtszügen, der sich ein Haken- wegung der sechziger Jahre. kreuz auf die Schläfe tätowiert hat. Da sieht es nicht gut aus für die Weißen ihrer paramilitärischen Wochenenden 22 Jahre ist er alt. Vor drei Jahren ha- Revolutionäre, die diese beiden Ereig- Häuserkampf und Scharfschießen. ben sie ihn aus seinem Heimatland Ka- nisse rückgängig machen wollen. Gefähr- In Übersee sind die Extremisten schon nada geworfen, weil er einen Juden halb lich, so Anwalt Morris Dees, seivorallem einen Schritt weiter – in Südafrika waren totgeprügelt hatte. Jetzt rekrutiert er das terroristische Potential der Rechtsex- COTC-Mitglieder in Anschläge auf Nel- Skinheads für die Rassistengruppe tremen: „Es kommt nicht darauf an, wie son Mandelas Afrikanischen National- „Aryan Nations“, die in Oregon parami- viele es sind“, sagt er. „Es kommt darauf kongreß verwickelt. Rick McCarty ge- litärische Ausbildungslager unterhält. an, wie fanatisch sie sind.“ Y nießt das bedrohliche Image, das die COTC umgibt. „Wir sind eine der gewalt- tätigsten Organisationen der Welt“, prahlt er. „Im Moment bemühen wir uns, unser Programm mit legalen Mitteln durchzusetzen. Wenn man uns nicht er- laubt, legal zu arbeiten, und unsere Rech- te beschneidet, müssen wir allerdings zum Terrorismus übergehen.“ Wenige Wochen später frißt die Revo- lution ihre Väter. AlsTom Metzgers Ver- trauter Dennis Mahon einen Skinauf- marsch im US-Staat Georgia besucht, wird er, als „Verräter“, von den Glatzen halb totgeprügelt. Und als Rick McCarty kurzfristig untertaucht, weil ihn der Bür- gerrechtsanwalt Morris Dees vor Gericht bringen will, erklärt Carl Hess, daß ab so- fort er Führer der Church of The Creator sei. Der erste Skin, der in der Szene nach der Macht greift. Lausige Zeiten also für Altrassisten – auch für die vom Ku-Klux-Klan. In Pula- ski sind sie nicht einmal den logistischen Problemen der Zusammenkunft gewach- sen. Während die Skinheads schon fei- ern, soll auf einer Wiese an der Rosehill Road ein Kreuz angezündet werden. Rassistenführer Hess: Häuserkampf- und Scharfschießtraining

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Millionen zu Driving Ranges, Putting den nun – erstmals seit Dorfgründung Golf Greens und Fairways aufgemöbelt wur- – in einem Abwassersystem mit Klär- den, verfolgen die Menschen in Motzen anlage. sogar mit Wohlwollen. Selbst die stillgelegte Bahnstrecke „Was Besseres konnte uns doch gar nach Motzen ist wieder betriebsbereit. Eat the Rich nicht passieren“, jubelt Bürgermeister Heinz Dürr, Mitglied im Golfklub und Wolfgang Kroll. In Motzen, seit dem Chef der Deutschen Bahn AG, ließ di- West-Berliner Autonome schüren German Masters im September weltweit rekt an Loch 18 einen neuen Bahnsteig den Klassenkampf im brandenbur- bekannt, werden in den nächsten Jahren entstehen. Protzen in Motzen. pro Einwohner fast 700 000 Mark inve- Die örtliche PDS-Vorsitzende Liane gischen Golfdorf Motzen. Doch stiert. Der Dorfchef fürchtet derzeit nur Alm, 56, kann daran nichts Anstößiges die Einheimischen ziehen nicht mit. eines – die Konkurrenz der anderen finden. Sie hat sich mit den Reichen und Golfdörfer. Superreichen aufs wohligste arrangiert: Die ehemalige DDR, in der Golf als „Besser ein gepflegter Golfplatz als as Areal ist gesichert wie militä- unerwünschte, nicht förderungswürdige brachliegende Äcker.“ risches Sperrgebiet. Hinter dem Sportart der Kapitalisten galt, wird der- Ehemann Klaus Alm, Vorsitzender Dhohen Maschendraht patrouillie- zeit zum Freizeitpark umgerüstet. Beim der lokalen „Volkssolidarität“ und PDS- ren nachts Wachmänner mit ihren Hun- Umweltministerium in Potsdam liegen Politiker, sieht das genauso. Er nimmt den. 80 Anträge zum Bau von Golfplätzen die Golfklub-Spenden für die Alten im Die Fürsorglichkeit gilt einem fein vor, in Mecklenburg-Vorpommern sind Dorf dankbar entgegen. rasierten Rasen am Rande des bran- 50 Investoren registriert. Auch die Jugend wird früh zur kapita- denburgischen Dörfchens Motzen Als Zielgruppe haben die Platzplaner listischen Sporterziehung geschickt. Der südlich von Berlin. West-Berliner Au- überall gutsituierte Westgolfer ausge- Klassiker Fußball hat an Ansehen verlo- tonome haben dem größten Golfplatz macht. Ostler greifen auch im Golf- und ren. Statt dessen pauken bis zu 80 Ju- des deutschen Ostens den Krieg er- Country-Club zu Motzen, der zur Zeit gendliche aus der Umgebung alle zwei klärt. 200 Mitglieder zählt, selten zu Eisen und Wochen Golfer-Theorie und -Praxis in einer Caddie-Schule, in der sie zu Handlangern der Elite trai- niert werden. Klubpräsident Hans-Jürgen Riese, im Brotberuf Chef eines West-Berliner Wohnungsbau- unternehmens, lockt den Nachwuchs mit einer Karriere a` la Bernhard Langer. Auch der fing als Balljunge an. Management und Investo- ren rund um den Motzener Golfklub bemühen sich liebe- voll um die Zuneigung der Meinungsführer im Gemeinde- rat. Vor allem der Heimatver- ein, seit jeher verdienstvoll tä- tig, wird zum Lobbyklub für

ZENIT die Golfer umerzogen. „40 Prozent unserer Mitglie-

D. GUST / der“, summiert die Vorsitzen- Golf-Schnupperkurs in Motzen: Komfortables Leben am Rande des Reichtums de des Heimatvereins, Hilde Wasmuth, nicht ohne Stolz, Im Kreuzberger Szene-Magazin Inte- Hölzern. Nur ab und zu verirrt sich ein „sind mittlerweile Zugereiste aus dem rim wird zu militanter Sportlichkeit auf- Einheimischer zum halbtägigen Schnup- Westen.“ Der oberste Golflehrer des gerufen: „Hier können Sie zuschlagen“, perkurs aufs Gelände. Das Probe-Put- Klubs, der aus Frankfurt am Main zuge- heißt es da, und, knapper noch: „Bon- ting wird in brandenburgischen Dorfdis- zogene Henning Strüver, tat sich bereits zen raus!“ cos als Preis bei Samstagabend-Tombo- als Gemeinderatskandidat auf der Liste Der verbalen Drohung folgte die Tat. las ausgelobt. des Heimatvereins hervor. Er scheiterte Kürzlich bearbeiteten Wandalen 6 der Doch auch am Rande des Reichtums nur knapp. 18 kurzgeschnittenen Greens mit der lebt es sich komfortabel. Mehr als 20 Der Motzener Gastwirt Horst Sieben- Spitzhacke. Zum Schaden von rund Motzener arbeiten auf und neben der mark sah das nicht ohne Schadenfreude. 150 000 Mark kam für die westdeut- 18-Loch-Wiese, als Gärtner, Kellner, Er hatte seinen Kartoffelacker an die schen Platzbetreiber der Spott der Be- Handwerker und Reinigungskräfte. Golfplatz-Investoren verkauft, als der kenner: „Eat the Rich.“ Dutzende versorgt die Baubranche, die Quadratmeterpreis zwischen 9 und 25 Die böse Botschaft der West-Berliner rund um Motzen Einkaufscenter, Hotels Mark lag. Je mehr die Preise stiegen, Motzkis will in dem Golfdorf nicht zün- und Apartmenthäuser gruppiert, mit desto stärker sank seine Laune. den. Die 750 Einwohner streben nach Lohn und Arbeit. Der Golftourismus Heute wird der Quadratmeter Bau- Wohlstand auf Westniveau, Klassen- wird weitere Jobs schaffen. land rund um die 18-Loch-Anlage für kampf ist seit dem Untergang der DDR Der Boom hat viele Profiteure. Aus 150 Mark gehandelt, und Sozialdemo- gründlich aus der Mode. den vermehrt sprudelnden Steuergel- krat Siebenmark wird einen bösen Ver- Selbst die ostübliche Meckerei ist sus- dern wird ein Gemeindezentrum ge- dacht nicht los: „Die Herren vom Golf- pendiert. Das Treiben auf den ehedem baut, Cafe´ und Bibliothek inklusive. platz“, glaubt er, „haben mich so richtig volkseigenen Kartoffeläckern, die mit Die Fäkalien des Ortes verschwin- über den Bolzen gezogen.“ Y

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

schlagenen bleiben ohne Kontrolle. Andere Kin- nis von Beratungsstellen, passiv auf dem Feld, der fasten, bis sie magersüch- auch in den neuen Bundes- und Sieger und Über- tig sind. Wieder andere, die ländern, ergänzen das kluge lebender liefern sich Bulimiker, stopfen unkon- Buch. eine Schlacht um trolliert riesige Mengen in Punkt zwei. Die Figu- sich hinein, um sich danach Klubs ren bewegen sich nur heimlich zu übergeben oder annähernd so wie beim Abführmittel zu schlucken. Katastrophen- herkömmlichen Kö- „Eßstörungen bei Kindern nigsspiel, denn es wird und Jugendlichen“ lautet der Samba über Dreiecke hinweg- lapidare Titel des ersten Rat- Um 0.30 Uhr bebt die Erde. gezogen. Das führt zu gebers, der jetzt „für Eltern, Menschen rennen, Straßen

CREATIV STUDIO komplizierten Ge- Angehörige, Freunde Schachspiel für drei brauchsanweisungen, und Lehrer“ erschienen zum Beispiel für den ist (Sylvia Baeck, Lam- Schach Turm: Der „zieht von der bertus Verlag, 88 Sei- Mitte des Feldes immer über ten, 16 Mark). Die Au- Turm über Spitzen, Breitseiten, Spitzen torin betreut im Berli- der Dreiecke, beziehungs- ner Beratungszentrum Spitzen weise umgekehrt“. Von den „Dick & Dünn“ eßge- Schachspieler sind der Alp- Spiel-Schwierigkeiten wis- störte Jugendliche und traum aller geselligen Men- send, hebt die Werbung besorgte Eltern. Vor schen. Das hessische „Crea- denn auch den ästhetischen allem ihre weiblichen tiv Studio“ will mit einem 980 Wert des Acrylglas-Ensem- Klienten werden immer Mark teuren „Schach für bles hervor: „ein echter Hin- jünger. Baecks Fallbei- drei“ die hermetische Dyade gucker“. spiele schildern die psy- knacken. Auf einem sechsek- chologischen Hinter- kigen Brett stehen sich drei Kinder gründe in den einzel- Figurenensembles in Anthra- nen Familien und be- zit, Weiß und Rot feindselig Dick schreiben, was Eltern gegenüber. Wer zuerst einen tun und was sie besser Spieler matt setzt, bekommt und dünn lassen sollten. Litera-

einen Punkt. Die restlichen Eßsüchtige verschlingen Le- turempfehlungen sowie C. BROWN / SABA Bauern oder Läufer des Ge- bensmittel ohne Hemmung, ein Adressenverzeich- Erdbeben-Inszenierung

bersten, Häuser stürzen ein – Pop los, verliert aber auch mitten im Exzeß auf Video. Eine Stimme aus nie seinen Charme, seinen Witz und seine dem Off, die sich als Spre- gute Laune. Von Phil Spectors „To Know cher des „Emergency Broad- Exzeß und gute Laune Her is to Love Her“ über Chuck Berrys casting System“ ausgibt, mel- 56 Songs und alle in Mono – wer braucht so „Memphis Tennessee“ bis zu Elvis Pres- det ein Erdbeben und schwe- etwas? Nun, alle die, die glauben, daß leys „I Forgot to Remember to Forget“ re Schäden in Kalifornien. Rock’n’Roll schon immer etwas mehr war schlendern die Beatles durch die gesamte Dann spielen sie wieder Sam- als gut arrangierte Trommelarbeit, sauber Musikgeschichte der späten fünfziger und ba in der New Yorker Disko- tönende Gitarren und eine Stimme, die der frühen sechziger Jahre. Und sie wi- thek Octagon, aber zwei Mi- über drei Oktaven singen kann. Auf der derlegen ihre ewigen Gegner, die Rolling- nuten später verkündet der- CD „The Beatles – Live at the BBC“ klingt Stones-Fans, welche die vier Anzugträger selbe Sprecher, das Beben vieles miserabel arrangiert, überhaupt aus Liverpool schon deshalb für brav, habe Manhattan erreicht – nichts sauber, und über drei Oktaven sin- spießig und bürgerlich hielten, weil sie und dann schwankt der Erd- gen kann sowieso keiner. Muß auch nicht, nicht in der Öffentlichkeit an Wände pin- boden wirklich. Schuld sind denn was diese fabelhafte Sammlung alter kelten. Anthony Ruggiero und Tho- Radioaufnahmen aus- mas Reale, der eine Gelegen- macht, ist etwas ande- heitsschauspieler, der andere res: Da sind vier Jungs Designer, ihr Elektromotor aus der Provinz, die am und eine 10 000-Watt-Anla- Anfang stehen und im ge. Jeden Donnerstag läßt ehrwürdigen BBC-Pro- das Duo die Eingangshalle gramm spielen dürfen, und die Tanzfläche wackeln, weil ein Produzent ein gespaltenes Auto steht meinte: „Sie sind nicht herum, Bedienung und Bar- so rockig wie die ande- keeper tragen Kunststoffhel- ren, mehr Country und me mit Leuchten darauf. Die Western, mit der Ten- Gäste erscheinen aus modi- denz, Musik zu spie- schen Gründen meist unge- len.“ Einmal drin, legt schützt – doch kleidsame das Quartett ziemlich Schutzhelme werden sicher

wüst und aufgeregt und APPLE / EMI bald erfunden sein, und New voll großer Sehnsucht Beatles (1963) York tanzt die Katastrophe, wie es sich gehört.

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SERIE „EIN FÜHRER IST EIN HIRTE“ Aus den Memoiren des südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela (IV): Bürgerkrieg und Befreiung P. WEINBERG / SOUTHLIGHT Demonstration für die Freilassung Mandelas in London (1986): „Ich hatte mich an das Leben im Gefängnis gewöhnt“

m März 1980 erschien in der Johan- ter die Kampagne unterstützten, keine Reaktionen heraus. General Magnus nesburg Sunday Post ein Artikel mit genaue Vorstellung davon, wer Nelson Malan, der Verteidigungsminister, führ- Ider Schlagzeile „Free Mandela“ Mandela eigentlich war. (Man erzählte te mit Rückendeckung von Staatspräsi- („Befreit Mandela“). Er enthielt eine mir, als in London die ersten „Free dent P.W. Botha eine Strategie ein, die Petition, die die Leser unterschreiben Mandela“-Plakate auftauchten, hätten als „totaler Angriff“ bekannt wurde – ei- konnten und in der meine Freilassung die meisten jungen Leute geglaubt, Free ne Militarisierung des ganzen Landes und die meiner politischen Mithäftlinge sei mein Vorname.) zur Bekämpfung der Freiheitsbewe- gefordert wurde. Den Zeitungen war es Wir hatten den Eindruck, daß der gung. zwar immer noch verboten, mein Bild ANC wieder zum Leben erwachte. Die Kampagne für unsere Freilassung zu zeigen oder Worte zu drucken, die Unsere Guerillakrieger vom MK eröffnete neue Perspektiven. In der ich gesagt oder geschrieben hatte, aber („Umkhonto we Suizwe“) verstärkten schweren Zeit Anfang der siebziger Jah- die Kampagne der Post löste eine öf- ihre Sabotagekampagne, die jetzt viel re, als der ANC in der Bedeutungslosig- fentliche Diskussion über unsere Frei- raffinierter geworden war. keit zu versinken schien, mußten wir uns lassung aus. Im Juni legten sie Bomben bei der zwingen, keine Verzweiflung aufkom- Der African National Congress Kohleverflüssigungsanlage Sasolburg men zu lassen. Nun stieg meine Hoff- (ANC) hatte sich entschlossen, die Fra- unmittelbar südlich von Johannesburg. nung auf ein demokratisches, nichtrassi- ge unserer Freilassung zu personalisie- Jede Woche sorgte der MK nun für eine stisches Südafrika wieder. ren und die Kampagne auf eine einzelne Explosion an dieser oder jener strategi- Im März 1982 bekam ich Besuch vom Person abzustellen. Zweifellos hatten schen Stelle. Bomben detonierten in Kommandanten. Das war höchst unge- die vielen Millionen Menschen, die spä- Kraftwerken im Osten Transvaals, vor wöhnlich; normalerweise suchte der Polizeistationen in Germiston, Davey- Kommandant die Häftlinge nicht in ih- ton, New Brighton und anderswo sowie ren Zellen auf. „Mandela“, sagte er, © 1994 Nelson Mandela. Deutsche Ausgabe: © 1994 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. – vor dem Militärstützpunkt Voor- „ich möchte, daß Sie Ihre Sachen Der vollständige Text der Mandela-Autobiogra- trekkerhoogte außerhalb von Pretoria. packen.“ phie ist soeben als Buch unter dem Titel „Der lan- Durch die Anschläge erregte unsere Ich fragte ihn, warum. Der Komman- ge Weg zur Freiheit“ (aus dem Englischen über- setzt von Günter Panske; 866 Seiten; 58 Mark) Guerillaorganisation Aufmerksamkeit, dant erklärte, er habe aus Pretoria die erschienen. verunsicherte den Staat und forderte zu Anweisung erhalten, mich sofort von

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An einem Tag im Mai 1984, als wir bereits zwei Jahre in Pollsmoor waren, begann die Phase der sogenannten Kontakt-Besuche. Ich konnte erstmals nach über zwei Jahrzehnten meine Frau Winnie treffen, ohne daß uns ein Gitter im Besucherzimmer trennte. Das war ein Moment, von dem ich tausendmal geträumt hatte. Ich küßte sie und hielt sie scheinbar eine Ewig- keit in den Armen. Dann umarmte ich meine Tochter und nahm ihr Kind auf den Schoß. Es war 21 Jahre her, seit ich auch nur die Hand meiner Frau be- rührt hatte.

n Pollsmoor erfuhren wir mehr über IEreignisse in der Außenwelt. Uns war bewußt, daß der Kampf intensiver wurde und daß auch die Bemühungen des Feindes zunahmen. 1981 verübte die südafrikanische Defense Force ei- nen Überraschungsüberfall auf ANC- Büros in Maputo, Mosambik, und tö- tete 13 unserer Leute, darunter Frauen und Kinder. Im Dezember 1982 lösten unsere Guerillasoldaten vom MK De- tonationen in dem im Bau befindlichen Atomkraftwerk Koeberg außerhalb von Kapstadt aus und legten Bomben an viele andere militärische und Apart- heid-Ziele im ganzen Land. Im selben Monat griff das südafrikanische Militär wieder einen Außenposten des ANC in Maseru, Lesotho, an und tötete 42 Menschen, darunter ein Dutzend Frau- en und Kinder. Der erste Autobombenangriff des MK erfolgte im Mai 1983. Ziel war ein

AP Büro der Luftwaffe und der militäri- Zerstörte Öltanks bei Johannesburg (1980): „Sabotage unserer Guerillakrieger“ schen Abwehr im Herzen Pretorias. Er sollte die unprovozierten Angriffe des der Insel wegzubringen. Anschließend Wagen fuhr offenbar weit über eine Militärs auf den ANC in Maseru und ging er zu der Zelle meines Freundes Stunde. Wir passierten mehrere Kon- anderswo vergelten und war eine klare Walter Sisulu sowie zu Raymond trollstellen, und schließlich hielten wir Eskalation des bewaffneten Kampfes. Mhlaba und Andrew Mlangeni, zwei an. Die Hecktür des Lkw öffnete sich, 19 Menschen wurden getötet und mehr anderen ANC-Mitgliedern, um ihnen und wir wurden durch eine Stahltür ge- als 200 verletzt. den gleichen Befehl zu erteilen. führt. Es gelang mir, einen Wächter zu Der Tod von Zivilisten war ein tragi- Ich war beunruhigt und verwirrt. fragen, wo wir waren. „Im Pollsmoor- scher Unfall, und ich war zutiefst ent- Was hatte das zu bedeuten? Wohin Gefängnis“, sagte er. setzt über die Todesopfer. Doch sosehr würde man uns bringen? Es hatte kei- Das Hochsicher- sie mich auch verstör- ne Warnung, keine Vorzeichen gege- heitsgefängnis Polls- ten, ich wußte, daß ben. moor steht mitten in „Botha versuchte, solche Unfälle die un- Wenige Minuten später befanden wir der beeindruckend vermeidliche Konse- uns auf der Fähre nach Kapstadt. Im schönen Landschaft einen Keil zwischen quenz der Entschei- schwindenden Licht blickte ich auf die des Kaps, doch wir mich und den dung waren, einen mi- Insel zurück, ohne zu wissen, ob ich hinter den hohen Be- litärischen Kampf auf- sie jemals wiedersehen würde. Man tonmauern sahen ANC zu treiben“ zunehmen. kann sich an alles gewöhnen, und ich nichts von dieser Na- Der ANC errang hatte mich an Robben Island gewöhnt. turschönheit. damals eine neue Po- Fast zwei Jahrzehnte hatte ich dort ge- Von den gewöhnlichen Gefangenen pularität in Südafrika und auch im lebt und hatte mich dort schließlich getrennt, wurden meine drei Kameraden Ausland. Der Anti-Apartheid-Kampf wohl gefühlt. Ich fand Veränderun- und ich im obersten Stockwerk des Ge- insgesamt hatte die Aufmerksamkeit gen immer schwierig, und als ich Rob- bäudes in einer geräumigen Unterkunft, der Welt erregt; 1984 erhielt Bischof ben Island verließ, war es nicht an- dem Penthouse des Gefängnisses, unter- Desmond Tutu den Friedensnobel- ders. gebracht. Es gab vier richtige Betten mit preis. Im Hafen wurden wir in einen fen- Laken und Handtüchern. Im Vergleich Die südafrikanische Regierung stand sterlosen Lastwagen gestoßen. Wir zu Robben Island befanden wir uns hier unter wachsendem internationalem standen zu viert im Dunkeln, und der in einem Fünf-Sterne-Hotel. Druck, da Nationen in aller Welt be-

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gannen, Pretoria mit gung, sondern eine Chance. Ich war Wirtschaftssanktionen nicht glücklich, allein zu sein. Doch mei- zu belegen. ne Einsamkeit verschaffte mir eine ge- Im Laufe der Jahre wisse Freiheit, und ich beschloß, sie zu hatte die Regierung nutzen, um etwas zu tun, das ich schon mehrmals die Fühler in lange erwogen hatte: Diskussionen mit meine Richtung ausge- der Regierung zu beginnen. streckt. Das begann Wenn wir nicht bald einen Dialog be- mit Versuchen, mich ginnen würden, so würden beide Seiten zum Umzug in die in eine dunkle Nacht von Unterdrük- Transkei zu überre- kung, Gewalt und Krieg gestürzt. den. Allerdings waren Wir hatten ein Dreivierteljahrhundert das noch keine Ver- lang gegen die Herrschaft der weißen handlungsbemühun- Minderheit gekämpft. Seit mehr als gen; ich sollte lediglich zwei Jahrzehnten standen wir im be- von meiner Organisati- waffneten Kampf. Viele Menschen auf on isoliert werden. beiden Seiten hatten schon ihr Leben Nun sondierte die verloren. Der Feind war stark und ent- Regierung das Ter- schlossen. Wir hatten das Recht auf un- rain. Am 31. Januar serer Seite, aber noch keine Macht. Mir 1985 erklärte sich P. war klar, daß ein militärischer Sieg ein W. Botha bei einer ferner, wenn nicht unmöglicher Traum Parlamentsdebatte be- war. Es war an der Zeit, miteinander zu reit, mich freizulassen, reden. wenn ich „bedingungs- Ich beschloß, niemanden darüber zu

los auf Gewalt als poli- SÜDD. VERLAG informieren, was ich plante. Es gibt Zei- tisches Instrument“ Mandela-Tochter Zindzi in Soweto (1985)* ten, in denen ein Führer der Herde vor- verzichte. Das war ein „Eure Freiheit und meine Freiheit sind nicht zu trennen“ angehen und sich in eine neue Richtung Versuch, einen Keil bewegen muß, darauf vertrauend, daß zwischen mich und meine ANC-Kolle- solange ich und ihr, das Volk, nicht frei er sein Volk auf den richtigen Weg gen zu treiben. Als öffentliche Antwort sind. Eure Freiheit und meine Freiheit führt. Schließlich lieferte meine Isolati- fertigte ich eine Rede an, die meine sind nicht zu trennen. Ich werde zurück- on eine Entschuldigung, falls die Sache Tochter Zindzi am 10. Februar 1985 in kommen.“ schiefging: Der alte Mann war allein Soweto einer jubelnden Menschenmen- Im Volks-Hospital von Kapstadt, in und völlig von allem abgeschnitten, sei- ge vorlas. dem ich an der Prostata operiert werden ne Aktionen unternahm er als Individu- Der Schluß lautete: „Nur freie Men- sollte, bekam ichüberraschendenBesuch um und nicht als Vertreter des ANC. schen können verhandeln. Gefangene von Kobie Coetsee, dem Justizminister. können keine Verträge schließen. Ich Kurz zuvor hatte ich an ihn geschrieben ine Gelegenheit, gehört zu werden, kann und werde nichts unternehmen, und ihn zu einem Treffen gedrängt, um Ekam Anfang 1986. Wenige Monate über Kontakte zwischen dem ANC und zuvor hatten sich auf einer Konferenz der Regierung zu diskutieren. des British Commonwealth die Politiker Er hatte nicht geantwortet. Doch an der Commonwealth-Länder nicht dar- diesem Morgen kam der Minister unan- über einigen können, ob sie sich an den gemeldet ins Krankenhaus, als besuche Sanktionen gegen Südafrika beteiligen er einen alten Freund. Er warliebenswür- sollten. Dies lag hauptsächlich daran, dig und herzlich, und die meiste Zeit daß die britische Premierministerin tauschten wir einfach Nettigkeiten aus. Margaret Thatcher unnachgiebig war. Coetsees Besuch war ein Olivenzweig. Um den toten Punkt zu überwinden, Bei meiner Rück- verständigten sich die kehr nach Pollsmoor versammelten Natio- wurde ich in eine „Wir hatten das nen darauf, daß eine neue Unterkunft im Delegation „hervorra- Erdgeschoß des Ge- Recht auf unserer gender Persönlichkei- fängnisses gebracht, Seite, aber ten“ Südafrika besu- getrennt von meinen chen und danach be- drei Kameraden, drei noch keine Macht“ richten sollte, ob Sank- Stockwerke tiefer und tionen das angemesse- in einem ganz ande- ne Werkzeug seien. ren Flügel. Ich erhielt drei Zimmer für Die Gruppe, angeführt von General mich allein und eine separate Toilette. Olusegun Obasanjo, dem früheren Mili- Nach Gefängnismaßstäben war dies ein tärführer Nigerias, und dem australi- Palast. schen Ex-Premierminister Malcolm Fra- In den nächsten Tagen und Wochen ser, erhielt von der Regierung die Er- merkte ich: Die Trennung von meinen laubnis für ein Treffen mit mir. Zwei Kameraden war keine Beeinträchti- Tage vor der Begegnung wurde ich vom Gefängniskommandanten besucht, der

REUTER einen Schneider mitbrachte. „Mande- * Auf einer Versammlung am 10. Februar beim Justizminister Coetsee (1992) Verlesen eines Redetextes ihres inhaftierten Va- la“, sagte der Kommandant, „wir möch- „Wir tauschten Nettigkeiten aus“ ters. ten, daß Sie diesen Leuten von gleich zu

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gleich begegnen. Wir wollen nicht, daß und Minuten später waren wir auf dem riger Tourist in einem fremden, bemer- Sie diese alten Gefängniskleider tragen, Weg zur Residenz des Ministers. kenswerten Land. also wird der Schneider Ihre Maße neh- Coetsee begrüßte mich herzlich, und Nach etwa einer Stunde hielt der men und Sie mit einem angemessenen wir nahmen in bequemen Sesseln Platz. Oberst den Wagen vor einem kleinen Anzug ausstatten.“ Ich war beeindruckt, wie differenziert er Laden in einer ruhigen Straße an. Der Schneider muß eine Art Zaube- argumentierte und wie gut er zuhören „Möchten Sie etwas Kaltes trinken?“ rer gewesen sein, denn gleich am näch- konnte. Nach einem dreistündigen Ge- fragte er. Ich nickte, und er verschwand sten Tag probierte ich einen Nadelstrei- spräch, in dem der Minister sich als in dem Laden. Ich saß allein da. In den fenanzug an, der mir wie angegossen Kenner aller für den ANC wichtigen ersten paar Augenblicken dachte ich paßte. Der Kommandant bewunderte Themen erwies, fragte er: „Was ist der nicht an meine Situation, doch als die meine neue Aufmachung. „Mandela, nächste Schritt?“ Ich sagte ihm, ich wol- Sekunden vergingen, wurde ich immer erregter. Zum erstenmal seit 22 Jahren war ich draußen in der Welt und unbe- wacht. Ich stellte mir vor, die Tür zu öff- nen, hinauszuspringen und dann zu ren- nen und zu rennen, bis ich außer Sicht war. Ich war extrem angespannt und be- gann zu schwitzen und war sehr erleich- tert, als ich den Oberst ein paar Augen- blicke später mit zwei Dosen Coca-Cola zum Wagen zurückkommen sah. Dieser Tag in Kapstadt war der erste von vielen Ausflügen. Eines Tages ging ich mit einem Cap- tain zu den Gärten, und nachdem wir durch die Felder spaziert waren, schlen- derten wir hinüber zu den Ställen. Zwei junge weiße Männer in Overalls arbeite- ten dort mit den Pferden. Ich ging zu ih- nen hinüber, lobte eines der Tiere und sagte zu dem Burschen: „Na, wie heißt dieses Pferd?“ Der junge Mann schien ziemlich nervös und sah mich nicht an.

SVEN SIMON Dann fragte ich den anderen jungen Staatspräsident Botha (1985): Er hatte seine Schritte perfekt geplant Mann, wie sein Pferd heiße, und er rea- gierte genauso. jetzt sehen Sie aus wie ein Premiermini- le den Staatspräsidenten und den Au- Auf dem Rückweg zum Gefängnis ster“, sagte er und lächelte. ßenminister sehen. sagte ich zu dem Captain, das Verhalten Dem Treffen zwischen mir und der Wochen und Monate vergingen ohne der beiden jungen Männer sei mir eigen- Commonwealth-Delegation schlossen ein Wort von Coetsee. Doch es gab An- artig vorgekommen. Er lachte. „Mande- sich zwei bedeutende Beobachter der zeichen dafür, daß die Regierung mich la, wissen Sie nicht, was diese beiden südafrikanischen Regierung an: Justiz- auf eine neue Art von Existenz vorbe- Burschen waren?“ Ich verneinte. „Das minister Coetsee und Generalleutnant reitete. waren weiße Häftlinge. Sie sind noch W. H. Willemse, der für die Gefängnis- Am Tag vor Weihnachten kam der nie zuvor in Gegenwart eines weißen se zuständige Commissioner. Wie der stellvertretende Kommandant von Offiziers von einem eingeborenen Ge- Schneider waren diese beiden Männer Pollsmoor, ein Oberst, nach dem Früh- fangenen etwas gefragt worden.“ da, um an mir Maß zu nehmen. Doch stück in meine Zelle Oft versuchte ich merkwürdigerweise gingen sie kurz und sagte beiläufig: festzustellen, ob die nach Beginn der Sitzung. Ehe sie sich „Mandela, möchten „Ich fühlte mich Leute mich erkannten, verabschiedeten, sagte ich ihnen, nun Sie gern die Stadt se- aber niemand beachte- sei die Zeit für Verhandlungen gekom- hen?“ Ich war nicht wie ein neugieriger te mich; das letzte ver- men: Die Regierung und der ANC soll- ganz sicher, was er im Tourist in einem öffentlichte Bild von ten miteinander reden. Sinn hatte, meinte mir war 1962 aufge- Nach außen schien die Zeit für Ver- aber, es könne nicht fremden Land“ nommen worden. handlungen schlecht geeignet. Der schaden, ja zu sagen. Diese Ausflüge wa- ANC hatte das Volk Südafrikas aufge- „Gut“, sagte er, ren in mehrfacher Hin- rufen, das Land unregierbar zu ma- „kommen Sie mit.“ Auf der schönen sicht lehrreich. Ich sah, wie das Leben chen, und das Volk folgte diesem Auf- Straße, die parallel zur Küste verläuft, sich in der Zeit meiner Abwesenheit ruf. Die Massen waren wütend und die fuhren wir nach Kapstadt hinein. Der verändert hatte, und weil wir hauptsäch- Townships in Aufruhr. Am 12. Juni Oberst kurvte einfach müßig durch die lich weiße Gegenden besuchten, sah ich 1986 verhängte die Regierung den Aus- Stadt. Es war höchst interessant, die den außerordentlichen Reichtum und nahmezustand, um den Protest einzu- einfachen Aktivitäten der Menschen die Ruhe, deren sich die Weißen erfreu- dämmen. draußen in der Welt zu beobachten: alte ten. Obwohl das Land in Aufruhr war In dieser Zeit des Aufruhrs übermit- Männer, die in der Sonne saßen; Frauen und die Townships am Rande des offe- telte ich Generalleutnant Willemse mei- beim Einkaufen; Leute, die ihre Hunde nen Krieges standen, ging das Leben der nen Wunsch, Kobie Coetsee zu sehen. spazierenführten. Genau dieses Alltags- Weißen friedlich und ungestört weiter. Zu meiner Überraschung telefonierte leben vermißt man im Gefängnis am Einmal nahm mich einer der Wärter, der General sofort mit dem Minister, meisten. Ich fühlte mich wie ein neugie- ein sehr netter junger Unteroffizier na-

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mens Brand, sogar mit in die Wohnung anwendet, hat der Unterdrückte keine seiner Familie und machte mich mit sei- andere Wahl, als gewaltsam zu reagie- ner Frau und seinen Kindern bekannt. ren. Von da an schickte ich seinen Kindern Wie die Mehrheit der Buren dachten jedes Jahr Weihnachtskarten. sie, da die meisten Kommunisten im So sehr ich diese kleinen Abenteuer ANC Weiße oder Inder waren, würden genoß, mir war durchaus klar, daß die diese die schwarzen ANC-Mitglieder Behörden ein anderes Motiv hatten als kontrollieren. Schließlich sagte ich ver- meine Zerstreuung. Ich spürte, daß sie zweifelt: „Meine Herren, Sie halten sich mich mit dem Leben in Südafrika ver- doch für intelligent, nicht wahr? Sie hal- traut machen wollten, und vielleicht ten sich für stark und überzeugend, sollte ich mich so an die Freuden klei- nicht? Nun, Sie sind zu viert, und ich bin ner Freiheiten gewöhnen, daß ich zu allein, und Sie können mich nicht kon- Kompromissen bereit sein würde. trollieren oder dazu bewegen, meine Meinung zu ändern. Weshalb denken ie Regierung plante 1987, eine ge- Sie, die Kommunisten könnten da Er- D heime Arbeitsgruppe zu bilden, die folg haben, wo Sie gescheitert sind?“ mit mir private Diskussionen führen Sie behaupteten, der ANC träte für sollte. Coetsee würde der Leiter des die pauschale Verstaatlichung der süd- Komitees sein, und auch Geheimdienst- afrikanischen Wirtschaft ein. Ich erklär- chef Niel Barnard sollte dem Gremium te, wir seien für eine gleichmäßigere angehören. Er galt als Protege´ des Prä- Verteilung der Profite gewisser Indu- sidenten. strien, von Industrien, die bereits Mo- Nicht lange danach erhielt ich eine nopole seien, und in einigen dieser Be- Nachricht von ANC-Präsident Oliver reiche könne es zu Verstaatlichungen Tambo aus Lusaka, die von einem mei- kommen. Unsere 1955 verabschiedete ner Rechtsanwälte eingeschmuggelt „Freiheits-Charta“ sei aber keine Blau- worden war. Er hatte Berichte gehört, pause für den Sozialismus, sondern für ich führte geheime Diskussionen mit einen Kapitalismus afrikanischen Stils. der Regierung, und wollte wissen, wor- Auch wollten sie wissen, wie der über ich mit der Regierung diskutiere. ANC die Rechte der weißen Minderheit Ich antwortete Oliver, ich spräche schützen würde. Ich wies sie auf die Prä- mit der Regierung nur über eine einzige ambel unserer Freiheits-Charta hin: Sache: über ein Tref- „Südafrika gehört al- fen zwischen dem Na- len, die in diesem tionalen Exekutivko- „In meinem Land leben, Schwarz mitee des ANC und und Weiß.“ Ich sagte der südafrikanischen neuen Gefängnis ihnen, die Weißen sei- Regierung. hatte ich einen en gleichfalls Afrika- Das erste formelle ner und bei jeder zu- Treffen der geheimen eigenen Koch“ künftigen Regelung Arbeitsgruppe mit mir werde die Mehrheit fand im Mai 1988 in ei- die Minderheit brau- nem noblen Offiziersklub auf dem Ge- chen. Wir wollten sie nicht ins Meer ja- lände von Pollsmoor statt. Das Ge- gen, sagte ich. spräch war ziemlich steif, doch in den Die Gespräche mußten unterbrochen folgenden Sitzungen konnten wir freier werden, weil ich erkrankte. Ich litt unter und direkter sprechen. Einige Monate einem schlimmen Husten, den ich nicht lang trafen wir uns fast jede Woche. los wurde. Die Ärzte stellten Tuberku- Die Gespräche konzentrierten sich lose fest. Ich wurde in die Constantia- auf die kritischen Themen: den bewaff- berge-Klinik verlegt, eine luxuriöse Ein- neten Kampf, die Allianz des ANC mit richtung in der Nähe von Pollsmoor, die der Kommunistischen Partei, das Ziel noch nie zuvor einen schwarzen Patien- der Mehrheitsregierung und die Idee ten beherbergt hatte. rassischer Versöhnung. Meine Ge- Von der Klinik aus wurde ich erneut sprächspartner bestanden darauf, der verlegt: in das Gefängnis Victor Ver- ANC müsse auf Gewalt verzichten und ster. Es liegt 50 Kilometer nordöstlich den bewaffneten Kampf aufgeben, ehe von Kapstadt im Weinbaugebiet der die Regierung in Verhandlungen einwil- Provinz. Ich bezog dort ein abseits gele- ligen würde – und ehe ich Präsident Bo- genes einstöckiges Haus hinter einer Be- tha treffen könne. Ihre Behauptung lau- tonmauer, beschattet von hohen Tan- tete, Gewalt sei nichts anderes als krimi- nen. Die Räume waren spärlich, aber nelles Verhalten, das der Staat nicht bequem möbliert, im Garten entdeckte dulden könne. ich einen Swimming-pool. Ich antwortete, der Staat sei für die Von Kobie Coetsee erhielt ich als Gewalt verantwortlich, und es sei immer Einstandsgeschenk eine Kiste Kap- der Unterdrücker, nicht der Unter- Wein. Wie er sagte, war ich verlegt wor- drückte, der die Form des Kampfes dik- den, damit ich einen Ort hatte, an dem tiere. Wenn der Unterdrücker Gewalt ich ungestört und bequem Gespräche

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führen konnte. Tatsächlich gab dieses gestattete meine Frau einer Gruppe jun- Ich bereitete mich auf das Treffen vor, Haus mir die Illusion von Freiheit. Ich ger Männer, als ihre Leibwächter tätig so gut ich konnte. Botha war als das konnte zu Bett gehen und aufstehen, zu werden, wenn sie sich durch das „Große Krokodil“bekannt, und ichhatte wann es mir paßte, schwimmen, wenn Township bewegte. viel über sein aufbrausendes Tempera- ich Lust dazu hatte, und essen, wenn ich Diese jungen Männer waren unausge- ment gehört. Mirkam er vorwieder Inbe- hungrig war. bildet und undiszipliniert und ließen sich griff des altmodischen, steifnackigen, Die Gefängnisleitung stellte mir einen auf Aktivitäten ein, die dem Befreiungs- starrsinnigen Buren, der mit schwarzen Koch, Unteroffizier Swart, einen gro- kampf abträglich waren. In der Folge Führern nicht diskutierte, sondern ihnen ßen, ruhigen Buren, der früher Wärter wurde Winnie in den Prozeß eines ihrer diktierte. auf Robben Island gewesen war. Er war Leibwächter verwickelt, der wegen Pünktlich um halb sechs Uhr morgens ein anständiger, gutmütiger Bursche oh- Mordes an einem jungen Kameraden erschien der Kommandant von Victor ne jedes Vorurteil, und für mich wurde verurteilt wurde. Dies verstörte mich VersterinmeinemHaus.Er gingum mich er wie ein jüngerer Bruder. Er bereitete zutiefst, denn ein solcher Skandal dien- herum und schüttelte dann verneinend mir Frühstück, Mittagessen und Abend- te nur dazu, die Organisation in einer den Kopf. „Nein, Mandela, Ihre Krawat- essen. Er war ein guter Koch, backte Zeit zu spalten, in der Einheit wichtig te“, sagte er. Im Gefängnis hatte man Brot und braute selbst Ingwerbier. war. nicht viel Verwendung für Krawatten, Eines Tages, nach einer köstlichen Ich unterstützte meine Frau voll und und an diesem Morgen, als ich sie umleg- Mahlzeit, die Swart zubereitet hatte, ganz und vertrat die Auffassung, sie ha- te, war mir klargeworden, daß ich verges- kam ich in die Küche, um das Geschirr be zwar mangelhafte sen hatte, wie man sie abzuwaschen. „Nein“, sagte er, „das ist Urteilskraft gezeigt, richtig bindet. Der meine Aufgabe. Sie müssen wieder ins sei aber im Hinblick „Ehe er ging, Kommandant stellte Wohnzimmer zurückgehen.“ Ich be- auf alle schwerwiegen- sich hinter mich und stand darauf, ich müsse etwas tun, und den Vorwürfe unschul- fragte mich der band mir einen Wind- wenn er koche, sei es nur fair, daß ich dig. General nach sorknoten. den Abwasch erledige. Swart protestier- Im Tuynhuys, dem te, doch am Ende gab er nach. m 4. Juli teilte mir meiner Blutgruppe“ Präsidentensitz, park- Noch etwas anderes handelten wir AGeneral Willemse ten wir in einer Tiefga- aus. Wie viele Wärter, die afrikaans mit, ich würde am rage, nahmen einen sprachen, war er begierig, sein Englisch nächsten Tag zu einem „Höflichkeitsbe- Lift ins Erdgeschoß und kamen in eine zu verbessern. Und ich suchte immer such“ zu Präsident Botha gebracht. Ich große holzgetäfelte Halle. Dort trafen nach Möglichkeiten, mein Afrikaans sagte dem General, ich würde dazu gern wir auf Justizminister Coetsee und Ge- aufzupolieren. Wir trafen eine Verein- einen angemessenen Anzug und eine heimdienstchef Barnard. Beide hatten barung: Er sprach zu mir englisch, und Krawatte tragen. Denn den Anzug vom mir geraten, dem Präsidenten gegenüber ich antwortete auf afrikaans, so daß wir Besuch der Commonwealth-Politiker kontroverse Themen zu vermeiden. beide die Sprache übten, in der wir am hatte ich schon lange nicht mehr. Während wir warteten, schaute Bar- schwächsten waren. Der General willigte ein, und kurz nard zu Boden und merkte, daß meine Ich drängte weiter auf ein Treffen mit darauf erschien ein Schneider, um mei- Schnürsenkel nicht richtig gebunden wa- Präsident Botha. Im Januar 1989 erlitt ne Maße zu nehmen. Am gleichen ren. Rasch kniete der Geheimdienstchef der einen Schlaganfall. Er trat als Vor- Nachmittag wurden mir ein neuer An- nieder und korrigierte das für mich. Ich sitzender der National Party zurück, be- zug, Krawatte, Hemd und Schuhe gelie- merkte, wie nervös die Anwesenden wa- hielt jedoch sein Amt als Staatspräsi- fert. Ehe er ging, fragte der General ren, und dasmachte mich nicht eben ruhi- dent. noch nach meiner Blutgruppe, nur für ger. Dann öffnete sich die Tür, und ich Internationaler Druck und die politi- den Fall, daß am folgenden Tag irgend trat ein, auf das Schlimmste gefaßt. sche Gewalt nahmen zu, auch in Soweto etwas geschehen sollte. Von der entgegengesetzten Seite sei- nes feudalen Büros aus kam P.W. Botha auf mich zu. Er hatte seine Schritte per- fekt geplant, denn wir trafen uns genau auf halbem Wege. Er streckte die Hand aus und lächeltebreit,und tatsächlich war ich von diesem allerersten Augenblick an völlig entwaffnet. Er war tadellos höflich und respektvoll. Wir posierten kurz für ein Foto, auf dem wir uns die Hand schüttelten. Dann erörterten wir keine substantiellen The- men, sondern eher die südafrikanische Geschichte und Kultur. Ich sagte, natür- lich sehe die südafrikanische Geschichte für einen Schwarzen ganz anders aus als für einen Weißen. Bothas Auffassung war, daß die Rebellion der Buren gegen die Briten ein Streit unter Brüdern gewe- senwar, während meinKampfeinrevolu- tionärer sei. Ich sagte, man könne ihn auch als Kampf zwischen Brüdern be- trachten, die zufällig verschiedene Haut- farben hätten.

SÜDD. VERLAG Das Treffen dauerte nicht einmal eine Mandela-Haus im Victor-Verster-Gefängnis (1988): „Ich übte Afrikaans“ halbe Stunde und war freundlich und un-

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bekümmert. Zum Schluß brachte ich ein ernsthaftes Thema zur Sprache. Ich bat Botha, alle politischen Gefangenen, mich selbst inbegriffen, ohne Bedingun- gen freizulassen. Das war der einzige an- gespannte Augenblick der Begegnung, und Botha sagte, er fürchte, das könne er nicht tun.

twas mehr als einen Monat später, im EAugust 1989, verkündete P.W. Botha im nationalen Fernsehen seinen Rück- tritt als Staatspräsident. Am folgenden Tag wurde Frederik Willem de Klerk als amtierender Präsident vereidigt und be- stätigte sein Engagement für Wandel und Reform. Für uns war de Klerk eine unbe- kannte Größe. Nichts in seiner Vergan- genheit deutete auf Reformgeist hin. Als Erziehungsminister hatte er versucht, schwarze Studenten von den weißen Uni- versitäten fernzuhalten. Doch als er die National Party über- nahm, fing ich an, ihn aufmerksam zu be- obachten. Ich las alle seine Reden, hörte zu, was er sagte, und begann zu sehen, daß er für eine wirkliche Abkehr von der Politik seines Vorgängers stand. Er war kein Ideologe, sondern ein Pragmatiker, ein Mann, der Wandel als notwendig und unvermeidlich ansah. Am Tag seiner Vereidigung schrieb ich ihm einen Brief und bat um ein Treffen. Am Morgen des 13. Dezember – Wal- ter Sisulu und sieben meiner Kameraden von Robben Island waren mittlerweile freigelassen worden – wurde ich wieder nach Tuynhuys gebracht. Ich traf de Klerk im gleichen Raum, in dem ich mit seinem Vorgänger Tee getrunken hatte. Von Anfang an merkte ich, daß de Klerk dem zuhörte, was ich zu sagen hat- SIPA J. KUUS / Staatspräsident de Klerk (1991) Pragmatiker mit Reformgeist .

SERIE

er 11. Februar 1990 war D ein wolkenloser Herbsttag. Ich absolvierte eine verkürzte Version meines üblichen Trai- ningsprogramms, wusch mich und frühstückte. Der Gefäng- nisarzt kam zu einer kurzen Untersuchung. Die Freilassung war auf drei Uhr nachmittags ange- setzt, aber es kam zu Verzö- gerungen. Um kurz nach drei wurde ich von einem bekann- ten Fernsehmoderator ange- rufen, der bat, ich solle ein paar hundert Meter vor dem Gefängnistor aus dem Auto aussteigen, damit sie filmen könnten, wie ich in die Frei- heit schritt. Kurz vor vier Uhr brachen wir mit einer kleinen Wagen- kolonne auf. Etwa 400 Meter vor dem Tor hielt der Wagen, Winnie und ich stiegen aus

A. JOE / AFP / DPA und gingen auf das Gefäng- Mandela am Entlassungstag 11. Februar 1990*: Mit 71 ein neues Leben nistor zu. Hunderte von Foto- grafen, Kameraleuten und te, etwa zu dem Konzept „Gruppen- Bilder wie die all meiner verbannten Reportern sowie mehrere tausend rechte“, das die National Party in ihr Kameraden frei in südafrikanischen Sympathisanten erwarteten uns. Programm aufgenommen hatte. Diese Zeitungen erscheinen. Etwa 30 Meter vor dem Tor began- Rechte sollten angeblich die Minoritä- Acht Tage nach de Klerks Rede nen die Kameras zu klicken, ein Ge- ten gegen die schwarze Bevölkerungs- wurde ich erneut nach Tuynhuys ge- räusch, das sich anhörte wie eine riesi- mehrheit schützen. In Wahrheit wollte fahren. Dort teilte mir ein lächelnder ge Herde metallischer Tiere. Reporter die Regierung damit nur die Dominanz de Klerk mit, er werde mich am fol- begannen Fragen zu schreien, Fernseh- der Weißen bewahren. genden Tag aus dem Gefängnis entlas- teams brachten ihre Kameras in Stel- Ich sagte, der ANC habe nicht über sen. Der Präsident sagte, die Regie- lung, ANC-Anhänger riefen und jubel- 75 Jahre lang gegen die Apartheid ge- rung werde mich nach Johannesburg ten. Es war ein glückliches, wenn auch kämpft, um sich ihr dann in einer ver- fliegen und mich dort offiziell freilas- etwas verwirrendes Chaos. kleideten Form zu unterwerfen. Dar- sen. Als ein Fernsehteam ein langes, auf der Staatspräsident: „Dann werden Ehe er weitersprechen konnte, sagte dunkles, pelziges Objekt auf mich rich- wir die Gruppenrechte ändern müs- ich ihm, dagegen hätte ich erhebliche tete, wich ich ein wenig zurück und sen.“ Einwände. Ich wollte durch das Tor fragte mich, ob das irgendeine neue Am 2. Februar 1990, bei seiner Er- von Victor Verster gehen und denjeni- Waffe sei, die während meiner Haft öffnungsrede im Parlament, begann de gen danken können, die sich um mich entwickelt worden war. Winnie teilte Klerk wahrhaftig, das System der gekümmert hatten, sowie die Men- mir mit, es handle sich um ein Mikro- Apartheid zu demontieren, und berei- schen von Kapstadt begrüßen. Obwohl fon. tete den Boden für ein demokratisches ich aus Johannesburg stammte, war Endlich schritt ich durch das Tor. Südafrika. Kapstadt fast 30 Jahre lang mein Zu- Trotz meiner 71 Jahre hatte ich das Auf dramatische Weise kündigte de hause gewesen. Ich würde nach Johan- Gefühl, ein neues Leben zu beginnen. Klerk die Aufhebung des Verbots von nesburg zurückkehren, aber dann, Die 10 000 Tage meiner Gefangen- ANC, PAC, South African Communist wann ich wollte, und nicht, wann die schaft waren vorüber. Party und 31 anderen illegalen Organi- Regierung es wünschte. „Wenn ich erst In meiner Rede auf dem Rathaus- sationen, die Freilassung wegen ge- frei bin“, sagte ich, „werde ich für balkon in Kapstadt betonte ich wenige waltfreier Aktivitäten inhaftierter poli- mich selbst sorgen.“ Stunden später, daß ich ungebrochen tischer Gefangener, die Abschaffung Das war ein angespannter Moment. und der Kampf für mich nicht beendet der Todesstrafe sowie die Aufhebung Damals sah keiner von uns irgendeine sei. Ich ermutigte die Menschen, wie- verschiedener durch den Ausnahmezu- Ironie darin, daß ein Gefangener dar- der auf die Barrikaden zurückzukehren stand erzwungener Beschränkungen um bat, nicht entlassen zu werden, und den Kampf zu intensivieren. Die an. „Die Zeit für Verhandlungen ist während derjenige, der ihn gefangen- letzten Meter zur Freiheit würden wir gekommen“, sagte er. hielt, ihn freizulassen versuchte. gemeinsam zurücklegen. Über Nacht war unsere Welt verän- Schließlich einigten wir uns auf den dert. Nach 40 Jahren Verfolgung und Kompromiß: Ja, ich kann aus Victor enngleich sich nur wenige Men- Verbot war der ANC jetzt wieder eine Verster entlassen werden, aber der W schen an den 3. Juni 1993 erinnern legale Organisation. Ich und alle meine Termin kann nicht verschoben wer- werden, so war er doch ein Meilen- Kameraden konnten nicht mehr ver- den. stein in der Geschichte Südafrikas. An haftet werden, weil wir Mitglieder des jenem Tag einigte sich nach Monaten ANC waren. Zum erstenmal seit fast * Im Fond eines Wagens nach Passieren des Ge- der Verhandlungen ein Forum aller 30 Jahren konnten meine Worte und fängnistores. wichtigen südafrikanischen Parteien

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auf das Datum für die erste nationale, nichtrassische, allgemeine Wahl des Landes: auf den 27. April 1994. Die Bilder der Südafrikaner, die an jenem Tag zur Wahlurne gingen, sind in mein Gedächtnis eingebrannt: lange Schlangen von geduldigen Menschen, die sich durch die schmutzigen Straßen und Gassen von Dörfern und Städten wanden; alte Männer und Frauen, die ein halbes Jahrhundert gewartet hat- ten, ehe sie zum erstenmal ihre Stim- me abgeben konnten, und die erklär- ten, zum erstenmal in ihrem Leben

fühlten sie sich als Menschen; weiße AP Männer und Frauen, die sagten, sie Warteschlange von Wählern*: „In mein Gedächtnis eingebrannt“ seien stolz, doch noch in einem freien Land zu leben. ten, und ich wollte, daß sie sich sicher keiten fanden in dem Amphitheater Die Auszählung der Stimmen nahm fühlten. statt, das von den Union Buildings ge- mehrere Tage in Anspruch. Der ANC Ich erinnerte die Menschen immer bildet wird. erzielte 62,6 Prozent der Stimmen, und immer wieder daran, daß der Frei- Jahrzehntelang war hier das Macht- knapp unter der Zweidrittelmehrheit, heitskampf nicht ein Kampf gegen ir- zentrum der weißen Vorherrschaft ge- die notwendig gewesen wäre, wenn wir gendeine Gruppe oder Hautfarbe war, wesen, und jetzt, an diesem schönen, es darauf angelegt hätten, ohne Unter- sondern ein Kampf gegen ein Unter- denkwürdigen Herbsttag, war es der re- stützung anderer Parteien eine letztgül- drückungssystem. Bei jeder Gelegenheit genbogenfarbige Versammlungsplatz tige Verfassung durchzudrücken. Un- erklärte ich, alle Südafrikaner müßten verschiedener Hautfarben und Natio- ser Prozentsatz reichte für 252 der 400 nun zusammenfinden, sich die Hand rei- nen, die der Einsetzung der ersten de- Sitze in der Nationalversammlung. chen und verkünden, daß wir ein Land mokratischen, nichtrassistischen Regie- Einige ANC-Anhänger waren ent- seien, eine Nation, ein Volk, und daß rung Südafrikas beiwohnen wollten. täuscht darüber, daß wir die Zweidrit- wir gemeinsam in die Zukunft gehen Vor den versammelten Gästen und telmehrheit nicht erreicht hatten, doch würden. unter den Augen der Welt erklärte ich: ich war eher erleichtert. Am 10. Mai, dem Tag meiner Amts- „Niemals, niemals und niemals wieder Von dem Augenblick an, da die einführung als Staatspräsident, hatten soll es geschehen, daß dieses schöne Wahlergebnisse feststanden, sah ich sich in Pretoria so viele internationale Land die Unterdrückung des einen meine Mission darin, für Versöhnung Führungspersönlichkeiten in Südafrika durch den anderen erlebt. zu werben, Vertrauen und Zuversicht versammelt wie noch nie in der Ge- Laßt Freiheit herrschen. Gott segne zu stärken. Ich wußte, daß viele Men- schichte dieses Landes. Die Feierlich- Afrika!“ schen, vor allem Weiße, Farbige und Inder, mit Angst in die Zukunft schau- * Bei der Parlamentswahl am 27. April in Soweto. ENDE AFP / DPA Mandela bei seiner Amtseinführung als Präsident am 10. Mai in Pretoria: „Wir sind ein Land, eine Nation, ein Volk“

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AUSLAND PANORAMA

Europäische Union zeigten sich besonders Franc¸ois Mitterrand und Spa- Die deutsche niens Felipe Gonza´lez. Sie wünschen ein stärkeres En- Hektik nervt gagement der EU im Mittel- Vernichtend fällt das Urteil meerraum, um den Gefahren der EU-Partner über die durch islamische Fundamen- halbjährige deutsche Rats- talisten und anschwellende präsidentschaft aus. Die Emigrantenströme zu begeg- Bonner seien wegen des mo- nen. Mitterrand: „Da tau- natelangen Bundestagswahl- chen Widersprüche auf – wir kampfs abgelenkt gewesen, müssen dafür sorgen, daß sie oft hätten sich die verschie- nicht tödlich werden.“ denen Ressorts – etwa bei der Energiesteuer oder der Israel

Richtlinie zur Teilzeitarbeit – D. HOPPE / NETZHAUT nicht auf einen gemeinsa- Personenkontrolle an der deutsch-französischen Grenze Einfach men Standpunkt einigen kön- nen. Die Leistungsbilanz, die meinsamen Maßnahmen zur die EU so schnell wie mög- überspringen Kanzler Helmut Kohl beim Bekämpfung der Arbeitslo- lich für die Ost- und Mittel- Der Friedenskurs von Mini- Gipfel in Essen Ende dieser sigkeit und der Abschaffung europäer zu öffnen, nervte er sterpräsident Jizchak Rabin Woche zum Abschluß der der Personenkontrollen an seine Kollegen. Der nieder- droht zu scheitern, nachdem deutschen Präsidentschaft den Grenzen. Negativ ausge- ländische Außenminister in den fast 15 Monaten seit präsentieren wollte, enthält wirkt hat sich zudem der hek- Hans van Mierlo: „Wir fin- der Unterzeichnung des Os- große Lücken: Fehlanzeige tische Führungsstil von Au- den ja alle, daß es ein wichti- lo-Abkommens 100 Israelis bei der Gleichbehandlung ßenminister Klaus Kinkel, ges Thema ist, aber kann palästinensischem Terror von Zinseinkünften im Bin- der zu Wahlkampfzeiten oft man die Musik nicht etwas zum Opfer fielen. Nicht nur nenmarkt, beim Wahlrecht vorzeitig die Sitzungen ver- leiser spielen?“ Alarmiert Oppositionspolitiker wie Li- für Unionsbürger, bei ge- ließ. Mit seiner Forderung, von der Ostlastigkeit Kinkels kud-Chef Benjamin Netanja- hu beschimpfen den Pakt mit Rußland mit Absturzrekord der PLO als „Fiasko“, selbst Gefolgsleute Rabins machen In keinem der 182 Mitgliedstaaten der inter- der Maschinen: Eine dreistrahlige Jak-40, für die Übereinkunft mittlerwei- nationalen Luftfahrtorganisation ICAO war 32 Insassen ausgelegt, raste mit 86 Passagie- le für die Eskalation der Ge- das Flugrisiko in diesem Jahr so groß wie ren an Bord beim Start in Chorog (Tadschiki- walt verantwortlich. Vize- in der ehemaligen Sowjetunion – bis Anfang stan) über die Piste hinaus, stürzte in einen Außenminister Jossi Beilin Dezember wurden 303 Menschen getötet. In Fluß und explodierte; die Reisenden hatten reagierte auf den bröckeln- den meisten Fällen waren Pilotenfehler aus- die Crew mit Waffen gezwungen, überzählige den Rückhalt mit neuen Vor- schlaggebend, so beim Absturz einer Tu-154 Fluggäste mitzunehmen. Die Zersplitterung schlägen: Beilin will die zer- bei Irkutsk (125 Tote). Die Flugzeugführer der früheren Staatsluftlinie Aeroflot – allein mürbenden israelisch-palästi- hatten ein rotes Warnlicht ignoriert, das einen in Rußland sind gegenwärtig mehrere hun- nensischen Verhandlungen Triebwerksschaden anzeigte. In einem Air- dert Luftfahrtunternehmen registriert – er- über eine Teilautonomie ein- bus A-310, der bei Nowokusnezk ab- schwert es, die Maschinen instand zu halten fach überspringen und for- stürzte, hatten die zwölfjährige Tochter und Reparaturen auszuführen. Der Mangel an dert statt dessen Beratungen und der 16 Jahre alte Sohn des Fluglotsen erhöht die Gefahr von Beinahezu- über eine endgültige Lösung Kapitäns am Steuerknüppel sammenstößen: Über Ostsibirien kreuzten des Konflikts – mit einem ra- gesessen. Eine häufige unlängst eine Boeing 747 der All Nippon Air- schen, fast vollständigen Unfallursache ist ways und eine Maschine der British Airways Rückzug der israelischen Ar- das Überladen im Abstand von nur 120 Metern. mee aus den besetzten Ge- bieten und dem Abbau der meisten jüdischen Siedlun- 29. Oktober 1994 gen. 5 Tote Batagai Polen Streit um 26. September 1994 29. Oktober 1994 26 Tote 21 Tote Rubel-Blüten Moskau Ust-Ilimsk Gefälschte Rubel sind die Wanawara Ursache für Zwist zwischen 24. Februar 1994 russland Chabarowsk Bonn, Moskau und War- 13 Tote schau. Rußlands Zentral- 30. September 1994 bank protestierte bei der 17. März 1994 Irkutsk 32 Tote Naltschik Nowokusnezk 6 Tote Bundesregierung gegen die nach ihrer Ansicht zu laxe 22. März 1994 Verfolgung von Ganoven 75 Tote Berg- 3. Januar 1994 durch die Polizei. Hinter- Karabach 125 Tote grund: Eine polnische Mafia- Gruppe hatte in Deutschland

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rund fünf Tonnen hochwerti- ges Papier gekauft – zur Her- stellung falscher Rubel. Nach Kontakten zwischen Bundes- kriminalamt und polnischen Fahndern konnten War- schauer Beamte den größten Teil der Lieferung abfangen: Der Rest gelangte allerdings nach Rußland, wo mittler- weile Rubel-Blüten im Um- lauf sind. Moskau vermutet hinter dem Schwindel politi- sche Motive – eine Ver- schwörung zur Destabilisie- rung der russischen Wäh- rung.

China Massage nur von Einheimischen Ausländische Arbeitnehmer in China – offiziell rund 60 000 – dürfen künftig kei- ne „erotischen Dienstleistun- gen“ mehr anbieten: In ei- nem gemeinsamen Zirkular verbieten Arbeits-, Außen- und Sicherheitsministerium Fremden ausdrücklich, „Per- sonen des anderen Ge- schlechts“ zu massieren oder „an Travestie-Shows teilzu- nehmen“. Nicht nur in Sex- Shows, Bordellen und Mas- sagesalons, sondern auch in C. HENRIETTE / FOCUS Tanzklub in Schanghai

„Hotels, Restaurants und Tanzklubs“ hatte die Polizei rund 800 illegal jobbende Ausländer entdeckt – in der Mehrzahl Studentinnen. Ob- wohl in China Prostitution ungesetzlich ist, boomt das käufliche Gewerbe vor allem in Großstädten.

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AUSLAND

Rußland KRIEG IM KAUKASUS Bomben auf Grosny, Truppenaufmarsch an der Grenze: Moskau droht der abtrünnigen Tschetschenen-Republik mit militärischem Einmarsch – und fürchtet zugleich ein neues Afghanistan. Moslemvölker im Kaukasus, vom zaristischen Rußland im 19. Jahrhundert blutig unterworfen, rufen zum Heiligen Krieg.

ie Front reicht bis nach Kursk, in Der postkommunistische Kreml rea- tschenien „mit allen Kräften und Mit- die Wohnstube der Familie Proko- gierte wie der kommunistische: mit teln Gesetzlichkeit, Ordnung und Frie- Dpow. Dort entdeckte der Vater Leugnen und Lügen. Wie 1989 in Tiflis, den“ wiederhergestellt. seinen Sohn Sergej vorige Woche in ei- wie in Baku oder im Baltikum, wo Mos- Mache Jelzin seine Drohung wahr, ner Sendung des Fernsehkanals NTW: kau die Auflösung der UdSSR mit Ge- erkläre Rußland zum erstenmal einem mit verängstigtem Gesicht, in komplet- walt stoppen wollte, gab sich die ertapp- eigenen Bundesland den Krieg, warnte ter Unteroffiziersuniform. te Vormacht unschuldig: Alle Behaup- die liberale Nesawissimaja gaseta. Nie- Die Bilder stammten nicht aus dem tungen über eine Teilnahme der russi- mand bezweifelt, daß die russische Mi- südwestlich von Moskau stationierten schen Armee seien „völliger Fieber- litärmacht die winzige Rebellen-Repu- Truppenteil 43 162, wo Prokopow sei- wahn“, fabelte Verteidigungsminister blik im Nu überrennen könnte. Aber nen Jungen unter der Fahne wähnte. Pawel Gratschow. genauso sicher ist, daß die Besatzer es Statt dessen befand er sich anderthalb- Um zu beweisen, daß seine Streitkräf- dann mit einem Partisanenkrieg zu tun tausend Kilometer vom heimatlichen te nicht in Tschetschenien stünden, füg- bekämen – in einer unwegsamen Ge- Regiment entfernt, in einem Keller ir- te er listig drohend hinzu: „Wenn russi- gend, wo in vielen Häusern Waffen gendwo in Grosny, Hauptstadt der von sche Fallschirmjäger in Grosny einmar- versteckt sind und der islamische Glau- Rußland abgefallenen Kaukasusrepu- schiert wären, hätten sie die Sache in be den Kampfesmut der Bergvölker blik Tschetschenien. zwei Stunden erledigt.“ beflügelt. Dem Soldaten Prokopow droht der Das kann ja noch kommen. Denn Bo- Dudajew hat auf den Koran ge- Tod in der Fremde. Truppen des tsche- ris Jelzin setzte auf Gewalt, um den lä- schworen, die Einführung der Scharia tschenischen Präsidenten Dschochar stigen Meuterer in Grosny zu züchtigen angekündigt – das trägt ihm den Bei- Dudajew, 50, nahmen ihn gefangen, als und dessen Ölrepublik heim ins Reich stand aller angrenzenden Bergvölker er mit seinem T-72-Panzer 4000 bewaff- zu holen. Den kämpfenden Parteien gab und der starken Moslem-Staaten ein. neten Regimegegnern beim Sturm auf er am vorigen Dienstag per Ultimatum Die staatstragende Agentur Itar-Tass den Regierungspalast in Grosny half. 48 Stunden Zeit, die Waffen niederzule- frohlockte am letzten Novembersonn- An dem mißglückten Putschunterneh- gen und alle Gefangenen zu entlassen. abend schon per Blitz- und Falschmel- men waren noch viele andere russische Ungehorsam habe den Ausnahmezu- dung über den Fall des Dudajew- Hilfswillige beteiligt, darunter neun Ka- stand zur Folge: Dann würden in Tsche- Regimes: Der von Moskau gestützte meraden der Kantemir-Division, einer Moskauer Eliteeinheit für besondere Fälle. Der Versuch mißlang – wie schon mehrere Anläufe zuvor, endlich den „paranoiden Kaukasus-Banditen“ Du- dajew (so die Zeitung Sewodnja)zu stürzen. Dem schnurrbärtigen Tsche- tschenen-Führer, der sich 1991 von Rußland lossagte und dafür von über 80 Prozent seiner Landsleute zum Präsi- denten gewählt wurde, lieferte der ge- scheiterte Coup einen wichtigen Trumpf: 70 russische Soldaten und Offi- ziere fielen in die Hände seiner Krieger, ein lebender Beweis für Rußlands Ein- mischung in die Auseinandersetzungen um das Gebirgsland im Nordkaukasus. Erkenne Moskau die Gefangenen nicht offiziell als seine Militärangehöri- gen an, lasse er sie wie „gemeine Söld- ner“ erschießen, drohte Dudajew dem russischen Goliath.

* Der Leichnam des Panzerfahrers wird fortgetra- REUTER gen. Brennender Panzer in der Tschetschenen-Hauptstadt Grosny*: „Gemeine Söldner“

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„Provisorische Rat“ der Opposition ha- gesichts dieser Entschlossenheit kam in in Moskau stark vertreten sind, verteu- be die Macht in Grosny übernommen. Rußland Unsicherheit auf. Kreml-Bera- feln die Russen sie pauschal als Mafiosi. Dort hatten sich aber nur bärtige ter Otto Lazis fühlte sich an „dunkelste Zeitungen schildern die Zustände in Freischärler des abtrünnigen Dudajew- Seiten der sowjetischen Geschichte“ er- Grosny, als hätte dort ein moslemischer Leibwächters Ruslan Labasanow, 27, innert – an den „Geheimbeschluß eini- Al Capone seinen eigenen Staat ausge- bis zum Präsidentenpalast am Frei- ger weniger“ 1979, in Afghanistan ein- rufen. heitsplatz durchgeschossen. Nachrük- zumarschieren. Rußland fand sich so lange mit dem kende Panzer blieben in Sackgassen Es war nicht der erste Versuch, die Verlust eines Gebiets von der Größe stecken, brannten im Granatenhagel Tschetschenen zu maßregeln. Schon vor Schleswig-Holsteins ab, bis Dudajews der Regierungstreuen aus. drei Jahren hatte der Kreml-Herrscher autoritärer Regierungsstil einstige Mit- Nach der unerwarteten Schlappe ließ die aufkeimende Unabhängigkeitsbewe- kämpfer für die Unabhängigkeit in die die Hegemonialmacht die Tarnung gung mit dem Ausnahmezustand zu er- Opposition trieb. Ein halbes Dutzend weitgehend fallen. Trotz des Jelzin-Ap- sticken versucht. Rußlands Eingreif- von ihnen, vom ehemaligen Bürgermei- pells zum Waffenstillstand flogen russi- truppen scheiterten jedoch schmählich ster Grosnys, Gantemirow, bis zu Ex- sche Flieger vorige Woche täglich Luft- auf dem Militärflugplatz von Grosny, Premier Mamodajew, eröffnete die angriffe: Mehr als ein Dutzend moder- wo die tschetschenische Nationalgarde Schlacht um die Präsidenten-Nachfolge ner Kampfflugzeuge vom Typ Su-27 schossen Dudajews Flughäfen in Schutt und Asche. Raketen setzten Treibstoff- lager und Wohnhäuser in Brand. Frau- en und Kinder waren unter den Op- fern. Grosny, kabelte ein Augenzeuge, verwandle sich „in einen Friedhof“. Rauch überzog die Stadt, Strom und Gas fielen aus. Verkohlte Leichen rus- sischer Soldaten wurden von den Stra- ßen geräumt – Unbekannte hatten sie mit Benzin übergossen und angezün- det, um ihre Identifizierung zu verhin- dern. Die Angriffe schweißten die Duda- jew-Anhänger noch enger zusammen. Tag und Nacht machte sich die Menge rings um den Regierungspalast Mut zum heiligen Freiheitskrieg gegen die „russischen Okkupanten“. Soldaten banden sich grüne Stirnbänder mit den Worten des Propheten um den Kopf, bereit zum Märtyrertod. Frauen und Kinder wurden nach Süden in sichere Bergdörfer evakuiert. Dudajews Außenminister kündigte Moskau ein neues Afghanistan an. An-

RUSSLAND J. KOZLAUSKAS / SYGMA Tschetschenen-Präsident Dudajew, Leibwächter: Auf den Koran geschworen

100 km Kaspisches sie umstellte und mit Bussen in – und bot Moskau einen Vorwand, in Meer die Heimat zurückschickte. den Kaukasus zurückzukehren. RUSSLAND Um das Fiasko zu verschlei- Heimlich finanzierten und bewaffne- ern, annullierte der Oberste ten die Russen die buntscheckige Schar Terek Sowjet damals Jelzins Dekret. der Widerständler – eine Taktik, die der TSCHETSCHENIEN Fortan beschränkte sich ehemalige Parlamentschef Jussup Sos- Moskau darauf, den ehemali- lanbekow für Jelzins „größten Fehler“ Grosny gen Fliegergeneral Dudajew hält: Der Präsident habe vom Freiheits- INGU- NORD- SCHIEN als skrupellosen Terroristen drang der Tschetschenen nichts begrif- OSSETIEN DAGESTAN anzuklagen. Moskaus Medien fen und steuere auf „eine Katastrophe“ führten einen Propaganda- zu. Und auch der russische Kaukasus- Kaukas krieg gegen die abgefallene Experte Wiktor Hirschfeld, ein pensio- us Republik. Da Tschetschenen – nierter Oberst, warnte vor „der Gefahr wie Angehörige anderer Kau- eines neuen Kaukasus-Kriegs“. GEORGIEN kasus-Völker auch – unter den Mit ihren Drohgebärden nahmen sich Herren des illegalen Handels Zar Boris und sein Kabinettsgeneral

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AUSLAND

bildeten Schamil als „nied- gründen und Tschetscheniens natürliche rig geborenen Vagabun- Verbündete – die Türkei und den Iran – den“ verächtlich machte, um Zurückhaltung bitten. „dessen Kopf keine 100 Nur einer Partei passen die zarten Kei- Tscherwonzen wert“ sei. me aufkommender Verständigung nicht: Wie Rußland in den ver- dem Provisorischen Rat der „Vereinig- gangenen 200 Jahren mit ih- ten Opposition“. Die Dudajew-Gegner nen umsprang, ist jedem sind „kategorisch gegen jegliche Ver- Tschetschenen geläufig: handlungen zwischen Moskau und Gros- Die Kreml-Herren verfüg- ny“. ten Massen-Deportationen „Dem Wohl des tschetschenischen – die erste 1792 nach dem Volkes“, empörte sich Chef-Widerständ- Aufstand unter Scheich ler Umar Awturchanow, diene allein die Mansur (sein Bild hängt Ausrufung des Kriegszustands und der über Dudajews Schreib- Einmarsch russischer Truppen. Y tisch); die letzte auf Befehl des Georgiers Stalin, der 1944 das ganze Volk in Bosnien Viehwaggons nach Kasach- stan verschleppen ließ. Ein Drittel überlebte den Transport nicht. Tödlicher Als wären ihm die Sün-

ULLSTEIN BILDERDIENST den der Vergangenheit Historischer Freiheitsheld Schamil noch rechtzeitig in den Sinn Irrtum 27 Jahre Widerstand gekommen, lenkte Jelzin zehn Stunden nach Ablauf Durch Tunnel und über steile Pfade Gratschow wie Nachfahren des russi- seines Ultimatums vorerst ein. Zwar ließ führt der einzige Fluchtweg aus schen Selbstherrschers Nikolaus I. aus. er eine rund tausend Mann starke Luft- Der hatte 1829 seinem Feldherrn Iwan landetruppe an die Grenze zum Krisen- Sarajevo. SPIEGEL-Redakteurin Paskewitsch zum Sieg über die Türken gebiet verlegen, doch an die Verhängung gratuliert und ihm zugleich ein „nicht des Ausnahmezustands sei „vorerst nicht Renate Flottau ist ihn gegangen. minder ruhmreiches“ Unternehmen auf- gedacht“. getragen: „die endgültige Befriedung Um die 70 gefangenen Landsleute aus- n diesem Tag gibt es kein Entkom- der Bergvölker oder die Ausrottung der zulösen, machten sich russische Duma- men. Die Serben wissen, wie sie Unbotmäßigen“. Damals währte Ruß- Abgeordnete auf den Weg nach Grosny. Adie letzte Verbindung der einge- lands kaukasischer Krieg bereits 100 Vor Ort übergaben ihnen Dudajew-Par- kesselten Stadt mit der Außenwelt kap- Jahre – und auch Paskewitsch, Graf zu lamentäre eine „Sicherheitsgarantie“ für pen können. Im Morgengrauen begann Eriwan und Fürst von Warschau, brach- die Festgehaltenen. ihre Artillerie zu schießen und hat bis te ihn nicht zu Ende. Außenminister Andrej Kosyrew Mittag nicht aufgehört. Das Dauerfeuer Obwohl die zaristischen Truppen bru- schickte seine Botschafter in den mosle- wirkt. Der Tunnel bleibt geschlossen. tal wüteten, verlor Rußland Zehntau- mischen Anrainerstaaten auf heikle Mis- An ruhigeren Tagen strömen Hunder- sende Soldaten und vergeudete über sion: Sie sollten Rußlands Vorgehen be- te zu einer Garage im zerstörten Stadt- Jahre hinweg ein Sechstel seines Etats an der Guerilla-Front. Erst als der le- SÜDEN gendäre Partisanenführer Schamil nach 27 Jahren Widerstand und dem Aufbau Bjelasˇnica eines islamischen Imanats (Kerngebiet: 2067 m Tschetschenien) in russische Gefangen- BOSNIEN-HERZEGOWINA schaft geriet, erschöpfte sich allmählich Fluchtroute die Gegenwehr der Kaukasusvölker. KROATIEN Sarajevo Igman Ruhig ging es für die russischen 1502 m Wehrbauern in ihren Kosaken-Dörfern Mostar zwischen den Siedlungen der Einheimi- schen auch danach nicht zu. Im Sommer Metkovic´ Serben 4 wurde das Schußfeld vor den Häusern frei gehalten, Feldarbeit mit dem Ge- Moslems/Kroaten Hrasnica 3 wehr auf dem Rücken verrichtet – und 2 vor Sonnenuntergang beendet. Danach galt, wie Puschkin reimte, die Warnung: serbische Frontlinien „Ihr Mädchen, rette sich, wer kann, Dobrinja 1 Bosna denn der Tschetschene schleicht heran.“ Für Militärs, Kolonialbeamte und Ko- Grbavica saken waren Inguschen und Tschetsche- Miljacˇka nen, Darginer und Balkaren, Lesgier und Awaren allesamt „Schwarze“, Die- SARAJEVO be und Totschläger. Typisch der Hoch- mut des Generals und Großmacht-Apo- 1 Tunneleingang 2 Tunnelausgang logeten Paul Grabbe, der während sei- in Dobrinja Flughafen 3 in Hrasnica 4 Aufstieg zum Berg Igman nes Kaukasus-Kommandos den hochge-

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teil Dobrinja. Dort beginnt der einzige Im Februar war die „Blaue Straße“ der „bosnischen Polizeiwacht“. Die vier Weg in die Freiheit: mit dem Einstieg in über den Igman für kurze Zeit sicher. Polizisten frieren und langweilen sich. einen Erdschlauch – 1,20 Meter breit, Damals zwang die Nato die Serben mit Heute bleiben sogar die Busse aus, die 1,50 Meter hoch –, der an einem Bauern- einem Ultimatum, den Belagerungsring die Ankommenden normalerweise zum hof bei Hrasnica hinter dem Flughafen zu lockern. Vier Wochen später schos- nächsten Ort transportieren. endet. sen sie wieder ungestraft. Inspektor Hoso erklärt sich bereit, In dem Vorort, keine Viertelstunde Der Aufstieg zu Fuß quer durchs Ge- selbst zu chauffieren. Er muß erst noch entfernt vom Zentrum der bosnischen lände ist mühsam, auf dem nassen Ge- Luft in die ausgeleierten Reifen pum- Hauptstadt, hallen die Explosionen nur röll gibt es kaum Halt. Sabaheta, 62, pen, dann steuert er über Schotterwege noch als dumpfes Echo von den Felswän- kennt die Tücken des Pfades. „Nach quer über den Igman. Immer wieder den wider. Das Donnern und Dröhnen Einbruch der Dunkelheit schießen sie deutet der Beamte auf die nahen Hän- klingt noch unheimlicher als unten in der auf jeden“, sagt sie. Tagsüber ließen sie ge: „Dort, dort sitzen die Tschetniks!“ Stadt. zumindest die Zivilisten in Ruhe – wenn Die serbischen Killerkommandos be- Von hier führt ein rutschiger Pfad steil „nicht ein Scharfschütze die Nerven ver- herrschen das Versteckspiel in den Ber- hinauf zum 1502 Meter hohen Berg Ig- liert“. gen. Auf einigen Gipfeln ist die serbi- man – immer im Blickfeld serbischer In zerrissenen Hausschuhen, einen sche Fahne zu sehen. Niemand weiß ge- Scharfschützen. Wer es bis oben schafft, grauen Strickstrumpf gegen den eisigen nau, wo die Schützen verborgen sind, hat gute Chancen, die von Moslems kon- Wind auf dem Kopf, schleppt die Mosle- weil sie ständig rochieren, wie Schachfi- trollierten Verbindungsstraßen in den min das Gepäck derer, die sich einen guren, die den Feind einkreisen. Süden zu erreichen und der Umklamme- Träger leisten können, von Hrasnica Wer bis Pazaric´ kommt, hat das Epi- rung durch die Belagerer zu entkommen. den Berg hinauf. zentrum des Kriegsgebiets hinter sich Der Nachschub durch den Tunnel hält Ihr Nachbar Mustafa humpelt am gelassen. Ein Schlagbaum trennt die die ausgezehrte Stadt mit Waren und Stock. Dennoch hat er sich einen großen steinige Piste von der asphaltierten Bundesstraße. Doch die Schranke bleibt geschlos- sen. Bosnische Beamte bestehen auf ei- ner schriftlichen Genehmigung aus Sa- rajevo, die Region verlassen zu dürfen. Erst mit der kühnen Lüge, der bosni- sche Präsident persönlich habe die Rei- se empfohlen, lassen sich die Aufpasser umstimmen. In Jablanica übernimmt Emir den Transport. Er hat im Kampf gegen die Serben einen Fuß verloren. Mit dem Stumpf drückt er aufs Gaspedal, meist zu heftig. Das Auto schleudert durch jede Kurve. Emir darf nur bis zum bosnischen Checkpoint vor Mostar. Dann muß er umkehren. Im kroatischen Teil, in Herzeg-Bosnien, sind Moslems uner- wünscht. Wer weiter will, muß lange warten. Weder am Checkpoint der spanischen Blauhelme noch an der Station der Kroaten weiß man weiter. Um fünf Uhr

REUTER nachmittags wird die Brücke zwischen Fliehende Bosnierinnen in Sarajevo: Immer im Blickfeld der Scharfschützen dem moslemischen und dem kroati- schen Teil Mostars geschlossen. Nur Waffen notdürftig am Leben. Tagsüber Koffer auf den Rücken geschnallt. Von dort gäbe es jetzt noch die Chance wei- quälen sich Schwarzmarkthändler und dem Erlös aus ihrem Sherpa-Dienst kön- terzureisen. Zivilisten auf diesem Weg aus dem Ghet- nen die beiden überleben – noch. Wenn Im engen Container der kroatischen to, nachts werden bis zu 300 bosnische der erste Schnee fällt, ist der Aufstieg Polizei hockt ein Busfahrer; sein Arm Soldaten an andere Fronten geschleust. nicht mehrzuschaffen. IhreeinzigeGeld- ist bandagiert, das Gesicht blutet aus Sobald die unterirdische Nabelschnur quelle versiegt dann bis zum Frühjahr. unzähligen Wunden, die die Splitter ge- unterbrochen ist, bleibt nur noch ein Auf halbem Weg läßt sich Sabaheta rissen haben. Der Mann steht unter Ausweg: in einem Auto mit Panzerglas hinter das Wrack eines von der Straße ge- Schock. Vor noch nicht einer Stunde und einer Sondergenehmigung der Uno- stürzten Busses fallen. „Hier sind wir vor feuerten Serben vom Berg Velezˇ Gra- Truppen Unprofor quer über das Roll- Granatsplittern sicher.“Deutlich sind die naten ins Tal auf zwei Busse, die Mo- feld des Flughafens – ein 2000 Dollar teu- Schüsse von den Bergen zu hören. Frü- star fast erreicht hatten. Zwei Passagie- res Risiko. her, erzählt Mustafa, hätten seine serbi- re starben, acht wurden schwer ver- „Kamikaze-Verrückte“ nennt der Po- schen Nachbarn keine Tasse Kaffee ohne letzt. lizeichef von Hrasnica die Leichtferti- ihn getrunken. Als sein Bauernhaus aus- Für eine Stunde bleibt die Straße zwi- gen, die auch den Igman mit dem Auto gebombt wurde, zog der Alte mit dem schen Mostar und Metkovic´ gesperrt. bewältigen wollen. Die Hoffnung, bei ei- zerfurchten Gesicht in eine Wohnung, Aber nicht, weil die zerschossenen Bus- ner Nachtfahrt mit ausgeschalteten aus der Serben geflohen waren. se zur Seite geräumt und die Verletzten Scheinwerfern träfen die Serben nicht, Nach einer Stunde ist eine Lichtung im versorgt werden müßten: Frische kroa- hat sich schon oft als tödlicher Irrtum er- Schutz eines Felsvorsprungs zu sehen. tische Soldaten werden mit einem Kon- wiesen. Ein weißer Wohnwagen dient als Revier voi ins Kriegsgebiet transportiert.

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außerhalb des Bündnisgebiets noch Nato längst nicht fähig ist. Lugar: Anders als im Kalten Krieg ha- ben wir in Bosnien eine Situation, auf die das Bündnis nicht eingestellt war: Es „Auf dem falschen Fuß“ gibt keinen gemeinsamen Feind, Schuld findet sich auf allen Seiten. Aber nach Interview mit US-Senator Richard Lugar über die Spannungen im Bündnis unserer Meinung wird der Status quo nun zu Lasten der Moslems aufrechter- halten. Der bosnische Präsident Izetbe- SPIEGEL: Die Clinton-Regierung hat ih- ration hinzunehmen, nicht potentielle govic´ hat ja nicht gefordert, Truppen zu re Bosnien-Politik erneut geändert und Aggressoren in aller Welt? schicken, sondern nur um Waffen gebe- die serbischen Angreifer praktisch zum Lugar: Ich fürchte, da haben Sie recht. ten, damit seine Truppen sich selbst ver- Sieger erklärt. Der künftige republika- Das hätten wir aber nur vermeiden kön- teidigen können. Wir müssen allerdings nische Mehrheitsführer im Senat, Ro- nen, wenn wir gewillt gewesen wären, sehr sorgfältig darüber nachdenken, wie bert Dole, möchte dagegen das Waffen- aktiv in den Konflikt einzugreifen. Eine wir die Moslems aufrüsten. Eine solche embargo gegen die Moslems möglichst politische Mehrheit für den Kampfein- Waffenhilfe könnte in gewissem Um- noch im Januar aufheben. Verfällt die satz von möglicherweise Zehntausenden fang auch den Einsatz von Nato-Streit- Außenpolitik der Weltmacht Amerika Soldaten finden Sie jedoch weder in Eu- kräften erfordern. in Konfusion und Widersprüche? ropa noch in den USA. SPIEGEL: Das wird schon die Uno nicht Lugar: Wir haben uns SPIEGEL: Die Nato hat erlauben, im Sicherheitsrat gibt es dafür aus dem Ausgangsdilem- zwar den Kalten Krieg keine Mehrheit. ma bislang nicht befrei- gewonnen, kann aber Lugar: Deswegen sind wir Republikaner en können. Die Nato nun nicht einmal mehr grundsätzlich gegen eine solche Kom- schützt nach wie vor nur im eigenen Hinterhof mandostruktur, in der den Nato-Trup- die Uno in ihrer Rolle Ordnung halten. Hat sie pen letztlich die Hände gebunden sind. als Friedensbewahrer, sich überlebt? Die Hilflosigkeit, zu der die Uno die sie korrigiert nicht das Lugar: Auf keinen Fall. Nato verurteilt hat, zehrt kräftig an ungleiche Kräfteverhält- Das Bündnis ist nach wie unserer Zustimmung zur Weltorgani- nis im Bürgerkrieg, vor unverzichtbar für die sation. Entweder räumen wir endlich schafft also keine Ge- Sicherheit Europas und die Trümmer der bisherigen Politik rechtigkeit. Deswegen mehr noch als Binde- weg, oder wir müssen weiter auf Ver- hat Senator Dole völlig glied zwischen den Ver- handlungen mit Leuten setzen, die recht, wenn er die Uno einigten Staaten und der möglicherweise gar keinen Frieden auffordert, die Blauhel- Alten Welt. Die Allianz wollen. me aus der Gefahrenzo- ist das Sprachrohr, SPIEGEL: Es war vor allem Ihre Regie-

ne zu schaffen. Wir dür- D. BRACK / BLACK STAR durch das Amerika in rung, die ein Eingreifen amerikanischer fen Friedenssicherung Senator Lugar europäischen Fragen Bodentruppen bislang mit dem Hinweis nicht mit einem Eingriff mitspricht. Das halten abgelehnt hat, es stünden keine nationa- in die Kämpfe vermischen. Dieser auch die meisten Europäer für wichtig. len Interessen Amerikas auf dem Spiel. Übergang von einer humanitären Missi- Dieser Einsatz wird jedoch enden, wenn Unter welchen Umständen würde Ame- on zu einer kriegführenden Rolle ist au- wir uns nicht mehr darauf einigen kön- rika das Leben von GIs im ehemaligen ßerordentlich schwierig. nen, um was es uns wirklich geht. Des- Jugoslawien riskieren? SPIEGEL: Die Uno-Truppen müssen wegen legen wir soviel Wert darauf, daß Lugar: Ich fürchte, unter fast gar keinen. weg, damit sie nicht zwischen die Fron- die Nato erweitert wird und neue Bünd- Man könnte zwar sagen, daß in Bosnien ten geraten? nisaufgaben gefunden werden. die Zukunft Europas auf dem Spiel steht Lugar: Wenn der Kongreß bei seiner SPIEGEL: Es hat sich doch gezeigt, daß und damit auch amerikanische Interes- Forderung bleibt, das Waffenembargo die Nato zu friedenstiftenden Einsätzen sen berührt sind. Aber daß den Europä- einseitig aufzuheben und die bosnischen ern der Ausgang des Moslems aufzurüsten, ist es eine unab- Jugoslawien-Konflikts dingbare Voraussetzung, daß die Uno- offenbar weniger wich- Truppen zuvor das Kriegsgebiet verlas- tig ist als uns, stößt in sen. Amerika auf völliges SPIEGEL: Gibt es überhaupt noch einen Unverständnis. Weg aus dieser Katastrophe, der für alle SPIEGEL: Immerhin Beteiligten annehmbar ist? stehen Briten, Franzo- Lugar: Nein. Alle US-Vorstöße werden sen und andere Nato- im Uno-Sicherheitsrat blockiert. Han- Partner auf dem delt Washington auf eigene Faust, wer- Kriegsschauplatz. den die Spannungen in der Nato noch Lugar: Aber nur als Sa- dramatischer zunehmen. Rühren wir mariter, um die Opfer uns dagegen nicht, wird der Krieg auf zu füttern, nicht um zu unabsehbare Zeit weitergehen. Weder kämpfen. Statt Ge- im Sicherheitsrat noch in der Nato rechtigkeit zu schaf- herrscht zur Zeit Einigkeit über den fen, sind die Uno- künftigen Kurs. Solange dieses Hin und Truppen ständig in Her anhält, wird in Bosnien weiter Blut Gefahr, Geiseln zu vergossen werden. werden. Sie stehen nur

SPIEGEL: Ermutigt die Bereitschaft des REUTER im Weg. Das ärgert die Westens, eine großserbische Konföde- Uno-Soldaten in Sarajevo: „Samariter, die nicht kämpfen“ Amerikaner. Y

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Die Befürchtung, dem reaktionären Südstaatler könne einmal der Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses im US-Se- nat zufallen, verfolgt weltläufige Ameri- kaner seit den frühen achtziger Jahren. Geschickt geführt, kann der Ausschuß eine der Machtzentralen Washingtons sein. Von hier aus ließe sich eine opposi- tionelle Außenpolitik steuern, die jener des State Department und des Weißen Hauses zuwiderläuft. Bereits 1985 hätte Jesse Alexander Helms jr. – Jahrgang 1921, Senatsmit- glied seit 1973 – nach dem Senioritäts- prinzip diesen Schlüsselposten bean- spruchen können. Nur stand der Pro- vinzler damals noch bei seinen Wählern und Geldgebern im Wort; er hatte ver- sprechen müssen, die Außenpolitik, die North Carolina schnurz ist, zu vernach- lässigen und weiter den Landwirt- schaftsausschuß zu führen. Helms muß- te auf dem Kapitolshügel die Interessen der heimischen Tabakindustrie vertre- ten – die ihrerseits nicht vergessen woll- te, wem er seinen Aufstieg verdankte. Der einstige Lokalredakteur der Ra- leigh Times war ein Dutzend Jahre lang (bis 1972) beim „Tobacco Radio Net-

SABA work“ als würziger Kommentator aufge- fallen. Unter anderem attackierte er Präsident Richard Nixon wegen der De- facto-Anerkennung „Rotchinas“, wie er

R. FINN-HESTOFF / jenes Land noch heute nennt. Daß der US-Senator Helms: Stinktier auf dem Gartenfest Tabak-Lobbyist lange ein demonstrati- ver Raucher war, versteht sich von selbst – Lucky Strikes, ungefiltert. USA Der Vater, „Big Jesse“, war ein auto- ritärer Kleinstadt-Polizist, der beson- ders bei den Schwarzen für hartes Durchgreifen bekannt war. „Little Jes- se“ ist Baptist der fundamentalen süd- Saurier aus dem Süden staatlichen Sorte, wurde aber auch zum Grand Orator der Freimaurerloge von Carlos Widmann über den republikanischen Außenpolitiker Jesse Helms North Carolina bestellt. Einer seiner millionenschweren Förderer beging, am weltweiten Linksdrall verzweifelnd, er Boden bebt. Unheimliches dent den Anblick des Senators Helms Selbstmord. Ungewöhnlich an einem Grollen und Grölen drängt aus der nicht mehr ertragen. Die Washington amerikanischen Politiker: Helms hat DErdentiefe dräuend herauf. Über- Post drückt die geheimen Wünsche wei- keinen Studienabschluß. Politische Bil- mannt von Panik und Ekel, schlagen ter Kreise des Establishments durch ei- dung eigener Art hat er sich 1950 ange- Linke und Liberale sich seitwärts in die ne Karikatur aus: Helms, in Napoleon- eignet – als Gehilfe des rassenbewußten Büsche. Zu spät: Fafner gleich, dem Pose als Verrückter dargestellt, wird ei- Senatskandidaten Willis Smith. Riesenwurm, wälzt sich Jesse Helms aus ne mit Epauletten getarnte Zwangsjacke „Weiße Mitbürger, wacht auf, bevor seiner Höhle. Erst hebt er das Haupt überreicht. es zu spät ist!“ stand auf den Wahlplaka- mit dem Basiliskenblick, dann spritzt er ten Smiths zu lesen. „Mein Gegenkandi- Gift und Geifer in die Gegend. dat propagiert die Rassenvermischung. Ein gewisses Image-Problem hatte Als Extremist Wenn Sie das nicht mögen, wählen Sie der gallige Senator aus North Carolina Willis Smith zum Senator.“ Daran ge- seit jeher. Nachdem er aber plötzlich, bekämpft Jesse Helms, Senator des messen, bevorzugt Jesse Helms subtile- durch das Wahldebakel der Demokra- Südstaates North Carolina, seit zwei re Methoden. ten vom 8. November, auf Dauer ins Jahrzehnten alles, was aus seiner Vor seiner Wiederwahl – gegen einen Scheinwerferlicht der Nation gerückt Sicht links ist – von der Abtreibung schwarzen Konkurrenten – ließ er 1990 ist, wird die Psyche vieler Amerikaner, bis zur Entwicklungshilfe. Den Präsi- einen Fernsehspot verbreiten, in wel- besonders der Intellektuellen, von alp- denten Clinton attackierte Helms, chem weiße Hände langsam einen Brief traumhaften Visionen heimgesucht. 73, als Versager. Der Rechtsaußen zerknüllen. Eine Stimme wispert dazu: Der Abscheu reicht bis in Helms’ ei- der Republikaner übernimmt im Ja- „Du hast diesen Job gewollt. Du warst gene Republikanische Partei. Präsident nuar den Vorsitz des einflußreichen der Richtige für diesen Job. Aber ein Reagan, eigentlich kein Linker, auch Außenpolitischen Ausschusses. weniger Qualifizierter hat ihn bekom- kein richtiger Hasser, konnte als Präsi- men. Weil er einer Minderheit ange-

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hört.“ Als einziger prominenter Republi- Alles Multilaterale ist Jesse Helms su- lassen. Die Art, wie der Senator sich kaner widersetzte sich Helms auch dem spekt, bisweilen sogar die Nato, und seit vorletzte Woche mit dem Präsidenten Plan, einen Nationalfeiertag nach Martin jeher ist die Uno sein rotes Tuch, diese anlegte, war geeignet, ihn selbst als Au- Luther King zu benennen. „ewige Heimsuchung Amerikas, die den ßenpolitiker zu disqualifizieren. Helms In den Augen seiner vor allem ländli- US-Steuerzahler auch noch Milliarden hatte behauptet, Clinton sei als Ober- chen Wähler istHelms moralisches Urge- kostet“. Von Friedensmissionen mit kommandierender ein Versager und stein, Prinzipienreiter ohne Fehl. Die dem Segen der Weltgemeinschaft hält er werde von den Militärs nicht ernst ge- Abtreibung hat im Kongreß keinen radi- nichts: Ginge es nach ihm, würden die nommen. Solches ist geeignet, Ameri- kaleren Gegner. Selbst Vergewaltigungs- GIs nicht durchs chaotische Haiti pa- kas Führungsrolle zu schwächen – und opfern will er keinen Schwangerschafts- trouillieren, sondern im kommunisti- überschreitet somit jene Grenze, an der abbruch gewähren. schen Kuba einfallen. in Washington parteiliche Kritik am Womöglich noch leidenschaftlicher ist Daß die Russen einmal Kommunisten Präsidenten traditionell zu enden hat. Helms’ Homophobie, die er mit dem waren, hat Jesse Helms ihnen bis heute Als genügte diese Provokation ihm Witz des Gemütsmenschen zu kaschieren nicht verziehen. Er findet – und mit die- noch nicht, bemerkte Helms danach vor sucht. „Als kleiner Junge lernte ich, die ser Meinung steht er nun nicht allein –, Journalisten, Clinton solle es lieber un- Sünde zu hassen und den Sünder zu lie- daß Clintons Osteuropa-Politik „russo- terlassen, North Carolina zu besuchen; ben“, sagt er oft und gern. „Doch diese zentrisch“ orientiert sei und nichts un- andernfalls müsse der Präsident „eine Brüder mit ihren Schwulenparaden und ternehme, um die einstigen Bestandteile Leibwache mitbringen“, so unpopulär ihren Heiratswünschen können einem und Satelliten des Sowjetreichs in ihrer sei er hier. Wie es dem Zufall gefällt, den zweiten Teil wirklich verleiden.“ Selbständigkeit zu stärken. verkündete Helms diese Weisheit ausge- Sein anderes Lieblingshobby ist es, mo- Doch wenngleich Jesse Helms vom rechnet am 31. Jahrestag der Ermor- derne Kunst als „schweinisch“ zu entlar- Januar an, wenn der von Republikanern dung Präsident Kennedys. ven (wobei ihm manche Künstler weit beherrschte Kongreß seine Arbeit auf- Da mußte sich nun Bob Dole ein- schalten, der künftige Mehrheitsführer der Republikaner im Senat und Aspi- rant auf die Präsidentschaftskandidatur im Wahljahr ’96. Dole kanzelte Helms öffentlich ab und sagte nach einem ver- traulichen Treffen mit ihm, der Senator habe ihm versprochen, derartige „Feh- ler“ nicht zu wiederholen. Die Forderung der Demokraten aller- dings, Helms erst gar nicht den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß übernehmen zu lassen, mußte Dole mit bedauerndem Unterton zurückweisen: Die Republika- ner würden im Senat bei der Bestim- mung ihrer Ausschußvorsitzenden nun einmal das Senioritätsprinzip respektie- ren; außerdem habe Helms ja Besserung gelobt. Am eigenen Temperament wird der Südstaatler freilich so leicht nichts korrigieren können – er liebt nun einmal die Rolle des Stinktiers auf dem Garten- fest. Direkter Gegenspieler, prädestinier-

D. BRACK / BLACK STAR tes Ziel von Helms’ Angriffslust, wäre US-Präsident Clinton beim Truppenbesuch: Als Oberkommandierender versagt? eigentlich Warren Christopher, Clintons farblos-tüchtiger Außenminister, der entgegenkommen) und ihr auch die be- nimmt, bisweilen die außenpolitische seine Beamten schon gegen den Vor- scheidensten Subventionen zu entziehen. Debatte bestimmen wird, brauchen wurf des Senators in Schutz nehmen Gewiß, zwei Drittel der von Helms un- Amerikas Partner noch keinen leibhafti- mußte, sie seien „arrogante Lakaien“. terstützten Gesetzesvorlagen landen im gen Isolationismus zu fürchten. Allein Nur, bald kam das Gerücht auf, Clinton Papierkorb, seine Energie erschöpft sich aus den Launen und Phobien des alten wolle Christopher ohnehin opfern und oft in fruchtlosen Kreuzzügen, und in De- Sauriers läßt sich ja noch keine alternati- durch eine stärkere Persönlichkeit erset- batten wirkt er fast schon als folkloristi- ve Außenpolitik basteln. zen, die Zustimmung auch bei den Re- sche Nummer. Doch ein Jesse Helms im Nur wer sich vergegenwärtigt, wie publikanern finden könnte. Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses? hoch Clinton in der ersten Amtshälfte Drei Namen vor allem waren im Ge- Wird sich da nicht vor aller Welt ein ganz gegriffen hat – als er amerikanische Au- spräch: Madeleine Albright, Clintons anderes Amerika präsentieren? ßenpolitik mit dem Wirken der Weltge- energische Uno-Botschafterin; Walter Auslandshilfe, besonders an Entwick- meinschaft verschmelzen wollte –, muß Mondale, Botschafter in Tokio – sowie lungsländer, bedeutet in den Augen von den Umschwung als radikal empfinden. der gemäßigte republikanische Senator Helms, das gute Geld amerikanischer Von der Umarmung zur Brüskierung und Helms-Rivale Richard Lugar (siehe Steuerzahler in „Rattenlöcher“ zu stop- der Uno nur ein Schritt? Erst die von Interview Seite 150). Gerade die letzte- fen, die dann in der Uno „immer gegen Clinton hergestellte Fallhöhe läßt die re, genialisch anmutende Möglichkeit uns stimmen“. Andererseits ist ihm in der neue Distanz zur Weltgemeinschaft als muß Helms zutiefst verstört haben. Auf weiten Dritten Welt noch kein rechtsge- dramatischen Absturz erscheinen. einmal fand er ein Herz für Christopher richteter Folterknecht begegnet, an dem Bevor er sein hohes Amt übernimmt, und schrieb ihm einen Brief, „freund- er nicht mindestens eine Schokoladensei- hat Helms es beinahe zum Bruch mit schaftliche Zusammenarbeit“ in Aus- te entdeckt hätte. den eigenen Parteifreunden kommen sicht stellend. Y

152 DER SPIEGEL 49/1994 Norwegen Troll, sei du selbst dir genug! Das zweite Nein der Norweger zu Europa / Von Lars Roar Langslet

Langslet, 58, war von 1981 bis 1986 ganz zu versiegen. Unterdessen ist Nor- Die breite Ablehnung der EU läßt Kultur- und Wissenschaftsminister wegens Festlandsindustrie stark ge- sich nun nicht mehr allein mit Konserva- und saß 20 Jahre lang für die Konser- schrumpft. Und die Efta wird bald au- tismus erklären, dafür ist der Begriff zu vativen im norwegischen Parlament. ßer Norwegen nur noch die Zwergstaa- schwach. Beschämt muß man einräu- ten Island und Liechtenstein umfassen. men, daß in Norwegen der Fundamen- ls Henrik Ibsen 1872 in Deutsch- Die Isolationspolitik hat in der Ge- talismus stärker Fuß gefaßt hat als in land weilte, erläuterte er die apar- schichte Norwegens eine starke Traditi- den allermeisten Ländern mit Ausnah- Ate Eigenart der Völker und Staa- on, mit der 1949 gebrochen wurde, als me des Iran. ten auf der skandinavischen Halbinsel Norwegen sich in die Nato begab. Im Es ist ein religiöser und nationalisti- mit dem Hinweis: „Der Norden liegt Kampf um Stimmen für das Referen- scher, staatsrechtlich spitzfindiger und außerhalb des Kulturstroms. Das hat dum präsentierten sich gestandene akademischer Fundamentalismus, von eine unselige Folge. Jedes Entwick- Nato-Gegner plötzlich als Nato-Freun- glühendem Glauben an die eigene lungsstadium wird von uns immer dann de, ohne einzusehen oder gar einzuge- Selbstherrlichkeit beseelt und vollstän- durchlaufen, nachdem es von ganz Eu- stehen, daß die europäische Säule des dig immun gegenüber all den Tatsachen ropa zurückgelegt worden ist.“ Atlantischen Bündnisses künftig die und Argumenten, die ganz deutlich für Heute gilt Ibsens Feststellung nur Westeuropäische Union und damit die eine gegensätzliche Entwicklung spre- noch für Norwegen. Unsere nordischen EU sein wird. Somit kann Norwegen chen. Nachbarn haben sich zu Europa be- auch in der Nato zu einem peripheren Sind wir Norweger wirklich so eigen- kannt, Norwegen dagegen hat Europa Land verkümmern – abhängig von einer artig, so verrückt? Wie läßt sich das zum zweitenmal per Volksabstimmung einseitigen und zunehmend lustloseren schmerzliche Nein überhaupt erklären? eine Abfuhr erteilt. amerikanischen Sicherheitsgarantie. Mit dem Mißtrauen der ländlichen Peri- Nach dem ersten Nein 1972 war hin- Die unheilige Allianz der Neinsager pherie gegenüber dem urbanen Zen- ter den divergierenden Interessen und von 1972 formierte sich auch in der trum? Nicht nur. Dieses Muster wurde Motiven im Lager der Neinsager nur jüngsten Volksabstimmung: Bauern und schließlich auch bei den Volksabstim- ein einziger gemeinsamer Nenner zu Fischer suchten und fanden den Schul- mungen in Finnland und Schweden erkennen: ein tief im Volk veranker- terschluß mit Linkssozialisten und pro- deutlich. Oder probte da gar das Heer ter, ungewöhnlich kraftvoller, ja radi- testantischen Fundamentalisten, mit der Unterprivilegierten den Aufstand kaler Konservatismus. Die allermeisten ökologischen Schwärmern und lebens- gegen eine gutbetuchte Machtelite? Kei- Europa-Gegner wollten mit ihrer Stim- fernen Akademikern – und bekamen neswegs. me ein Bollwerk gegen jede Verände- dabei noch unerwünscht Gesellschaft Es ist aufschlußreich, die sozialen rung und Erneuerung errichten. Sie von Asylanten- und Einwandererhas- Blöcke zu analysieren, die das Neinlager vertraten die Auffassung, daß wir Nor- sern. am großzügigsten unterstützten. Da fällt weger sehr gut allein zurechtkommen. Das hatte damals so- gar einiges für sich. Norwegen verfügte über unschätzbaren Reichtum an Erdöl und Erdgas; die Efta bildete eine solide Plattform für Freihandel und wirtschaftliche Zusam- menarbeit. Wir konn- ten daher weiter sorg- los wie ein Korken auf den Wellen tanzen – auf einem Meer von Erdöl. Heute hat Norwe- gens zweites Nein zur Europäischen Union sehr viel unliebsamere Folgen, die allerdings erst allmählich offenbar werden. In einigen Jah- ren wird die Ölförde- rung abnehmen, um in absehbarer Zukunft Volles Netz und volles Rohr – Europa bleibt da außen vor . . . Süddeutsche Zeitung

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sofort auf: Das Nein Nor- wegens ist der Sieg der „Strohhälmchensauger“. Den einen großen Block stellen die Bauern mit ih- ren machtvollen Verbän- den und ihrem konkur- renzlosen Vertriebsappa- rat. Seit 1972 bezieht die Landwirtschaft staatliche Hilfe in schwindelerregen- dem Umfang; jeder Bauer kassiert jährlich ein durch- schnittliches staatliches Zu- brot von 380 000 Kronen (86 680 Mark). Der Bauernstand mästet sich mit Hilfe von Stroh- hälmchen, durch die seine Mitglieder hemmungslos Honig aus den Waben des Staates saugen. Für dieses Drohnenleben kommen die übrigen Bürger auf, in Form hoher Steuern und

maßlos überzogener Le- FOTO / DPA

bensmittelpreise. SCAN Die Furcht der Bauern, EU-Gegnerin Lahnstein: „So sind wir gute Europäer“ Privilegien zu verlieren, war mithin berechtigt. Und sie hatten ein erhebliches Kontingent stellen, zur kein Problem, diese Furcht in lautstarke extremen Linken. Unterstützung für die Anti-Brüssel-Agi- Die Nej-Königin Anne Enger Lahn- tation umzumünzen: Ihre Verbände und stein gab für beide Blöcke die perfekte Organisationen schwimmen im Geld – Anführerin ab, ist sie doch ein Profi des dem der übrigen Bürger. Öffentlichen Dienstes und gleichzeitig Den anderen Block bildet das „sozio- Vorsitzende einer Partei, in deren Pro- nomische“ Norwegen. Ebenfalls seit gramm die Subventionsforderungen der 1972 hat die Zahl der Angestellten im Bauern den Katechismus bilden. Öffentlichen Dienst ungeheuer zuge- Über den nackten Eigennutz der von nommen, dank eines verschwenderi- ihr Repräsentierten verlor Frau Lahn- schen Umgangs mit den Erlösen aus stein im Kampf um die Stimmen vor dem Erdölexport. dem Referendum kaum ein Wort. Nach Der Personalzuwachs war besonders der Schlacht erdreistete sie sich zu be- stark in den weichen Sektoren, also in haupten, daß ihre Anhängerschaft der der Kinderfürsorge, in den Schulen und Strohhälmchensauger die wahren Hüter im Sozialdienst. der Solidarität, einer sauberen Umwelt Diese Berufstätigen haben ihre Ge- und echter Demokratie seien – „und so hälter nicht einmal sonderlich erhöht. sind wir gute Europäer“. Der Löwenanteil der steigenden öffent- Was für Folgen ergeben sich langfri- stig aus der Absage an die EU? Unsere Wirtschaft muß wohl künftig in einem Norwegen zieht sich noch kälteren Klima überleben. Unser noch tiefer zurück bislang ja nicht unerheblicher interna- tionaler Einfluß wird geschwächt, wir ins Schneckenhaus werden uns auf eine größere Unsicher- heit in einer instabilen Welt einstellen lichen Zuschüsse wurde vielmehr ge- müssen. nutzt, um den Personalbestand aufzu- Verheerender sind die mentalen Fol- blähen – mit dem Ziel, daß jeder Ange- gen. In der heutigen Zeit läßt sich weder hörige des Öffentlichen Dienstes sowe- der Strom von Impulsen noch die Reise- nig Kunden wie möglich zu betreuen lust drosseln, die antieuropäische Agita- hat. tion des Neinlagers wird mithin rasch in Die sozionomischen Blockflöten träu- Vergessenheit geraten. Die insulare men davon, alle übrigen Bürger in Haltung jedoch hat mächtig Auftrieb er- Klienten zu verwandeln und ihre halten. Das kann dazu führen, daß sich Dienstleistungen automatisch finanziert Norwegen noch tiefer in das eigene zu bekommen – ebenfalls über Stroh- Schneckenhaus zurückzieht. hälmchen, die direkt im staatlichen Ho- Eine Mehrheit der Norweger folgte nigstock stecken. Politisch tendiert die- der Beschwörungsformel für Wichtel- ser Block, in dem berufstätige Frauen männer aus Peer Gynt: „Troll, sei du

154 DER SPIEGEL 49/1994 Werbeseite

Werbeseite .

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selbst dir genug!“ Norwegens Neinsa- Außer Funktionsträgern hat die Par- verpflichtet und zu Friedensmissionen ger haben fundamentalen Mangel an tei keine Mitglieder; wie in Japan üblich im Dienst der Uno bereit. internationaler Solidarität, am Willen ist sie ein reiner Abgeordneten-Klub. Aber schon elf Monate nach ihrer zur Zusammenarbeit, demonstriert. Shinshinto setzt sich zusammen aus den Verdrängung von der Macht kehrten die Dabei wäre der gerade für einen wir- Parlamentariern aller derzeitigen Oppo- Liberaldemokraten im Bündnis mit der kungsvolleren Umweltschutz notwen- sitionsparteien, mit Ausnahme der Sozialistischen Partei in die Regierung dig. Indem eine Mehrheit am veralte- Kommunisten. Neun Fraktionen haben zurück. Ozawa gab nicht auf. Für ihn ten Begriff der nationalen Souveränität sich zu einem weitgehend ideologiefrei- bleibt es das oberste Gebot, seine ehe- festhielt, ist Norwegen um die Mög- en Bündnis zusammengeschlossen, das maligen Parteifreunde auf Dauer aus ih- lichkeit gebracht worden, zur Demo- Reformen verheißt, aber allein vom rem Polit-Eden zu vertreiben. Mit einer kratisierung auf europäischer Ebene Willen zur Macht geeint wird. zersplitterten Opposition war das Ziel beizutragen. Y „Ein gemeinsames Programm haben nicht zu erreichen. Deshalb entstand wir eigentlich nicht“, sagt Shinshinto- seine Idee der Shinshinto. Aktivist Kazuo Aichi, Ex-Verteidi- Der ehrgeizige Querdenker möchte Japan gungsminister, „hier haben sich einfach nun Generalsekretär der neuen Partei Parteien zusammengetan, die zufällig werden, um weiterhin im Hintergrund gemeinsam in der Opposition waren.“ die Strippen zu ziehen. Wenn das Hebamme dieser politischen Kopfge- Zweckbündnis hält, könnte er für die Politische burt ist Ichiro Ozawa, 52, einst aufstre- Regierungskoalition bei der nächsten bendes Talent der Liberaldemokrati- Wahl zum bedrohlichen Herausforderer schen Partei (LDP), die von 1955 bis heranwachsen. Kopfgeburt zum vergangenen Jahr alle japanischen Vielleicht ist der Ernstfall schon bald Ministerpräsidenten stellte. Ozawa war da. Ende dieses Monats tritt eine Wahl- Neun Oppositionsfraktionen schlie- rechtsreform in Kraft, die Ja- ßen sich zu einer neuen pans politische Szene nachhal- tig umkrempeln wird. Bisher Partei zusammen. Sie könnte die werden die 511 Unterhausab- Regierung schon bald kippen. geordneten in 129 Wahlkreisen gewählt, pro Kreis sind zwi- schen zwei und sechs Mandate ine Führung durchs Parlament als zu vergeben. Staatliche Wahl- Hauptgewinn und ein „Überra- kampffinanzierung gibt es Eschungsgeschenk“ im Wert von nicht. Künftig wird das Unter- 200 000 Yen (rund 3000 Mark) verlock- haus des Parlaments auf 500 ten etwa 100 000 Japaner, sich an einem Abgeordnete verkleinert: 300 ungewöhnlichen Preisausschreiben zu werden in Einzelwahlkreisen beteiligen: Sie sollten einen zugleich nach relativer Mehrheit be- griffigen und sinnstiftenden Namen für stimmt; 200 Volksvertreter zie- eine neue politische Partei prägen. hen über Regionallisten ins Die „Frische und das Neue unserer Parlament. Gruppe“ müßten darin sichtbar werden, Anspruch auf öffentliche wünschte das Gründungskomitee; auch Gelder haben nunmehr alle möge der Name „Werte wie Umweltbe- Parteien, die mindestens fünf wußtsein und internationale Verantwor- Abgeordnete stellen oder zwei tung“ anklingen lassen. Prozent der Stimmen erhalten. Die Vorschläge reichten von „Hu- Je Wählerstimme zahlt der mane Partei“ bis „Frischer Wind“. Sie- Staat 250 Yen (knapp vier

gertitel aber, ausgewählt von einem Ex- AFP / DPA Mark). pertengremium unter Mitwirkung eines Parteigründer Ozawa: Ehrgeiziger Querdenker Das neue System soll die berühmten Linguisten und einer promi- Korruption bekämpfen und nenten Nacktdarstellerin, wurde Anfang der siebziger Jahre vom dama- den kleinen Parteien zu mehr Chancen- schließlich „Shinshinto“, wörtlich: Neue ligen Regierungschef Kakuei Tanaka gleichheit verhelfen, weil die dicken fortschrittliche Partei, offizielle engli- entdeckt worden, der Japans Symbiose Spenden aus der Wirtschaft bislang fast sche Bezeichnung: „New Frontier Par- von Politik und Geld verkörperte wie nur der LDP zugute kamen. ty“. kein anderer. Es galt als ausgemacht, Derweil rumort es in der Regierungs- Der Aufbruch zu neuen Ufern soll am daß Ozawa es zum Premier bringen koalition. Um des Machtpaktes mit der kommenden Wochenende in Yokohama würde. LDP willen hat der Premier ideologi- auf dem Gründungsparteitag erfolgen. Doch 1992 geriet der Aufstieg ins sche Grundpositionen der Sozialisten Shinshinto wird mit 187 Abgeordneten Stocken, Ozawa verlangte immer hefti- geräumt. Etlichen Genossen geht die im Unterhaus zweitgrößte Kraft sein – ger eine Modernisierung der verkruste- Selbstkasteiung entschieden zu weit. Sie weit vor den Sozialisten des Minister- ten Parteistrukturen. Im Sommer ver- drohen mit einer Spaltung der Partei. präsidenten Tomiichi Murayama, die in gangenen Jahres war er es, der eine Ein Sozialistenschisma aber wäre das ihre Koalition mit den Liberaldemokra- Gruppe von LDP-Parlamentariern ver- Ende der Regierung Murayama. ten (201 Sitze) nur 73 Abgeordnete ein- anlaßte, aus der Partei zu desertieren, Schon umwirbt die Shinshinto unzu- bringen. und so den Sturz der scheinbar all- friedene Sozialisten als künftige Bünd- „Es ist schön“, schwärmt der Shin- mächtigen Liberaldemokraten einleite- nispartner. Die jetzige Opposition stehe shinto-Parlamentarier Kunio Hatoya- te. In einem international beachteten „uns näher als der Premier“, sagt ein ma, ehemaliger Bildungsminister, Manifest entwarf er seine „Blaupause Sprecher der abtrünnigen Linken, „wir „wenn im Namen schon der Charakter für ein neues Japan“ – eine offene und könnten nach der Wahl eine Koalition so deutlich wird.“ „normale“ Nation, dem Freihandel bilden“. Y

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Aids „Sie werfen alles über Bord“ In den achtziger Jahren hatten die Schwulen San Franciscos die Welt verblüfft. Gleichsam über Nacht änderten sie ihr sexuelles Verhalten und hielten damit die HIV-Infektionen in Schach – ein Pyrrhussieg, wie sich herausstellt: In sechs Jahren, schätzen Experten, wird jeder zweite Schwule in San Francisco HIV-positiv sein.

ür Steven Gibson, 28, dau- erte der Morgen danach Felf quälende Monate. Dann erst fühlte sich Gibson, ausgebildeter Sozialarbeiter und Aids-Berater in einer Kondomerie in San Francisco, „endgültig erlöst“. Zwei HIV-Tests hatte Gib- son hinter sich, beide waren negativ ausgefallen. „Der Tag meiner absolut schwächsten Stunde“, sagt Gibson, „war folgenlos geblieben.“ Mit fahrigen Bewegungen streicht er sich die langen Haarsträhnen aus dem hage- ren Gesicht, wenn er von „jenem Abend“ im Februar letzten Jahres berichtet und von „jenem Freund“, an des- sen Vornamen er sich nicht er- innert und den er seither auch nicht mehr gesehen hat. Nur „daß er darauf bestand, daß ich ihn ohne Kondom ficke

und ich es auch getan habe“, IMPACT VISUALS das weiß er noch genau. Heute Schwulen-Sexklub in San Francisco (1989): „Wir glaubten, die Sache im Griff zu haben“ wie damals ist Gibson über sich „erschrocken“: Ungeschützter Diese Überzeugung vertritt Dana Gabriel De Soto, 22, dessen Eltern Analverkehr, das wisse „in San Francis- Van Gorder, 38, der in der städtischen aus Mexiko ins texanische Dallas über- co mittlerweile jeder Schwule“, sei ein Gesundheitsbehörde sämtliche Hilfs- siedelten, hat es nach eigener Aussage „absolutes No“. Und noch immer „heil- programme für die in San Francisco le- immer mit Kondom getrieben. „Meine los verwirrt“ ist er über das Gespräch benden etwa 100 000 Homosexuellen Mutter hat es mir eingebleut, seit ich an- nach dem riskanten Akt. „Mein Part- koordiniert. „Besonders erschreckend“ fing, mit Mädchen zu schlafen.“ Da war ner“, erinnert sich Gibson, „hat ge- sind für ihn die neuesten Daten aus der er 14, mit 17 wurde er „langsam glaubt, ich sei HIV-positiv.“ „jungen Schwulen-Generation“. schwul“. Vor zwei Jahren ist er nach San Was Gibson, der inzwischen als Nahezu vier von zehn Schwulen im Francisco gezogen, angelockt vom libe- Streetworker beim HIV-Aufklärungs- Alter von 17 bis 22 Jahren, so das Er- ralen Schwulen-Image der Stadt, die projekt „Stop Aids“ arbeitet, so schwer gebnis einer Umfrage unter Besuchern ihm „ein schmerzloses Coming-out“ er- erschüttert hat, widerfährt in der ameri- einschlägiger Schwulen-Treffpunkte in möglichte. kanischen Westküsten-Metropole nicht San Francisco, hatten in den vorange- Gabriel, der Latino aus dem konser- wenigen Homosexuellen; verstört be- gangenen sechs Monaten ungeschützten vativen Dallas, dem die schwarze Lok- gegnen sie einer neuen, wieder sorglo- Analverkehr. kenpracht bis auf die Schultern fällt, sen Generation von Schwulen, die aus Die Folgen dieser „neuen Sorglosig- lebt mit einem Freund zusammen. Der den traumatisierenden Erfahrungen der keit“ (Van Gorder) zeichnen sich be- sei „HIV-negativ wie ich“, doch „Kon- Älteren offenbar nichts gelernt hat. reits ab. Bei den unter 30jährigen dome sind ein Muß“, weil keiner von Seuchenstatistiken und Ergebnisse Schwulen San Franciscos steigt die HIV- beiden monogam ist: „Wer ist das schon von Verhaltensstudien, Berichte und Infektionsrate, die Ende der achtziger in San Francisco?“ fragt Gabriel, der für Beobachtungen aus der Schwulen-Szene Jahre noch einen deutlichen Abwärts- das Aids Office der Stadt in den Stri- sowie Erfahrungen von freiwilligen trend aufwies, wieder steil an; sie lag im cherbars der Polk Street unterwegs ist. Hilfsorganisationen und offiziellen Ge- letzten Jahr viermal so hoch wie noch Dort verteilt er Kondome und Aufklä- sundheitswächtern deuten darauf hin, 1987. Jeder zweite der heute 20jährigen rungsbroschüren und bemüht sich, seine daß sich im Schwulen-Mekka San Fran- Schwulen wird, wenn er 30 ist, nach Klientel auf Safer Sex einzuschwören. cisco „die Geschichte, was Aids betrifft, Überzeugung von Seuchenmedizinern Viele HIV-positive Freunde habe er zu wiederholen beginnt“. mit dem Aids-Erreger infiziert sein. nicht, an Aids erkrankte schon gar

158 DER SPIEGEL 49/1994 . TOERGE / BLACK STAR FOTOS: D. Homosexuelle Gibson, Taylor*: „Das große Sterben bei uns beginnt im nächsten Jahrhundert“

nicht. „Aids-Tote kenn’ ich nur aus dem gestiegen; 13 340 von ihnen sind an den Mittlerweile 160 Organisationen sind Fernsehen“, sagt Gabriel. Doch über die Folgen von Aids bereits gestorben. Die in einem „Quellen-Handbuch“ verzeich- Epidemie weiß er Bescheid, er kennt die Zahl der HIV-Infizierten liegt in San net, das die San Francisco Aids Founda- Statistiken und Risiken; was die Zukunft Francisco bei über 30 000 Menschen, wo- tion herausgegeben hat. Die Liste um- seiner schwulen Altersgenossen betrifft, möglich noch höher. faßt – von Aids-Kliniken und HIV-Test- da macht er sich nichts vor: „Bei uns be- In keiner anderen US-Stadt hat die labors, Suppenküchen und Drogenent- ginnt das große Sterben imnächsten Jahr- Seuche, bezogen auf die Bevölkerungs- zugsprogrammen bis zu Selbsthilfegrup- hundert.“ zahl (724 000 Einwohner), ärger gewütet pen und Beerdigungsunternehmen – alle Im Juli 1981 waren in San Francisco die als in San Francisco. Nirgendwo sonst öffentlichen und privaten Institutionen, ersten acht Aids-Fälle registriert worden. aber auchwerden Aids-Kranke undHIV- die Infizierten und Kranken irgendwann Die Zahl war bis Ende vorletzten Monats Infizierte so engagiert behandelt, so be- und irgendwie helfen können. auf insgesamt 20 362 „People with Aids“ hutsam überwacht und so eindringlich Diesem beispiellosen Netzwerk von vor der Aids-Gefahr gewarnt wie in der Organisationen, deren ineinandergrei- * Rechts: im Schwulen-Sexklub „Eros“. Stadt am Goldenen Tor. fendes Wirken das „San-Francisco-Mo-

„Planetarer Notstand“ wachsen, warnten WHO-Vertreter letzte Woche in Paris. Eine rote Schleife, Symbol der Ver- Die Aussicht, dem „planetaren Not- bundenheit mit den Aids-Kranken, stand“ (so Konferenzteilnehmer schmückte auf halber Höhe den Eif- Uno-Generalsekretär Butros Butros felturm. Auf den Champs-Elyse´es Ghali) mit medizinischen Mitteln bei- blockierten Aids-Aktivisten den Ver- zukommen, ist gering, ein Impfstoff kehr, um den Tribut der Politiker ein- nicht in Sicht, ebensowenig ein Heil- zufordern: Regierungschefs und Ge- mittel. Nun soll nach dem Willen der sundheitsminister aus 42 Nationen Konferenzteilnehmer die Aids-Auf- trafen sich am Donnerstag letzter klärung verstärkt und der Gebrauch Woche zu einer Welt-Aids-Konferenz von Kondomen weiterhin propagiert in Paris. Beraten von den Fachleu- werden. ten, kamen die Politiker zu der we- Wie begrenzt der Erfolg solcher Er- nig überraschenden Einsicht, daß ziehungsmaßnahmen ist, zeigt das die Seuche Aids sich weltweit zu ei- Beispiel des amerikanischen Schwu- ner schweren sozialen und medizini- len-Mekka San Francisco. Dort war schen Krise entwickelt habe. Vier es in den achtziger Jahren gelungen, Millionen Menschen erkrankten al- die damals noch sexuell riskant le- lein in diesem Jahr an der tödlichen benden Homosexuellen zu einer Ver- Immunschwäche, 60 Prozent mehr haltensänderung zu bewegen. Neue als im Vorjahr. Weitere 17 Millionen Untersuchungen zeigen, daß die sind HIV-positiv, tragen also den Safer-Sex-Botschaft schon wieder in Aids-Erreger in sich. Bei derzeit Vergessenheit geraten ist: Der 6000 Neuinfektionen pro Tag wird Schwulen-Nachwuchs lebt zuneh-

im Jahre 2000 die Zahl der HIV-Infi- SIPA mend riskanter. Muß die Aids-Prä- zierten auf 20 bis 30 Millionen an- Aids-Demonstration in Paris vention wieder bei Null anfangen?

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dell“ darstellt, verdankte die Stadt in den den er irgendwo in Middle America be- Mann, mit 17 den ersten HIV-Test, achtziger Jahren den „weltweit wohl stiegen hat, weiß, was Aids ist“, meint und zur Zeit habe ich drei- bis fünfmal größten Erfolg eines öffentlichen Ge- Johnny Symons, Manager des auf den Sex pro Tag.“ Bitte wie? „Ich liege un- sundheitsprogramms“, sagt George Schwulen-Nachwuchs ausgerichteten ten, ich bin der Empfänger, und ich Lemp vom Aids Office. Projekts „Q Action“. verstehe es inzwischen genau“, sagt Mit einem gewaltigen finanziellen Doch wiesich der Jüngling aus der Pro- Taylor selbstbewußt, „mich zu verge- Kraftakt –inzwischen mehr alseine Milli- vinz als Schwuler unter seinesgleichen zu wissern, daß mein Partner sein Kon- arde Dollar –und dem aufopfernden Ein- verhalten habe – das sei ihm weder in der dom drauf hat.“ satz der städtischen Schwulen-Gemeinde Schule noch im Elternhaus beigebracht Neben der ersehnten sexuellen Er- war es damals gelungen, den erschrek- worden. Symons: „Es ist nicht damit ge- füllung hat Taylor in San Francisco kenden Vormarsch der Seuche zu brem- tan, ein Kondom rüberzurollen. In einer auch einen Job gefunden, der seinen sen. Stadt, wo Schwule überall und jederzeit Neigungen entspricht. „Bei der Marine Mit aggressiven Safer-Sex-Program- problemlos Sex haben können, muß man habe ich die Kombüsen geschrubbt“, men wurde bei den Schwulen „buchstäb- die Spielregeln kennen und die Verhand- sagt Taylor; im Eros-Klub, einem lich über Nacht“ (The New York Times) lungstechniken beherrschen.“ Schwulen-Sex-Etablissement in der Nä- he des Castro-Bezirks, fegt und feudelt er, „was in den heißen Stunden der Nacht“ so alles anfällt: gebrauchte Kondome und verspritzte Gleitmittel etwa. Die Freude, die der schwule Putzge- hilfe (Wochenlohn: 200 Dollar) aus- strahlt, scheint jedoch eher eine Aus- nahme zu sein. „Wir sollten gegen die depressive Grundstimmung in unserem Bezirk den Stimmungsaufheller Prozac ins Trinkwassernetz des Castro-Viertels geben“, sagt der Psychotherapeut Tom Moon, 46, HIV-negativ trotz langjähri- gen Zusammenlebens mit einem HIV- positiven Partner, der „als einer der ersten an Aids zugrunde ging“. Aus seinen Gruppenseminaren und den etwa 25 wöchentlichen Einzelge- sprächen mit seinen schwulen Klienten weiß Moon von „Rissen“ zu berichten,

D. TOERGE / BLACK STAR die sich in der einst festgefügten Homosexueller De Soto: „Wer ist schon monogam?“ Schwulen-Gemeinde der Stadt auftun und die derzeit unter dem Stichwort eine Verhaltensänderung bewirkt, die Das kann dauern. Denn die potentiel- „virale Apartheid“ diskutiert werden. niemand für möglich gehalten hatte; ge- len Lehrer, die 30- bis 50jährigen Moon: „Nahezu jeder zweite Schwu- radezu ruckartig sank die Zahl der HIV- Schwulen, „haben uns leider nicht den le dieser Stadt ist HIV-positiv oder Neuinfektionen von 5300 im Jahre 1984 roten Teppich ausgerollt, als wir hier an- Aids-krank“, was aber bedeute: „Jeder auf nur 1100 im folgenden Jahr. kamen“, erinnert sich John Taylor, 24. zweite ist HIV-negativ und demnach Der Trend, bewirkt vor allem durch Der Sohn einer Französin und eines hai- nicht angewiesen auf das engmaschige Kondome und durch Einschränkungen tianischen Voodoo-Priesters stammt aus Versorgungs- und Servicenetz des San- bei der Häufigkeit des Partnerwechsels, New Orleans. Vor vier Jahren musterte Francisco-Modells.“ Die Folge: Die setzte sich zwei weitere Jahre fort. „1987 Negativen fühlten „sich aus der Schwu- glaubten wir, die Sache im Griff zu ha- len-Gemeinschaft ausgegrenzt“. ben“, sagt Stop-Aids-Direktor Dan „Früher war die Sex- Für viele von ihnen, die „ähnlich wie Wohlfeiler: „Wir machten unser Büro Szene halb verborgen, die überlebenden Juden nach dem Ho- zu – und drei Jahre später ganz schnell locaust“ (Moon) zudem noch die Last wieder auf.“ aber doppelt so heiß“ mit sich herumtragen, die Epidemie Denn die Siegesmeldungen erwiesen überlebt zu haben, während dutzend- sich als voreilig. Seit nunmehr sieben er bei der Handelsmarine ab und ging weise Freunde und Lover wegstarben, Jahren steigt die Zahl der Neuinfektio- in San Francisco von Bord, um „mir gebe es häufig nur einen gleichsam nen von Jahr zu Jahr wieder an. 690 hier meine sexuellen Träume zu erfül- selbstmörderischen Ausweg. Moon: HIV-Tests mit positivem Befund wur- len“, sagt der untersetzte junge Mann „Sie werfen alles über Bord, was ihnen den 1993 gemeldet. Mit „wenigstens und legt artig seine Stickarbeit aus der ihr Verstand sagt, und kehren zurück 1000 neuen HIV-Ansteckungen, haupt- Hand. zu ungeschütztem Sex.“ sächlich in der Gruppe der 20jährigen“, „Gierig“, auch „etwas neidisch“ ha- So wie Dana Van Gorder, der, ob- rechnet Dana Van Gorder in diesem be er den „alten Gays“ gelauscht, wohl HIV-negativ, vor drei Jahren die Jahr. wenn sie von den siebziger Jahren er- riskanten Sexpraktiken wiederauf- Was diese Trendwende ausgelöst hat, zählten, als die „Sex-Szene noch halb nahm. Van Gorder hatte Glück. Er in- ist ungewiß; Seuchenmediziner, Vorsor- im verborgenen lag, aber doppelt so fizierte sich nicht und griff auch bald geexperten und Kenner der Schwulen- heiß war“. wieder zum Kondom. Szene bieten unterschiedliche Erklärun- Über mangelnde Wärme mag Tay- Zur Safer-Sex-Rückkehr, sagt er, gen an. lor, der sich auch aufs Schneidern und hätten ihn aber nicht seine schwulen „Jeder junge Schwule, der in San Töpfern versteht, dennoch nicht kla- Freunde überredet, „sondern strikt he- Francisco den Greyhound-Bus verläßt, gen. „Mit 13 hatte ich meinen ersten terosexuelle Bekannte“. Y

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der Schweiz in die undurchsichtigen Ka- Club im Visier. Bei Bäcker Hospenthal Schweiz näle der Club-Zentrale im hessischen und anderen Werbern beschlagnahmten Gelnhausen – zusammen mit 700 Millio- sie Zehntausende von Franken, etliche nen aus Deutschland und Österreich. EKC-Führer sitzen seit Monaten in Un- Typisch ist der Fall eines Automecha- tersuchungshaft. Nach einem Werbe- Blökende nikers, der den Kings sein ganzes Geld meeting im österreichischen Klagenfurt überließ. Darauf kündigten ihm die wurde am 18. November auch die cha- Banken alle Kredite, er mußte seine rismatische Einpeitscherin Bertges fest- Schafe Werkstatt schließen, jetzt droht ihm der genommen. Nun wartet sie auf die Aus- Konkurs: „Das ist mir egal“, sprach er lieferung an die Schweizer Justiz. Die Justiz jagt den Anlegerverein selig in eine TV-Kamera, „auch wenn Die Strafverfolger werten das EKC- European Kings Club. Nun sie mir das Haus wegnehmen, ich finde System als Anlagebetrug. Denn Rück- mich mit allem ab, wenn ich nur Kings- zahlungen sind nur möglich, solange fri- droht vielen vertrauensseligen Club-Mitglied bleibe.“ sches Kapital nachfließt. Daß das bar Kleinbürgern der Bankrott. In der Schweiz gilt der EKC als illega- eingesammelte und nach Deutschland le Organisation, das Bundesgericht ver- verfrachtete Geld angelegt wird, konn- bot ihm jede Tätigkeit und verfügte die ten Bertges und ihr Partner, der frühere osef von Hospenthal erfreute seine Auflösung. Seither haben Untersu- Bundeswehrarzt Hans Günther Spacht- Kunden in Brunnen am Vierwald- chungsrichter in zehn Kantonen den holz, nie belegen. Jstätter See 22 Jahre lang mit feinem Doch das beeindruckt das Schweizer Backwerk. Jetzt ist sein Laden zu, das Fußvolk nur mäßig. Die rund 500 Be- Haus „Zum Schwanen“ steht zum Ver- treuer suchen, allen Verboten zum kauf, die Banken haben alle Kredite ge- Trotz, immer noch neue Anleger – der- kündigt. zeit vor allem im Kanton Wallis. Weil Er sei ein Opfer des „Weltkapitals“, die fälligen Renditezahlungen „wegen behauptet der Eidgenosse mit dem adli- der Behördenhatz“ gerade nicht mög- gen Namen, „denn die Botschaft, die ich lich seien, raten sie, die Guthaben gleich hier unter die Leute bringe, ist ein Stör- in neue Letters umzuschreiben. faktor für dessen Geschäfte“. Viele gehen darauf ein. Für sie ist der Der Bäcker aus dem Kanton Schwyz EKC längst mehr als eine Geldmaschi- gehört zu den Spitzenmanagern der du- ne. Der Club vermittelt das prickelnde biosen Anlegerorganisation European Gefühl, zu jener Glitzerwelt zu gehören, Kings Club (EKC). Seit ihm die deut- die viele nur aus Bilderblättern kennen. sche Club-Chefin Damara Bertges, 39, Begeistert jubeln sie ihrer Queen Bert- vor zwei Jahren für ein 30 000 Franken- ges zu, die predigt: „Und ist der Ruf erst Investment 71,43 Prozent Jahresrendite ruiniert, so lebt sich’s erst recht unge- offerierte, sorgte er dafür, „daß die niert.“ Goldsuppe richtig verteilt wird“. Pro Auch der Schwyzer EKC-Präsident Anlagezertifikat über 1400 Franken, Hospenthal und seine Frau Käthy pro- „Letter“ genannt, versprach er seinen pagieren den Mammon-Kult. Den Kapi- „Mandanten“ als Rückzahlung zwölf talismus erklären sie ihren Anhängern

Monatsraten von 200 Franken. KEYSTONE ZÜRICH als gigantisches Ausbeutungssystem, Wohl 30 000 Schweizer vertrauten Deutsche EKC-Chefin Bertges welches das Volk im Auftrag von Ban- bisher der wundersamen Geldvermeh- 71,43 Prozent Jahresrendite ken und Politikern in Abhängigkeit hal- rungsmaschine – in den te. Der Kings-Club dage- Kantonen Uri und Gla- gen, sagt die Frau des rus jeder zehnte Erwach- Bäckers, sei „eine Verei- sene und immerhin 3 von nigung von Leuten, die 100 im benachbarten nicht mehr als Schafe in Kanton Schwyz. der Herde mitblöken Die zumeist wenig ge- wollen“. bildeten und in Gelddin- So indoktriniert, ge- gen unerfahrenen Anle- hen die konservativen ger steigerten sich in eine Innerschweizer mit Fah- Profit-Psychose. Viele nen und Transparenten gaben ihren Beruf auf, gegen die Verschwörung nachdem sie am ver- des Großkapitals auf die meintlichen Reichtum Straße. Beim Querfeld- gerochen hatten. Bau- ein-Radrennen (Haupt- ernsippen leerten ihre sponsor EKC) im Schwy- Sparbüchsen, bedächtige zer Dorf Wangen trotz- Familienväter belasteten ten im Oktober tausend ihre Eigenheime, Hun- wackere Aktivisten der derte Gastarbeiter aus Staatsgewalt, welche die Ex-Jugoslawien ließen illegale Werbeaktion be- sich zu dem einmaligen enden wollte – allerdings Reibach überreden. AURA nur sehr halbherzig. An die 300 Millionen Denn in Schwyz ist jeder

Franken, schätzen die E. AMMON / zehnte Ordnungshüter Behörden, flossen aus EKC-Manager Hospenthal: „Die Goldsuppe richtig verteilen“ EKC-Mitglied. Um dem

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Widerstand mehr Schub zu geben, gründeten die Inner- schweizer Club-Manager ih- re eigene Partei. Aufgereizt durch „das pogromartige Vorgehen verschiedener Ju- stizbehörden“, wollen sie den Bürgern „die Mecha- nismen der Umverteilung sozialer und freier Markt- wirtschaft näherbringen“. Die Wandlung des EKC vom finanziellen Pyrami- denspiel zur Politsekte be- stätigt die Erfahrung des Schwyzer Untersuchungs- richters Josef Dettling: „Mit juristischen Mitteln allein ist der Hysterie nicht beizu- kommen.“ Je klarer abzusehen ist, daß viele Ersparnisse futsch sind, desto höher steigt das

Fieber. „Ich muß mich vor SYGMA nichts fürchten“, protzt Par- Mörder Dahmer (M.) vor Gericht 1992: „Ich bin zu weit gegangen, soviel steht mal fest“ teivorstandsmitglied Ho- spenthal, „Dettlings und Co. müssen mert. Über die Motive des Täters, des ein Loch in den Kopf gebohrt und Säure sich fürchten.“ farbigen Mithäftlings Christopher Scar- hineingegossen hatte.“ Die Untersuchungsrichter erhalten ver, war man sich zunächst uneins – Der Menschenfresser, der in der Fol- wüste Drohungen. Dettlings Post wird nicht weil es nach Ansicht der Öffent- ge Bücher, Filme und Kartenspiele für auf Briefbomben untersucht, oft muß er lichkeit zu wenige, sondern zu viele Killerfans inspirieren sollte, hatte sich unter Polizeischutz arbeiten. Auch seine gute Gründe gab. bei seiner Verhaftung 1991 gefaßt und Kollegin im Kanton Glarus lebt mit Denn der Erschlagene war kein an- schuldfähig gegeben. Auf makabre Art Morddrohungen. Die Polizei riet ihr, ei- derer als der „Dämon“, das „Mon- einsichtig, sagte er: „Ich bin zu weit ge- ne Waffe zu tragen. ster“, der „Zögling des Satans“: Jef- gangen, soviel steht mal fest.“ Die Zockerspielkasse der Schweizer frey Dahmer, 34, der 16 zumeist farbi- Die Polizisten, die mit Atemschutz- ist bald leer. Für neue Letters werden ge Jugendliche und junge Männer zwi- masken in sein surreales Schlachthaus in nur noch 43 Prozent Zinsen verspro- schen 1978 und 1991 getötet, zerlegt Milwaukee eindrangen, fanden Reste chen. „Zu Weihnachten“, prophezeit und teilweise verspeist hatte. Die New von elf verschiedenen Körpern: einen Dettling, „ist alles aus.“ Yorker Daily News erkannte in seinem Thron aus Knochen, drei Köpfe, fünf „Was dann auf uns zukommt“, meint Ende höhere Kannibalen-Gerechtig- Schädel, fünf Skelette, Schachteln mit ratlos ein leitender Sozialhelfer in Uri, keit: „Dahmer kriegte, was er verdien- abgetrennten Händen, die Genitalien „können wir noch gar nicht abschätzen. te.“ eines Mannes in einem Hummertopf, Wir machen uns auf alles gefaßt.“ Y Die Angehörigen von Dahmers Op- Lungen, Nieren und Lebern in der Ge- fern konnten mit ihrem Jubel und ih- friertruhe. Ebenfalls dort: ein menschli- ren Tränen noch am selben Tag den ches Herz, das Dahmer „später essen Verbrechen Fernsehshows des Landes zugeführt wollte“. Er verspeiste die Herzen seiner werden. Und noch einmal durfte die Opfer, „damit sie ein Teil von mir wur- interessierte Öffentlichkeit in den Tra- den“. gödien und Perversionen um den wohl Dahmer wurde zu einer 16fachen le- Zögling berühmtesten aller amerikanischen Se- benslangen Haftstrafe verurteilt, wäh- rienkiller wühlen. rend die Angehörigen der Ermordeten Noch einmal wurde das Leben eines sich in einer Selbsthilfegruppe zusam- des Satans Freaks aufgerollt: seine jugendliche menschlossen, um mit ihren Schrecken Vorliebe für das Häuten von Tieren und Traumatisierungen nicht allein zu Serienmörder und Kannibale Jeffrey und das Zerhacken von Puppen; seine sein. Dahmer im Gefängnis Alkoholexzesse schon in der Schule; Der Killer hatte seine Opfer verding- sein erster Mord mit 18 Jahren; seine licht. Nun wurden sie erneut zu Objek- erschlagen – auch sein Tod wird besessene Lust an dem Film „Exorzist ten gemacht – von einem stets nach neu- jetzt vermarktet. III“; seine Vorliebe dafür, die Opfer en Einzelheiten gierenden Markt. zu betäuben und lebendig zu zerstük- Therapeut Jim Flores: „Jedesmal, keln. wenn sich die Wunden zu schließen lle hatten mit einer Attacke gerech- Fast schien es, als spreizten sich die schienen, kam ein neues Comic-Heft, net, auch das Opfer selbst. Anfang Hinterbliebenen mit makabren Zitaten ein neuer Film heraus. Und wieder wa- Avoriger Woche, in einem Hochsi- aus den Vernehmungsprotokollen des ren Dahmers Opfer keine Menschen, cherheitsgefängnis des US-Bundesstaats Mörders, etwa die Schwester des Op- nur Produkte.“ Wisconsin, war es soweit. In den frühen fers Errol Lindsey: „Es war mein Bru- All das hielt die Familien der Hinter- Morgenstunden wurde Häftling Num- der, der während der Tortur aufwachte bliebenen indes nicht davon ab, selbst mer 177 252 beim Toilettenputzen mit und sagte: ,Ich habe Kopfschmerzen, zu versuchen, aus dem öffentlichen In- einem Besenstiel der Schädel zertrüm- wie spät ist es‘, nachdem ihm Dahmer teresse am Dahmer-Fall Kapital zu

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schlagen. Derzeit streben sie die Verfü- schieden sind, mit Hilfe von Anwälten gung über die Gegenstände aus Dahmers um die sterblichen Reste des Sohnes. Wohnung an. Sie wollen Säge, Hammer, Dahmer war eben nicht nur die verab- Zahnbürste oder auch den 55-Gallonen- scheute Bestie, sondern auch der von Bottich, in dem der Mörder die Körper- manchem verdrehten Gemüt verehrte teile mit Säure zersetzte, versteigern las- Kultheld. Im Gefängnis erhielt er Post sen. Tom Jacobson, der Anwalt der Fa- wie ein Schlagerstar. Fans schickten ihm milien, schätzt den möglichen Erlös auf Tausende von Dollars. Dahmer kaufte über 100 000 Dollar, denn die Faszinati- sich davon unter anderem christliche Li- on des Perversen ist groß. teratur und Kassetten mit gregoriani- Von dieser Faszination nähren sich schen Chorälen und Walgesängen. nicht nur Talk-Shows mit ihren geheu- Daß Dahmers Leben von Mithäftlin- chelten öffentlichen Beichten und nicht gen bedroht war, wußten die Behörden. minder verlogenen öffentlichen Absolu- Er war ein Kinderschänder, das Aller- tionen. Auch der Buchmarkt sucht mit- letzte in der Knasthierarchie. Er hatte zuverdienen. vorwiegend Farbige umgebracht, was Nach Dahmers Verurteilung erschie- rassisch motivierte Vergeltungsakte na- nen nicht nur Serienmörderromane im helegte. Doch inersterLinie war Dahmer Dutzend, auch Dahmers Vater wurde als eine Berühmtheit. Und nach den atavisti- Autor engagiert. Er spürte dem fürchter- schen, kannibalischen Gesetzen der Me- lichen Verlangen seines Sohnes nach, diengesellschaft wird der Mörder einer Berühmtheit selbst eine. Im ersten Jahr seiner Haft wurde Dah- Im Gefängnis mer daher isoliert. Doch später hob die erhielt er Post wie Gefängnisleitung die Sicherheitsquaran- täne auf, auch auf Dahmers eigenen ein Schlagerstar Wunsch hin. Dabei blieb es, selbst nach- dem ein Häftling in der Gefängniskapelle „Zombies zu erzeugen“, vollständige versucht hatte, Dahmer mit einem selbst- Kontrolle über seine Opfer zu erhalten, gefertigten Rasiermesser die Kehle und entdeckte das Monster in sich durchzuschneiden. selbst: „Heute erscheint es mir merk- Zwanzig Minuten lang blieb der Le- würdig, daß ich im Gerichtssaal saß und benslängliche Christopher Scarver, der die furchtbaren Beweise der Geistes- sich selbst für Gottes Sohn hält, am ver- krankheit meines Sohnes zur Kenntnis gangenen Montag morgen mit Dahmer nahm, ohne mir klarzumachen, daß die- und einem weiteren Häftling unbeauf- selben Bedürfnisse und Impulse ein sichtigt. Lange genug, um dem „Mon- schattenhaftes Dasein in mir selbst ge- ster“ den Schädel zu zerbrechen – und führt hatten.“ womöglich den Grundstein für eine neue Kritiker David Nicholson urteilte Legende zu legen, die des Rächers. über das Buch in der Washington Post: „Wir können nur hoffen, daß der Täter „Immer wenn man denkt, daß die Ver- kein neuer Volksheld wird“, sagte Staats- lagswelt nicht tiefer sinken kann, er- anwalt Michael McCann. „Ich wäre aller- scheint ein Buch wie dieses.“ Nun strei- dings nicht überrascht, wenn es doch pas- ten Dahmers Eltern, die seit langem ge- sierte.“ Y AP Spurensicherung in Dahmers Wohnung: Nieren und Lebern in der Gefriertruhe

DER SPIEGEL 49/1994 167 Werbeseite

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KULTUR

SPIEGEL-Gespräch „GELASSEN WÄR’ ICH GERN“ Der Schriftsteller Peter Handke über sein neues Werk, über Sprache, Politik und Erotik C. SATTLBERGER / ANZENBERGER Autor Handke in Chaville: „Ich hänge an Deutschland – wie konnten diese Verbrechen gerade dort passieren?“

SPIEGEL: Herr Handke, Ihr neues Buch Handke: Ja, genau vom 11. Januar bis Handke: Ja, wir sind in einer chancenrei- „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ um- zum 18. Dezember 1993. Mit den drei chen Situation. Wir können wirklich los- faßt 1072 Seiten. Lesen Sie selbst gern Korrekturgängen fing dann eine neue legen, von neuem – nicht postmodern, so dicke Bücher? Zeit an, eine Zeit zwischen Panik, aber im Sinne einer neuen Moderne. Handke: Es gab eine Zeit, als ich die Schwermut und Erleichterung: sieben Wir haben die Chance, ohne all diese sehr gern gelesen habe, Stifters „Nach- Wochen, drei Wochen und drei Tage. Ideologien universell zu werden. sommer“, Musils „Mann ohne Eigen- SPIEGEL: Fühlen Sie sich jetzt leer? SPIEGEL: Genauer bitte. schaften“, Goethes „Wahlverwandt- Handke: Das hat mich mein Verleger schaften“. Dann nicht mehr. auch gefragt, als er mir das Buch über- SPIEGEL: Wie sind Sie dennoch in den reichte. Ich fühle mich unruhig, nervös – Peter Handke Klub der Wälzer-Autoren geraten? und gleichzeitig guter Dinge. Das Handke: Ich wollte es einmal schaffen, Schreiben fehlt mir nicht. ließ sich von seinen frühen sprachkriti- mit dem Schreiben die vier Jahreszeiten SPIEGEL: Ihr Buch ist bisher mit weni- schen Bühnenwerken („Publikumsbe- durchzukommen. Das Schreiben der gen Ausnahmen sehr positiv aufgenom- schimpfung“, „Kaspar“) nicht daran Bücher davor hat jeweils höchstens zwei men worden, in der neuen Bestenliste hindern, der Sprache seinen Schmerz Jahreszeiten gedauert. des Südwestfunks steht es auf Platz 1. über den Selbstmord der Mutter anzu- SPIEGEL: Nun waren es vier? Das könnte bedeuten: Die Epoche, in vertrauen („Wunschloses Unglück“, der Literatur stets sachlich, ehrlich, auf- 1972). Fortan galt ihm der „Erzähler“ Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure klärerisch oder politisch zu sein hatte, als Held der Geschichte. Doch selbst Volker Hage und Mathias Schreiber. geht zu Ende.

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Handke: Punkt, Punkt, Punkt. SPIEGEL: Was verändert sich für Sie durch das Ende der großen ideologi- schen Konfrontation? Handke: Wir können erst einmal erleich- tert sein, daß die kommunistische Uto- pie auf diese Weise auseinandergefallen ist. Vorläufig erleichtert. Ich war ja nie ein 68er. Ich war schon sehr früh das Feindbild der 68er. SPIEGEL: Wie heute Botho Strauß? Handke: Man kann doch froh sein, daß die Linke endlich den Mund hält. Und daher finde ich es entsetzlich, wenn der

sonst so subtile Botho Strauß jetzt mit G. EGGENBERGER den Rechten kommt. Handkes Elternhaus*: „Die dort Gebliebenen sind Entwurzelte“ SPIEGEL: Strauß sieht den Schriftsteller als Gegenfigur zum linken Aufklärer: Trennung von dem, was man Welt Ist Ihnen das so fremd? nennt. Diese Trennung passierte mir Handke: Weiß der Teufel, was der im Internat: beilhiebartig. Vielleicht Schriftsteller ist. Ich möchte auch gar kommt sie auch aus den Angstwochen nicht wissen, was der ist. Jedenfalls ist er nach dem Krieg und aus jenen zwölf kein Rechter. Und auch kein Konserva- Jahren, als ich staatenlos war. Wenn ich tiver. Der Schriftsteller ist alles: konser- heute – zwei-, dreimal im Jahr – in mei- vativ und anarchistisch, ein Mensch der ne österreichische Geburtsheimat reise, Formen und des Unförmigen. Noch komme ich mir ansässiger vor als die schöner: wenn er nichts ist. meisten Leute, die dort geblieben sind. SPIEGEL: Läßt sich das durchhalten? Ir- Die dort Gebliebenen sind sozusagen im gendwann ist die begriffliche Einord- Exil – lauter Entwurzelte: so ist unsere nung politischen Handelns . . . Welt. Im übrigen hat mir gut gefallen, Handke: . . . es wäre doch schön, wenn was ein österreichischer Kritiker über endlich eine belebte Ruhe herrschen die „Niemandsbucht“ schrieb: Sie sei ei- könnte: Freiheit von diesen Begriffen. ne Heimatgeschichte aus der Fremde. Nicht schon wieder alles zusperren. Das SPIEGEL: Würden Sie sich niemals hier ist eine deutsche Krankheit, eine Sünde. in Chaville zum Bürgermeister wählen SPIEGEL: Bleibt jenseits aller Ideologien lassen? Handke mit Mutter (1943) mehr übrig als Kommerz und Konsum? Handke: Ich hätt’ gern, daß die Frau, „Sie brach in Tränen aus“ Handke: Ich habe keine Gegen-Idee. mit der ich bin, Bürgermeister wird – Aber ich teile diesen Pessimismus nicht. damit hier endlich etwas passiert. Cha- Handke: Völlig richtig. Schlimm wäre, Solange der Tag Tag wird, ist noch et- ville ist die Gemeinde, in der die Kom- wenn das ein ganzes Buch füllen würde. was da. munikation unter den Bürgern, vergli- „Bleib sachlich“ – das habe ich mir im- SPIEGEL: Sie brechen eben immer gern chen mit den anderen Pariser Vorstäd- mer wieder gesagt beim Schreiben. So auf. Dazu braucht man Optimismus. ten, am schlechtesten funktioniert. entstehen solche juristischen Sätze. Handke: In den letzten zehn Jahren wa- SPIEGEL: Der ideale Ort für einen Au- SPIEGEL: Sie diskutieren erzählend oft ren meine Aufbrüche durch Wiederho- tor, der aus der Welt gefallen ist. mit sich selbst. Warum dann keine offe- lungen bestimmt. Ich habe mir gesagt, Handke: Ja, ich fühle mich hier deswe- nen Dialoge zwischen Personen? ich gehe noch einmal dahin, wo ich ein- gen besonders wohl. Hier sind alle Ein- Handke: Im ersten Entwurf hatte ich mal etwas gesehen habe. Ich habe Va- zelgänger – Gestörte, Flüchtlinge, in viele Dialoge. Ich habe sie später wie- rianten gesucht. sich verhakte Heimgärtner. Ich kenne der aufgelöst. Der Stilbruch war zu SPIEGEL: Dasselbe variieren: Am Ende kaum jemanden persönlich. stark. Ich wollte, daß es in einem Ton – wird man dabei häuslich – wie Sie jetzt SPIEGEL: Einmal schreiben Sie von ei- in einer Tonlosigkeit durchgeht. Ich ha- hier in dieser schönen Villa. nem jungen Schriftsteller, der in einer be ja keinen Ton. Ich bin ein lyrischer Handke: Ich bin doch nicht heimisch ge- leeren Saline eine Frau begehrt, am En- Erzähler. Das ist auch mein Problem. worden. Sind Sie wahnsinnig! Ich werde de aber nur ein Buch findet. Sieht so Ihr SPIEGEL: Inwiefern? nirgendwo heimisch sein. Ich bin auch Verhältnis zu den Menschen aus? Handke: Weil es zum Überschwang ver- nicht heimatlos. Ich bin hier am Platz – Handke: Da beschreibe ich bloß, wie es führt, zur Unpräzision, zur Gefühlsdu- in meiner irgendwann geschehenen zur Literatur kommen kann. selei, nicht durch Sprache beglaubigt. SPIEGEL: Sie vergleichen das Schreiben SPIEGEL: Sie führen Tagebuch. Gehen mit dem römischen Recht. Heißt das: diese Notizen dann relativ unvermittelt als Landschaftsmaler erzählt Handke, Literatur muß gerecht sein? in Ihre literarischen Arbeiten ein? 51, stets zugleich vom „Nachmittag Handke: Ich frage mich da, was die ab- Handke: Ich trenne das. Das Tagebuch eines Schriftstellers“ (1987) – auch strahierende Rechtssprache mir in der ist keine Leistung. Natürlich ist es wich- in seinem jüngsten Prosawerk „Mein Jugend gebracht hat. Sie holte mich her- tig. Würde das Haus hier brennen, Jahr in der Niemandsbucht“ (SPIEGEL aus aus den expressionistisch-stim- dann würde ich als erstes die Lebewe- 45/1994). Hartnäckig schreibt der in mungshaften Sprachbewegungen. sen hinauszuschaffen versuchen – da- Kärnten geborene und seit fünf Jah- SPIEGEL: „Die Bedienung, mehrzählig, nach aber, noch vor den Bildern, mein ren in Chaville bei Paris lebende Au- war währenddessen nicht von ihm gewi- Tagebuch. tor über die „Abenteuer des Schrei- chen.“ Klingt nach Gerichtsprotokoll. SPIEGEL: Sind Ihre Tagebücher den bens“. Skizzen eines Malers vergleichbar, aus * In Griffen-Altenmarkt (Kärnten). denen dann die Bilder werden?

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KULTUR

Handke: Nein, das war mal so. Für die Handke: Es war zu frivol, es wäre bei- Handke: Es müssen große Dichter her. „Niemandsbucht“-Geschichte hatte ich nahe eine Schweinerei geworden. Das kann ja auch passieren. einen Haufen Notizen, hatte mir aber SPIEGEL: Ein symbolischer Vatermord? SPIEGEL: Vielleicht gibt es keine wegen vorgenommen, beim Schreiben nie hin- Wann haben Sie erfahren, daß Ihr Vater dieser Vergangenheit. einzuschauen. Das ist mir gelungen. Deutscher ist? Handke: Das glaube ich nicht. Es ist doch SPIEGEL: Sie haben also Ihr Buch Handke: Ich erzähle die Geschichte, wie in der ganzen Welt so: Der epische Zu- praktisch zweimal geschrieben. Sie er- ich meinen Vater töten wollte. Und wie sammenhang ist verlorengegangen. zählen in der „Niemandsbucht“ auch ich mich gefreut habe, als meine Mutter SPIEGEL: Warum geizen Sie so mit eroti- die Entstehung eben dieses Werkes. sagte: Dein Vater lebt in Deutschland. schen Szenen? In früheren Büchern waren Interessiert das eine breitere Leser- Ich war 17 Jahre alt. Ich hatte plötzlich Sie weniger prüde. schaft? die Vorstellung: Der Ehemann meiner Handke: Wieso bin ich prüde? Handke: Daß einer über das Schreiben Mutter kann nicht mein Vater sein. Ich SPIEGEL: Etwa wenn Sie homerisch for- schreibt, klingt sehr langweilig. Aber fragte meine Mutter. Sie brach in Trä- mulieren: Mann und Frau „ruhen mitein- mir scheint, auch die Abenteuer des nen aus und hat mir die Geschichte er- ander“. Schreibens sind spannend. Jeder er- zählt. Ich habe dann meinen richtigen Handke: Das ist doch die lebendigste Ero- zählt doch gern, wie seine Abenteuer Vater aufgesucht, der in der Nähe von tik: Die ruhen die ganze Nacht. Mich in- mit dem sind, was er macht. Hamburg wohnte. Er ist im vergange- teressiert es nicht mehr, erotische Szenen SPIEGEL: Sie sind österreichischer nen Jahr mit 86 gestorben. Da ist noch im Detail zu schreiben oder zu lesen. Bei Staatsbürger, haben in Frankreich eine etwas zu erzählen. Henry Miller verband sich damit vielleicht noch eine Art Erlösungsvorstellung.Aber das war verfehlt. Ich verstehe, wie es dazu kam. In der Art, wie die 68er drauflosge- vögelt haben, war die Suche nach einem Heil enthalten. Heute sind alle kaputt – auch deswegen, kommt mir vor. SPIEGEL: Und wäre diese Desillusionie- rung kein Motiv für Literatur? Handke: Eher für so etwas wie „Dichtung und Wahrheit“ oder für eine richtig auto- biographische Erzählung – das war Goe- thes Werk ja nicht. Auch für eine Auto- biographie braucht man noch und noch In- spiration. SPIEGEL: Und weniger keusche Diskreti- on? Handke: Langsam macht mich das sauer, daß Sie mein Buch für unerotisch halten, nur weil – anders als im SPIEGEL – nicht vom Ficken und Vögeln die Rede ist. Bei mir schneidert der Mann der Frau ein Ge- wand zu. Ist doch nicht schlecht. Oder? Ich finde das eine heiße Stelle. Ich spüre

O. STERNBERG da, was Vereinigung ist. Handke-Stück „Kaspar“ in München (1989) SPIEGEL: Ihre Niemandsbucht scheint in einem sozialen Niemandsland zu liegen: ein Land ohne handfeste Sexualität, ein „So jemanden wie mich hat Land auch ohne Armut. es noch nie gegeben – der umgekehrte Kaspar“ Handke: Armut? Der Zimmermann . . . SPIEGEL: . . . die Krippenfigur der Ar- mut . . . Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung – SPIEGEL: Nach dem Bürgerkrieg be- Handke: . . . und wenn ich von den Ein- dennoch denken Sie in Ihrem Buch über schwören Sie ein mit sich versöhntes wohnern oder den Zugewanderten erzäh- Deutschland nach. Deutschland. Heißt dies: Das Land le, wird deutlich, daß das keine reichen Handke: Ich hänge an Deutschland. wird von seiner traumatischen Vergan- Menschen sind. Ich werde einmal, viel- Nicht nur, weil mein Vater Deutscher genheit irgendwann doch entlastet? leicht in 20 Jahren, erzählen, nicht be- war. Ich hänge an dem Land, an der Handke: Ja. Ich habe mir das vorstel- schreiben, mit Hilfe von Beschreibungen Landschaft. Während meiner Leserei- len können. Ich habe das beim Schrei- erzählen, was Armut ist und war. Alle sen habe ich ein Gefühl für die Morpho- ben so gesehen. Dadurch ist es beglau- Leute, die nicht mehr arm sind, sind ver- logie dieses Landes bekommen, und ich bigt. sucht, Schnurren von ihrer Armut zu er- frage mich heute noch, wenn ich das vor SPIEGEL: Eine neue Verdrängung der zählen. Das will ich vermeiden. Aber we- mir sehe: Wie konnten diese Verbre- Geschichte . . . niger von meiner Armut als von der Ar- chen gerade dort passieren? Handke: . . . keine Verdrängung. Es mut meiner Mutter muß noch einmal er- SPIEGEL: In Ihrem Buch, das 1997 hat ja wieder ein Krieg stattgefunden. zählt werden. spielt, hat Deutschland gerade einen Mir war auch ordentlich mulmig zumu- SPIEGEL: Aber nur in Ihrer Autobiogra- Bürgerkrieg hinter sich. Halten Sie so te, als ich das geschrieben habe. Ich phie? etwas im Ernst für möglich? habe mir gesagt: Jetzt mußt du aufpas- Handke: Nur da. Eine solche Autobiogra- Handke: Ich habe das geträumt. Bei den sen, daß das Buch nicht flötengeht. phie würde ich gern „Akne“ nennen. Korrekturen habe ich davon viel gestri- SPIEGEL: Also: Bevor die deutschen SPIEGEL: Wie das Hautleiden? chen. Verbrechen Teil der Geschichte wer- Handke: Ja. Das war mein erster Titel, als SPIEGEL: Warum? den, muß etwas passieren? ich 17Jahre alt war, damals dacht’ ich: Ich

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Werbeseite KULTUR will ein Buch schreiben, das „Akne“ heißt. Ich hatte zwar keine Akne, aber viele, viele Pickel. Und das hat eine un- geheure Ablenkung im Blick, im Dasein bewirkt bei mir. SPIEGEL: Sie werden immer wieder als priesterlicher Romantiker verehrt oder verspottet. Einer der Freunde in Ihrem Roman ist Priester. Handke: Ich bin mit einem befreundet, der in meinem Heimatdorf lebt und für eine Erzählung taugt. Das ist für mich das Höchste: wenn einer in die Erzäh- lung hineingehört. Bei den meisten Menschen, die ich treffe, kommt dieser Gedanke nicht. SPIEGEL: Gibt es nicht doch noch einen Priester – in Ihnen selbst? Handke: Ich wollte nie ein Priester sein. Einmal in meinem Leben habe ich etwas wie eine Predigt geschrieben – den Schluß des dramatischen Gedichts „Über die Dörfer“. Darauf bin ich stolz. An dem, was ich da geschrieben habe, habe ich selber Halt. Das ist kein schlechtes Zeichen. Ein andermal habe ich gesagt: Es kann auch eine Predigt ein schöner Text sein. Da mir das ein- mal unterlaufen ist, stehe ich dazu. Seit- dem habe ich nichts mehr gewagt in der Richtung. SPIEGEL: Ihr Verhältnis zur Sprache ist schillernd. Der frühe Handke hat Angst „In der fremden Sprache ist das Grauenhafte nicht so spürbar“ vor der sprachlichen „Falle“. In der Er- zählung über Ihre Mutter – „Wunschlo- ses Unglück“ – heilt die Sprache einen Schmerz. Auf welcher Seite dieses Ge- gensatzes stehen Sie jetzt? Handke: Das sind Stufen, keine Gegen- sätze. SPIEGEL: In der „Niemandsbucht“ ge- borgene, aufgehobene Gegensätze? Handke: Ich hoffe, daß ich damit ins Freie geraten bin, wo alle diese Frag- lichkeiten nicht mehr zählen, nur noch mitspielen. In der Erzählung „Die Wie- derholung“ gibt es einen Lobpreis auf die Macht der Sprache. Damit ist dieses Thema verschwunden. So konnte ich in der „Niemandsbucht“ dann halbwegs frei erzählen, und doch – jeder Absatz enthält zugleich eine Frage. SPIEGEL: Dabei verflüchtigt sich zuwei- len der Realitätsgehalt. Handke: Mich hat die Idee von Flaubert geleitet, was ihm vorschwebe, sei ein Buch über nichts und wieder nichts. Das ist nicht einfach. Mir kommt vor, die ganze Menschheitsgeschichte geht dar- auf hin, daß Ballast abgeworfen wird – in den Büchern. SPIEGEL: Ihr neues Buch ist schwerer als alle vorherigen.

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Ist das nicht doch ein Mangel? Wären Sie nicht ganz gern auch ein Balzac? Handke: Balzac vermisse ich nicht bei mir. SPIEGEL: Marcel Reich-Ranicki vermißt ihn bei Ihnen. Handke: Ich glaube nicht, daß er irgend etwas vermißt. Würde jemand Stendhal bei mir vermissen, das wäre schlimm – seine Weiträumigkeit. SPIEGEL: Auch Stendhal war ein psy- chologischer Menschenbildner. Steht Ihnen das noch bevor? Handke: Es ist wahr: Als ich von Salz- burg wegzog, wo ich acht Jahre gelebt habe, ging mir das durch den Kopf. Könnte ich mir all die Leute, die ich dort unangenehm nah kennengelernt habe, in einem Roman vorstellen? Und das konnte ich. Aber eben in einem Ro-

P. PEITSCH man aus dem vorigen Jahrhundert, nicht Handke-Werk „Über die Dörfer“ in Hamburg (1982) aus meinem. SPIEGEL: Und der große Roman über Österreich, den Sie schon vor mehr als „Einmal in meinem Leben habe 20 Jahren schreiben wollten? ich etwas wie eine Predigt geschrieben“ Handke: Die Idee hat mich lange be- schäftigt. Das Fragment „Langsame Heimkehr“ sollte eigentlich ein dickes Handke: Da ist zwar viel Gewicht der klingt bedrohlich klassisch. Oder wie Buch mit dem Titel „Ins tiefe Öster- Welt drin. Aber das Gewicht lastet we- ordnen Sie sich selber ein? reich“ werden. Da bin ich gescheitert. niger. Mir kommt vor, daß ich mit die- Handke: Ich bin noch nicht bei meinem Die Sprache ist mir ausgegangen. sem Buch zu der Literatur, die es schon Altersstil angelangt. Als ich jung war, SPIEGEL: Die tägliche Nachrichtenfülle gibt, etwas hinzugefügt habe, was aus habe ich an Sartres Literaturtheorie kri- kann einem auch die Sprache rauben – dem, was vorher war, zwar kommt, aber tisiert, er verlange eine Sprache klar wie schirmen Sie sich dagegen ab? es – diese Werke der Weltliteratur – Glas. Heute bin ich, anders als es Ge- Handke: Am Morgen lese ich Libe´ra- nicht beschwert, eher dafür sorgt, daß nosse Sartre gemeint hat, soweit, daß tion, am Nachmittag Le Monde. Dem sie leichter werden. ich zwar nicht den Spiegel, die sprachli- entkommt man nicht. Wenn ich die Me- SPIEGEL: Sie erleichtern uns dabei auch che Abbildung, aber doch die sprachli- dien ignoriere, kommt mir die Welt um einige Ihrer eigenen Werke, die in che Durchlässigkeit schätze, rhythmi- noch bedrückender vor, weil ich nichts der „Niemandsbucht“ versteckt zitiert sche Durchlässigkeit. von ihr weiß. Wenn ich Fernsehnach- werden. Der wirklich gelungene Satz, so SPIEGEL: Sie sind jetzt in einer Phase richten sehe, befällt mich ein Glücksge- bezeugen es viele Schriftsteller, wirkt, der Gelassenheit? fühl – ich bin auf einmal in der Welt. als gebe es ihn schon lange. Handke: Ich glaube nicht an Phasen ei- SPIEGEL: Liegt es daran, daß Sie Handke: Ja, wo man ein Gefühl des Ge- nes Lebens. Gelassen wär’ ich gern. deutsch schreiben, aber französische lingens hat, da empfindet man auch, daß Aber noch endet bei mir jeder Absatz Fernsehnachrichten sehen? es nichts Neues ist, sondern nur eine Va- schneidend. Ich wäre gern Epikureer, Handke: Sicher auch. In der fremden riation. Warum sage ich „nur“? Es gab doch ich bin ein Hin- und Hergeworfe- Sprache ist das Grauenhafte nicht so ein paar Momente in meinem Schreib- ner. spürbar. Aber die Distanz durch die an- leben, da habe ich gedacht, jetzt spüre SPIEGEL: Stefan Zweig hat einmal den dere Sprache dauert nicht lange. Nein – ich die Welt Tschechows. Oder die Welt deutschen Dichtern vorgehalten, ein mir ist nach einer Zeit von Medien- Shakespeares. Andererseits kommt mir Kunstwerk sei für sie nur ein Vorwand, Übelkeit doch aufgegangen, es geht vor: So ein Buch wie die „Niemands- näher an sich selbst – statt an die Welt – nicht, daß ich auf die Dauer meines Le- bucht“ hat noch niemand geschrieben. heranzukommen. Uns scheint das ganz bens der Feind meiner Zeit bin oder daß So jemanden wie mich hat es noch nie gut auf Sie zuzutreffen. ich mich so aufspiele. Ich muß nicht ge- gegeben. Handke: Dahinter steckt ein fadenschei- rade ihr Kumpel werden, aber ich möch- SPIEGEL: Ihre Bühnenfigur Kaspar woll- niger Gegensatz. Ich selbst kann ein te, ohne versöhnlich zu sein, mit der te lieber „ein solcher werden, wie ein- Buch nur lesen, wenn ich ein Ich spüre. Zeit auskommen und mittun. mal ein anderer gewesen ist“. Wie steht dieses Ich zu sich und zu den SPIEGEL: Hier schöne Prosa über Wald- Handke: Ich habe gedacht, ich bin der anderen? Nur indem ich bei mir bleibe, pilze, dort die TV-Bilder vom Balkan- umgekehrte Kaspar. kann ich von der Welt erzählen. Das Ich krieg – geht das überhaupt? SPIEGEL: Ihre Prosa hat kein spezifi- muß so tief in sich hineingehen, daß es Handke: Diese Diskussion wird bis ans sches Aroma. anonym wird. Je mehr ich nach innen Ende der Menschheit gehen und wird Handke: Soll sie auch nicht. Der be- gehe, desto weiter werde ich. nie gelöst werden. Sie ist nur dadurch zu kannte Kritiker, der in meinem Buch als SPIEGEL: Und Bücher ohne Ich? lösen, daß einer von einem Buch er- Hund vorbeischnüffelt, hat immer eine Handke: Das sind Schmöker. Der zählt, was er damit erlebt hat, oder dar- gute Nase. Die großen Bücher aber ha- Schriftsteller als „Lesefutterknecht“, aus vorliest oder einem anderen damit ben keinen Duft – darum kann er sie wie es in meinem Buch heißt, damit ist auf den Kopf schlägt oder schweigt und auch nicht erschnüffeln. jemand wie Marquez gemeint. weggeht. SPIEGEL: Duftlose, an Tschechow oder SPIEGEL: Ihr Buch ist keine „Gesell- SPIEGEL: Herr Handke, wir danken Ih- Shakespeare geschulte Prosa – das schaftserzählung“, wie Sie es nennen. nen für dieses Gespräch. Y

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Vor allem aber sind es Witze, die auf dient sich dabei mit großer Intelli- Film intelligente Art mit dem Wesen des genz der einfachsten Tricks: daß näm- Films und des Kinos spielen. So wie die- lich im Film Kaviar nicht von Brom- ser Film sich, in lustiger Verzweiflung, beerkonfitüre zu unterscheiden ist. über das Kino lustig macht, so haben Und Selters nicht von Sekt. Und kalter Wasser sich Pirandello oder (vielleicht eine Kaffee ein köstliches Getränk dar- Nummer kleiner, Blumenberg näher stellt. und komischer) Molna´r über das Thea- Anders als der junge Wichser in der zu Wein ter hergemacht – alle schlagen sie aus Mansarde muß der Film die Phantasie der Unzulänglichkeit und Eitelkeit ihres nicht von sich, er kann sie vom Zuschau- „Rotwang muß weg“. Spielfilm Mediums ihre erhel- er abfordern. Und das von Hans-Christoph Blumenberg. lenden Pointen: Die geht so: Über die Kulissen wackeln, die Treppen eines Parks, Deutschland 1994. Kamera wackelt, man wo diverse Mörder die genießt die Perfektion Villa Rotwang belau- er kein Geld hat, sollte wenig- des Imperfekten. ern, rollt ein Kinder- stens Phantasie haben. Das zeigt Das fängt mit dem wagen mit einem plär- Wdie Geschichte von dem jungen Star an. Es ist ein deut- renden Baby dem töd- Mann, der in seiner engen, kalten Man- scher Weltstar. Und lichen Abgrund entge- sardenbude sitzt, in der einen Hand ein um ihn sich leisten zu gen. Blumenberg zi- Glas Selters, mit der anderen an sich können, läßt ihn Blu- tiert dabei so ehrwür- herumspielend. Und dabei selig ausruft: menberg gar nicht erst dige Werke wie Eisen- „Was für ein Leben! Champagner und auftreten. Trotzdem steins „Panzerkreuzer Frauen!“ ist Armin Mueller- Potemkin“ und so ko- Der deutsche Film hat, meist, auch Stahl ständig in Abwe- stenaufwendige wie kein Geld. Darüber wird gern auf Me- senheit präsent. Brian De Palmas dientagen und bei Filmwochen lamen- Rotwang, dem soge- „Untouchables“, der tiert – und so gut wie nie verwandeln die nannten deutschen wiederum mit Treppe Filmemacher mit Hilfe der Phantasie Wirtschaftsführer und Regisseur Blumenberg und Kinderwagen den Wasser in perlenden Wein. Treuhand-Boß, Bera- Eisenstein-Kinderwa- Jetzt gibt es eine Ausnahme, und das ter des Kanzlers und Liebhaber der gen zitiert. Bei Blumenberg wird das ist Hans-Christoph Blumenbergs Film Frauen, wollen nämlich alle ans Leben, schreiende Baby gerettet. Es ist ein „Rotwang muß weg“. In nur 13 Tagen er muß, so der Filmtitel, weg. Und da Sony-Bandgerät, das man an- und für nur 390 000 Mark in den privaten alle sich so intensiv bemühen, stört es ei- abstellen kann – wie alles in einem Räumen (Mansarden) der Beteiligten gentlich gar nicht, daß er in Wahrheit Film. gedreht, ist es dennoch vom Anspruch nie da war. Denn ermorden und ermor- So sind die Dinosaurier, die durch her ein großer Film über ein Riesenthe- den lassen will ihn die eigene Gattin Blumenbergs Film kriechen, nicht aus ma geworden. (aus Eifersucht), ein Ex-Stasi-Agent Hollywoods Animations- und Trickstu- Für ein Budget, mit dem man bei den (aus Rache), ein Modeboutiquenbesit- dios, sondern Plastiktiere aus dem Dreharbeiten zu Spielbergs „Jurassic zer (weil er dazu erpreßt wird). Und alle Spielzeugladen nebenan. Auch hier Park“ gerade die belegten Brötchen für wollen sie alles auf die RAF schieben, spielt die Phantasie: Der Ex-Stasi-Offi- das Team während der monatelangen die es vielleicht genausowenig gibt wie zier nämlich, der früher DDR-Staats- Arbeit hätte berappen können, drehte Rotwang. Oder gibt es beide doch? Und feinde filmte (Spitzname: Mielkes Ei- Blumenberg (einst ein furioser Filmkri- wenn ja, warum? senstein), träumt jetzt im schnöden tiker, dann ein über die deutschen Ver- Das Werkchen, das geschickt vorgibt, Westen davon, Blumenbergs Spielberg hältnisse hinausträumender Kinomann, ein Riesenkolossal-Opus zu sein, be- zu werden. sensibler Dokumentarist Aber die Busen, die deutscher Filmvergan- Blumenberg kurz und genheit und feinfühliger herzlos ihre Eignerinnen „Tatort“-Regisseur) ei- entblößen läßt, sind nen Saurier-Film, ei- echt. Und echt sind auch nen Terroristen-Film, ei- die genannten Gründe, nen Deutsche-Vergan- warum sie gezeigt wer- genheits-Bewältigungs- den: damit der Regisseur film, einen Star-Film, ein Spaß hat, damit er mit großes Krimi- und Eifer- Allmachtsphantasien sei- suchtsdrama. Und das al- ne Schauspielerinnen de- les auf einmal. mütigt und damit das Pu- Die Ironie, mit der blikum ins Kino kommt. Blumenberg, der das Ki- Doch der Regisseur no liebt und liebend gern sagt auch ätsch! Da auch aufwendiger lieben streut er Kleidungsstük- würde, an die Sache her- ke auf den Boden, die ei- angeht, nennt man Gal- ne heiße Spur zum Bett genhumor. Der macht bilden. Dort liegt dann aus der Not seine auch das Paar, aber Witze. Und die sind züchtig zugedeckt, brav auch noch komisch. nebeneinander. Und der

Manchmal schrecklich FOTOS: B. FRAATZ Filmkommentar erklärt, komisch. Blumenberg-Film „Rotwang muß weg“: Spaß für den Regisseur daß er Sexszenen weder

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Werbeseite drehen wolle noch könne. Indem Blu- menberg den Zuschauer mit einem Blinzeln einweiht in die Zitate und Tricks, ihm vorführt, wie man Wasser zu Wein filmt und Wein wieder als Wasser kenntlich macht, fordert er ihn auf, an der deutschen Filmnot aktiv teil- und Anteil zu nehmen. Und das macht Spaß. Hellmuth Karasek

Pop Panik und Paranoia Neue Musik aus den schwarzen Ghettos Englands: Der am Compu- ter produzierte „Jungle“ ist hek- tisch, bösartig – und erfolgreich.

s ist Krieg im Paradies. Tak, tak, tak, takatakataka, rattert es durch Eden Raum, in der Ferne dehnt sich ein Heulen, das wie das Windgeräusch fallender Bomben klingt. Es folgt ein gleichmäßiges tiefes Wummern. Und dann singt der General: kalt, unbeirrt, monoton und so schnell wie ein Maschi- nengewehr. General Levy, ein Londoner Ragga- muffin-Star, erzählt vom Alltagskrieg im Asphaltdschungel. Und wenn seine Stimme aus den Lautsprechern der Lon- doner Diskothek „Paradise“ knattert, dann beginnt auf der Tanzfläche die Party: Mädchen in Lack-Corsagen ge- gen Mädchen in Häkel-Bustiers gegen Jungen in Stüssy-T-Shirts und Camou- flage-Jacken. Den Krieg der Körper und der Klänge begleiten sie mit Fanfaren, mit schrägen Tönen aus Tröten, mit de- nen sonst Hooligans ihren Gegnern den Kampf ansagen. „Die Musik ist ein Ausdruck des rea- len Dschungels, in dem wir leben“, sagt Levy. Deshalb heißt diese Musik auch „Jungle“. Es ist die erste schwarze Mu- sik, die in England entstanden ist und Erfolg hat: General Levys Stück „Incre- dible“ kam in England auf Platz drei der Charts, und Jungle ist bereits von Län- dern importiert worden, die sonst schwarze Musik exportieren: USA und Jamaika. Auch in deutschen Klubs, im Berliner „Cafe´ Silberstein“, im Frankfurter „Jungle“, im Hamburger „Power- house“, wird diese neue Musik gespielt. Die erste große Jungle-Party in Deutschland veranstaltet der Berliner Plattenladen Downbeat am Freitag nächster Woche im Berliner „E-Werk“.

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KULTUR G. SMITH „Jungle“-Musiker Goldie: „Mit den simpelsten Instrumenten zaubern“

Und das Frankfurter Label Riot Beats on. „Die Leute sagen, die Musik sei zu veröffentlicht jetzt die erste CD mit schnell“, sagt der Jungle-Musiker Sound deutschem Jungle. Man, „aber sie werden sich schon daran Jungle kombiniert Elemente verschie- gewöhnen.“ dener Musikstile (siehe Grafik) zu ei- Den Durchbruch hatte Jungle beim nem superschnellen elektronischen Dis- Karneval im Londoner Stadtteil Notting- co-Sound. Mit 160 Schlägen pro Minute Hill, wo in diesem Sommer zum ersten- scheppert, rasselt und knattert es in ho- mal statt gemütlichem Dub und Ragga- hen Tönen. Darunter schlurfen langsa- muffin hektische, nervöse Töne aus me Bässe und Trommelschläge dahin. den Lautsprechern der transportablen Getanzt wird im Rhythmus der Baßli- Soundsysteme rasten. Die Musikindu- nie. Denn wer sich nach den schnellen, strie reagierte schnell: Schon wenige Wo- hohen Rhythmen bewegen wollte, wäre chen nach dem Fest brachten große Fir- nach dem ersten Song erschöpft und men wie Warner Platten mit Stücken ver- beim nächsten reif für die Intensivstati- schiedener Dschungel-Musiker heraus. „Jungle ist die Mu- sik der Neunziger, der Sound der Zukunft“, Geburtsjahr: 1993 Geburtsort: London sagt Goldie, 29, der in London der „Maestro des Jungle“ genannt breakbeats 1991 London wird. Auch er veröf- fentlicht nun, nach ei- hardcore 1991 Belgien, Deutschland, Großbritannien nem siebenstelligen dub house Vorschuß, zum ersten- 1990 mal bei einem großen Großbritannien techno 80er Detroit Label: „Inner City Life“, gesungen von dancehall new beat acid house hip 1989 Kingston 1988 Brüssel 1989 house Diane Charlemagne, Großbritannien 1988 USA handelt von Realitäts- flucht und Drogenex- raggamuffin zessen. Die düster-ag- 1985 Kingston house gressive Musik klingt industrial- nach Panik, Wahn- dub 1982 eurobeat sinn, Paranoia – so, als rub a dub London, Bristol 1983 Italien 1980 Kingston sei Goldie nicht mehr rap 1977 von einem schlimmen New York LSD-Trip herunterge- industrial rock disco kommen. dub 70er Deutschland 1976 New York, Drogen, Gewalt und 1970 Kingston München, Paris Hoffnungslosigkeit be- stimmen den Alltag in den schwarzen Stadt- reggae rock pop funk vierteln Londons. „Es

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KULTUR

wächst eine Generation heran“, sagt Namen „Metalheads“ veröffentlicht, Goldie, „die nichts mehr zu lachen hat.“ veränderte Goldie als erster Schlagzeug- Diese Unterprivilegierten und Ent- töne mit Hilfe des „Time-stretchings“. täuschten fühlen, daß Jungle ihre Wut in Dieses Gerät ist eigentlich dazu ge- rasende und bösartige Töne umsetzt. dacht, Gesang schneller oder langsamer Wie der amerikanische Hip Hop mit sei- wiederzugeben, ohne die Tonhöhe zu nen ursprünglich haßerfüllten Texten ist verändern. Seitdem ist das seltsame auch der britische Jungle Protestmusik Schnattern und Zirpen Basis des Jungle. der schwarzen Ghettos. Inzwischen haben viele auch die öko- Die ersten Jungle-Songs wurden nomische Potenz von Jungle entdeckt. schon vor knapp zwei Jahren in schlecht In den Plattenläden werden T-Shirts, ausgestatteten Amateur-Studios gemixt Baseballkappen und Anstecker angebo- und von Londoner Piratensendern ge- ten. Sogar der sonst eher konservative spielt. Goldie war von Anfang an dabei. Sender BBC Radio 1 führt eine eigene Er kam damals aus Miami, wo er einige Jungle-Hitparade. „Leute, die nicht mal Zeit als Graffiti-Künstler und Verkäufer wissen, was das für eine Musik ist“, sagt Goldie, „verdienen jetzt Geld damit.“ Und längst klingt nicht mehr aller Schnattern und Zirpen Jungle nach Dschungel: Es gibt nun ist die „Hartstep“, „Drum&Bass“, „Happy“ und „Future jungle“; es gibt Goldies Basis des Jungle „Darkside“, General Levys „Pop- Jungle“ und UK Apachis Kreuzung aus von Zahnkronen aus Gold gearbeitet Jungle und indischem Bhangra. hatte, nach England zurück. Vermutlich weil die Musik so unge- „In der Zeit nahm ich eine Menge wöhnlich und vor allem so aggressiv ist, Drogen und war ganz weit unten“, er- hat sie auch schon Feinde. In Unter- zählt er. In den Londoner Untergrund- grund-Magazinen wird beklagt, daß mit klubs hörte er dann erstmals die synthe- Jungle die vermeintliche Frohsinnsdro- tischen Breakbeats, produziert von den ge Ecstasy, die vor allem auf Techno- Diskjockeys Grooverider und Fabio. Partys konsumiert wird, aus den Klubs Goldie beschloß, selbst Musik am Com- verdrängt und durch Marihuana, Ha- puter herzustellen. schisch und Crack ersetzt worden sei. Damals habe er „gelernt, mit den sim- Jungle habe „die fröhliche Klubsze- pelsten aller Instrumente zu zaubern“. ne“ zerstört, beschwerte sich eine Lese- Arbeits- und erfolglos wie die meisten rin in einem Brief an das Blättchen Mix- frühen Jungle-Musiker beschränkte er mag. Die ganze Ausgelassenheit sei da- sich notgedrungen auf Akai-Computer hin, seit der hektische Sound die wei- und einfache Sampler und Sequenzer, cheren Breakbeats verdrängt habe. Und die er aber anders einsetzte als in den nun seien die Diskotheken voll mit Gebrauchsanweisungen vorgesehen. „launischen Menschen, die in der Ecke In seinem Untergrund-Hit „Termina- stehen und Gesichter wie geprügelte Är- tor“, im vergangenen Jahr unter dem sche haben“. Y OSTKREUZ „Jungle“-Tänzer in Berlin: 160 Schläge pro Minute und langsame Bässe

DER SPIEGEL 49/1994 183 Tom Cruise in „Interview mit einem Vampir“ von Neil Jordan WARNER BROS. Kino-Vampire aus sieben Jahrzehnten: Was sich liebt, das beißt sich BLUT MUSS FLIESSEN Die Vampire sind los: Hollywoods jüngster Coup, das Grusel-Spektakel „Interview mit einem Vampir“, stürmt weltweit die Kino-Charts. Erzählt wird ein Menschheits-Märchen, eine uralte erotische Phantasie: Seit Jahrhunderten schon geistern Vampire durch eine düstere Traumwelt, in der sich Schrecken in Lust verwandelt.

s ist eine dieser Nächte, in denen Kristallglas hinabrinnt, leuchtet wie stillt werden. Es verlangt den Vampir der Wein nicht hilft und der Cham- Burgunder: Besser als nichts. wieder und wieder nach diesem Wollust- Epagner erst recht nicht. Ich bin so In sogenannten Mainstream-Filmen Augenblick wie den Süchtigen nach sei- unglücklich! wimmert Louis, die Augen aus Hollywood küssen Männer einander nem Drogenschuß, wie den Triebtäter rot und weit aufgerissen; er ist dem Ver- nicht auf den Mund. Das wäre ja noch nach seiner Beute. Ohne ginge er ein. schmachten nah. Wäre man in einem schöner. Ein kräftiges Schulterklopfen Wer genau hinschaut, wenn sich Ge- Hotel, so könnte man nach dem Room genügt, um den Beginn einer wunderba- legenheit bietet – in dem Augenblick Service klingeln und dann über den ren Freundschaft zu signalisieren. Dies- beispielsweise, wo Lestat (Tom Cruise) Kellner herfallen. Aber wo soll ein mal aber ist alles anders, diesmal spitzt zum erstenmal mit schmelzendem Blick Vampir frisches süßes Blut herkrie- sich der Kuß-Mund und findet sein Ziel an die Schulter von Louis (Brad Pitt) gen, wenn draußen Pest oder Cholera – oft, ach so oft – in jener Kuhle zwi- hinsinkt –, kann wahrnehmen, daß das tobt? schen Schlüsselbein und Hals, wo die überraschte Kuß-Biß-Opfer sich kaum Da schnappt sich Lestat, der treue Ader pocht: Das ist des Killers Kiss. wehrt, vielmehr nachgibt, ja sich hingibt Gefährte, eine der Ratten, die unter Wer aufgepaßt hat im Bio-Unterricht, mit seinerseits schmelzendem, dann bre- dem Tisch wuseln, beißt sie, daß ihr Ge- weiß, daß beim Vampir Hunger, Durst chendem Auge: eine Vermählung, ein nick knackt, und preßt sie in der Faust und sexuelles Verlangen ausschließlich Liebestod. Nie zuvor hat ein Main- aus wie eine Zitrone. Der Saft, der vom und zugleich in diesem einen Akt des stream-Film aus Hollywood die Umar- zuckenden dünnen Schwänzchen in ein Zubeißens und Saugens und Tötens ge- mung zweier schöner junger Männer so

184 DER SPIEGEL 49/1994 . U. RÖHNERT „Tanz der Vampire“ (1967) von und mit Roman Polanski (r.) WARNER BROS. JAUCH UND SCHEIKOWSKI Bela Lugosi mit Helen Chandler in „Dracula“ (1931) von Tod Browning „Interview mit einem Vampir“

mächtig in den Himmel gejubelt: Nun, o Himmel, das den, der Erklä- Unsterblichkeit, bist du ganz mein. rungen sucht, irrlichternd So schön und erstaunlich das sein mag auf viele Fährten lockt. Das (es ist ja erst der Beginn der Geschichte), Ereignis, scheint es, hat sich als erstaunlicher und für die Beteiligten selbst hervorgebracht und schöner noch erscheint der Erfolg dieses handelt nur von sich; außer- wahrhaft blutrünstigen und morbiden Er- halb der Sphäre von Mär- lebnis-Angebots: Als Neil Jordans Film chen, Mythen, Fiktionen „Interview With the Vampire“ am 11. mißt man Vampiren keine November in die amerikanischen Kinos Realität zu. kam, drängten sich in den ersten drei Ta- Daß die Uralt-Figur des gen über drei Millionen Zuschauer, um Blutsaugers aus dem Sarg ihn zu sehen; und nach zehn Tagen hatte einmal mehr eine so erstaun- er die gut 60Millionen Dollar eingespielt, liche Wiederkehr feiert, er- die seine Herstellung kostete. Und natür- klärt sich aber auch nicht aus lich hat auch schon, wie das so ist, in San Moden oder Entertainment- Francisco ein verwirrter Fan am Morgen Strategien. Offenbar wurzelt FILMARCHIV U. REIMER nach dem Kinobesuch auf seine Freundin diese Figur tief im Fundus Klaus Kinski in „Nosferatu“ (1979), Gary Oldman in „Dracula“ (1992) eingestochen, um ihr Blut zu trinken. jener kollektiven Ängste Für die Kassenstatistiker Hollywoods, und tabuisierten Wünsche, denen der Profit als die einzige objektiv dem Märchen, Aberglauben meßbare Qualität gilt, steht in der Hitpa- und Alpträume entspringen; rade der Filme, die am schnellsten am das gibt ihr Macht über un- meisten Geld einbrachten, nun „Inter- sere Phantasie. view With the Vampire“ auf Platz fünf Träume sind nicht Schäu- hinter dem Spitzenreiter „Jurassic Park“. me und Vampire nicht nur Und das gilt als besonders sensationell, Vampire; sie sind Vehikel, weil der Vampir-Film natürlich – Satan aufgeladen mit Bedeutung, sei’s geklagt!–alseinziger in dieser Grup- mit der Trias Blut-Lust-Tod pe nicht jugendfrei ist. etwa und mit der Sehnsucht Ein Spektakel-Ereignis also, ein Me- danach und der Angst da-

dien-Phänomen aus nachtschwarzem vor. Um im Bilde Goyas zu COLORIFIC / INTERTOPICS Werbeseite

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Stoker’s Dracula“, von Francis riere: Der Sprung des Strahlemanns ins Ford Coppola mit grandiosem diabolische Killerfach galt so schon vor Pomp serviert, zum Kultspekta- dem ersten Drehtag als Ereignis. kel. Folgerichtig kam vor einem Und als der Film dann fertig war, Monat, unter Coppolas Aufsicht wurde Flagge gezeigt: Amerikas tonan- von Kenneth Branagh gewaltig gebende Plaudertasche, die Talkmaste- herausgeputzt, „Mary Shelley’s rin Oprah Winfrey, lief demonstrativ Frankenstein“ in die amerikani- angeekelt aus einer Vorführung von schen Kinos, und mit Neil Jordans „Interview With the Vampire“ davon, „Vampir“ ist vielleicht noch nicht der Gipfel erreicht. Im Frühjahr serviert Stephen Frears eine neue Zwei prominente Figuren, Kinoversion der Geschichte von um die Neugier des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Mit Si- cherheit gilt im Show-Business: Publikums aufzustacheln Ein Monster bleibt selten allein, und Nachahmungstäter sind im- die New York Times hingegen feierte mer die schnellsten. den Film als „einen der besten“ und Als verantwortlich für den Sen- „bleibenden“ des Jahres. sationserfolg von „Interview With Die „Interview“-Handlung führt 200 the Vampire“ müssen die gelobten Jahre zurück, in eine vampirisch belebte PR-Strategen der Firma Warner Epoche. Kult und Aberglaube sind je- Bros. gelten, doch damit sie das doch viel älter. Erste finstere Mären von schafften, brauchten sie einen Blutsaugerei und Wiedergängertum sind Film, der tatsächlich machtvoll bereits aus dem Mittelalter bekannt:

FABIAN / SYGMA und außerordentlich ist. Und sie Grausliches über einen „Nachzehrer“, Coppola-Produktion „Dracula“ brauchten dazu zwei prominente der ein ganzes Dorf entvölkert haben Aufstieg aus dem Schmuddelkino... Figuren, um Neugier und Erwar- soll, überlieferte beispielsweise um 1200

bleiben: Der Schlaf der Ver- nunft, das Unbewußte, gebiert Ungeheuer, das Unheimliche. Daß das Kino mit seiner Hell- dunkel-Magie der ideale Ort ist, um davon zu erzählen, soll sich nun auch hierzulande einmal mehr erweisen: Seit vergangener Woche hält der Vampir Lestat in deutschen Kinos Bluternte. Filmerfolge sind bei weitem zu unberechenbar und zu paradox, als daß sie auf realere Befindlich- keiten oder Bedürfnisse des Pu- blikums verweisen könnten. Nur aufs Kino selbst bezogen kann das Wechselspiel „Hit oder Flop“ Veränderungen des Ge- schmacks, der Neugier, der Unterhaltungserwartungen des Volks verraten. So hat man in Hollywood im Recycling der immerwährenden Stoffe neuerdings irritiert fest-

stellen müssen: An den männ- COLUMBIA TRI-STAR lich-gesunden Westernmythen . . . mit dem Pomp der großen Oper: Coppola-Produktion „Mary Shelley’s Frankenstein“ der nationalen Selbstfindung, an diesen Kronjuwelen des Amerikanis- tung des Publikums zum äußersten auf- der walisische Kleriker Walter Map. mus, besteht derzeit kaum Publikumsin- zustacheln: erstens die kultisch verehrte Nicht einmal ein kirchlich angeordne- teresse. Der Horror aus Trivialschmö- Schriftstellerin Anne Rice, 53, deren ter Kehlenschnitt an der allzu munte- kern des europäisch-dekadenten 19. 1976 veröffentlichter Roman „Interview ren Leiche brachte den „gefallenen Jahrhunderts hingegen, der seit langem With the Vampire“ in den USA in 4,5 Engel“ dazu, vom bösen Tun abzulas- abgesackt schien ins Zombie-Gemetzel Millionen Exemplaren verbreitet ist, sen. Erst als der letzte übriggebliebene der Schmuddelkinos, kann in aufge- und zweitens den Schauspieler Tom Dorfbewohner ihn stellte, sein Schwert frischter Pracht wieder zum Ereignis Cruise, 32. zückte und den Schädel des blutdürsti- werden. Cruise steht als Spitzenstar seiner Ge- gen Höllenwesens bis zum Genick Während sich auch die aufwendigsten neration inzwischen so exponiert im spaltete, habe der Spuk endlich aufge- neuen Western trotz Stars wie Kevin grellen Scheinwerferlicht der Medien, hört. Costner („Wyatt Earp“) oder Tom daß schon jede seiner Rollen-Entschei- Aufs christliche Europa freilich war Cruise („Far and Away“) an der Kino- dungen erörtert wird, als ginge es um das Unwesen keineswegs beschränkt. kasse als Pleiten erwiesen, wurde „Bram Gedeih oder Verderb für die ganze Kar- Jedes Volk kolportiert seine eigene

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sche Sozietät der Wis- 1735 war von nichts anderem als von senschaften wurde um Vampiren die Rede; man lauerte ihnen ein Gutachten gebe- auf, man durchbohrte ihnen das Herz, ten; Michael Ranft, und sie wurden verbrannt.“ Und je ein Pionier der Vam- mehr man verbrannte, „desto mehr pir-Kunde, machte tauchten auf“. 1728 in seinem Stan- Die Aufklärung reckte damals ihre dardwerk „Über das jungen Glieder, „E´ crasez l’infame“, zer- Kauen und Schmatzen schmettert den Aberglauben, so ging der Todten in Grä- Voltaires Schlachtruf. „Die wahren Sau- bern“ geheime Natur- ger“, schrieb er, „wohnen nicht auf kräfte dafür verant- Friedhöfen, sondern in wesentlich ange- wortlich. nehmeren Palästen.“ FOTOS: AKG „Dracula“-Romanszene*: „Allerlei Verruchtheiten“

Version des Schauer- stoffes: Von den Indern, wo Frauen von blutgie- rigen Buhlgeistern im Schlaf heimgesucht worden sein sollen, über Gruselstorys mit weibli- chen Vampiren aus der orientalischen Mär- chensammlung „Tau- sendundeine Nacht“ bis zum Ovengua-Dämon des Camma-Stammes auf Neuguinea oder den scheußlichen Buaus, an die die Dayak von der Insel Borneo glauben – Historischer Dracula, Vampir in der Karikatur*: „Kapital ist verstorbene Arbeit“ kein Ort auf Erden, an dem nicht schon Vampire oder ihresglei- Feststand: Vampire imGrabesinddar- In Paris und London bedürfe es kei- chen gehaust haben. an zu erkennen, daß sie nicht verwesen, ner Vampire; da gebe es „Börsenspeku- Was „Vampir“ für ein Wort sei, ein das linke Auge offenhalten und weiter lanten, Händler, Geschäftsleute, die ei- polnisches, serbisches, türkisches, ist unten eine „penis erectio“ haben. Sie wa- ne Menge Blut aus dem Volk heraussau- immer noch Streitsache, auch seine Be- ren die Ufo-Männchen ihrer Zeit, zer- gen“. Die Herren seien keinesfalls tot, deutung. Über das Abendland kam es, trampelten aber keine Kornfelder. Nor- aber „ziemlich angefault“. Diese Herren als zu Beginn des 18. Jahrhunderts im malsterbliche waren für sie ein problem- brachte später einer auf den Begriff und Osten Europas eine epidemische Vam- los nachwachsender Rohstoff, zu alsbal- dekretierte: „Das Kapital ist verstorbe- pir-Hysterie tobte, die Gelehrten und digem Verzehr bestimmt. Ließ sich ein ne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig be- Journalisten die Federn sträuben ließ. Vampir als solcher identifizieren, mußte lebt durch Einsaugung lebendiger Ar- Nach zwei besonders eklatanten Fäl- gehandelt werden: Kopf abhacken und beit und um so mehr lebt, je mehr sie len – selbst 90 Tage nach dem Ableben, zwischen die Beine legen, im Sarg anna- davon einsaugt.“ Klar, Karl Marx. so bestätigten Zeugen, war das Blut der geln, Erde inden Mund stopfen, verbren- Damals allerdings waren für den angeblich Untoten frisch und flüssig ge- nen; oder, und das wurde in der literari- Vampir – wie für manch andere Spuk- wesen – widmeten sich gar aufgeklärte schen und cineastischen Vampirologie und Schreckgestalt – längst nicht mehr Forscher dem Phänomen: Die Preußi- das Mittel der Wahl – ein Pfahl ins Herz. die Naturwissenschaftler oder Theolo- „Was! In unserem 18. Jahrhundert hat gen zuständig, sondern die Dichter: es Vampire gegeben!“ Der Philosoph Vampire stillten den romantischen Be- * Oben: Illustration von 1897; unten: Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, Holzschnitt nach Wal- Voltaire zog, ums Jahr 1770, sarkastisch darf an Über-Sinnlichkeit. Für seine ter Crane um 1890 (r.). über den Aberglauben her: „Von1730 bis „Braut von Korinth“ zog Goethe 1797

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eine antike Legende heran, nach der ein totes Mädchen den frühe- ren Geliebten ins Jenseits zu den „alten Göttern“ geholt habe, eine Ballade mit Biß: Aus dem Grabe werd ich ausge- trieben,/ Noch zu suchen das ver- mißte Gut,/ Noch den schon ver- lornen Mann zu lieben/ Und zu saugen seines Herzens Blut./ Ists um den geschehn,/ Muß nach an- dern gehn . . . Reif für die massenhafte Ver- mehrung der Wiedergänger war Europa allerdings erst 20 Jahre später. Als könnten die realen Leichen der Napoleonzeit nicht ruhen, breitete sich der literari- sche Vampirismus aus wie eine Seuche. „Kein Theater in Paris ist ohne seinen Vampir“, meldete ein Kri-

tiker um 1820 bestürzt. In Novel- L. ROSE / GLOBE PHOTOS len, Schauerromanen und Vaude- Vampir-Chronistin Rice ville-Stücken waren Untote die 1,3 Millionen Romane pro Jahr verkauft Attraktion; selbst in Opern wie dem beliebten „Vampyr“ von Heinrich versetzte in höchste Wollust, die Opfer Marschner entging niemand dem ge- starben in Seligkeit dahin sowie in blei- bleckten Gebiß der Nachzehrer. cher Schönheit. Auch blieb der Berufs- Ohne „allerlei Verruchtheiten“ zweig nicht länger Bastion der Männer. (Goethe), am besten gleich einen Wie- Mit Sheridan LeFanus Novelle „Carmil- dergänger eigener Fabrikation, mochte la“ (1872) brach die vampirische Quo- eben kaum ein romantischer Dichter tenfrau über die Menschheit herein, die auskommen – kochte doch sogar privat Femme fatale, auf deren Gefährlichkeit die Lust am ganz besonderen Saft über. dann, besonders als Kino-Idol, der Na- „Öffne alle Adern deines weißen Lei- me „Vamp“ verwies: Männer umschwir- bes, daß das heiße, schäumende Blut ren mich wie Motten das Licht . . . aus tausend wonnigen Springbrunnen Es war der Ire Bram Stoker, der 1897 spritze, so will ich dich sehen und trin- in seinem „Dracula“, dem letzten Klas- ken . . .“ schrieb Clemens Brentano in siker des Genres, noch einmal alle Blut- Liebesraserei an seine Dichterkollegin requisiten und Schauereffekte zusam- Karoline von Günderrode. menrührte und dem transsylvanischen Denn bei allem Horror fanden gerade Grafen einen angemessenen letzten helle Köpfe im Vampir-Stoff einen Kern Gegner verschaffte: den Londoner Na- psychologischer Einsicht. So ließ turwissenschaftler Abraham van Hel- sing, der am Ende unheimlicher wirkte als der Blutsauger selbst. Der blutige Beißer „Dracula“ verhalf dann auch dem mausert sich zum Mythos zum Sprung ins Kino: Ein ver- schämtes Stoker-Plagiat ist der erste dämonischen Liebhaber abendfüllende Vampir-Film, Murnaus „Nosferatu“ von 1922. Wie er virtuos Charles Baudelaire in einem Gedicht die Grusel-Ästhetik von verfallenen den Roman-Wiedergänger Melmoth Häusern, Schlagschatten und Nebel- gnadenlose Selbstanalyse treiben: „Ich schwaden zu einer expressionistischen bin der Vampir meines eignen Her- „Symphonie des Grauens“ verband, zens.“ Und in Lautre´amonts verruchten setzte Maßstäbe auf lange Zeit. Von sei- „Gesängen des Maldoror“ (1868) – spä- nen Erfindungen zehrte noch Holly- ter ein Kultbuch der Surrealisten – emp- wood in den dreißiger Jahren, als dort fahl der böse Engel als besten Durstlö- Bela Lugosi als Blutsauger vom Dienst scher Kinderblut, besonders „wenn man seine Karriere begann: Der gebürtige es noch ganz warm trinkt“. Ungar, ein stets mondäner Edelvampir, Charakteristischerweise mauserte sich wurde im Laufe der Jahre derart eins der Beißer im Lauf der Jahre und der mit seiner Paraderolle, daß er endlich Bücher vom Nachtmahr zum süßen auch außerhalb der Studios nur noch im Schreck der Dämmerstunde, zum dämo- Sarg schlafen mochte. nischen Liebhaber, der sich durch die Lugosis Nachfolge trat, als in den Boudoirs biß: Die Hauer wirkten nun fünfziger und sechziger Jahren Grusel- verdächtig phallisch, der scharfe Kuß filme aus englischer Fabrikation Serien-

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erfolge feierten, Christopher Lee an: Die elegante Morbidezza, die er auf sei- nem Langschädel zur Schau trug, war stets auf der Kippe zur Lächerlichkeit. So schien es überfällig, das Genre selbst mit einem parodistischen Tritt ins Grab zu stoßen, und das tat mit quirligem Witz Roman Polanski in seinem „Tanz der Vampire“ von 1967. Doch nicht ein- WARNER BROS. „Interview“-Filmszene: Blut schmeckt nur, wenn es warm ist

AKG gen Rundfunkreporters, vor Munch-Gemälde „Vampir“ (1893) dem Louis in einer Absteige in „Öffne alle Adern deines Leibes“ San Francisco eine Nacht lang seine Lebensbeichte ablegt. mal angesichts dieser definitiven Veräp- Der Junge vergißt beinahe, die pelung haben die Leinwandvampire sich Tonbandkassetten zu wech- ins Jenseits gegrämt. Totgesagte leben seln, denn er ist von der blas- länger, gerade in unruhiger Zeit. Jetzt sen Leidensgestalt so faszi- weiß man: Sie haben einfach in aller Ru- niert, mesmerisiert, ja vampiri- he auf ihre Stunde gewartet. siert, daß ihn am Ende nach Gutmütige Schmöker wie auch frühe, des Killers Kiss wie nach ei- schlicht gestrickte Vampir-Filme ließen nem Gnadenstoß oder einer im unklaren, was eigentlich einen Le- Letzten Ölung verlangt. benden in einen Untoten verwandelt. Falls man sich auf den Be- Noch vor 100 Jahren vertrat van Helsing, richt von Louis verlassen kann, der führende Fachmann seiner Zeit, die ist Lestat de Lioncourt, als er Ansicht, daß jeder, den ein Vampir bei- sich im Jahre 1791 aus dem re- ße, zwangsläufig selber zum Vampir volutionswirren Paris nach werde. Louisiana absetzt, wohl der er- Dem widerspricht aus intimer Sach- ste Vampir auf dem Boden der kenntnis Louis de Pointe du Lac, dessen Neuen Welt. Bei seinen Beute- „Interview“ (im Roman von Anne Rice zügen durch die bessere Ge- wie nun im Film von Neil Jordan) erzäh- sellschaft von New Orleans be-

lend auf rund 200 Jahre Vampir-Sein zu- HIPP-FOTO vorzugt er als Vorspeise eine rückschaut. Was seinen Bericht so über- Kino-Idol Marlene Dietrich Dame – möglichst eine Aristo- raschend macht, ist der spezifische Blick. Wiederkehr der Vampirin als Vamp kratin, die er nicht nur um ihr Bisher trat der Vampir stets als Mon- Blut, sondern auch um ihre Ju- ster auf, als der gräßliche Unbekannte, Er verrät uns: Vampir wird man nur, welen erleichtern kann –, als Haupt- der hinterrücks wie aus dem Nichts her- wenn man das Blut eines anderen Vam- gang aber dann einen kräftigen Herrn. aus angreift und seinem Opfer im selben pirs zu trinken bekommt, und Vampire So gerät er an Louis de Pointe du Augenblick wie dem Leser oder dem Ki- sind nicht entsetzenerregend oder mon- Lac, und da ihn dessen zarte Schönheit nozuschauer Schauder des Grauens über strös, sondern schick, glamourhaft und wie dessen fabelhafter Reichtum als den Rücken jagt. Diesmal, bei Louis de verführerisch schön. Da sie nicht altern, Herr über Indigoplantagen am Missis- Pointe du Lac, ist das grundsätzlich an- sondern für immer so bleiben, wie sie im sippi locken, läßt Lestat ihn nicht aus- ders. Diesmal ist ja der Erzähler selbst Augenblick ihrer Verwandlung waren, gelutscht und tot wie seine üblichen ein Vampir, steht also die Kamera nicht schwebt um sie – bei aller naturgege- Opfer liegen, sondern macht ihn durch auf der Seite des überrumpelten Opfers, benen Blässe – eine Aura ewiger Ju- einen orgiastischen Akt der Bluttrans- sondern teilt die Haltung des Täters, und gend. fusion zu seinem Geschöpf, seinem das bedeutet: Alle Sympathie des Publi- Alle Hauptfiguren der Geschichte Partner, seinem Double, seinem Co- kums ist bei ihm. sind Vampire, mit Ausnahme jenes jun- Vampir:

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Es ist ein wahrlich erstaunliches nicht sterben, sondern adelt es durch Schöpfer-Geschöpf-Paar, das sich da seine Blutspende (sein „Viaticum“) zur fortan und jahrzehntelang durch die Vampirin. Nächte von New Orleans mordet, in in- Nun geht auch die kleine Claudia (im nigster Haßliebe wie Mephisto und Roman ist sie fünfjährig, im Film, der Faust aneinandergekettet. Und im die Grenzen des Darstellbaren nicht Fortgang der Geschichte machen die überschreiten kann, wird sie von der elf- beiden sich auch noch ein Kind: Louis jährigen Kirsten Dunst gespielt) im hat, gegen alle humanen Vorsätze, ein Mondschein auf Jagd. Als müdes Kind, kleines Mädchen angebissen, dessen das sich angeblich verlaufen hat, weckt Niedlichkeit er einfach nicht widerste- sie die Aufmerksamkeit von Passanten, hen konnte, und Lestat läßt das Kind und wenn jemand sie mitleidvoll auf den

„Ironie muß sein“ Interview mit dem Regisseur Neil Jordan über seinen Hang zu Vampiren

SPIEGEL: Mr. Jordan, Siesind durch dü- Jordan: Eines, ja, aber nicht die Vam- stereThrillerwie„MonaLisa“und „The pir-Romane. Crying Game“ berühmt geworden. SPIEGEL: Haben Sie dem Film absicht- Wenn man Ihnen „Interview mit einem lich einen Schuß schwarzen Humors Vampir“ nicht angeboten hätte, wären beigegeben, den der Roman nicht hat? Sie je auf die Idee gekommen, einen Jordan: Ein bißchen Ironie muß sein. Horror- oder Fantasy-Film zu drehen? Daß ein Vampir, weil er sich nicht an Jordan: Aber ja. Vor zehn Jahren habe Menschen herantraut, Ratten oder Pu- ich einen Märchenfilm gemacht, „Die del auslutschen muß: Ist das nicht ko- Zeit der Wölfe“, nach einem Buch von misch? Oder daß die kleine Vampirin Angela Carter. Und mit Angela Carter durch die Stadt schlendert wie durch war ichbiszuihrem Tod vor zwei Jahren einen Bonbonladen auf der Suche nach über ein neues gemeinsames Projekt im Näschereien: Ist das nicht auch ko- Gespräch. Es sollte „Vampirella“ hei- misch? Es geht um ein wenig Entmy- ßen. Nach „The Crying Game“ wollte thologisierung. ich unbedingt etwas Märchenhaftes SPIEGEL: Ob wohl Anne Rice Sinn für oder Phantastisches anpacken, und vom solchen Humor hat? „Interview“ war ich auf Anhieb begei- Jordan: Wer weiß. stert. SPIEGEL: Hätten Sie gern, wie im Ro- SPIEGEL: Kannten Sie schon Bücher man, eine fünfjährige Vampirin ge- von Anne Rice? habt? T. EINBERGER / ARGUM Filmemacher Jordan: „Ich mag Fabelwesen“

196 DER SPIEGEL 49/1994 Arm hebt, beißt sie todbringend zu: Zu- sammen mit Lestat und Louis, die sie ih- re „Eltern“ nennt, bildet diese goldlok- kige Lolita mit Reißzähnchen eine un- vergleichlich unheilige Familie. In roher Nacherzählung läßt sich nicht vermitteln, daß das Treiben dieses Blut- sauger-Trios als Roman keineswegs eisi- ges Grauen hervorruft, sondern mit sei- dig-samtig-sentimentaler Melodramatik seine Fans zu Tränen rührt, und daß auch der Film bei allem morbiden Gla-

Jordan: Ich habe Probeaufnahmen mit einer Sechsjährigen gemacht. Sie war sehr anrührend und schön, aber man merkte, daß sie weder die Situation noch ihren Text wirklich versteht. Ich brauchte ein Kind, das eine erwachse- ne Frau spielen kann. SPIEGEL: Bedeutet Ihr Interesse für Fantasy-Stoffe eine Abwendung vom Realismus? Jordan: Aber wieso? Ich denke, auch jene meiner Filme, die man auf den er- sten Blick für realistisch hält, führen ins Phantastische. Eine Geschichte er- zählen ist wie eine Reise unternehmen. So führt in „The Crying Game“ der Weg des Helden aus der sehr kompak- ten, bedrückenden Bürgerkriegsreali- tät Nordirlands in eine Welt, die ihm so fremd ist, daß sie ihm traumhaft und imaginär erscheint. SPIEGEL: Was interessiert Sie am Hor- rorgenre? Jordan: Oh, ich hoffe, „Interview“ ist kein Horrorfilm wie „Der Exorzist“ oder „Das Schweigen der Lämmer“. Bei mir bangt man doch nie mit einem unschuldigen Opfer, das überfallen wird. SPIEGEL: Und was mögen Sie beson- ders an Vampiren? Jordan: Das Surreale, das Potential an Phantasie. Ich mag Mischgeschöpfe, Fabelwesen. Mir würde auch ein Engel mit seinen Flügeln gefallen oder eine Kentaurin – halb Pferd, halb Frau. SPIEGEL: Es soll also nicht zu sehr menscheln? Jordan: Im Gegenteil. Das eigentliche Erfolgsgeheimnis von Walt Disney be- steht, glaube ich, darin, daß man eine Maus oder eine Ente menschlicher ma- chen kann als einen wirklichen Men- schen. SPIEGEL: Haben Sie eine Theorie oder Erklärung dafür, warum plötzlich Vampire wieder Mode sind? Jordan: Keine Ahnung. Vor zehn Jah- ren war es genauso mit den Hexen. Aber vielleicht paßt es zu unserem Jahrhundertende, daß eine gewisse Fin-de-sie`cle-Dekadenz wiederkehrt.

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mour und Pomp, den er sich leistet, be- sungssehnsucht überwältigt und dem wegendes Mitgefühl für seine Geschöp- Sterben nah. fe schafft. Nicht der Horror, diese Liebe Das bedeutet wohl: An ein Verspre- erst macht den sensationellen Erfolg. chen „Fortsetzung folgt“ hat Anne Rice Es ist eine Frau, die sich dieses Schau- nicht gedacht, als sie ihren ersten Ro- erwerk ausgedacht hat, das alles Nekro- man zu Ende brachte. Einer ihrer näch- phile bis in die Fingerspitzen erotisiert. sten (er hieß nicht „Der Virtuose“) han- Doch es gibt Grund zu glauben, daß delte vom Schwelgen und Schmachten Anne Rice, geboren 1941 in New Or- eines berühmten Opern-Kastraten im leans, sich vor 20 Jahren auf keine Wei- Venedig des späten 18. Jahrhunderts – se der Tragweite ihres Tuns bewußt war, und natürlich war da der Kastrat (wie als sie in San Francisco ihr erstes Buch zuvor der Vampir) ein Außenseiter und zusammenzuphantasieren und niederzu- vom Leben Ausgeschlossener, dessen schreiben begann. In ihrer Arbeit steck- Sexualität, so berauschend sie auch aus- te ein verzweifelter Versuch der Selbst- schweift, doch immer irreal bleibt. therapie: Sie wollte über den Tod ihrer Anne Rice hat dann unter dem Na- Tochter hinwegkommen, die mit fünf men A.N. Roquelaure eine pornogra- Jahren an Leukämie gestorben war, und phische „Dornröschen“-Romantrilogie natürlich gab sie dem verlorenen Kind für Sadomaso-Freaks geschrieben, zu in der Figur der fünfjährigen Claudia ei- der sie sich noch heute durchaus „mit ne Art jenseitiger Unsterblichkeit. Stolz“ bekennt, dann auch zeitgenössi- Zugleich wollte Anne Rice sich sche Erotica als Anne Rampling. schreibend vor dem Absturz in den Suff So dauerte es fast zehn Jahre, bis die in Sicherheit bringen: Auch im fernen Vampire, wohl auch beflügelt durch in- San Francisco holten sie Schuldgefühle und Alpträume aus ihrer sehr irisch-ka- tholisch-kleinbürgerlichen Kindheit in Der Fürst der Finsternis New Orleans ein. Anne, merkwürdiger- wird wieder und wieder weise auf den Jungen-Vornamen Ho- ward getauft, war eine von vier Töch- dem Scheintod entrissen tern eines Postangestellten, der sich gern für einen Dichter gehalten hätte, ternationalen Erfolg (auf deutsch er- und einer sehr lebendigen, phantasie- schien das „Interview“ zuerst 1978 unter vollen, exaltierten Mutter, die dennoch dem Titel „Schule der Vampire“), im vor den Augen der Kinder trank und Werk von Anne Rice die Oberhand zu- trank, bis sie tot war. Bei ihrem Begräb- rückgewannen: Durch viel frisches Blut nis war Anne 15, und viele Jahre später wurde der „Fürst der Finsternis“ Lestat hat sie, nun schon bewußter und insze- dem Scheintod entrissen, um kreuz und nierender, in ihrem Werk auch die ge- quer durch die Jahrhunderte in (inzwi- liebte Mutter in die Unsterblichkeit er- schen drei) weiteren Bänden der hoben als – was denn sonst? – „The „Vampire Chronicles“ sein einträgliches Queen of the Damned“. Unwesen zu treiben. Band fünf mit dem Anne Rice, obwohl Schöpferin einer Titel „Memnoch, the Evil“ kommt eigenen Halbgötter-Welt, ist keine Au- nächstes Jahr auf den US-Markt. torin mit priesterlicher Attitüde, sie Biß um Biß, Schritt um Schritt hat stellt sich vielmehr als schlichte schrift- Anne Rice ihre Untoten-Welt zu einer stellernde Hausfrau dar, die sich im weitverzweigten Privatmythologie aus- Dunkeln auf der Kellertreppe fürchtet. gebaut, zu einem Eigen-Reich, als des- Seit sechs Jahren lebt sie wieder ganz sen Gründerfiguren ein ägyptisches Pha- nah den düsteren Orten ihrer Kindheit raonenpaar vor 6000 Jahren zu gelten in New Orleans, mit Mann und Sohn in hat, Königin Akasha und König Enkil, einem prächtigen alten Herrenhaus, wo die über den Tod hinaus von ihrer kan- es natürlich standesgemäß spukt. nibalischen Lust nicht lassen wollten. Im Auch ihre Beziehung zu ihren Figuren Jahr 1989 wurden allein in den USA erklärt Anne Rice hausfraulich als fami- 1,3 Millionen Anne-Rice-Romane ver- liäre: Für den elegant-diabolischen Star- kauft, also gut 3500 Stück pro Tag oder vampir Lestat habe ihr Ehemann Stan alle 24 Sekunden einer, Tag und Nacht. Rice (von Beruf Maler, Lyriker, Uni- Eine Filmoption auf „Interview With versitätslehrer) Modell gestanden, und the Vampire“ wurde schon 1976 ver- in die Figur des empfindsamen, vergrü- kauft, und der Vorschuß kam der An- belten Louis habe sie einfach sich selbst fängerin gewiß gelegen. Doch im Lauf mit ihren Sehnsüchten und Gewissens- der Jahre zerschlugen sich immer neue qualen hineingeschrieben. Kinoprojekte, als hätte der Teufel ein Die schwelgerische Erotisierung aller Händchen im Spiel. Und weil weitere Ereignisse ist gewiß die eine Besonder- Rice-Verfilmungspläne ebenso schief- heit ihres Buches, die andere ist ein gingen – kein anderer ihrer Romane ist Grundstrom der Trauer und des Ver- bisher ins Kino gekommen –, munkelt lustschmerzes, den nichts auf der Welt man in Hollywood, es sei im Grunde die je stillen kann. Am Ende sind all ihre Autorin selbst, die gern die Vorschüsse vampirischen Hauptfiguren von Erlö- nehme, dann aber durch Einwände oder

200 DER SPIEGEL 49/1994 Werbeseite

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Werbeseite Vorschläge die Kinoversionen ihrer Bü- cher sabotiere. Vielleicht verstaubte auch das „Inter- view“ weiter in irgendeinem Produkti- onsbüro, wenn nicht ein besonders be- geisterter Rice-Leser die Sache an sich gerissen hätte: David Geffen, 51, der als stets sonniger, siegessicherer Midas der Popmusik zu Geld gekommen ist. Seit er vor vier Jahren sein Platten-Imperi- um für 660 Millionen Dollar verkauft hat, drängt er ins Kinogeschäft. Das Rice-Projekt hat er gegen man- che wohlmeinende Expertenwarnung durchgeboxt, und nun wird er einmal mehr als der Mann mit dem goldenen Händchen gefeiert. Vor zwei Monaten wurde publik, daß er zusammen mit Ste- ven Spielberg und dem früheren Disney- Boß Jeffrey Katzenberg eine neue Pro- duktionsfirma aufzieht, vor der die alten Hollywood-Studios erzittern sollen. Die wohlmeinenden Warnungen er- reichten Geffen, als bekannt wurde, wen er – weil aus der ersten Regie-Gar- de Amerikas niemand mitziehen wollte – für sein erstes großes Luxus-Prestige- Projekt („Das ist kein Hollywood-Film, das ist mein Film“) als Regisseur ange- heuert hatte: Neil Jordan. Anne Rice al- lerdings riet ihm begeistert zu, doch das hätte manch anderen erst recht alar- miert. Und die Autorin, geschäftstüch- tig wie nur je eine dichtende Hausfrau, verzichtete nicht darauf, Geffen dann für die bloße Verlängerung der Filmop- tion eine Extra-Million Dollar abzuzok- ken. Das hat ihn geärgert, weil er Ge- schäftsmann ist; andererseits ist der Ab- kömmling russischer Einwanderer ohne High-School-Abschluß heute mit einer Milliarde Dollar Privatvermögen „der reichste Mann in Hollywood“ (New York Times) und hat schon im voraus al- le Profite aus dem Vampir-Film karitati- ven Einrichtungen versprochen. Der Ire Neil Jordan, 44, Schriftsteller, Saxophonbläser, Freizeit-Revoluzzer, Bohemien und nach irischen Moralmaß- stäben ein Taugenichts (zu viele Kinder von zu vielen verschiedenen Frauen), hatte zwar mit seinem letzten Film, dem politisch-erotischen Terroristenthriller „The Crying Game“, besonders in den USA einen sensationellen Erfolg. Er gilt aber als querköpfiger Bilder- Poet, sehr europäisch, versponnen und egoman, dem schon vor einem Begriff wie „Mainstream“ graust. In Irland hat er sich mit seinem IRA-Krimi „Angel“ mißliebig gemacht, bei allen Märchen- tanten der Welt dann mit seiner poly- morph-perversen Rotkäppchen-Film- version „Die Zeit der Wölfe“, und in Amerika ist er als Regisseur schon mit zwei Filmen nacheinander schwer auf die Nase gefallen (siehe Interview Seite 196). Geffen aber ließ sich von Warnungen nicht schrecken. Er umwarb auch mona-

204 DER SPIEGEL 49/1994 . WARNER BROS. Vampir-Darsteller Dunst, Pitt, Cruise in „Interview“: Nicht der Horror, sondern die Liebe macht den Erfolg

telang den Iren Daniel Day- – zu einem Schlüsselmoment, Lewis, den sich Anne Rice als der den Zeit-Bogen schließt: Lestat wünschte, brachte ihn Der erste große Kinovampir aber nicht einmal dazu, das Nosferatu (dargestellt, nomen Drehbuch zu lesen. Geffens est omen, von Max Schreck) spektakulärstes Manöver begegnet Auge in Auge seinem schien gelungen zu sein, als er letzten Nachfahr Louis (Brad Tom Cruise für die Rolle des Pitt). Verführers Lestat gewann. Es gibt keinen vernünftigen Aber nein, Irrtum, niemand oder gar zwingenden Grund hatte mit Anne Rice gerechnet: auf der Welt, sich für das Sie beschimpfte – wie in einem Glück oder Unglück von Vam- letzten Versuch, das ganze piren zu interessieren. Es han- Projekt zu torpedieren – in In- delt sich wirklich um nichts als terviews den Superstar Cruise ein Stück Kunst, ein Spiel der als Fehlbesetzung („so unmög- Phantasie, ein Vergnügen. Be- lich wie Edward G. Robinson stenfalls ließe sich Louis, dem als Rhett Butler“), stiftete ihre selbstmitleidigen Melancholi- Anne-Rice-Vampir-Fanclubs ker, zugute halten, daß der Bil- zu Anti-Tom-Cruise-Demon- dungsroman seines Lebens strationen an und hüllte sich (auch als Film) Tieferes über fortan in dunkelsten Groll. Geist und Fleisch, Todessehn- Vor zwei Monaten aber – sucht und Ewigkeitslust sagt als diesen Theatercoup hätte sich manches Bekenntnis eines auch der abgekochteste PR- Sterblichen. Stratege nicht auszudenken ge- Lestat, der Dandy, singt ein- wagt – kam als doppelseitige mal, den Blutkelch in der Anzeige in Variety und New Hand, einen italienischen York Times Anne Rices pathe- Schlager, der anno 1791 ganz tischer Widerruf, ihr Glück- frisch nach New Orleans her- wunsch an Jordan und Cruise: übergekommen sein muß: ein Der Film habe sie zutiefst er- paar Takte aus „Don Giovan- schüttert und all ihre Erwar- ni“. Und der Film schlägt dann tungen übertroffen. Jordan, den Zeit-Bogen zu einem an-

tatsächlich, wütet in Luxus, JAUCH UND SCHEIKOWSKI deren Schlager, seiner einzig Feuer und Blut wie keiner seit „Nosferatu“-Star Schreck (1922) möglichen Titelmelodie. Als Coppola, und Cruise – sehr an- „Sympathy for the Devil“ Anne Rice ihr Buch schrieb, drogyn, goldblond gelockt und sangen ihn die Rolling Stones, mit vergißmeinnichtblauen Augen – gibt des 20. Jahrhunderts vor der wachsen- jetzt im Film sind es die Guns N’Roses: sich seiner Strahlkraft hin wie noch nie: den Leere öfter und öfter ins Kino: We- „Sympathy for the Devil“. in jedem Augenaufschlag bis an den nigstens dort kann er die Sonne sehen, Möge er siegen. In zwei oder drei Jah- Schmelzpunkt in sich selbst verliebt. deren Licht sonst für ihn tödlich wäre. ren will, falls er dann noch nicht in der Sein Herzensfreund und Gegenspieler Vielleicht hat ihn also nur der Filmtitel Hölle schmort, der sonnige Midas Gef- Louis, der Sinnsucher, der nach Trans- „Sunrise“ auf den Regisseur F.W. Mur- fen – am liebsten wieder mit Jordan und sylvanien gereist und in Pharaonengrä- nau neugierig gemacht, doch so kommt Cruise – den unsterblichen Lestat ein ber gestiegen ist, flüchtet sich im Lauf es – wie könnte es nicht dazu kommen? weiteres Mal auferstehen lassen. Y

DER SPIEGEL 49/1994 205 Werbeseite

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KULTUR SZENE

Musical Milva auf dem „Boulevard“ Die neuen Partner sind ent- zückt voneinander. Britan- niens Musical-Maestro An- drew Lloyd Webber schwelgt in den höchsten Tönen von Milva, der italienischen Spe- zialistin für dramatische Edelschlager. Der singende Rotschopf sei, so jubelt der Komponist, für die Hauptrol- le in der deutschen Produkti-

on seines „Sunset Boule- I. BALDWIN / RHPL MOSLEV / TRANSGLOBE vard“ schlicht die „Idealbe- Fotoband „Die Welt der Rosamunde Pilcher“ setzung“. Das Melodram über den alternden Stumm- Autoren haus-Literatur legt jetzt der Reinbeker filmstar Norma Desmond be- Wunderlich Verlag eine Augenweide auf ruht auf dem gleichnamigen den weihnachtlichen Gabentisch: einen Fo- Film von Billy Wilder und Augen-Lust aus Albion toband (Preis: 45 Mark), in dem die Best- soll, nach Erfolgen in Lon- What a lovely world – wo die Nebel- und seller-Autorin Pilcher („Die Muschelsu- don und New York, im Nieseltage mit „Spaziergängen am Meer“ cher“) Schauplätze ihrer Romane und ihres Herbst nächsten Jahres auch vergehen, mit gezierten „Plaudereien am Lebens ausbreitet – farbdurchglühte Archi- in Niedernhausen bei Frank- Kaminfeuer“ und der behaglichen „Tasse tektur- und Landschaftsaufnahmen von Tee am Nachmittag“. Wer sich „hinein- schottischen Hochmooren und gischtigen träumen“ möchte (Verlagswerbung) in die- Atlantik-Klippen, von verwitterten Cot- se zeitferne Idylle, der ist reif für die Insel, tages und prunkvollen Landsitz-Interieurs. für „Die Welt der Rosamunde Pilcher“ Schöne Bescherung aus der Brutstätte des (Titel). Den Liebhabern britischer Land- chronischen Rheumatismus.

Durchreise, immer den hafter Charme gerühmt Knigge in der Linse. Der wird“: der Mann „Mitte der „richtige Blick“, beispiels- Fünfzig“, der „jugendliche weise, „muß wie ein Hauch Sechziger“. kommen“; ein „Bändchen mit anspruchsvollen Gedich- Kunst ten“, am Tatort ausgelegt,

ACTION PRESS appelliert an die Romantik Träumerisches Milva der Eingeborenen; und dann, Mann, schnell unter Boxer-Ideal furt herauskommen. Eine In- die Dusche, allein. Denn das „O wie vergöttere ich die vestorengemeinschaft baut gibt der Dame die Chance, Sonnenknaben“, so schrieb für die aufwendige Produkti- den Bücherschrank des der junge Maler, „und sinke on eigens ein Theater mit Herrn zu mustern und so al- weinend zurück in mein trü- 1600 Plätzen. In der vergan- les über ihn zu wissen. Neu- bes Leben.“ Helmut Kolle genen Woche eilte Milva be- gierig also ist das Weib, ro- (1899 bis 1931) mußte seine reits zum Vorsingen nach mantisch, und als „Ort der Kunst ständiger schwerer London. Die neudeutsche Verführung kann eine Küche Krankheit mit Asthma- und Norma, so schwärmte sie viel aufregender sein als das Herzattacken abtrotzen. Er Kolle-Bild „Liegende Frau“ pflichtschuldigst, sei ihre ewige Schlafzimmer“. „Fin- phantasierte sich eine Auto- „Traumrolle“. gerspitzengefühl“ (Ullstein biographie voller Sport und de-Kenners und Schriftstel- Verlag; 29,80 Mark) nennt Weltreisen zusammen und lers , war 1924 Ratgeber Ulrike Krages, 33, ihren malte Wunschbilder von mit dem Freund nach Paris Reiseführer für den fiebrigen träumerischen Boxern, Jok- gezogen. Er fand sein Farb- Knigge Herrn, und ein gutes Händ- keys und Stierkämpfern. ideal in den irisierenden chen hat sie auch im Beruf. Vom Mittwoch dieser Woche Grau- und Fleischtönen des in der Linse Sie befehligt eine „Veran- bis zum 5. Februar 1995 sind frühen Manet und prunkte in Das Ozonloch wächst, das staltungsplanungs GmbH“ sie im Münchner Lenbach- Aktbildern mit der „edlen Geld wird knapp, und das und weiß somit, was „starke haus ausgestellt – fast eine Materie“ einer über „reich- Rätsel Weib ist auch noch Frauen“ nach dem Bürotag Wiederentdeckung des in sei- lich Substanz gezogenen nicht gelöst. Gemach. Eine wünschen: „schwach sein nem kurzen Leben durchaus schönen Haut“ (Uhde). Die- Kundige, eine Frau, gibt dürfen“. Dann schlägt die erfolgreichen, seither aber ser Schimmer belebt auch ei- Liebhabern des dunklen Stunde für den Mann mit der kaum noch beachteten ne „Liegende Frau“, die sin- Kontinents nun hilfreiche „geheimnisvollen, amourö- Künstlers. Kolle, Schützling nend auf eine Frucht blickt Winke für die Ein- und sen Aura“, dessen „jungen- und Gefährte des Avantgar- wie in einen Spiegel.

DER SPIEGEL 49/1994 207 .

heit Mary Ann Sin- Autoren gleton, das schrille „Schwulenmuttchen“ Mona, der Homo- Gärtner Michael und Harter Macho Brian. In Buch- form sind die „Stadtge- schichten“ an die Brocken 1,5millionenmal ver- kauft worden. Der bri- Der Amerikaner Armistead tische Fernsehsender Channel 4 hat sie im Maupin hat mit skurrilen Rand- letzten Jahr als vielge- gruppen-Romanen Erfolg. lobte Fernsehserie aus- gestrahlt. er Film bezaubert ihn immer wie- Die „Stadtgeschich- der, wie jeden anderen auch. Aber ten“ lesen sich als ko- Din der Schlußszene, wenn das Welt- mische, sensible Chro- allwesen auf sein Raumschiff zutapst, nik der unschuldigen sieht er nur sie. Dann verliert sich die Illu- Post-Hippie-Ära, als sion, und E.T. ist Tammy. „Das liegt an Sex nur Spaß und kei-

ihrem Gang“, sagt Armistead Maupin, M. LAMBRAY / SYGMA / PANDIS ne Angst machte, bis 50, „diesem unverwechselbaren Gang.“ E.T.-Darstellerin De Treaux, Kollegen (1981) zu den aidsgedämpften Tamara De Treaux, 81 Zentimeter Zum Star wurde nur die Gummihaut Neunzigern. Maupin groß und 1990 im Alter von 31 Jahren an suchte die Nähe von Herzversagen gestorben, war eine Zwer- und mit eigenen Mitteln beweglicher Menschen mit hohen Erwartungen und gin – und eine Freundin des amerikani- Mensch“. Im Filmhit „Mr. Woods“ enttäuschten Träumen, die Glücksritter schen Schriftstellers. „Ich habe sie auf ei- steckte sie einst unter der Gummihaut des verrückten kalifornischen Alltags, nem Segeltörn kennengelernt, weil ich des Waldgnoms. Getragen von tiefer und machte sie zu den Helden seiner buchstäblich über sie gestolpert bin“, er- Sympathie, schildert Maupin die ver- Bücher. innert er sich. „Sie war tapfer, komisch, geblichen Mühen der Zwergin, an den In „Die Kleine“ lebt die Zwergin laut. Ich habe sie sofort geliebt.“ Später indirekten Ruhm anzuknüpfen. Cady zusammen mit ihrer Freundin Re- gelangte die junge Frau zu tragischer Be- Der Schriftsteller mit dem seltsamen nee, einer warmherzigen Barbie, in Stu- rühmtheit – als einer der drei Darsteller, Namen – Armistead leitet sich auf ver- dio City, einer ärmlichen Gegend un- die abwechselnd unter dem E.T.-Kostüm schlungenen Wegen von „Darmstadt“ weit Hollywoods. In Form von Tage- in Steven Spielbergs Kinohit steckten. ab, wo seine hugenottischen Vorfahren bucheintragungen läßt er sie selbst zu Tragisch deswegen, weil der Ruhm nie- Zuflucht gefunden hatten – sieht aus wie Wort kommen und mit scharfem Witz mals ihr selbst galt, tragisch, weil Spiel- ein pensionierter englischer Oberst und die Kaltherzigkeit der Traumfabrik se- berg den Zwergen verboten hatte, das trägt geflochtene Hosenträger über ei- zieren. Und er läßt sie die absurden kleine Geheimnis von E.T. auszuplau- nem ziemlich üppigen Bauch. Zusam- Abenteuer eines Menschen berichten, dern, um die Illusion zu bewahren. Doch men mit seinem Lebensgefährten Terry der nicht einmal allein eine Dusche an- Tamara De Treaux, die nichts lieber sein Anderson, einem Aktivisten der ameri- stellen kann. wollte als eine berühmte Schauspielerin, Am schwierigsten, sagt Maupin, seien verweigerte sich der Direktive und ging die – detailliert geschilderten – Sexsze- an die Öffentlichkeit. Mit scharfem Witz nen mit dem schwarzen Pianisten Neil Schließlich, so fand sie, hatte sie einer gegen die zu schreiben gewesen. Nicht selten wur- bloßen Puppe Menschlichkeit einge- de der Autor von seinem verblüfften haucht und einen Anteil am Glück ver- kalte Traumfabrik Freund dabei überrascht, wie er auf dient. Doch niemand interessierte sich Knien durchs Zimmer rutschte, um die für das Innenleben des kleinen Monsters kanischen Schwulenrechtsbewegung, Perspektive von Cadence Roth wieder- – zum Star wurde nur die Gummihaut. lebt er in San Francisco, der bunten In- geben zu können. „Tamara hat mir er- Mit seinem witzig-melancholischen sel der Anarchie in den prüden USA. zählt, daß jeder von ihr wissen wollte, Buch „Die Kleine“ hat Maupin seiner „Für das Mainstream-Amerika“, sagt wie die Zwerge das eigentlich machen. Freundin ein postumes Denkmal ge- er, „bin ich immer noch ein ziemlich Und ob alle Körperteile so klein sind setzt*. Nur vage verschlüsselt liest sich harter Brocken.“ oder nur einige. Jetzt wissen sie’s.“ der Roman als Geschichte eines Außen- Kaum zu glauben. Denn wie kein Würde Tamara De Treaux noch le- seiters – Maupin ist homosexuell – über zweiter hat Maupin in seinen Büchern, ben, wäre ihr Traum von der großen die Außenseiterin De Treaux. „Kann den sechsbändigen „Stadtgeschichten“, Rolle vielleicht doch noch wahr gewor- schon sein, daß das Buch eine Botschaft schwules Leben so fröhlich und im be- den – als Darstellerin der Cadence hat“, sagt Maupin. „Vielleicht so banal sten Sinne als so normal und alltäglich Roth. Die Schauspielerin Daryl Han- wie: Eine Gesellschaft, die kleine, große, beschrieben. nah, die sich selbst als Renee sieht, hat schwule und schwarze Menschen aus- Die schrägen Storys, die seit 1975 als die Filmrechte an der „Kleinen“ erwor- grenzt, ist grausam.“ Kolumnen im San Francisco Chronicle ben. „Da war sie noch mit John Kenne- In „Die Kleine“ heißt Tamara De erschienen sind, ranken sich um die Be- dy zusammen. Ein paar Tage vor Jak- Treaux Cadence Roth und steht im Gui- wohner eines Hauses in der Barbary kies Tod hat Hannah das Buch seiner ness-Buchals „kleinster aus eigener Kraft Lane 28 in San Francisco. Mutter zu lesen gegeben“, erzählt Mau- Hauptakteure sind die liebenswerte pin. „Die fand auch, daß sich daraus ein Vermieterin Anna Madrigal, eine wunderbarer Film machen ließe.“ * Armistead Maupin: „Die Kleine“. Aus dem Ame- rikanischen von Carl Weissner. Verlag Rogner und Transsexuelle, die neue Gäste mit fetten Doch Mr. Spielberg hat sich bislang Bernhard, Hamburg; 372 Seiten; 30 Mark. Joints begrüßt, die Südstaaten-Schön- nicht gemeldet. Y

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KULTUR

räuber in Uniform das eroberte Polen Wie von einem „schwarzen Vorhang“ Kulturpolitik planmäßig ausgeplündert hatten. Vom verhüllt, so Pruszyn´ski, war bis zum Zu- New Yorker Kunstmarkt ist es vorigen sammenbruch des Ostblocks die Frage, Monat nach schwierigen Verhandlungen ob nicht vielleicht auch kommunistische heimgekehrt. Bruderländer untereinander Rückgabe- Schwarzer „Ein Wunder“, sagt Jan Pruszyn´ski, Ansprüche zu erheben hätten. Jura-Professor und Berater des 1990 in- „Wohl nicht zufällig“, meint der pol- stallierten „Regierungsbeauftragten für nische Experte, sei 1951 aus dem Kul- Vorhang das polnische Kulturerbe im Ausland“. turministerium in Warschau eine Der Job eröffnet ein unabsehbares Ar- 30 000-Blatt-Kartothek über Verluste Mehr und mehr Staaten machen beitsfeld, auf dem Glücksfälle ebenso nö- abhanden gekommen. Jetzt arbeiten sich auf die Suche nach Beute- tig wie selten sind. zehn Kunsthistoriker an einem neuen Aus allen Ländern, die in Feindeshand Verzeichnis. In der Ukraine erstellt ein kunst aus dem Zweiten Weltkrieg. fielen,wurde Kulturgut vomGemälde bis gleich großer Stab entsprechende Li- Rußland gerät unter Druck. zum Folianten abgeschleppt – erst durch sten, die Ungarn unternehmen ähnliche die deutschen Aggressoren, später auch Anstrengungen – Grundlage künftiger durch die Sieger von 1945, die nicht nur Nachforschungen nach „kriegsbedingt ancher Besucher des polnischen Nazi-Beutegut sicherstellten, sondern verlagerten Kulturgütern“. Nationalmuseums kann es noch darüber hinaus deutsche Sammlungen Derart politisch korrekt wurde das Mgar nicht glauben: Da hängt ein ausräumten. Problem vorige Woche bei einem Ar- Meisterwerk des alten Holländers Ga- Die Deutschen erlebten 1992 das größ- beitstreffen in Bremen umschrieben. briel Metsu, das in liebevoller Feinmale- te Heimkehr-Wunder mit dem Quedlin- Eingeladen hatte die zuständige „Koor- rei eine Magd beim Wäschewaschen burger Stiftsschatz, den ein US-Soldat dinierungsstelle“ der deutschen Bundes- zeigt und das genau hier, im Warschauer privat nach Texas verschickt hatte. Berli- länder; Fachleute aus neun europäi- Palais Łazienki, seinen rechtmäßigen ner und Bremer Museumsbestände wie schen Staaten und den USA tauschten Platz hat. Nur – es ist mehr als 50 Jahre Schmuck aus Troja und Dürer-Zeichnun- erstmals Recherchen aus. Abgesagt hat- lang weggewesen. gen sind längst in Moskau und St. Peters- ten die Russen – aus Sorge, sie könnten Vermißt wurde das Bildchen seit dem burg geortet; ihre fällige Herausgabe al- auf die Anklagebank geraten? Zweiten Weltkrieg, seit deutsche Kunst- lerdings läßt auf sich warten. Historisch betrachtet, ist das aller- dings unbestreitbar der Platz der Deut- schen. Hitlers Spezialkommandos hat- ten zunächst polnische Museen, Paläste und Kirchen gründlich leer geräumt und riesige Zerstörungen angerichtet. Für sogar noch größer hält Alexander Fedoruk, der in Kiew der staatlichen „Rückführungskommission“ vorsteht, die Verluste der Ukraine; seine Mitar- beiter haben bisher 283 782 Kunstwerke aus 21 Museen registriert. Auch in Ruß- land hausten die deutschen Beutema- cher furchtbar, wenngleich Moskau und Leningrad unerobert blieben. Nur ein Teil des Raubguts wurde bei Kriegsende unversehrt in deutschen De- pots aufgefunden, und nicht alles kehrte an die Herkunftsorte heim. Den Polen hatten die Sowjets noch 1956 das Danziger Altarbild mit Hans Memlings „Jüngstem Gericht“ ausge- händigt. Aber Gegenstände aus der Sammlung des letzten polnischen Kö- nigs weiß Pruszyn´ski bis heute im St. Pe- tersburger Eremitage-Museum. Fedoruk klagt gar, die siegreichen So- wjets hätten ukrainisches Kunst-Eigen- tum beliebig auf die ganze Union ver- teilt, bis nach Sibirien und Kasachstan. Wo sich die Spur in Rußland verliere, sollten jetzt doch bitte die Deutschen nachforschen – vielleicht eine „Sache der Moral“ (Fedoruk), aber wohl keine sehr aussichtsreiche. Wechselnde Grenzziehungen des 20. Jahrhunderts komplizieren und bela- sten die Kulturgut-Frage. So wird die ukrainische Forderung nach einem Teil JCIK

´ des in der Eremitage gehorteten Sky-

K. WO then-Goldes damit begründet, daß die Zurückgekehrtes Metsu-Gemälde: Zweimal auf Auktionen durchgerutscht Ukraine zur Zeit der Ausgrabung auf ih-

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KULTUR

gegeben worden ist, darf nach Hause. Die Moskauer Regierung steht unter Druck der Nationalisten. Nun tauchen aus den Magazinen der Eremitage impressionistische Gemäl- de auf, die einst in deut- schen Privatsammlungen hingen – von Rückgabe kein Wort. Auch nicht im Fall der trojanischen Gold- funde, die ein Berliner Mu- seumsteam nach deutscher diplomatischer Pression kürzlich im Puschkin-Mu- seum inspizieren durfte, empfangen von der Haus- herrin Irina Antonowa, die jahrzehntelang behauptet hatte, nichts von diesem Schatz zu wissen. Der Spezialist Klaus Goldmann fügt seinem Be- suchsprotokoll allerdings den „Nachsatz“ an, noch suche das Museum für Vor- und Frühgeschichte nach

FOTOS: BPK 60 Prozent seiner „uner- Zurückgekehrtes Gauguin-Gemälde: Mühsame Suche nach Eigentümern setzlichen“ Funde, und die befänden sich „vermutlich rem Territorium ein unabhängiger Staat nungen der Altmeister-Sammlung Kö- nicht im Puschkin-Museum“. Sondern war (1918 bis 1920). nigs an die Niederlande übergeben, die im Westen. Zugleich werden aber verlorene Wer- 1941 dort unter unklaren Umständen für Auch da könnte noch viel Beutekunst ke aus der Gemäldegalerie des heute Hitler akquiriert worden war. Auf wei- zutage treten. So wie jene 28 Werke ukrainischen Lemberg (Lwiw) bean- tere 307 Blätter aus dem Moskauer französischer Herkunft, die nach der sprucht – jener Stadt, die zwischen den Puschkin-Museum warten die Nieder- Wende in der (Ost-)Berliner National- Weltkriegen polnisch war, bis Hitler länder seit zwei Jahren vergebens. galerie ausgepackt wurden (SPIEGEL und Stalin Polen aufteilten und dessen Unterdessen hoffen die Deutschen, 1/1991). 21 von ihnen werden gegenwär- Ostteil der Sowjetunion zufiel. Ein an- trotz klarer Verträge und vieler Ver- tig im Pariser Muse´e d’Orsay gezeigt; gebliches Rembrandt-Selbst- für sieben, so eine frühe Küstenland- porträt aus Lemberg vermutet schaft von Paul Gauguin, haben sich der Kiewer Historiker und nach langem Suchen die legitimen priva- Rückführungsspezialist Sergej ten Eigentümer gefunden. Kot jetzt im Warschauer Na- Anderwärts blüht der graue bis tionalmuseum. schwarze Markt. Wie leicht auch bedeu- Irrtum, sagt dort die Kusto- tendes Diebesgut im Geschäftsbetrieb din Maria Kluk. Die Samm- durchrutschen kann, zeigt das War- lung der polnischen Familie schauer Metsu-Gemälde, das Anfang Lubomirski, zu der das Bild vorigen Jahres bei Sotheby’s in New gehörte, werde auch von York zur Auktion gekommen wäre, hät- Polen als Kriegsverlust ge- te nicht der polnische Generalkonsul führt. Alarm geschlagen. Mit den Deutschen hat die Es stellte sich heraus, daß die „Wä- Ukraine bereits im vorigen scherin“ schon 1988 von derselben Fir- Jahr archäologische Fundstük- ma in Monaco und 1984 vom Münchner ke aus Beuteresten (SPIEGEL Kunstauktionshaus Neumeister verstei- 38/1991) ausgetauscht. Beide gert worden war. Dem anonymen letz- Länder wollen sich nun gegen- ten Besitzer wäre demnach höchstens seitig Einblick in alle Depots Trojanischer Goldfund in Moskau* mit großem juristischem Aufwand bei- gewähren. Polen wiederum hat Jahrzehntelang verleugnet zukommen gewesen. mit der Ukraine, mit Beloruß- So blieb nur ein Handel: Von einem land und auch Rußland Verträge über sprechungen mit schwindender Zuver- polnisch-amerikanischen Mäzen und Kulturgüter-Rückgabe abgeschlossen. sicht, auf Zeichnungen der Bremer dank eines Zuschusses des Versteige- Eigentlich sollten sie überflüssig sein, Kunsthalle, die in Rußland lagern. rungshauses dürfte der Unbekannte ei- denn die Haager Landkriegsordnung Nicht einmal ein Konvolut, das 1993 in ne Summe um den unteren Schätzpreis, von 1907 verbietet kategorisch jederlei der deutschen Botschaft in Moskau ab- 70 000 Dollar, bekommen haben. Kulturbeute. Mit der schlichten Beru- Wunder sind nicht nur selten und fung auf „völkerrechtliche Grundsätze“ * Mit dem Berliner Restaurator Hermann Born langwierig, sondern häufig auch noch hat denn auch 1987 die DDR 33 Zeich- und Museumsdirektorin Irina Antonowa. teuer. Y

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KULTUR

Literatur „Wie einer zum Nazi wird“ Sigrid Löffler über den zweiten Band von Klaus Theweleits „Buch der Könige“

er Tag, an dem die Verwandlung pheus“, an den Machtpol ankoppelt und weise mit Frauenopfern, erkauft wird. stattfand, läßt sich datieren: Es ist auf die Kollaboration mit dem Nazi- Frauen, schreibmaschinenkundige, Ma- Dder 27. Februar 1933, der Tag des Staat einläßt. So, wie sich auch Knut nuskripte erstellende Diktat- und Auf- Reichstagsbrandes. An diesem Tag ver- Hamsun an den Nazi-Machtpol an- schreibengel, kurz: Recording Angels, wandelte sich Dr. Gottfried Benn, der schloß. So, wie sich andere mit anderen werden dem Hades geopfert, damit Arzt und Dichter, in einen Nationalso- Machthabern einließen – Ezra Pound Kunst, damit Literatur zustande kommt. zialisten. Frei nach Kafka: Als Gottfried mit Mussolini, Elvis Presley mit Richard Orpheus ist der Überlebende, Eurydike Benn Samsa an diesem Morgen aus un- Nixon, Andy Warhol mit den Konzern- ist das Opfer; er verwandelt Schmerz in ruhigen Träumen erwachte, fand er sich Mächten von Campbell’s bis Mercedes- Kunst, sie schweigt und stirbt. in seinem Bett zu einem ungeheuren Benz. Ging der erste Band des „Buchs der Ungeziefer verwandelt. „Orpheus am Machtpol“ ist der Un- Könige“ der Frage nach, wie Orpheus, Geht das überhaupt? „Verwandelt tertitel des zweiten Teils von Klaus The- der Prototyp des Künstlers als Weltver- sich jemand, der gestern noch ein weleits „Buch der Könige“, jenem mo- wandler, es mit der Liebe hält, fragt jetzt Mensch, ein Arzt, ein Künstler war, ein- numentalen „work in progress“, an dem der zweite Teil (der auf zwei Bände mit fach über Nacht in ein faschistisches Ge- der Freiburger Freelance-Germanist seit insgesamt 1750 Seiten angeschwollen ziefer?“ fragt Klaus Theweleit, der Frei- mindestens 16 Jahren arbeitet, fast seit ist), wie Orpheus es mit der Macht hält*. burger Literat und Benn-Liebhaber. seiner berühmten Doktorarbeit von Der Brückenschlag zurück zu den Und muß einsehen: Es geht. 1977 über „Männerphantasien“ (SPIE- „Männerphantasien“, in denen etwa aus Es ging. Benn selbst bezeugt es. Wir GEL 52/1977). der Freikorps-Literatur heraus eine neue haben es schriftlich, wir haben seinen Gemeint sind die Kunst-Könige, na- Faschismus-Theorie entwickelt wurde, „Verwandlungsbrief“. mentlich die Dichterfürsten, die Herr- ist offensichtlich und Theweleits Absicht: An jenem 27. Februar schrieb Benn scher im Kunst-Reich. Vor sechs Jah- „Man kann dies hier lesen als ihren genui- seinem Freund Egmont Seyerlen, einem ren, im ersten Band des „Buchs der Kö- nen dritten Band.“ ehemaligen Schriftsteller, der sich sei- nige“, untersuchte Theweleit am Modell Es ist ein Werk in Theweleits typischer nerseits soeben verwandelte, in einen von Orpheus und Eurydike die Paar-Be- Endlosbauweise, eine lockere Text-Bild- Nazi-Kollaborateur nämlich, der sich ziehung zwischen Künstlern und ihren Montage, die ihre narrativen und illustra- anschickte, den neuen Machthabern als Frauen und stellte die These auf, daß tiven Mittel gleichwertig ein- und sich Spezialist für die Enteignung von Ge- Kunst mit Menschenopfern, vorzugs- über akademische Verfahrensregeln werkschaftsvermögen an die fröhlich hinwegsetzt – weni- Hand zu gehen. „Die Revo- ger ein „Theorie-Epos“ (wie lution ist da, und die Ge- Rüdiger Safranski das nann- schichte spricht. Wer das te) als vielmehr eine Fakten- nicht sieht, ist schwachsin- Saga über Fiktionen, die alle nig“, rechtfertigte Benn sei- Theorieansätze der germani- ne Metamorphose. „Dies ist stischen Interpretationszunft die neue Epoche des ge- zum Werk und zum Leben schichtlichen Seins, über ih- von Künstlern unterläuft. ren Wert oder Unwert zu re- Tausende Seiten umfaßt die- den, ist läppisch, sie ist da.“ ses work in progress inzwi- Ein „unheimliches Doku- schen, Tausende Seiten ment“ nennt Theweleit die- könnte es auch noch weiter- sen Brief, der „zeigt, wie gehen – ein uferloses, sich Benn zum Terroristen selbst entgrenzendes Projekt wird“. Keine Gegenwehr über Literatur und Liebe, mehr, keine Distanzierung, Literatur und Frauenleiber, statt dessen – „beinah zufrie- Literatur und Macht. den“ – die totale Kapitulati- Theweleit schreibt Künst- on vor dem totalen Staat. ler-Geschichten, Liebes-Ge- Bis dahin waren für den Ex- schichten, Macht-Geschich- pressionisten Benn Geist K. HILL ten – und er schreibt sie wie und Macht, Kunst und Klaus Theweleit kein anderer im deutschen Macht „die allergegensätz- Sprachraum. Er schreibt in lichsten Pole“. Jetzt fallen gilt seit seinem Traktat über „Männerphantasien“ (1977) als sie in eins, werden identisch. Fachmann für Psychohistorie. Mit dem „Buch der Könige“ be- * Klaus Theweleit: „Buch der Kö- „Es ist der Moment, in schreibt der Freiburger Germanist nun die Kehrseite des nige 2 – Orpheus am Machtpol. dem der Kunst-Pol ins Feuer Dichtens. Im ersten Band stellt Theweleit, 52, die Poeten als Recording Angels’ Mysteries“. fliegt“, so Theweleit. Der skrupellose Unterdrücker ihrer Frauen dar. Im zweiten pran- Stroemfeld-Verlag, Basel und Frankfurt am Main; 1750 Seiten; Moment auch, in dem sich gert er ihre naive Identifikation mit den Machthabern an. zwei Teilbände, zusammen 148 Gottfried Benn, „Dr. Or- Mark.

214 DER SPIEGEL 49/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Exkursen, die Differenz zwischen Zitat rein ästhetischer Positionen gibt sich und Kommentar scheint aufgehoben, Theweleit gar nicht erst ab. Sein Ar- übergeführt in eine Art Erzählstrom, in beitsmotto lautet: „Will man beschrei- dem die Bild-Materialien schwimmen ben, wie einer Nazi wird, muß man wie Inseln. Erzählt werden Geschichten ermessen, wer er vorher war.“ Nir- darüber, wie und warum Künstler-Köni- gends folgt er dieser Losung eingehen- ge den Kunst-Pol aufgaben und auf den der und penibler als im Falle Gottfried Weg zum Macht-Pol drifteten. In Thewe- Benns. leits Diktion: vom Narziß über den Nar- Zwanzig Jahre lang hat der dichtende cotic zum Nazi. Berliner Hautarzt als unbezahlter Lyri- Heimlich miterzählt sind naturgemäß die ideologischen Scharmützel, die der linke Querdenker Theweleit seit 1968 mit seinen Widersachern von rechts und links BESTSELLER auszufechten hatte, wenn es darum ging, den Kunst-Pol gegen politische Kurz- BELLETRISTIK schlüsse und Machtpol-Anschlüsse – egal, ob rechts oder links –zu verteidigen. Gaarder: Sofies Welt (1) Gegen alles Block- und Lagerdenken 1 Hanser; 39,80 Mark schreibt er an, geradezu obsessiv. Dabei hilft ihm ein selbsterfundener Begriff, mit Grisham: Der Klient (2) dem Theweleit von allem Anfang an ope- 2 Hoffmann und Campe; riert: der Begriff des Nicht-zu-Ende-Ge- 44 Mark borenen, des unfertigen, ungenügend be- 3 Pilcher: Das blaue Zimmer (3) „Der Anschluß an die Wunderlich; 42 Mark Macht kostet den Høeg: Fräulein Smillas (5) 4 Gespür für Schnee Künstler die Kunst“ Hanser; 45 Mark lebten Körpers, der sich über andere Follett: Die Pfeiler (4) (Körper oder Medien, in Theweleits 5 der Macht Diktion: Pole) weiterzuentwickeln und Lübbe; 46 Mark zu Ende zu gebären sucht. In den „Männerphantasien“ wurden 6 Begley: Lügen in Zeiten (9) als solche Nicht-zu-Ende-Geborene die des Krieges präfaschistischen Freikorps-Männer ein- Suhrkamp; 36 Mark geführt: soldatische Männer, die ihre Körper übers Militär, durch muskulären 7 Crichton: Enthüllung (8) Umbau und durch Einpassung in feste Droemer; 44 Mark Befehlsstrukturen modellierten, sich Forsyth: Die Faust Gottes emotional panzerten gegen die Frau, al- (6) 8 C. Bertelsmann; 48 Mark so gegen die Angstlust am Zerfließen, Entgrenzen und Auflösen, und so zu ei- Garcı´a Ma´rquez: Von (7) nem Gefühl von Ganzheit gelangten – 9 der Liebe und anderen durch Ausübung von Gewalt. Dämonen Auch im „Buch der Könige“ ist der Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark Nicht-zu-Ende-Geborene die Hauptfi- gur – diesmal als Künstler. Statt über King: Schlaflos (12) militärischen Drill versucht der Künstler 10 Heyne; 48 Mark sich über Liebes-, Kunst- oder Machtbe- ziehungen weiterzugebären, zu wachsen George: Denn keiner ist (10) und sich selbst zu vermehren (und sei’s 11 ohne Schuld auf Kosten der Verminderung anderer). Blanvalet; 44 Mark Die Ausstrahlung des Machtpols sei so stark, daß sie alle anderen Verbindun- Noll: Die Apothekerin (11) gen des Körpers auslösche; der An- 12 Diogenes; 36 Mark schluß an die Macht koste den Künstler die Kunst, unter anderem. Kishon: Ein Apfel (13) Insofern sind Theweleits Künstler- 13 ist an allem schuld Geschichten exemplarische Erzählun- Langen Müller; 36 Mark gen eines linken Moralisten: Die Macht wird als das schlechthin Böse katego- Nadolny: Ein Gott (14) risch dämonisiert, das Paktieren des 14 der Frechheit Künstlers mit ihr wird als grundsätzlich Piper; 39,80 Mark übel dargestellt. Klaus Theweleit mißt da mit einerlei Maß. 15 de Moor: Der Virtuose (15) Auch mit der beliebten These von Hanser; 34 Mark der besonderen Faschismus-Anfälligkeit .

ker und schlechtbezahlter Mediziner Herrmann-Neisse, Egon Erwin Kisch („Underdoc“) unbeirrt am Kunst-Pol und Johannes R. Becher tobt. festgehalten. Dann, von 1929 an, gerät Gegen den journalistischen Rufmord- Benn, eher zufällig und jedenfalls un- versuch wehrt sich Benn mit journalisti- schuldig, in einen „Rezensionskrieg zwi- schen Mitteln – und als Journalist be- schen verschiedenen Teilen der Linken ginnt er nach rechts zu rutschen, bis hin um das ,richtige Schreiben‘ im Kampf zu seinen Hitler preisenden Radioreden gegen den Faschismus“. Er wird zum 1933. „Der Dichter verbirgt sein Haupt Punchingball in einer Zeitungsfehde ge- in Scham; der Journalist reißt frech die macht, die eigentlich zwischen Max Schnauze auf – und wird politischer Fa- schist“, so Theweleits Befund, getragen von einem massiven und das ganze Buch durchwirkenden Ressentiment gegen Journalisten. Solange „Benn ackert und schuftet, SACHBÜCHER im Spannungsfeld der auf die zwei Huf- eisenpole ,links‘ und ,rechts‘ schrump- N. E. Thing Enterprises: (1) fenden Welt einen dritten Pol unter 1 Das magische Auge III Spannung zu halten, den Pol Kunst“, so Ars Edition; 29,80 Mark lange gehört ihm Theweleits differenzie- N. E. Thing Enterprises: (2) rungsbereite Sympathie. Kaum aber 2 Das magische Auge II läßt er sich mit den Journalisten-Schuf- Ars Edition; 29,80 Mark ten ein, gibt auch sein Erzähler Thewe- leit das Ackern am Pol Differenzierung N. E. Thing Enterprises: (3) auf und rutscht in eben jene Haudrauf- 3 Das magische Auge Argumentation, zu deren Widerlegung Ars Edition; 29,80 Mark das „Buch der Könige“ doch erklärter- Wickert: Der Ehrliche (4) maßen geschrieben wurde. 4 ist der Dumme Es unterläuft ihm, als vorwurfsvolle Hoffmann und Campe; 38 Mark Frage an Benn formuliert, der Satz: Carnegie: Sorge dich (6) „Muß man sich gleich mit Hitler einlas- 5 nicht, lebe! sen, nur weil man sich über ein paar Scherz; 44 Mark Kerle schwarz ärgert – Kerle wie Be- cher, Kisch, Kracauer, Ihering?“ Benn Ogger: Das Kartell (5) 6 der Kassierer ist mit Kisch und Becher in den Clinch Droemer; 38 Mark gegangen. Daß Theweleit hier auch die gar nicht betroffenen Kritiker Siegfried 7 Johannes Paul II.: (9) Kracauer und Herbert Ihering hinein- Die Schwelle der zieht, desavouiert ihn selbst: Da verrät Hoffnung überschreiten sich ein Furor, der gegen „Kerle“ los- Hoffmann und Campe; 36 Mark wettert, nur weil sie links sind. 21st Century Publishing: (8) Im ersten Band des „Buchs der Köni- 8 3D – Die Dritte Dimension ge“ führte Theweleit Gottfried Benn, Ars Edition; 19,80 Mark den Büchnerpreisträger von 1951, als ei- Ditzinger/Kuhn: (7) 9 Phantastische Bilder Südwest; 14,90 Mark Scholl-Latour: Im (12) 10 Fadenkreuz der Mächte C. Bertelsmann; 44 Mark Ditzinger/Kuhn: (11) 11 Phantastische Bilder II Südwest; 14,90 Mark Ogger: Nieten in (10) 12 Nadelstreifen Droemer; 38 Mark Paungger/Poppe: Vom (15) 13 richtigen Zeitpunkt Hugendubel; 29,80 Mark Gallmann: Afrikanische (14) 14 Nächte Droemer; 32 Mark Nuland: Wie wir sterben 15 Kindler; 38 Mark Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom SÜDD. VERLAG Fachmagazin Buchreport Lyriker Benn (1934) „Schäbiger Meinungsjournalist“?

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ne Art Frauenmörder vor: Er habe seine Ehefrau und Sekretärin Herta 1945 ster- ben lassen – „eine Art Mord“ –, um dann ihren Tod im Gedicht („Orpheus’ Tod“) zu besingen und damit seine bereits ver- trocknete lyrische Produktion neu sprie- ßen zu lassen. Im zweiten Band erzählt Theweleit nicht nur, wie und warum Benn zum Nazi wurde, sondern auch, wie lange er es blieb und wie er seine fatale Ankoppelung an den Machtpol von Hit- ler & Goebbels selbst wieder löste. 1933 hielt er seine berüchtigten Rund- funkreden mit ihrem Kotau vor Hitler („Der neue Staat und die Intellektuel- len“) und ihrem Gefasel von der Züch- tung des neuen faschistischen Menschen. Aber nach nur 20 Monaten NS-Delirium hat sich Benn, „der schäbige Meinungs- journalist, der elende politische Fa- schist“, selber entnazifiziert. Er ließ Ber- lin hinter sich und ging als Sanitätsarzt der Reichswehr nach Hannover. „Raus aus allem; und die Reichswehr ist die ari- stokratische Form der Emigrierung!“ lautet am 18. November 1934 sein knap- pes Aviso an den Brieffreund Oelze. Und am 7. April 1935 resümiert Benn, der Ex- Nazi, gleichfalls Oelze gegenüber: „Um zu neuen Resultaten zu kommen, muß ich mich und will ich mich erst wirklich umbauen lassen, völlig renovieren am Gehirn, Blick, Milieu, Lebenshaltung ( . . .), und wenn das keine neue Häutung ergibt, will ich keine Schlange sein.“ Zum Glück des Buches findet Thewe- leit aus all den Nazi-Krämpfen wieder heraus und wendet sich einem Gott sei- ner Jugend zu – Elvis Presley, seinem „Orpheus in Gold“, einem erholsamen Gegenstück zu den verbiesterten Faschi- sten Benn, Pound, Hamsun oder Ce´line, wiewohl auch dieser Orpheus mit der Macht gemauschelt hat. Auf aberwitzig skurrile Weise: 1970 sprach King Elvis bei Präsident Nixon im Weißen Haus vor, um sich einen Spezial- ausweis als Drogenfahnder vom „Fede- ral Bureau of Narcotics and Dangerous Drugs“ zu verschaffen. Was auch gelang: Nixon lancierte eben, alsAblenkung vom Vietnamkrieg, eine Anti-Drogen-Kam- pagne, da kam ihm der Mega-Rocker El- vis als Kampagnereiter zupaß. Was Tricky Dick nicht wußte: Narziß Presley war selber ein schwerer Narcotic und wünschte sich das magische Emblem ei- nes „Federal Narc“ einzig, weil ihm die Plakette das Recht verlieh, jede verbote- ne oder verschreibungspflichtige Droge bei sich zu führen. So zeigt die Konstellation des Orpheus am Machtpol, soweit Klaus Theweleits Auge reicht, nur katastrophische Bei- spiele. Bis auf dies: „Nur bei einem Aus- nahme-Mann ging es ohne Katastrophe – Nähe zum Machtpol bei vollem Erhalt des poetischen Schreibens plus Abnei- gung gegen Diktatoren: Thomas Mann.“ Na bitte. Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

Automobile zeigte das Testgerät nur 1,5 an. Das Ergebnis wirft einen Umwelt Schummelei weiteren Schatten auf die seit langem umstrittene AU beim Abgastest (SPIEGEL 47/1993). Erken- „Blücher“-Öl geborgen nen kann ein Prüfer den Seit mehr als 54 Jahren ruht der deutsche Schwere Kreu- Schwindel kaum – allenfalls zer „Blücher“ in 90 Meter Tiefe auf dem Boden des durch eine Schnupperprobe Oslofjords. Im Feuer der norwegischen Küstenbatterien am Tank. Der Bio-Diesel, so war das Dickschiff der deutschen Invasionsflotte gesun- Dekra-Prüfer Uwe Jung, ken; mindestens 300 Seeleute ertranken. Vor drei Jahren „riecht weniger streng, eher entdeckten norwegische Umweltschützer erste Ölspuren etwas süßlich, nach Backwa- über dem kieloben auf dem Meeresboden liegenden ren“. Wrack. Untersuchungen ergaben, daß noch rund 1600 Tonnen Öl in den allmählich rostenden Tanks des 206 Endoskopie Meter langen Stahlriesen lagerten. Die Gefahr einer Öl- pest für die rund 70 Kilometer lange Küstenlinie des Os- Aids vom lofjords, ein bevorzugtes Ferienziel vieler Norweger, zwang die norwegische Regierung zum Handeln. Eine OP-Besteck? amerikanische Spezialfirma hat nun in den letzten zwei Die Infektionsgefahr bei en- Monaten den überwiegenden Teil des „Blücher“-Treib- doskopischen Eingriffen ist stoffs aus dem Wrack geborgen. Zwölf Taucher mußten erheblich größer, als die bei dieser bislang einmaligen Aktion 30 Tage lang in Ärzte bislang zugeben. Schichten arbeiten, dabei waren sie permanent dem

G. STOPPEL Schuld daran ist, wie der Druck von 90 Meter Meerestiefe ausgesetzt. Die Männer Abgastest bei der Dekra Schweriner Hygiene-Profes- bohrten zehn Zentimeter große Löcher in Schiffsaußen- sor Heinz-Peter Werner in wand und Tankwände und befestigten daran Schläuche. Ohne Beanstandung passier- der Münchner Medizinischen Über Pumpen gelangte das Öl aus den Tanks nach oben te ein Mercedes 300 Diesel Wochenschrift darlegt, das zu einer schwimmenden Plattform. Anschließend wurde im Oktober die Abgasunter- oft mangelhaft gereinigte In- es in Tankerkähne verladen. suchung (AU) bei einer strumentarium der Chirur- Bonner TÜV-Prüfstelle. Der gen. Viele der endoskopi- Prüfer attestierte „ein blen- schen Geräte seien so kon- dendes Ergebnis“, der Besit- struiert, daß sie nicht zuver- zer des Wagens verriet seinen lässig desinfiziert werden Trick: Das geprüfte Auto könnten; häufig werde das hatte statt gewöhnlichen Die- filigrane Endoskopie-Be- sel-Kraftstoffs den Bio- steck nach Gebrauch nur Treibstoff Rapsmethylester „äußerlich abgewischt“. In- im Tank, der bei der Ver- folge schlampiger Hygiene brennung weniger Schadstof- sei es bei den ansonsten fe erzeugt. Alarmiert durch schonenden Eingriffen zur den Vorfall in Bonn, unter- Übertragung von Hepatitis- nahm die Dekra letzte Wo- viren oder Salmonellen ge- che einen Vergleichstest. Ein kommen, ebenso zu Pilz-

Peugeot 205 Diesel wurde und Wurminfektionen. Auch SPRINGER FOTOSERVICE wechselweise mit Rapsölme- HIV-Infektionen sind nach Sinkender Kreuzer „Blücher“ (1940) thylester und Diesel betankt Ansicht Werners „nicht aus- und der AU unterzogen. Er- zuschließen“. „Ich würde gebnis: Mit normalem Diesel mich derzeit von niemandem Lichttechnik Stadt alle 28 000 Verkehrsam- lag der Ruß-Trübungswert endoskopieren lassen“, be- peln in ihrem Bereich mit vor- im Abgas nahe dem Grenz- kennt der Schweriner Hygie- Sparleuchten für erst roten Leuchtdioden aus- wert von 2,5. Mit Bio-Diesel niker. rüsten. Das würde die Strom- Verkehrsampeln rechnung der Stadt – und da- An 27 Kreuzungen der Stadt mit die Steuerlast – schon um Philadelphia sind sie schon in eine Million Dollar jährlich Betrieb, die neuen, besonders senken. Auf ebenso kosten- hellen Rotlichtampeln, in de- günstiges Grün müssen die nen strahlkräftige Leuchtdio- Bürger von Philadelphia noch den die herkömmlichen Glüh- warten; erst in ein oder zwei birnen ersetzen. Pro Ampel Jahren wird der Dioden-Her- soll sich die Stromersparnis steller Hewlett-Packard auch durch die neue Technik jähr- grüne Leuchtdioden liefern lich auf 25 bis 50 Dollar belau- können, die – wie derzeit fen. Wenn die Dioden-Am- schon rote, gelbe und orange- peln halten, was sie verspre- farbene Leuchtdioden – we- chen – gegenüber herkömmli- nigstens doppelt so hell strah- chen Glühbirnen weitaus grö- len wie die gängigen Glühlam-

U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL ßere Lebensdauer und gerin- pen hinter den farbigen Am- Endoskopischer Eingriff gere Störanfälligkeit –, will die pellinsen.

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WISSENSCHAFT

Umwelt STREIT AUF NOAHS ARCHE Zwei Wochen lang kämpften über 900 Teilnehmer aus aller Welt um Handel und Schutz bedrohter Elefanten, Tropenbäume und Orchideen. Kleiner Erfolg bei der diesjährigen Artenschutzkonferenz in Florida: Amazonisches Mahagoniholz wird künftig zumindest in einigen Ländern geschützt.

bends, an der Splash-Bar am Swim- goniarten auf die Liste zu setzen, will Zudem verläßt das meiste Holz, 3,3 ming-pool des Hotels, erzählt der sich kaum ein afrikanisches Land an- Millionen Kubikmeter im Jahr, den afri- ADelegierte aus einem zentralafrika- freunden. Die Angst vor Einblick in die kanischen Kontinent in der rohesten nischen Land, was er im Konferenzsaal Akten, vor Kontrollen oder Handels- Form, als „Rundholz“ – ohne daß vor öffentlich sagen sollte, aber nicht darf. verboten sitzt insbesondere bei armen Ort Arbeitsplätze geschaffen würden „Bei uns zu Hause“, erklärt Gaston, Ländern tief. oder für nachhaltige Waldbewirtschaf- ermutigt durch das Freibier der briti- Und das, obwohl die Fakten bestür- tung gesorgt wäre. Ganze Arten fallen schen Delegation, die zum Empfang ge- zend sind: Über 90 Prozent der Profite dem chaotischen Abholzen zum Opfer, laden hat, „wird im gesamten Forstge- aus Afrikas Holzexport wandern zum nicht nur in Afrika. schäft betrogen. Die ausländischen Fir- Hauptimporteur, den Staaten der Euro- Während insgesamt die Aussterberate men tun es und unsere auch.“ Er füllt ei- päischen Union. Ein Kubikmeter Stan- in der biologischen Evolution etwa vier ne Hand mit Poolwasser und schüttelt dard-Tropenholz kostet in Kamerun et- Arten pro Jahr beträgt – von geschätz- sie wütend aus: „Außerdem wird ver- wa 9,20 Mark, auf dem europäischen ten zehn Millionen Arten insgesamt –, schwendet. Geschlagenes Holz bleibt Markt werden für den Kubikmeter min- hat die kulturelle Evolution dazu ge- liegen, kubikmeterweise, auf den Holz- destens 3400 Mark erzielt. Nach Schät- führt, daß heute etwa 50 000 Arten pro trassen, überall. Seit 16 Jahren kenne zungen der britischen Umweltschutzor- Jahr verlorengehen. Die meisten davon ich das Geschäft. Und deshalb will ich ganisation „Friends of the Earth“ kas- in den Tropen, viele, ohne je bekannt viele unserer Baumarten auf Anhang II siert die EU durch Importzölle auf Tro- und benannt zu sein. „Es ist mir unbe- sehen.“ penholz 66 Millionen Mark, aus Mehr- greiflich“, sagt Peter Raven, Leiter des „Anhang II“ ist ein umkämpfter Be- wertsteuern sogar umgerechnet 2,2 Mil- Missouri Botanical Garden in den USA, griff auf dieser Konferenz, bei der 900 liarden Mark pro Jahr. „warum sich nicht alle Nationen zu- Menschen aus aller Welt um Handel und Schutz be- drohter Elefanten, Tropen- bäume, Orchideen streiten. Landen bedrohte Tier- oder Pflanzenarten auf Anhang II des 1973 geschlossenen Washingtoner Artenschutz- übereinkommens (Cites), wird der Handel mit ihnen kontrolliert**. Anhang I würde Handelsverbot be- deuten. Gaston und die anderen Gäste der Briten gehören zu den Delegierten aus 119 Ländern, die auf der „Ninth Conference of the Parties“ („COP 9“) im November zwei Wochen lang über nichts anderes gestritten, gefeilscht und debattiert ha- ben als über solche Listen- plätze und die dazugehöri- gen „listing criteria“. Mit dem deutschen Vor- schlag, afrikanische Maha-

* Am 30. Oktober in Santare´m. ** Cites („Convention on Interna- tional Trade in Endangered Spe-

cies“) wurde inzwischen von 124 B. EULER / GREENPEACE Ländern unterzeichnet. Mahagoniholz-Verladung auf dem Amazonas, Greenpeace-Protest*: „Die Fronten sind klar...

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sammenschließen, um die Artenvielfalt Während der „COP 9“ verwandelt hörer für die Simultanübersetzung auf der Erde zu erforschen und zu erhal- sich das Convention Center von Greater den Ohren. In der improvisierten Kan- ten.“ Fort Lauderdale, ein postmoderner tine, groß wie ein Jumbo-Hangar, hok- Hier, auf der „COP 9“, geschieht et- Glaspalast, in ein von der Außenwelt ken verschwörerisch aussehende was, das Ravens Vorschlag entfernt abgelöstes Raumschiff. In einer Art Mi- Grüppchen von Holzhändlern, Um- ähnlich sieht. Nach Jahren der Kämpfe krokosmos internationaler Politik wird weltfunktionären der Uno oder EU-Be- um Elefanten, Wale, Rhinozerosse – die biologische Evolution gegen die kul- amten beieinander. In den mit Sperr- im Jargon anglophoner Artenschützer turelle verteidigt. holzwänden abgetrennten Kabinen der „charismatic megafauna“ genannt – Leoparden und Papageien, Krokodile „NGOs“ (Nongovernmental Organiza- werden nun Tropenbäume zum Thema und Kröten, Heilpflanzen, Muschelar- tions) werden unablässig Stellungnah- der alle zwei Jahre tagenden COPs, was ten, Hyänen, Fledermäuse, Antilopen, men geschrieben, treffen sich täglich während der COP 9 erstmals auf den Schildkröten: jeder kommt mit seinem die Tiger-, Timber- oder Elephant- massiv organisierten Widerstand holzex- Tier oder seiner Pflanze im Kopf zu die- Campaigner zur Lagebesprechung. portierender Parteien stieß. ser Tagung. Jede Gruppe verfolgt ihren An der hohen Decke des Plenarsaals Bäume sind es, die Gaston, den afri- Plan, durchkreuzt die Pläne anderer, zittern die Flaggen aller Vertragspart- kanischen Forstwirt, und eine Tropen- ner in der klimatisierten Luft. Der holz-Campaignerin aus London zum Ta- Chairman spricht die Delegierten als gungsort Fort Lauderdale in Florida ver- „Die Industrienationen Personifizierung ihrer Länder an. schlagen haben. Gaston muß seinen wollen uns in „Thank you, Malaysia, thank you.“ Er Wald gegen Deutschlands mutigen Vor- hat Mühe, die wütende malaysische schlag verteidigen, einige afrikanische unsere Sache reinreden“ Delegationschefin Rajmah Hussain zu Mahagoniarten auf Anhang II zu „li- beruhigen, die eben alle im Plenarsaal sten“. Die Engländerin will sich für den horcht aus, produziert „papers“, ändert hören ließ, was sie von „The Nether- Schutz dieser Baumarten einsetzen. Strategien. Um Mantella aurantiaca, ein lands“ hält: nichts. Interessengegensätze wie zwischen madagassisches Goldfröschchen, geht es „Dabei meinen wir es gut, und unse- dem Afrikaner und der Britin spiegeln dem einen, andere kämpfen für Melano- re Daten stimmen“, ereifert sich Chris die heterogene Zusammensetzung der suchus niger, den Mohrenkaiman, wie- Schürmann, energiegeladener Cites-Ex- Konferenzteilnehmer allenthalben wi- der andere für Swietenia macrophylla, perte aus Holland. Die Niederländer der: Direktoren von Zoos und botani- amazonisches Mahagoni. „Diesmal ist haben vorgeschlagen, den Handel mit schen Gärten haben sich ebenso einge- die Opposition gegen den Artenschutz der tropischen Baumart Ramin (Gony- funden wie Botschafter, Minister, Ober- bestens gerüstet“, sagt Allan Thronton stylus bancanus) durch Anhang-II-li- regierungsräte, Völkerrechtler; Um- von der Londoner Umweltdetektei EIA sting zu kontrollieren, da Ramin, billig weltrechtler ebenso wie Tierschützer, (Environmental Investigation Agency). in Japans und Europas Baumärkten, in Greenpeace-Aktivisten, Boykott-Cam- Der ehemalige Greenpeace-Mann ist Südostasien per Raubbau geholzt wird. paigner, Großwildjäger, Sportfischer, Cites-erfahren: „Die Fronten sind so „Ramin wird bei uns nachhaltig be- Ornithologen, Botaniker, Elfenbein- klar wie nie zuvor.“ wirtschaftet“, wehrt sich die Malaysie- dealer, Pelzhändler, Haustierverkäufer Im Plenarsaal sitzen die Delegatio- rin. „Wir haben 110 000 Hektar Pri- und Tropenholzkonzessionäre. nen, alphabetisch aufgereiht, die Kopf- märwald übrig, 2,8 Millionen Hektar Wald stehen bei uns unter Schutz. Reiche Industriena- tionen wollen uns in unsere Sache reinreden.“ „Thank you, Malaysia, Indonesia has the floor.“ Auch Indonesien, wo an- geblich „noch 5,3 Millionen Hektar Ramin“ übrig sind, will Raubbau nicht wahrha- ben. West-Kalimantan sei geradezu die Zentrale der Ramin-Schützer. Den Han- del beobachten? Anhang II? Wozu das? Pamela Wellner von Greenpeace USA, hinten im Saal auf den NGO-Sitzen, nimmt empört ihren Kopfhörer ab. „Was haben die zu befürch- ten oder zu verbergen?“ fragt sie rhetorisch eine Kollegin. Gelassen hat der Chair- man sich „Indonesia“ ange- hört: „Japan has the floor.“ Japan, holzhungriger Han- delspartner Südostasiens, bemüht sich, diplomatisch „nein“ zu sagen, ohne „The

S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV Netherlands“ zu verletzen. . . . wie nie zuvor“: Regenwald-Abholzung in Afrika (Elfenbeinküste) Der Chairman gibt „Singa-

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pore the floor“. Und siehe da, auch den Abgesandten vom Hauptumschlagplatz der bedrohten Hölzer mißfallen die nie- derländischen Avancen auf der Schutz- Szene. Doch Chris Schürmann und sei- ne Delegation lassen nicht locker, sie „denken gar nicht daran“, ihren Vor- schlag zurückzuziehen – für die Asiaten ein Affront. So ist am Mittwoch, „Day Three of the Conference“, die Holzdebatte schon derart erhitzt, daß die Baum-Botschaf- ter der NGOs befürchten, die wichtigen Verhandlungen um afrikanisches und amazonisches Mahagoni in der kom- menden Woche seien bereits in diesem Feuer mit verbrannt. Alles scheint reine Stimmungssache, politisches Kalkül. Auf die wissenschaftliche Grundlage, auf zentrale Cites-Kriterien wie das Vorsorgeprinzip wird es am wenigsten ankommen. Gleich nach der Ramin-Debatte rufen Greenpeace Brasilien, Friends of the Earth und andere zur Krisensitzung in der NGO-Box auf. Sofort muß eine Flugschrift zum Thema Baumarten- schutz produziert werden. Edna aus Honduras wird sie ins Spanische über- setzen, Katell aus Paris ins Französi- sche. Abwechselnd, zu dritt am selben Computer, arbeiten die Mitglieder der Gruppe. Jeder weiß, worum es geht. Malaysias Delegation feiert währenddessen zu- nächst stille, später alkohollärmende Triumphe im Luxushotel. Nächster Gegner am Horizont der Wald-Anwälte ist Brasilien. Die resolu- te Delegierte Ligia Maria Scherer von der brasilianischen Botschaft in Wa- shington, gewiefte Politikerin, hat von ihrer Regierung klare Anweisung: Kein Holzstamm soll über die Schwelle von „80 Prozent der Ware werden illegal geholzt und gehandelt“

Cites rollen. Wiewohl der Fall für Ama- zonas-Mahagoni gut dokumentiert ist, wissen die NGOs: Diese Front ist hart. Anderntags verirrt sich ein gabuni- scher Beamter in die NGO-Box. Er soll die handschriftliche Invektive seines Chefs gegen das „listing“ afrikanischen Mahagonis abtippen, doch sind ihm Computer ein wenig fremd. Offensichtlich hält er den NGO- Raum für einen Sekretärinnen-Pool, und er findet nichts dabei, daß er einer entschlossenen Holzcampaignerin das lange Statement auf französisch diktiert. Ihre Geduld verdankt sie ihrer Neugier: Einen Tag vor der Debatte kennen die NGOs auf diese Weise bereits das State- ment der wichtigsten Stimme aus den afrikanischen Ländern. Hocherfreut

222 DER SPIEGEL 49/1994 zieht der füllige Herr zwei Stunden spä- ter mit einem Textausdruck ab. Ob er weiß, daß Computer Texte speichern? Gabuns Statement jedenfalls fällt er- schütternd aus. Und da noch vor dem amazonischen Mahagoni (Swietenia ma- crophylla) das afrikanische drankommt, muß eine Debatte wie um Ramin mög- lichst vermieden werden – sonst „geht Swietenia auch noch hops“. Die afrikanischen Delegationen – Za- ire, Kamerun, Kongo, Uganda, Simbab- we, sogar Ruanda –, viele von ihnen in Panik angereist, drei eigens mit Mini- stern als Verstärkung, fühlen sich im Vorfeld der Konferenz mangelhaft in- formiert und beraten. „Dazu“, sagt Uwe „Ihre Unterlagen verloren? Ich kann es nicht glauben!“

Schippmann, Biologe aus dem Bundes- amt für Naturschutz in Bonn mit Bedau- ern, „hätten wir ein großes Reisebudget gebraucht. Das fehlte uns.“ Im Plenum wartet Deutschland Ka- meruns Beitrag ab, eine fast höfliche Rede, verglichen mit Gabuns Text. Die Deutschen entschließen sich zum Rück- zug: „withdrawal“. Erleichterung bei den Afrikanern. Lunch. Und später die Swietenia-Debatte. „Wir wissen“, so Anthony Juniper von Friends of the Earth auf einer NGO-Pressekonferenz vor der Debatte, „daß 80 Prozent dieser Ware illegal ge- holzt und gehandelt werden.“ Er schlägt mit der Hand auf den voluminösen Re- port des Brazilian Office seiner Organi- sation: „Wir haben alle Beweise.“ Einer im Publikum, Ovidio Gasparet- to, Holzboß der Firma Sindimad in Be- le´m an der Amazonasmündung, verliert die Nerven. Er steht auf, brüllt, fragt nach Zahlen, nach Quellen, setzt sich, bebend, verärgert, kritzelt Notizen, steckt anderen Holzhändlern Zettel zu. Die Waldverteidiger sind erfreut: soll er sich bloßstellen, gut für uns. Kurz flackert der Swietenia-Disput am Nachmittag auf, als sich das Plenum zur Bildung einer Ad-hoc-Arbeitsgrup- pe entschließt. Bis anderntags um zwei Uhr mittags soll sie einen Kompromiß finden zwischen den EU-Staaten und kleineren Ländern wie Honduras und Venezuela, die zu Brasiliens Ärger diese Baumart schützen wollen. Doch die Nacht vergeht mit dem Ta- gen der Gruppe, ohne daß sich ein Kompromiß abzeichnet. Darüber, ob Swietenia auf Anhang II kommt, wird es also zur Abstimmung kommen, der ein- zigen auf dieser COP, beim 100. von 115 diskutierten „listing“-Vorschlägen. Gelassen steuert der Chairman die Prozedur. Die Wahlunterlagen werden

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gebraucht, die Abstimmung ist, auf An- kann es nicht glauben!“ ruft Green- renzerotik ist zu beobachten, in 48 Stun- trag, geheim: Kleinere Länder wollen peacerin Pamela Wellner. den löst sich das bunte Prisma aller Leu- sich nicht von den größeren beim Ab- Immerhin, die Delegierten haben ei- te hier wieder in seine Bestandteile stimmen beobachten lassen. ne Arbeitsgruppe „Hölzer und Cites“ auf. Eine halbe Stunde lang wird gezählt: gegründet, die bis zu COP 10 bestehen Am Freitag abend tanzt der Kongreß Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wird. Außerdem reichen Honduras, Co- der Artenschützer im „Bermuda-Tri- für den Kandidaten Swietenia ist knapp sta Rica und Venezuela individuelle An- angle“, einer riesigen Disco, zu Techno verfehlt. 83 Stimmen werden abgege- träge auf „Anhang III“ für Swietenia und Hip Hop. Manche Gegner geben ben, 50 dafür, 33 dagegen. 6 Stimmen ein: Die Gattung soll wenigstens in die- sich dann sogar am letzten Tag zum Ab- fehlen. „It was so close!“ Die englische sen drei Ländern geschützt werden. Das schied die Hand. Botanikerin Sara Oldfield hat Tränen in wird alle Vertragspartner, auch Brasi- „Wir haben nicht ganz verloren“, den Augen. „Boykott!“ bricht es aus lien, zum Offenlegen ihrer Handelsda- seufzt der Niederländer Chris Schür- Anthony Juniper heraus. ten mit Swietenia zwingen. mann; er gehört zu denen, die am Jak- Als die NGOs dann noch beiläufig er- Zwölf Tage hat die Schlacht gedauert, kett die Nadeln vieler vergangener fahren, daß eine Reihe kleiner Länder jetzt ist sie, auf diesem Forum, geschla- COPs tragen. „Anhang III für amazoni- nicht mitgestimmt haben, weil sie ihre gen. Trotz aller Gegensätze: In den letz- sches Mahagoni ist ein Fortschritt. Unterlagen verlegt oder verloren haben, ten Tagen ist die Stimmung auf dem Und jede COP“, lacht Schürmann plötz- kippt die Stimmung ins Absurd-Komi- Raumschiff Cites eine Mischung aus er- lich, „ist ein Spiel, ein Abenteuer. I love sche. „Ihre Unterlagen verloren? Ich regt und solidarisch. Verstärkte Konfe- it!“ Y

Medizin Zeitschrift Nature, wird es angeschal- Diäten. Zwar wird durch Hungern tet. zunächst Fett abgebaut. Doch das Ein ähnliches Gen findet sich auch führt dazu, daß sich weniger Sätti- im Erbgut des Menschen. Das Ge- gungsfaktor bildet. Die Folge: Das Freßgier wicht von Huhn und Aal wird ebenso Appetitzentrum im Hirn peinigt von einem eng verwandten Gen ge- den Körper, bis er wieder ißt – so steuert. Nur im Erbgut von Frucht- lange, bis die neu aufgespeckten im Erbgut fliegenwurden dieForschernicht fün- Fettreserven genug Sättigungsfaktor dig. produzieren, um den Hypothala- US-Forscher entdeckten ein Friedman nimmt an, daß er das mus zu besänftigen. Gen, das die Produktion einer Gen des seit langem gesuchten Sätti- Der Sättigungsfaktor, so ergeben gungsfaktors aufgespürt hat. Bei Ex- Rechnungen der Molekularbiolo- Anti-Hunger-Substanz ankurbelt. perimenten hatten die Physiologen gen, wirkt nur geringfügig, aber festgestellt, daß hungrige Mäuse ih- dauerhaft auf den Essensregelkreis wingt der Mangel an einem be- ren Appetit verlieren, wenn sie Blut- ein – nur so ist es möglich, das stimmten Boten-Molekül im transfusionen von überfütterten Art- Körpergewicht jahrelang konstant ZBlut den Übergewichtigen ihre genossen bekommen. zu halten. Wenn das Sättigungsgen Pfunde auf? In vielen Fällen wahr- Vermutlich, folgerten die Wissen- angeschaltet ist, vermutet Fried- scheinlich ja, behauptet ein Mole- schaftler, produziert das Fettgewebe man, „dann führt das dazu, daß kulargenetiker der New Yorker einen Botenstoff, der dann ins Blut man langfristig nur ein kleines biß- Rockefeller University. Den An- ausgeschüttet und bis ins Hirn ge- chen weniger ißt – etwa eine Mahl- trag auf ein Patent für das verant- schwemmt wird. Dort signalisiert er zeit weniger pro Woche“. wortliche Gen hat sein Institut be- den Steuerzentren imHypothalamus, Gerade diese Trägheit der Wir- reits gestellt. wann sie Appetit und Stoffwechsel kung würde das Steuermolekül zu In der Welthauptstadt der Mäu- hoch- oder runterregeln müssen. einem idealen Wirkstoff zur Be- seforschung, dem Jackson Labora- Dieser Sättigungsfaktor ist der handlung von Übergewichtigen ma- tory im US-Bundesstaat Maine, Beelzebub beim Scheitern fast aller chen. Durch Verabreichung eines werden etwa 1700 verschiede- künstlichen Sättigungsfak- ne genetische Mutanten – dia- tors, so die Hoffnung von betische Mäuse, übernervöse Forschern und Ärzten, ließe Mäuse, Mäuse mitKropf, Lun- sich der Hypothalamus über- genkrebs oder Schuppenflech- listen und der Teufelskreis ten – gezüchtet und an interes- der Diät aufbrechen. sierte Forscher verkauft. Seit Zwar versichern die Ent- 40 Jahren leidet dort auch ein decker des Gens, mit einer Stamm fettleibiger Mäuse, die Pille für Übergewichtige sei mehr als das doppelte Mäuse- frühestens in fünf bis zehn Normalgewicht haben. Jahren zu rechnen. Doch Jetzt glaubt der Rockefeller- Pharma- und Biotechfirmen, Genetiker Jeffrey Friedman so ein Sprecher der Rok- das defekte Gen gefunden zu kefeller University, zeigen haben, das verantwortlich für schon jetzt starkes Inter-

ihre Fettsucht ist. Nur in den ROCKEFELLER UNIVERSITY esse, die Rechte an der neu- Zellen des Fettgewebes, so Normale Mäuse (l.), fettleibige Mutante en Entdeckung zu erwer- schreibt er in der britischen Gewicht mehr als verdoppelt ben.

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WISSENSCHAFT DIAGONAL P. FRISCHMUTH / ARGUS Chefarzt Dietrich, Tropeninstitut in Hamburg: Feindschaft bis aufs Blut mit der Behörde?

Bei den Malaria-Toten hingegen, dem Affären dritten Hamburger Klinikskandal in we- nigen Jahren, reagierte die Gesund- heitsbehörde im Blitztempo – so jeden- falls schien es: Noch am späten Freitag Akt der Balance nachmittag hatte die Behörde die Jour- nalisten zur Pressekonferenz gerufen. Fünf tote Malaria-Patienten im Hamburger Tropeninstitut: Die Gesund- Ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten die Senatorin und ihre Behörde, als Journa- heitsbehörde glaubt dem Klinikchef Behandlungsfehler listen sich das bis dahin geheimgehalte- nachzuweisen – oder sucht sie nur einen Vorwand, ihn loszuwerden? ne Gutachten beschafft hatten und dar- aufhin fragten, i warum die Senatorin zwar ihren ur jene Kollegen, die sie für die be- storbenen Fritz Busch in der Hamburger „Verdacht auf Behandlungsfehler“ im sten halten, betrauen Medizinfor- Morgenpost den Chefarzt Dietrich an: Tropenkrankenhaus publik gemacht, Nscher mit der Aufgabe, einen ihrer „Wenn er meinen Mann nicht behandelt aber „eigenes Versagen offenbar ver- großen Kongresse als Chairman feder- hätte, würde der noch leben.“ tuscht“ hatte, wie die Hamburger führend zu organisieren. Dazu muß der Dann, Mitte letzter Woche, drehte Morgenpost mutmaßte; Kandidat die medizinische Wissenschaft sich die Affäre um 180 Grad. Nun for- i wieso mit dem Münchner Professor innovativ vorangetrieben, als Praktiker derten die Christdemokraten in der Dieter Eichenlaub ein Sachverständi- gewirkt und obendrein weltweit einen Hamburger Bürgerschaft den Rücktritt ger gewählt wurde, der als Malaria- Ruf wie Donnerhall haben. der Senatorin: „Wer so faustdick lügt“, Gutachter bislang ebensowenig her- Wenn es nach diesen Kriterien geht, so CDU-Fraktionsführer Ole von Beust vorgetreten ist wie als Erforscher der dann zählt der Professor Manfred Diet- mit oppositionsüblichem Getöse, „hat Pathophysiologie und Therapie der rich, 57, Chef der klinischen Abteilung im Senat nichts mehr zu suchen.“ Malaria (drei wissenschaftliche Arti- des Hamburger Tropeninstituts, zu den Dabei hatte die Gesundheitsbehörde kel seit 1984); führenden Mitgliedern seiner Zunft. alles getan, um den Skandal ans Licht zu i weshalb die Pressekonferenz so über- Doch jetzt ist der renommierte Pro- bringen. Sie hatte die Malaria-Todesfäl- stürzt und zu so später Stunde einbe- fessor beurlaubt und, wie es aussieht, le aus eigenen Stücken recherchiert, rufen wurde, obwohl das Gutachten seinen gutdotierten Job los. dann einen Gutachter beauftragt – ganz schon vier Tage zuvor in der Behörde Dietrich, enthüllte die Hamburger im Gegensatz zu früheren Krankenhaus- eingegangen war; und warum der be- Gesundheits-Senatorin Helgrit Fischer- skandalen in Hamburg, bei denen die schuldigte Chefarzt erst eine Stunde Menzel (SPD) am vorletzten Freitag, sei Behörden deutlich weniger Aufklä- vorher von dem Gutachten erfuhr. dafür verantwortlich, daß rungswillen zeigten. Nicht zuletzt des „pikanten Zeitab- i in den Jahren zwischen 1990 und 1992 laufs“ (Welt) wegen begann Anfang letz- fünf Malaria-Patienten der Tropenkli- ter Woche die Vermutung zu sprießen, nik starben, weil sie nicht rechtzeitig daß es sich bei den Vorgängen im Tro- einer intensivmedizinischen Behand- penkrankenhaus möglicherweise nicht lung zugeführt worden seien; um einen Klinikskandal in Reinkultur i drei der Verstorbenen ohne ihr Ein- Auchim handle, sondern um ein Geflecht aus verständnis in eine Arzneimittelstudie Fall des Orthopädie-Professors Rup- Ranküne und Intrigen, wie es überall, einbezogen wurden. precht Bernbeck, der fast 250 Patienten am schönsten aber im kleinen Stadtstaat Letzten Montag schaltete die Gesund- zu Krüppeln operiert hatte, wa- Hamburg gedeiht. heitsbehörde die Staatsanwaltschaft ein. ren es die Zeitungen, die Alarm schlu- So wurde ruchbar, daß zwischen der Gleichzeitig klagte die Witwe des ge- gen. Leitung der Gesundheitsbehörde und

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dem nun attackierten Klinikchef schon se Blutspende-Politik der Behörde; mal Intensivstation verfügt: Die Kranken seit Jahren eine „Feindschaft bis aufs erhob er sich gegen den Personalabbau mußten per Notarztwagen in ein ande- Blut“ (so ein Insider) herrsche. „Die in seinem Haus, dann widersetzte er sich res Krankenhaus gefahren werden. wollten ihn loswerden“, zitierte Bild ei- dem Vorhaben der Behörde, die Klinik Das Dilemma der Ärzte war dabei, nen Arzt aus dem Tropenkrankenhaus. dem nahe gelegenen Hafenkrankenhaus exakt den richtigen Zeitpunkt für die „Deshalb haben sie ihn zum Sündenbock anzugliedern. Verlegung in eine Intensivstation zu fin- gemacht.“ Letzten Mittwoch, Dietrich war gera- den: nicht zu spät, aber auch nicht zu Alles Unsinn, entgegnete die Behörde de fünf Tage beurlaubt, verkündete Se- früh, denn der Intensivmediziner ist in gegenüber dem SPIEGEL: „Die Leitung natorin Fischer-Menzel die „Eingliede- der oft diffizilen Therapie von schweren hat zu keiner beziehungsweise keinem ih- rung der Klinik in ein größeres Hambur- Malaria-Fällen naturgemäß nicht so ver- rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ei- ger Krankenhaus“ – so, wie es das von siert wie der Tropenmediziner – einer ne ,Feindschaft bis aufs Blut‘.“ ihrer Behörde in Auftrag gegebene Gut- jener Balanceakte, die in der Medizin Dies aber wollten die Assistenzärzte achten vorgeschlagen habe. immer wieder zu hin und her wogenden der Klinik nicht so recht glauben. Denn Des weiteren lag Dietrich in Fehde Gutachterstreiten führen. einige von ihnen erinnerten sich daran, mit Professor Hans Müller-Eberhard, Zudem kritisierte das Münchner Gut- wasihnen Reinhard Hollunder, der inder 68, dem Direktor des Tropeninstituts, achten, daß Dietrich drei der toten Ma- Gesundheitsbehörde für das Tropenin- das Forschung und Klinik unter einem laria-Patienten in eine Studie mit dem stitut zuständige Referent, 1990 bei ei- Dach vereint. Es ging dabei unter ande- vergleichsweise harmlosen Durchblu- nem Meeting im Hamburger Restaurant rem um den Streit, ob Abteilungsleiter tungsmittel Trental einbezogen hatte. „Fischerhaus“ gesagt hatte: „Ihr glaubt ja Dietrich weiterhin klinische Aids-For- „Ein ziemlich schwach wirkendes Medi- kament, sozusagen Aspirin-Klasse“, ur- teilte der Hamburger Pharmakologie- Professor Walter Braun. Tierversuche hatten vermuten lassen, daß Trental den Tumornekrose-Faktor (TNF) zu senken vermag, ein gewebe- zerstörendes Sekret, das Malaria-Kran- ke überschießend produzieren. Doch nachdem er 30 Patienten zusätzlich zur „Ich würde mich bedenkenlos in seine Klinik legen“

regulären Malaria-Therapie mit Trental behandelt hatte, brach Dietrich die Stu- die ab: Die erhoffte TNF-reduzierende Wirkung war in keinem Fall eingetreten. Kritik des Gutachters: Es fehle bei drei der fünf Patienten, die später auf der In- tensivstation starben, die Einwilligungs- erklärung für ihre Teilnahme an der

T. RAUPACH / ARGUS Trental-Studie. Die Kranken waren in Gesundheits-Senatorin Fischer-Menzel*: „Pikanter Zeitablauf“ nicht ansprechbarem Zustand in die Tro- penklinik eingeliefert worden. nicht, was wir schon alles versucht ha- schung betreiben dürfe – jenes Gebiet, „Da es sich um ein zugelassenes Mittel ben, um diesem Mann das Handwerk zu auf dem er sich international Meriten er- handelte, istesAuslegungssache“, so Ex- legen.“ Hollunder dementiert. worben hat. perte Braun, der jahrelang in der Ethik- Geschlossen stellten sich die Assi- Dietrich beantwortete die Frage auf Kommission der Hamburger Ärzte saß, stenzärzte hinter ihren Chefarzt und seine Weise: Als ihm die Forschungsgel- „ob bei diesen Patienten eine Einver- sandten einen Offenen Brief an die Se- der gestrichen wurden, besorgte er sie ständniserklärung notwendig war“ – Mu- natorin und die Presse, in welchem sie sich anderswo, am Direktor vorbei. nition für weiteren Gutachterstreit. Dietrich als „kompetenten Arzt mit Vom Gutachter Eichenlaub in Mün- Fünf Tage lang, bis die Presse darauf überragenden tropenmedizinischen chen hatte die Gesundheitsbehörde vor kam, verschwieg die Gesundheits-Sena- Kenntnissen“ bezeichneten – obwohl allem wissen wollen, ob der Tod der torin Fischer-Menzel die Kritik, die der der Mann sie oft geknutet hatte: Der fünf Patienten „möglicherweise“ hätte Sachverständige auch an ihrer Behörde Professor, mit einem markigen Ego ge- verhindert werden können. Der Gut- geübt hatte – der Grund, weshalb die segnet, neigt zu Ungeduld und Schärfe achter bejahte die Frage für zwei Fälle CDU sie der Lüge zieh. im Umgang mit Untergebenen, aber eindeutig, für die drei anderen bei Denn das Gutachten beanstandete, auch mit ihm dienstvorgesetzten Amts- „gebotener“, „großer“ oder „allergröß- worüber Dietrich der Behörde seit Jah- trägern in der Gesundheitsbehörde. ter Zurückhaltung im Urteil“. ren lautstark in den Ohren gelegen hatte: Denen gegenüber legte sich Dietrich Sein Monitum: Die fünf Patienten, Das Tropenkrankenhaus, so Infektiolo- immer wieder quer. Mal opponierte er – die alle zu spät und deshalb schwerst ge Eichenlaub, stehe, was „eine ange- 1983, als es noch keinen Aids-Test gab – malariakrank in die Tropenklinik einge- messene Versorgung kritisch kranker Pa- gegen die seiner Ansicht nach zu sorglo- liefert wurden, seien nicht rechtzeitig in- tienten“ angehe, personell und technisch tensivmedizinisch behandelt worden – „an der Peripherie“. * Am Mittwoch vergangener Woche in der Ham- was unter anderem daran lag, daß das Trotzdem liegt, wiedie Senatorin zuge- burger Bürgerschaft. Tropenkrankenhaus über keine eigene ben mußte, dieSterberate der imTropen-

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krankenhaus behandelten Patienten deutlich unter dem internationalen Kli- nikdurchschnitt. Das weiß auch Professor Oswald Mül- ler-Plathe. Der Mediziner ist Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Altona, in dessen Intensivstation die fünf Patienten eingeliefert wurden, an deren Tod der Skandal sich jetzt entzündete. „Professor Dietrich“, sagt Müller- Plathe, „ist nach wie vor einer der her- vorragendsten Malaria-Spezialisten. Ich würde mich bedenkenlos in sein Kran- kenhaus legen.“ Lange freilich wird Dietrich nicht mehr Chefarzt sein, zumindest wenn es nach der Gesundheitsbehörde geht. „Nach seiner Beurlaubung wird er so- fort suspendiert“, verriet ein Eingeweih- ter die Strategie, „dann in einen Gut- achterstreit verwickelt. Das dauert, und jedes Arbeitsgericht wird einsehen, daß er nach einem Jahr Abwesenheit nicht mehr Chef sein kann.“ Y

Katastrophen REUTER Schotten In Flammen stehende „Achille Lauro“: „Irgendwann brennt jedes Material“ Nach Aussage von Kapitän Orsi hatte Zigarette ein – das Bettzeug fängt an zu dicht das Feuer im Maschinenraum angefan- brennen. gen. Von dort seien die Flammen auf Wandverkleidungen und Teppiche be- Feuer auf der „Achille Lauro“, die unteren Passagierdecks überge- stehen deshalb aus schwer entflammba- einem großen Kreuzfahrtschiff – sprungen – ein zumindest ungewöhnli- ren Materialien. Stahltüren, die nach ei- cher Verlauf: Der Maschinenraum von nem Feueralarm automatisch zufallen, Alptraum aller Seetouristen. Schiffen ist besonders gut gegen Feuer sollen das Feuer an der Ausbreitung hin- geschützt, weil in diesem Bereich immer dern. Auch auf der „Achille Lauro“ er Schiffsveteran, Baujahr 1947, wieder kleinere Brände auftreten, etwa schlossen sich die Feuerschotten, wie schien einfach nicht totzukriegen: wenn aus einer undichten Leitung Passagiere berichteten. DZweimal schon hatte es auf der Treibstoff auf die heißen Dieselmotoren Diese Maßnahmen können helfen, die „Achille Lauro“ gebrannt; einmal war spritzt. Hochdruckpumpen pressen Flammen eine Weile aufzuhalten, aber sie mit einem portugiesischen Frachter dann sofort Kohlendioxid in den Ma- kaum ein Brand istohne den raschen Ein- zusammengestoßen; palästinensische schinenraum, um die Flammen zu er- satz von bordeigenen Löschtrupps in den Terroristen hatten gedroht, sie in die sticken. Griff zu bekommen. Ein Hauptproblem Luft zu sprengen. Üblicherweise entstehen Brände auf besteht für die Crew darin, in den rauch- Letzte Woche geriet das italienische Kreuzfahrtschiffen in den Passagierka- geschwängerten Gängen den Brandherd Kreuzfahrtschiff wieder in Bedrängnis, binen: Ein Betrunkener schläft mit einer ausfindig zu machen. diesmal kam jede Hilfe zu spät. 60 „Irgendwann brennt jedes Material, es Kilometer östlich von Somalia istnur eine Frage der Temperatur, diedas Genua brach an Bord des Luxusliners ein Feuer ungehindert erzeugen kann“, er- vernichtendes Feuer aus. Die halbe läutert Brandschutzexperte Jens Schrei- Nacht kämpfte die Besatzung gegen ter vom Germanischen Lloyd in Ham- die Flammen – vergebens. burg. Bei 700 Grad fangen selbst die Mittwoch morgen sieben Uhr gab Haifa Stahlschotten an zu glühen und tragen Giuseppe Orsi, 56, sein Schiff auf. Suezkanal durch ihre Hitzestrahlung den Zündfun- Der nervenstarke Kapitän schickte ken auf die andere Seite – nach solchem die meist über 50jährigen Passagie- „Flashover“ frißt sich der Brand dann re, die nach einem Fest in Abend- Reiseroute der Meter um Meter durch den Schiffskör- kleidung stundenlang an Deck aus- Achille Lauro bis per, stunden- oder sogar tagelang. geharrt hatten, in die Rettungsboo- zum Ausbruch des Die International Maritime Organiza- te. Per Funk alarmierte Schiffe bar- Feuers tion (Imo) hat unlängst verschärfte Si- gen die rund tausend Schiffbrüchi- cherheitsbestimmungen erlassen. So gen aus der See, in der es von Haifi- müssen auf allen Passagierschiffen, die SOMALIA schen nur sowimmelt. Bei dem Ver- seit Oktober vom Stapel laufen, Sprink- such,esabzuschleppen,versankdas Indischer leranlagen eingebaut sein. Auch ältere brennende Wrack am Freitag abend 500 km Ozean Kähne sind bis 1997 nachzurüsten. Die in der Tiefe. Feuerduschen schalten sich automatisch

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ein, sobald ein Rauchmelder Alarm schlägt. Nach den neuen Imo-Vorschriften müssen nun in den Kabinengängen von Passagierschiffen Leuchtstreifen ange- bracht werden, die im Notfall den Flucht- weg anzeigen (was in Flugzeugen schon lange üblich ist). Bei früheren Brandka- tastrophen auf Ozeanriesen hatte sich ge- zeigt, daß die meisten Passagiere orien- tierungslos durch das Labyrinth der ver- qualmten Gänge irren. Einige brachen wenige Schritte vor dem rettenden Trep- penaufgang zusammen. Kaum ein Passagier auf einem bren- nenden Schiff stirbt den Flammentod, die meisten ersticken auf der Flucht. „Der giftige Rauch ist das schlimmste“, sagt Schreiter. Wenn nicht mit Gasmasken ausgerüstete Besatzungsmitglieder ihnen den Weg ins Freie weisen, sind die mei- sten Passagiere verloren. „Die ganze zusätzliche Technik macht die Schiffe nicht viel sicherer“, meint des- halb Brandexperte Schreiter, „wenn

nicht gleichzeitig die Schiffsbesatzungen AP umfassend geschult werden.“ Techniker im Unglücksreaktor Harrisburg: Gegen den GAU nicht versichert Wie sehr eine mangelhaft vorbereitete Crew die Folgen eines Feuers an Bord i Jede Kilowattstunde Nuklearstrom Der französischen, aber auch der noch verschlimmern kann, zeigte sich im aus einem in Frankreich, Deutschland deutschen Regierung wirft der Energie- April 1990,als auf der Ostseefähre „Scan- oder Großbritannien künftig errichte- wissenschaftler vor, „mit überoptimisti- dinavian Star“ ein Kabinenbrand außer ten Atommeiler wird 30 bis 100 Pro- schen Einschätzungen zukünftiger Kontrolle geriet, eine Katastrophe, bei zent mehr kosten, als von der Atom- Kernenergiekosten“ die ökonomischen der 158 Menschen umkamen. lobby behauptet. „Risiken auf die Steuerzahler und Die erst zwei Wochen zuvor angeheu- i Das mittelfristige Potential der „koh- Stromkunden dieser und der nächsten erte Crew, aus verschiedenen Nationali- lendioxidfreien“ Kernenergie zur Ein- Generation abzuwälzen“. An die Wirt- täten zusammengewürfelt, kannte sich dämmung des globalen Treibhausef- schaftlichkeitsprognosen der Atomwirt- aufdem lodernden Schiff kaum aus.Noch fektes ist weitaus geringer als erhofft. schaft, meint Krause, glaube nicht ein- nicht ein einziges Mal hatte die Mann- Die Energiepolitiker im Pariser Indu- mal die Industrie. Die Politik lasse sich, schaft Feueralarm geübt. Y strieministerium erkannten rasch die Bri- bewußt oder aus Unwissenheit, von den sanz der Expertise. Als Pamphlet einge- Mondzahlen der Lobby bluffen und fälle fleischter Nukleargegner läßt sie sich auf schwankendem Grund folgenschwe- Kernkraft nicht abtun: Auftraggeber der Studie ist re energiepolitische Entscheidungen. das Umweltministerium der Niederlan- Krauses Rechnung ist auch für Laien de. Die Kostenanalyse für künftige plausibel. Er und seine Mitarbeiter ha- Atomkraftwerke ist Baustein eines groß- ben lediglich die veröffentlichten Ko- Kräftiger angelegten Projekts, mit dem Den Haag stenvoranschläge der französischen Re- seit 1989 die Kosten zur Stabilisierung des gierung oder, in Deutschland, der Ver- aus den Fugen geratenen Weltklimas er- einigung deutscher Elektrizitätswerke Aufschlag mitteln will. kritisch durchgesehen. Wo die von der Federführend für die Gesamtstudie Atomlobby verwendeten Zahlen ge- Atomstrom aus neuen Kernkraft- mit dem Titel „Internationales Projekt schönt erschienen, setzte Krause reali- werken würde wesentlich teurer, für eine nachhaltige Energiezukunft“ stischere Daten ein – auf der Grundlage (IPSEP) ist der Deutsch- von nuklearen Betriebs- als von der Atomlobby behauptet. Amerikaner Florentin erfahrungen, verknüpft Krause, derzeit wissen- mit möglichst realitäts- ie hartgesottenen Atomiker im Pa- schaftlicher Mitarbeiter tauglichen Erwartungen riser Industrieministerium waren am Lawrence Berkeley für die Zukunft. Dirritiert. Ein paar kleine Korrektu- Laboratory in Kalifor- Professor Peter Hen- ren, eingearbeitet in ihre Prognosen, nien. Schon Anfang der nicke, Referatsleiter am machten aus dem lukrativen Geschäft achtziger Jahre veröf- Wuppertal-Institut für mit der Atomenergie eine ebenso teure fentlichte er gemeinsam Klima, Umwelt, Ener- wie unsinnige Auslauftechnologie. mit dem amerikanischen gie und Mitglied der Kli- Die Studie über die wirtschaftlichen Öko-Guru Amory Lo- ma-Enquete-Kommis- Perspektiven der nuklearen Stromer- vins eine erste Arbeit sion des Bundestages, zeugung, die den staatlichen französi- zu den Möglichkeiten nennt die Krause-Ar- schen Kernkraftverfechtern im Sommer der Klimastabilisierung beit „methodisch her- auf den Tisch kam, gipfelt in zwei für die in Zeiten ausufernder vorragend“, sie sei

„nuclear community“ deprimierenden Treibhausgas-Emissio- M. DARCHINGER „das Beste, was es im Aussagen: nen. Energieexperte Krause Moment auf diesem Feld

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gibt“. Selbst der eingefleischte Kern- energieverfechter Hans Michaelis, wie Hennicke Mitglied der Klima-Enquete- Kommission, Honorarprofessor an der Uni Köln und vor seiner Pensionierung EG-Generaldirektor in Brüssel, sieht die Krause-Expertise „am oberen Ende einer seriösen Abschätzung“. Die „moderate Studie“ hebe sich wohltuend ab von den polemischen Schriften bein- harter Atomgegner. Zumindest die offiziellen Kosten- schätzungen für künftige Kernkraftwer- ke in Frankreich und Deutschland klin- gen allesamt vielversprechend. Dabei werden etwa die noch weitgehend unbe- kannten Abriß- und Entsorgungskosten frohgemut kleingerechnet. Krause und seine Mitarbeiter melden Zweifel an: Die Investitionskosten beim Bau neuer AKW wären wegen der in Zukunft geforderten höheren Sicher- heitsstandards um 10 bis 15 Prozent hö- her. Auch wäre fortan im Reaktorge- schäft eher mit langen Bauzeiten und kleinen Stückzahlen zu rechnen. Beides wirke zusätzlich kostentreibend. Als maßgeblich für die Lebensdauer – die französischen Ministerialbeamten rechnen mit 40, deutsche AKW-Ver- fechter gelegentlich gar mit 60 Jahren – sehen die IPSEP-Autoren nicht wie bis- her die Frage an, wie lange ein Atom- meiler das Strahlenbombardement in seinem Kern technisch aushält. Ent- scheidend sei vielmehr, wie lange sich der Betrieb wirtschaftlich rechnet. Wegen technischer Probleme und ent- sprechend ausgedehnter Stillstandzeiten stiegen die Betriebskosten des französi- schen Reaktorparks in den vergangenen Jahren um jährlich fünf bis sechs Pro- zent. In Deutschland stehen die Betrei- ber älterer Siedewasserreaktoren am Ein AKW abzureißen kostet fast halb soviel wie der Bau

Beginn einer ähnlichen Entwicklung: Der Rißepidemie in den Altmeilern Würgassen, Brunsbüttel oder Krümmel folgen lange Auszeiten und teure Repa- raturen – ein allgemeiner Trend bei al- ternden High-Tech-Maschinen, schätzt Krause. Schon nach 20 bis 25 Jahren werde deshalb ein Kohle- oder ein Gas- kraftwerk wirtschaftlich attraktiver sein als ein AKW. Schließlich rechnen die Autoren der Studie mit erheblich höheren Stille- gungs- und Abrißkosten als die Nuklear- anhänger in Deutschland und Frank- reich. Als Beleg führen sie US-amerika- nische Erfahrungen an, wo wegen des früheren Starts der zivilen Atomstrom- nutzung die fundiertesten empirischen Daten vorliegen. Dort pendeln die er-

236 DER SPIEGEL 49/1994 warteten Kosten für das dicke Ende eines Atomkraftwerks zwischen 25 und 50 Prozent der Errichtungskosten. Die Franzosen rechnen mit 25, die Deut- schen gar nur mit 9 Prozent. Die sogenannten externen Kosten, al- so ökologische und soziale Schäden, die durch die Kernenergie (wie durch ande- re Formen der Stromerzeugung auch) schon im Normalbetrieb verursacht wer- den, sind in dem von Krause berechne- ten 30- bis 100-Prozent-Aufschlag ge- genüber den offiziellen Prognosen noch nicht enthalten, ebensowenig die Fol- gen, die ein Super-GAU in einem west- lichen Industrieland zur Folge hätte. Noch einen weiteren Zahn ziehen die IPSEP-Autoren den Anhängern der Neue Kernkraftwerke können Treibhauseffekt nicht eindämmen

Kernenergie: Die „kohlendioxidfreie“ Stromerzeugungstechnologie kann nach ihrer Überzeugung den Treibhauseffekt mittelfristig nicht spürbar eindämmen. Neue, sicherere Reaktoren seien näm- lich frühestens „ein oder zwei Jahrzehn- te nach der Jahrhundertwende“ einsatz- bereit, zu spät für eine effektive Klima- stabilisierung. Auf mittlere Sicht könnte also ein CO2-dämpfender Beitrag allein von „teureren und unsichereren Reaktoren mit im wesentlichen konventioneller Technik“ erbracht werden. Eine solche Entwicklung aber geben die in Europa bis 2010 geplanten Reaktorprojekte nicht her. Selbst wenn alles gebaut wür- de, was irgendwo einmal angedacht wurde, wären damit nicht einmal zehn Prozent des europäischen Strombedarfs zu decken – viel zuwenig für eine Stabili- sierung der CO2-Emissionen. Auf sechs engbedruckten Seiten ver- teidigte das Pariser Industrieministeri- um kürzlich die eigenen Berechnungen gegen die IPSEP-Zweifler. Doch Krau- se und seine Mitarbeiter geben sich selbstbewußt. Sie sind überzeugt, daß ihre Prognosen die Nuklear-Realität besser abbilden. Für die IPSEP-Leute und ihre Kalku- lationen spricht eine Art „Markttest“, der vor einigen Jahren in Großbritan- nien stattfand. Als die Regierung in London Ende der achtziger Jahre ihr Kernenergie-Arsenal meistbietend an die Industrie verkaufen wollte, winkten die potentiellen Investoren erschrocken ab. Für die Kilowattstunde Atomstrom hatten sie etwa doppelt so hohe Prei- se berechnet wie die regierungsamt- lichen Verkäufer. Das Ergebnis ent- spricht den Kostenrechnungen der IPSEP-Studie. Y .

SPORT FOTOS: D. KONNERTH / LICHTBLICK Kapitän Spiridon (l.) im Wales-Spiel: „Geschlossene Faust“ Ehrenlogen im Stadion von Chis¸ina˘u: „Für Moldawien

Fußball „GEBURT EINER IDENTITÄT“ SPIEGEL-Redakteur Alfred Weinzierl über das neue Nationalgefühl des deutschen EM-Gegners Moldawien

in fahles Licht fällt in den langen des landesuntypischen Wohlstands: Die auch ein Spiel mit finanzieller Gewinn- Flur, dessen Linoleumboden offen- moldawischen Kicker spielen erstmals garantie, lediglich die Quote war vorher Ebar in einer Zeit verlegt wurde, als bei der Europameisterschaft mit. ungewiß. Deutschland galt vor der Aus- Genosse Breschnew noch die Fünfjah- Für alle jungen Staaten des zerbrösel- losung als Jackpot. Als Moldawien der respläne kontrollierte. Drei von vier Ne- ten Ostens bedeutet die Teilnahme an deutschen Elf zugeordnet wurde, hat onröhren sind kaputt oder altersbedingt der EM ’96 mehr als nur die Bestätigung sich Ex-Kommunist Tampiza eilig be- eingetrübt. Vor den Amtsstuben warten der erlangten Unabhängigkeit. Es ist kreuzigt. Frauen und Männer mit Papieren in der Hand geduldig darauf, daß ihnen die dnjestr- Bürokratie einen Gewerbeschein aus- republik stellt oder eine Baugenehmigung erteilt. Wie beim Slalom umkurvt der Präsi- rumänien molda- ukraine dent die Armseligkeit auf dem schmalen wien Gang, dann stößt Constantin Tampiza, Chi¸sin˘au 46, entschlossen eine der zahllosen Tü- ren auf und schwenkt mit einem knap- Tiraspol pen Gruß nach links in eine andere Welt. Die zwei taghellen Räume zieren polierte Holzpaneele und geraffte Gar- Schwarzes dinen; ein rotes Telefon ohne Wähl- 100 km scheibe läßt ahnen, daß der Vormieter Meer kurze Dienstwege schätzte. „Das Justizministerium war hier Moldawien drin“, sagt der Präsident. Als die Behör- steckt tief in einem Nationalitäten- de die teuren Räume nicht mehr bezah- konflikt, der die ehemalige Sowjet- len konnte, bot man sie ihm an: „Wenn republik in einen rumänischen und ihr Geld habt, nehmt sie.“ einen russischen Teil (Dnjestr) spal- Tampiza, vor der Wende Sekretär im tet. Doch Fußballer passieren täglich ZK und danach der erste Wirtschaftsmi- die Stacheldrahtgrenze: Spieler aus nister, hat Geld genug. Er repräsentiert beiden Lagern bilden die Nationalelf, jetzt eine Körperschaft, die sich behagli- ihre Siege lassen einen gemeinsa- ches Ambiente leisten kann: den Fuß- men Nationalstolz keimen. ballverband Moldawiens. Der Grund Moldawischer Bürgerkrieg 1992: Neue Grenze

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mehr getan, als alle Politiker seit der Revolution“ Verbandschef Tampiza bei der Siegesfeier: „Ole´, ole´ Moldova“

Kaum war das Glückslos gezogen, Weise von der moldawischen Tüchtig- Vereinigung mit Rumänien an, riefen machten die Gesandten der Marktwirt- keit überzeugt werden. Ein Polizeiauto Politiker im russisch geprägten Trans- schaft dem Fußballzwerg ihre Aufwar- eskortiert sie auf dem Weg vom Hotel nistrien die Republik Dnjestr aus – der tung; Tampiza empfing Kaufleute aus zum Stadion, auf den verkehrsarmen Streit eskalierte 1992 zum Bürgerkrieg. sechs Ländern. Noch Monate später er- Alleen des Botschaftsviertels läßt der Auch nach der Waffenruhe pocht die innert er sich mit erkennbarem Wohlbe- Fußballboß kurz die Sirene aufheulen. Dnjestr-Republik, ein industrialisierter hagen daran, ein begehrter Geschäfts- Die Gäste tun so, als hätten sie die kin- Streifen mit 700 000 Einwohnern, auf partner der westlichen Welt gewesen zu dische Geste überhört. Als die Gutach- Eigenständigkeit. Während die 3,6 Mil- sein. Die Münchner Vermarktungsagen- ter das Stadionul Republican inspizie- lionen im übrigen Moldawien das latei- tur ISPR unterbreitete das beste Ange- ren, in dem die Länderspiele ausgetra- nische Alphabet und die rumänische bot. Für knapp vier Millionen Mark ver- gen werden, müssen sie erkennen, daß Sprache pflegen, wird östlich des äußerte der moldawische Verband die Europa nicht nur an Größe, sondern Dnjestr-Ufers russisch gesprochen, ky- Fernseh- und Werberechte seiner Heim- auch an Schlichtheit gewonnen hat. rillisch geschrieben, in eigener Währung spiele. Tampiza: „Genug für zwei Jahre Bislang bestand die Ehrenloge aus bezahlt und eine hermetisch gesicherte ohne Sorgen.“ zwei Balkonen: dem oberen für die Grenze mit geschulterter Kalaschnikow Eine Kommission des Europäischen Würdenträger aus Partei und Regie- verteidigt. Rückendeckung erhält das Fußballverbandes, die die Hauptstadt rung, dem unteren für die mittleren Ka- Chis¸ina˘u besucht, soll auf besondere der. Für die EM-Spiele erhielt der unte- re Balkon ein Wellblechdach, damit der „Zwischen den Menschen dort untergebrachten internationalen ist kein Haß, nur Presse die Notizen nicht feucht werden. Die Überdachung hat jedoch den Nach- die Politiker streiten“ teil, daß die Gäste der oberen Loge – Staatschef Mircea Snegur inklusive – abtrünnige Regime durch die Anwesen- jetzt stehen müssen. Nehmen sie auf ih- heit der ehemaligen 14. Sowjetarmee, ren Holzstühlen Platz, versperrt ihnen die weiterhin dem Befehl Moskaus un- das Wellblech den Blick auf den Rasen. tersteht. Das kleine Stadion mit den 18 000 Nur der Fußball konterkariert die po- Sitzplätzen wirkt ohne die im Westen litischen Verhältnisse. Als sei das Land unvermeidliche Bandenwerbung selt- eins, spielen Klubs von hüben und drü- sam nackt. Eine einzige Tafel mit der ben um die Meisterschaft; gemeinsam Aufschrift „Moldova-Reclama“ sowie treten ihre besten Profis, neun aus Telefon- und Fax-Nummer weist darauf Chis¸ina˘u und acht aus dem transnistri- hin, daß auch nach den Fußballtagen schen Tiraspol, für die moldawische der Kapitalismus herzlich eingeladen ist. Fahne an. Doch die westlichen Investoren zö- „Zwischen den Menschen ist kein gern. Moldawien, das wie ein Puffer Haß, nur die Politiker streiten“, betont zwischen der Ukraine und Rumänien Sergiu Secu, 22. Der Nationalspieler ist liegt, gilt als politisch instabil. Seit dem in Chis¸ina˘u geboren. In seiner Familie Wahlsieg der oppositionellen Reformer wurde immer rumänisch gesprochen, 1990 steckt das Agrarland, so groß wie der Kindergarten war russisch, die Schu- Nordrhein-Westfalen, in einem Natio- le rumänisch, der Fußballklub russisch.

R. LIEBMANN nalitätenkonflikt. Aus Angst, die neue, 60mal hat er als Jugendlicher für die So- mit geschulterter Kalaschnikow verteidigen demokratische Regierung strebe die wjetunion gespielt. Seit einem halben

DER SPIEGEL 49/1994 239 Werbeseite

Werbeseite SPORT

Jahr überwindet Secu täglich die Ohne Bindung zu Land und Leuten Die im Februar neu gewählte Regie- 80-Kilometer-Distanz zwischen den La- konnten die Pogorelovs dieser Ära so- rung korrigierte den Kurs, gesteht Min- gern. mit nie zu sportiven Volkshelden wer- derheiten autonome Regionen zu. Sie Am Ortsausgang von Chis¸ina˘u pas- den. Sie blieben nur Gastarbeiter für ge- hat das Land in die GUS eingebettet, siert er eine Eisenwand, auf der die auf- fällige Unterhaltung, spielten fürs Au- ließ aber gleichzeitig Historiker nach ei- gemalten Flaggen der europäischen ge, nicht fürs Herz. ner „moldawischen Nation“ fahnden. So Länder ein Motto umrahmen: „Casa Die Europameisterschaft hat alles ge- ist in der neuen Verfassung als Staats- Comuna“ – was den Wunsch der Molda- ändert. 15 000 Zuschauer sahen im Ok- sprache nicht mehr „Rumänisch“, son- wier nach Aufnahme ins „gemeinsame tober die Heimpremiere gegen Wales. dern „Moldawisch“ verankert – das ist, Haus“ der EU dokumentieren soll. Am Und binnen 90 Minuten wurden die als würde das Wiener Parlament „Öster- Ortseingang von Tiraspol, unmittelbar Moldawier Fußballfans: Nach Pogore- reichisch“ statt „Deutsch“ verordnen. an der Grenze Transnistriens, fährt er lovs Siegtreffer zum 3:2 knallte Staats- Wie weit Verfassungstext und Verfas- vorbei an einem steinernen Monument, präsident Snegur auf der Ehrentribüne sungswirklichkeit aber selbst unter den dessen Zierde – Hammer, Sichel und die vor Freude seinen Hut auf den Steinbo- Fußballern noch auseinanderklaffen, den, während auf den Rängen die Be- war auf der Mannschaftsfeier nach dem geisterung neapolitanische Formen an- Sieg über Wales zu beobachten. Im opu- „Sie fragen sich nahm – nicht des schönen Kombinati- lenten Gemäuer des Kasinos, das früher wohl: Hat onsfußballs wegen, sondern des Sieges ZK-Mitgliedern vorbehalten war, wer- wegen: des Sieges ihrer Elf. den die patriotisch dröhnenden Reden der keine Angst?“ Etwas Einmaliges sei an diesem auf russisch gehalten – „um keinen Spie- Abend geschehen, glaubt Kapitän Alex- ler zu diskriminieren“, wie sich Trainer kyrillischen Buchstaben CCCP – davon andru Spiridon, 34: „die Geburt einer Ion Caras zu erklären beeilt. Denn alle kündet, daß jenseits des Dnjestr nicht Identität“. Bis spät in die Nacht fuhren Rumänen sprechen russisch, aber weni- nur die Fernsehantennen Richtung Fans, die moldawische Trikolore im ge Russen beherrschen Rumänisch. Moskau ausgerichtet sind. Fahrtwind, hupend den Boulevard S¸te- Nichts hätte die Entwicklung eines Niemand, sagt Secu, habe ihn bislang fan cel Mare auf und ab. „Erstmals“, Nationalgefühls stärker beschleunigen darauf angesprochen, daß er quasi in notierte die unabhängige Nachrichten- können als die Teilnahme an der Euro- Feindesland Fußball spiele. Doch in agentur Infotag, „sind die Leute stolz, pameisterschaft, deren Höhepunkt am vielen Gesichtern habe er Irritation ge- Moldawier zu sein.“ Mittwoch nächster Woche der Auftritt lesen: „Sie fragen sich wohl: Hat der keine Angst?“ Doch Furcht ist ihm ebenso fremd wie der heroische Gedan- ke, Vorbild für ein versöhntes Molda- wien zu sein. Für Tiraspol entschied er sich, weil der Klub ihm Auto und Geld für eine Wohnung bot. Im Chis¸ina˘u blieb er wohnen, um den Eltern nahe zu sein. Nicht nur Secu bestätigt die Erfah- rung, daß die meisten Sportler unpoliti- sche Menschen sind und sich ihr Hang zum Opportunismus aus reiner Be- quemlichkeit erklärt. Da Leistungssport im Kommunismus immer staatstragend war, haben die Athleten verinnerlicht, stets auf der richtigen Seite zu stehen. Das Durcheinander um Heimat, Na- tionalität und Vaterland wird pragma- tisch gelöst. Auch Spieler russischer oder ukrainischer Herkunft tragen wie selbstverständlich das moldawische Tri- kot. Valeriu Pogorelov, 27, bereitet es keinen Seelenschmerz, daß er statt für das große Rußland jetzt für das kleine Moldawien kämpft. Um „international Profi Secu, Eltern: Fußball spielen in Feindesland spielen zu können“, nahm er halt die moldawische Staatsbürgerschaft an. Lange galt das Land nur als ein An- der deutschen Elf ist. Eine Stunde tran- Und im Paß stehe ja noch: „Geboren in hängsel am südwestlichen Zipfel des ken und sangen („Ole´, ole´ Moldova“) der Ukraine, Nationalität russisch“. Riesenreiches oder als nordöstliche Pro- die Vertreter beider Landesteile nach Pogorelov ist noch ein Relikt des al- vinz Großrumäniens. Stalin hatte 1940 dem Wales-Spiel gemeinsam. Dann ten Fußballs in Moldawien. Zu Zeiten das Gebiet zwischen Pruth und Dnjestr verteilten sie sich auf zwei Busse; der der Sowjetunion spielten in Chis¸ina˘u annektiert und das Völkergemisch zu ei- eine rumpelte nach Tiraspol, der andere fast ausschließlich Legionäre aus Ruß- ner der moskautreuesten Sowjetrepubli- klapperte die Plattenbauten an land und der Ukraine. Nach drei, vier ken gebändigt. 1990, bei der ersten Chis¸ina˘us Peripherie ab. Jahren zogen die Fremdarbeiter weiter, halbwegs freien Parlamentswahl, setzte So wie der Erfolg bei der Fußball- und neue kamen. Ihre Privilegien, wur- sich der rumänische Flügel durch, mach- Weltmeisterschaft 1954 den Deutschen de den Profis damals empfohlen, sollten te Rumänisch zur Amtssprache und ver- das Gefühl des Wir-sind-wieder-Wer sie leugnen. Da es als ideologisch un- langte von allen russischstämmigen schenkte, begründet die moldawische fein galt, für Geld zu kicken, wurden sie Staatsdienern im Land, innerhalb von Mannschaft eine Wir-sind-erstmals-wer- offiziell als Fabrikangestellte geführt. fünf Jahren rumänisch zu sprechen. Epoche: „Mit ihren Erfolgen“, hat

DER SPIEGEL 49/1994 241 Staatspräsident Snegur den neuen Inte- grationsfiguren ausrichten lassen, habe die Mannschaft mehr für Moldawien ge- tan „als alle Politiker seit der Revolu- tion“. Snegur könnte seinem Wahlvolk viel erzählen über den beginnenden wirt- schaftlichen Aufschwung des Landes, die liberale Verfassung oder die diplomati- sche Anerkennung durch über 130 Staa- ten. Für die Feldarbeiterin oder den Me- chaniker aber, der wegen Kurzarbeit null seit drei Monaten auf Lohn wartet, ist Moldawiens Sitz in der Uno abstrakt. „Jürgen Klinsmann aber ist konkret“, sagt der Journalist Anatol Golea. Denn mit Klinsmann ist die Welt zu Gast in Chis¸ina˘u. Trainer Caras, 44, weiß, daß Molda- wiens Fußball den zweiten Schritt vor dem erstennimmt: „Unser Fundament ist morsch.“ Seit drei Jahren machen Zim- bru Chis¸ina˘u und Tiligul Tiraspol die Meisterschaft unter sich aus, die übrigen 12 Erstligisten sind nur Staffage. Nicht mal die Hälfte der Klubs leistet sich aus- gebildete Trainer, im ganzen Land, so Caras, gibt es nur drei akzeptable Rasen- plätze. Vor allem aber fehlt es dem sport- lichen Entwicklungsland an Know-how. Wenn ein Privatmann wie Franz Bek- kenbauer neuer Präsident von Bayern München werde, fragt ein Verbands- funktionär in entlarvender Naivität, „wo kommt dann das ganze Geld her?“ Einen Fußballklub als finanziell unabhängiges Wirtschaftsunternehmen zu sehen über- fordert sein Vorstellungsvermögen. Wenn Moldawier von Sponsoring reden, meinen sie Mäzenatentum. Den Meister Zimbru Chis¸ina˘u hat im Sommer das staatliche Brennstoff-Un- ternehmen übernommen. Dessen Chef besorgte den Spielern 14 Wohnungen. Ein Auto besitzt nur Spielertrainer Spiri- don; die übrigen kommen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Bus. „Aber zum neuen Jahr“, sagt Spiridon, „hat der Sponsor fünf Autos versprochen.“ Einen Beruf hat kein Zimbru-Spieler erlernt, einige studieren Sport. Rund 70 Dollar monatlich beträgt das Grund- gehalt, pro Sieg gibt es je nach Gegner 25 bis 100Dollar –ein Facharbeiter verdient 30 Dollar im Monat. Spiridon, ein Rudi Völler des moldawi- schen Fußballs, lobt mit pathetischem Schmelz die Harmonie der Nationalelf: „Wir sind geschlossen wie eine Faust.“ Andererseits sei es auch „sehr lohnens- wert“ zu kämpfen. Für den Sieg über Wales erhielt jeder Spieler 5000 Dollar. Schon bald aber werden Drachmen, Lire oder Mark die geschlossene Faust in eine kassierende Hand verwandeln. Weil bereits Einkäufer aus dem Westen ge- sichtet wurden, hat das Mittelfeldtalent Alexandru Curtianu, 20, ein Angebot von Dynamo Kiew dankend abgelehnt: „Ich will in die deutsche Bundesliga.“ Y

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SPORT

kampfkontrollen meist Doping ohne Befund. Als dann die Schwimm- weltmeisterin Aihua Yong eher zufällig Reich überführt wurde, wuchs der Druck, ge- gen die Chinesen mit der Mittel allen Mitteln vorzuge- hen. Erfolg für die größte Razzia Damit wurden die asiatischen Sportler zu gegen das chinesische Doping- späten Opfern der kartell: Elf Athleten erwischt deutschen Wiederver- einigung. Denn in den – und Europas Heuchler jubeln. Schwimmplänen, die ihnen von den Ost- enn Sportler reisen, sind sie eine deutschen verkauft Vorzugsbehandlung gewohnt: wurden, konnten nach WKein Aufenthalt am Flughafen- der Öffnung der Tre- Gate, keine langen Paßformalitäten, sore auch die westli-

chen Fahnder blättern, RENYI

keine Zollkontrolle – statt dessen war- ´

ten ein freundliches Empfangskomitee die Technik des Testo- L. PE und Limousinen mit Fahrern. steron-Dopings studie- Schwimmweltmeisterin Aihua Yong: „Ein Akt von Individuen“ So war’s auch Ende September, als ren – und die Lücke im Chinas Athleten zwei Tage vor Beginn System finden. Da die Labors zudem ih- Der Deutsche Schwimm-Verband der Asienspiele auf dem Flughafen Hi- re Analyseverfahren verfeinern konn- (DSV) warb für einen Boykott des Welt- roschima landeten. Doch gleich nach ten, entstand erstmals zwischen Sündern cups in Peking, der daraufhin abgesagt der Begrüßung wurden die japanischen und Jägern ein Patt. wurde. Schwimmwart Ralf Beckmann Gastgeber förmlich. Sie präsentierten Die Technik hat sich seit der Wende hatte für die Deutschen gar dieVorreiter- Legitimationen, die sie als Dopingde- kaum geändert. Der Athlet wird wäh- rolle reklamiert: „Wir wollen bei einer tektive auswiesen, und baten zum Was- rend des Trainings mit so feinen Dosie- Veranstaltung inmitten des Dopingne- serlassen. Noch im Flughafengebäude – rungen des männlichen Hormons ver- stes nicht dabei sein.“ ein Novum bei der Drogenfahndung im sorgt, daß der Testosteron/Epitestoste- Aus den Vereinigten Staaten kam der Sport – nahmen die Kontrolleure Urin- ron-Quotient den Grenzwert sechs al- Aufruf zur Sippenhaft. Ray Essick, Chef proben von Chinas starker Garde. lenfalls für einige Stunden überschreitet des US-Schwimmverbandes, forderte ei- Scheinbar unbeeindruckt eilten die – deshalb bleiben Trainingskontrollen ne Korrektur der Weltmeisterschaftser- Chinesen anschließend von Erfolg zu meist ohne Ergebnis. gebnisse, obwohl im September in Rom Erfolg. Doch jetzt sind die Siege Ma- Vor Wettkämpfen wird die Dosis keine der zwölf chinesischen Goldme- kulatur: Elf Athleten, darunter sie- dann drastisch bis zu einem Wert er- daillengewinnerinnen erwischt worden ben Schwimmer, wur- höht, der gerade noch war. den des Testosteron- garantiert, daß der Nur der Präsident des Internationalen Dopings überführt. Körper das überschüs- Olympischen Komitees tat sich schwer. Der Überrumplungs- sige Testosteron bis Antonio Samaranch hatte beieiner Stipp- test gleich nach der zum Start abgebaut visite in Hiroschima ex cathedra erklärt: Landung brachte end- hat. Denn unmittelbar „Der chinesische Sport ist sehr sauber.“ lich den Beweis für ei- vor dem Wettkampf Zur Korrektur mochte sich der Olympier nen weltweit gehegten wurde bisher nie gete- bisher nicht durchringen. Verdacht: Chinas stet – bei der obligato- Auch die Deutschen hätten besser ge- Sportler bedienen sich rischen Kontrolle nach schwiegen. Kaum waren diemitDihydro- ungeniert im Reich der der Siegerehrung wa- testosteron aufgepäppelten elf Chinesen Mittel. ren die Athleten dann – darunter auch Weltmeisterin Lu Bin – Der Fahndungser- sauber. Die DDR hat erwischt, wurde der Leverkusener Läu- folg überrascht. Denn dafür ein Verfahren fer Martin Bremer, Dritter beim Weltpo- die Chinesen galten entwickelt, mit dem kal über 5000 Meter, ebenfalls des bisher als Nachfolger für jeden einzelnen Testosteron-Dopings überführt. Und

der Fachdoper der M. SANDTEN / BONGARTS Sportler individuelle so wie die chinesische Sportführung die DDR, die trotz ihrer Läufer Bremer Abbauwerte ermittelt Sündenfälle als „Akt von Individuen“ flächendeckenden Ar- werden – das macht runterredete, sprachen auch die deut- beitsweise so gut wie nie erwischt wor- ein Doping beinahe auf die Startminute schen Funktionäre von einem „Einzel- den waren. Trainer und Sportwissen- genau möglich. fall“. schaftler des Honecker-Staates hatten Der Erfolg der bislang größten Razzia Und der DSV hat gerade erst im Innen- die kommunistischen Brüder rechtzeitig gegen das chinesische Dopingkartell ministerium mit Erfolg um eine Anstel- mit dem Know-how über Mittel, An- läßt nun die Konkurrenz zu einer Alli- lungfür den TrainerUwe Neumannnach- wendung, Training und Ausreisekon- anz der Heuchler zusammenrücken. gesucht. Den hat Olympiasiegerin Rica trollen vor Wettkämpfen versorgt. „China hat Doping organisiert“, sagt Reinisch des Dopens von Kindern be- Die Chinesen lernten schnell und der schwedische Schwimmnationaltrai- zichtigt;auch inalten DDR-Akten finden siegten bald. Obwohl tiefe Stimmen, ner Hans Chrunak, „es ist eine Erleich- sich Hinweise darauf. Der DSV möchte breite Schultern und Akne auf Doping terung, endlich die Bestätigung zu be- nun, daß „wieder Kontinuität in die hinwiesen, blieben Trainings- und Wett- kommen.“ sportliche Arbeit einzieht“. Y

DER SPIEGEL 49/1994 243 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

fletscht durch die avid Armstrong, 47, Chef- Windschutzscheibe die Dredakteur der South Zähne. Was bei Pas- China Morning Post in Hong- santen als ergötzliches kong, hatte nur eine schwa- Gaudium ankommt, che Entschuldigung für eine ist nach des Künstlers geschmacklose Annonce in Absicht Protest gegen seinem Blatt. Mit einem Hit- Auswüchse der post- ler-Bild war in Armstrongs sowjetischen Gesell- Zeitung um Kunden für die schaft. Werbeminuten des örtlichen Fernsehsenders ATV gewor- heo Waigel, 55, Fi- ben worden. „Obwohl er 90 Tnanzminister, fühlt Prozent Europas kontrollier- sich von zwei bayeri- te, verlor er den Krieg“, schen Kabarettisten schwadronierten die Inseren- hofiert. Zunächst war ten. Darunter war in kleine- Gerhard Polt („Man rer Schrift zu lesen: „Gott sei spricht deutsh“) bei Dank konnte er nicht im der Hochzeitsfeier des ATV Reklame machen.“ Im frischverheirateten Kleingedruckten klang es Paares Irene Epple noch schlimmer: „Bevor Sie und Theo Waigel zu zu Ihrer Endlösung kommen, nachmittäglicher Stun- rufen Sie doch erst mal das

FILM de aufgetreten. Der ATV an.“ Der Chefredak- bayerische Satiriker, teur, von empörten Anrufern

SENATOR von einem Freund der bedrängt, verteidigte sich: Er Altmann-Filmplakat (Ausschnitt) Epples eingeladen, habe an jenem Tag, als die hatte „kurz was aufge- Anzeige ins Blatt gerückt obert Altman, 69, amerikanischer Filmregisseur („Mash“, sagt“ (Polt) und war nach we- wurde, freigehabt, sonst hät- R„Nashville“, „The Player“), hatte kein Glück beim ameri- nigen Minuten wieder gegan- te er sie verhindert. Die kanischen Filmverband. Die MPAA, die Filme, aber auch gen. Tage später, am Mitt- Rechtfertigung stieß auf Un- Filmanzeigen- und -plakate beurteilt, verweigerte ohne Anga- woch vergangener Woche, be von Gründen ihr Plazet zu einem Werbeposter für Altmans verkündete Ottfried Fischer, Film „Preˆt-a`-porter“, eine Satire auf die Modebranche. Zu se- der auch als TV-Serienheld hen ist auf dem abgelehnten Plakat das dänische Model Hele- („Ein Bayer auf Rügen“) Er- na Christensen, 24, auf dem Bauch liegend, bekleidet nur mit folge einheimst, in der Süd- hochhackigen Pumps, Seidenstrümpfen, Abendhandschuhen deutschen Zeitung:„Da und einer Federboa. Die Verleiher des Altman-Films, der am kommt der Theo Waigel da- 21. Dezember in die amerikanischen Kinos kommt, sind kon- her und sagt, daß er deine Se- sterniert. Das Plakat zeige „genau das, was in den Modeblät- rien toll findet, und dann tern und auf -anzeigen tagtäglich zu sehen“ sei. überlegst du dir plötzlich zweimal, ob du ihn mit den Republikanern gleichsetzt, ill Clinton, 48, US-Präsi- leg Kulik, 33, russischer weil er ja durchaus nicht un- Bdent, wird bereits von sei- OKünstler, erfreut die Mos- sympathisch ist.“ Den selbst- ATV-Werbeanzeige nen liberalen Freunden im kowiter mit einem schaurigen bewußten Schuldenmacher Stich gelassen. Führende Happening. Als Hund an der erfüllt das Verhalten der bei- glauben. Etliche Beschwer- Köpfe der amerikanischen Kette seines israelischen Kol- den Bayern mit Stolz. Er sei deführer hielten dagegen, in Unterhaltungsindustrie hat- legen Alexander Brener, 33, „halt immer noch für eine Hongkong sei doch die Sie- ten für diesen Monat ein springt der Nackte veräng- Überraschung gut. Jetzt mö- bentagewoche üblich. Spendenessen zugunsten der stigten Autofahrern kläffend gen mich sogar schon die Ka- Wahlkampfkasse Clintons auf die Kühlerhaube und barettisten“. ranc¸ois Mitterrand, 78, in- geplant. Das Gastmahl sollte Ffolge eines offen einge- im Heim des Hollywoodre- standenen schweren Krebs- gisseurs Steven Spielberg leidens durch Pariser Ge- („Jurassic Park“, „Schindlers rüchte und Falschmeldungen Liste“) stattfinden und pro bereits mehrfach totgesagter geladenem Paar die Rekord- französischer Staatspräsi- summe von 100 000 Dollar dent, verwahrte sich letzte einbringen. Doch die Party Woche sarkastisch dagegen, wurde erst mal „verscho- vorzeitig abgeschrieben zu ben“, so der Medienmogul werden. Auf einer Presse- David Geffen. Erst müsse konferenz beim deutsch-fran- sich „der Staub gelegt“ ha- zösischen Gipfel im Bonner ben, den die Bill Clinton an- Kanzleramt rüffelte der Pari- gelastete Niederlage der De- ser Sozialist zunächst die mokraten bei den Wahlen Journalisten, die „seit Mona-

zum amerikanischen Kon- REUTER ten“ bei jedem seiner öffent- greß aufgewirbelt habe. Kulik, Brener lichen Auftritte „wie bei Ab-

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schiedstourneen von Schau- spielern“ behaupteten: „Das ist das letztemal.“ Im Leben, Geheimnisvolle so belehrte der sichtlich ge- schwächte Grandseigneur Zusage amüsiert die Journalisten, habe alles einen Anfang und ein Ende. Wer sich ob dieser Aussicht „über Gebühr“ auf- rege, riskiere, „an einem Herzstillstand zu sterben, und dazu fühle ich mich noch nicht bereit“.

ilip Andronik, 13, Schul- Fjunge in Sarajevo, will der Welt genau vorrechnen, was sie für ihn und seine Familie getan hat. Seit Ausbruch des Krieges im Frühjahr 1992 sammelt Filip leere Schach- teln, Gläser, Büchsen, Tu- ben, all den Verpackungs- müll, der übrigblieb von der humanitären Hilfe, die der Familie Andronik, Mutter und zwei Söhne, zugeteilt wurde. Die bislang letzte Anzeige in der Süddeutschen Zeitung Zählung des kuriosen Schat- zes ergab: 51 Dosen und 484 rwin Conradi, 59, Chef des andere Behältnisse. Der Eschweizerischen Handelsriesen Müll mußte gereinigt werden Metro-International, wollte Freun- – mit Wasser von der Zapf- den ein Rätsel aufgeben – und war stelle, die nur unter Lebens- plötzlich selbst ratlos. Der öffent- gefahr zu erreichen ist. Auch lichkeitsscheue Manager eines der sonst ist der Abfall den An- größten Handelskonzerne der Welt (Gesamtumsatz fast 70 Milliarden Mark) hatte kürzlich Freunde zu sei- ner Geburtstagsfeier gebeten. Da- bei tat der Manager sehr geheimnis- voll. Auf der Einladungskarte fehlt der Name des Absenders, und statt einer Telefonnummer für die Rück- antwort heißt es lapidar: „Freunde wissen wohin.“ Als Wegweiser dient ein Kinderbild des namenlosen Gastgebers, darunter steht: „Ich freue mich“. Gäste, die über das avi- sierte Fest-Hotel den Namen des Ge- burtstagskindes erfahren wollten, blieben weiter im unklaren: Über-

nachtungswünsche wurden nur un- U. MEISSNER ter dem Stichwort „Roncalli“ entge- Andronik gengenommen. Mitte voriger Woche erhielt Conradi eine nicht minder ge- droniks teuer: als Beweis, heimnisvolle Zusage zu seiner Sau- daß das Ausland die drei se.AufeinerganzseitigenAnzeigein nicht ganz vergessen hat. der Süddeutschen Zeitung (Kosten- Aber auch als ein Stück Ab- punkt: 53 856 Mark) entdeckte der rechnung: „Ich werde den Handelsmann sein eigenes von der Menschen zeigen, wieviel wir Geburtstagskarte abgenommenes bekommen haben“, ver- Konterfei samt Bildunterschrift. spricht Filip, der ins Guin- Darunter plaziert war ein zweites, ness-Buch der Rekorde zu von Conradi bislang nicht identifi- kommen hofft, „und wovon ziertes Kinderbild. Unterzeile: „Ich wir leben mußten.“ Wann? mich auch“. „Wenn der Krieg vorüber“ und „humanitäre Hilfe nicht mehr nötig ist“.

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Gestorben Ronald „Buster“ Edwards, 62. Er war ein cooler Typ mit listigen blauen Au- Arturo Rivera y Damas, 71. Als Erzbi- gen, einer jener Jungs, die entweder schof von San Salvador hatte der Geist- Börsenmakler werden oder Gangster. liche ein brisantes und hochpolitisches Eine Zeitlang hatte sich Edwards, der Amt: Er trat die Nachfolge des legendä- aus dem düsteren Süden Londons ren Oscar Romero an, der 1980 von stammte, mit kleineren Diebstählen und rechtsradikalen To- Betrügereien durchs Leben geschlagen, desschwadronen er- dann, am 8. August 1963, drehte er end- mordet wurde. Ro- lich das große Ding: Zusammen mit sei- mero hatte sich für nem Kumpel Ronald Biggs und 13 ande- die Rechte der Klein- ren Burschen überfiel er den Postzug bauern eingesetzt Glasgow–London. Beute nach heutigen und die Menschen- Maßstäben: rund 75 Millionen Mark. rechtsverletzungen Doch bei der Jagd nach den Zugräubern der Militärregierung wurden viele gefaßt. Edwards stellte während des zwölf- sich nach einer mehrjährigen Hatz.

J. ETCHART / REPORTAGE PHOTOS jährigen Bürger- Neun Jahre blieb er im Gefängnis, dann kriegs in dem mittel- eröffnete er – nach eigenen Angaben amerikanischen Kleinstaat kritisiert. Im Vergleich zu Romero galt Rivera y Da- mas als gemäßigt. Tatsächlich kämpfte er nicht so spektakulär wie Romero für die Rechte der Armen, dafür aber nicht weniger wirksam: Die Menschenrechts- stelle der Erzdiözese in San Salvador wurde unter seiner Obhut zu einem An- laufpunkt für Verfolgte und dokumen- tierte rückhaltlos alle Verbrechen der Streitkräfte. Als Vermittler zwischen der Regierung und der linksgerichteten Guerilla spielte Rivera y Damas eine J. PASSOW / NETWORK / FOCUS wichtige Rolle bei den Friedensverhand- lungen, die vor fast drei Jahren zum En- völlig mittellos – einen Blumenstand am de des Bürgerkriegs führten. Arturo Ri- Londoner Bahnhof Waterloo. Es ist so vera y Damas starb am 26. November in langweilig, Blumen zu verkaufen, sagte San Salvador an einem Herzinfarkt. er zuletzt. Ronald „Buster“ Edwards er- hängte sich am vergangenen Dienstag in Jerry Rubin, 56. Wenn der künftige Op- seiner Londoner Garage. positionsführer der USA, Newt Gin- grich, den Präsidenten Bill Clinton und Urteil seine Frau als „Anhänger der Gegenkul- tur“ und als „nicht normale Amerika- Joachim Wagner, 50, Leiter des NDR- ner“ diffamiert, taucht bei seinen Zuhö- Fernsehmagazins Panorama, wurde von rern das jugendlich-bärtige Gesicht Ru- der Richterin am Amtsgericht Ham- bins auf als Verkörperung dieser Gegen- burg, Bettina Strohmeier, vom Vorwurf kultur. Seine Provo- der üblen Nachrede freigesprochen. kation des anstän- Kurz vor einer Sendung im Februar digen, arbeitsamen, 1993 hatte Ministerpräsident Oskar La- weißen Vorort-Ame- fontaine einen Panorama-Beitrag ver- rikas kleidete er in hindert, der vom Verdacht handelte, das berühmte Bon- Lafontaine habe Kontakte zum Saar- mot: „Trau keinem brücker Rotlichtmilieu unterhalten und über 30“. Als einer die Staatsanwaltschaft habe gegen ihn der Anführer des nicht wegen Strafvereitelung ermittelt. Protests gegen den Wegen eines Vorberichts über die beab- Krieg in Vietnam sichtigte Sendung erhielt Wagner einen wurde Rubin zur Strafbefehl über 48 000 Mark. Sein Wi-

Zentralfigur der 68er UPI / BETTMANN derspruch hat jetzt, wie der Journalist Generation in Ame- erklärte, zu einem „Erfolg für die Pres- rika. Dennoch konnte die geschmähte sefreiheit“ geführt, nachdem die Richte- schweigende Mehrheit im Lande ihren rin auf eine zulässige „Verdachtsbericht- Sieg im Kulturkampf bejubeln, nach- erstattung“ erkannte. Die Amtsrichterin dem der Provokateur sich Anfang der in ihrem Urteilstenor: Die Presse sei achtziger Jahre die Haare schneiden ließ vielleicht die vierte Gewalt, aber sie und als Wall-Street-Broker Millionen könne nicht so ermitteln wie ein Ge- umsetzte. Jerry Rubin starb vergange- richt; Wagner habe getan, was ihm mög- nen Montag in Los Angeles an den Fol- lich war, um den Verdacht zu prüfen, gen eines Verkehrsunfalls. und sich gründlich beraten lassen.

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5. bis 11. Dezember 1994 FERNSEHEN

MONTAG wieder als Firmenpatriarch, ter mit fünf Kindern, die als chen Kampf für Gerechtig- Kassenfrau am Theater ar- 15.30 – 22.30 Uhr ARD/ZDF/ aber demnächst im „Glet- keit. PC-mäßig lief alles kor- beitet, von einem Leben als rekt, und das Ganze wirkte RTL/Sat 1 scherclan“ auf Pro Sieben. Weitergerutscht auf der Se- Lehrerin. Die Sendung zeigt, so sinnlich wie PVC. Seife, Serien, Soaphühner rienseife wird um 17.30 Uhr wie schwer es den meisten Wozu noch selbst leben, auf RTL: „Unter uns“ heißt fällt, geheime Wünsche 20.15 – 22.15 Uhr RTL wenn das Fernsehen reichlich die sechs Folgen alte zweite preiszugeben. Ersatz bietet? An diesem Daily Soap des Thoma-Sen- Fußball: Uefa-Pokal Montag wie an den meisten ders, angesichts deren Unbe- 19.54 -19.58 Uhr ARD Borussia Dortmund – Depor- anderen Tagen auch kann ein darftheit Bild gleich nach der tivo La Corun˜a. Hinspiel: 0:1 Das Wetter für die Spanier. Jörg Kachelmann, der mun- tere Meteorologe des Ersten, 21.15 – 22.40 Uhr Südwest III zaubert aus der Wetterküche sein Lieblingsgericht: Blu- Leise Schatten menkohlwolken. In ihrem Regie-Erstling, der jetzt in der Südwestfunk-Rei- he „Debüt im Dritten“ läuft, DIENSTAG erzählt die Deutschamerika- 17.35 – 19.54 Uhr ARD nerin Sherry Horman die Le- gende einer Liebe: eine stili- Fußball: Uefa-Pokal sierte Proletariersaga in wun- Rückspiel Leverkusen – Kat- derschönen Bildern von Son- towitz. Hinspiel: 4:1 für die ne und Musik. Sherry Hor- Bayer-Elf. man kann – das hat sie als Autorin der Komödie „Ti- 19.25 – 20.15 Uhr ZDF ger, Löwe, Panther“ bereits gezeigt – scheinbar beiläufig

JUCHELKA / P. W. ENGELMEIER Iris & Violetta vom Alltag erzählen, ruhig „Macht der Leidenschaft“-Regisseur Winther, Star Schönherr Im postmodernen Familien- beobachten und dabei die Risibisi drehen sich die über- Kostbarkeit einzelner Mo- Zuschauer sieben Stunden Premiere vergebens forder- mente einfangen. Ohne fal- am Stück von einer Seifen- te: „Bitte absetzen“. Es sche Sentimentalität demon- oper oder Serie in die nächste folgt mit zeitlicher Überlap- striert sie, wie schön die Lie- wechseln, ohne durch Reali- pung die Serienade des Be- be sein kann – und wie trau- tät belästigt zu werden. Um währt-Bescheuerten: „Sterne rig sie sein muß. 15.30 Uhr, ARD, startet des Südens“ und „Wild- „Blossom“, eine 63teilige bach“ 17.55, 18.54 Uhr, 22.15 – 22.45 Uhr ZDF US-Teenie-Serie mit Girls, ARD, „Gute Zeiten, schlech- Boys, Dads, Mas, Cars, te Zeiten“ (Folge 629) Marmor, Stein und Eisen Herz, Schmerz – alles weni- 19.40 Uhr, RTL. Dann, spricht ger schicki als bei den Micki- 20.15 Uhr, Sat 1, geht „Vier Menschen im Bann- Gören von „Beverly Hills, „Anna Maria“ (Uschi Glas) kreis des Reichstages“ (Sen- 90 210“, aber genauso immun ihren Weg, und mehr als derankündigung), unter an- gegenüber der Realität. Es zehn Millionen Zuschauer deren Verpackungskünstler folgt um 16.05 Uhr die erste folgen. Um 21.15 Uhr, RTL, Christo. Ein Thema – so rich- Daily Soap im ZDF, „Macht bieten sich „Sonntag & Part- tig kulturbeflissen deutsch.

der Leidenschaft“, deren Ti- ner“ (& Dilettantismus) und TELE BUNK Deutscher geht es nur, wenn tel genauso originell klingt, zum Schlüßle „Der König Gröllmann mit Robert Hoffmann Drafi singt: „Weine nicht, wie die Handlung dieser 130 von Bärenbach“, 21.40 Uhr, wenn der Rrregen fällt . . .“ Folgen langen deutsch-kana- ARD, an. Um 22.30 kann kommenen Verhältnisse um: dischen Koproduktion zu das Soaphuhn endlich schla- Kinder müssen sich um ihre 22.40 – 0.35 Uhr Bayern III werden verspricht: Die Mit- fen gehen (und von der kindischen Eltern kümmern. glieder eines Autohersteller- Realität träumen). Während die Mutter (Jenny Moskau – Alle meine clans mit Sitz in Hamburg Gröllmann) von einem ver- Lieben und Woodland (Kanada) fah- 19.53 – 20.00 Uhr 3 Sat korksten Liebeserlebnis ins Menschen als Spielball politi- ren sich intrigenversessen nächste stolpert, betreibt die scher Mächte – nicht selten ständig gegenseitig an den Lebensträume äußerst ansehnliche Tochter zeigt das Fernsehen seine Be- Karren. In Folge 16 (Sende- Seit letzter Woche schildern (Ann Cathrin Sudhoff) Scha- richte aus dieser Perspektive. termin: 27. Dezember) hält in dieser 24 Folgen langen densbegrenzung. Der Dokumentarfilmer Chri- das Soap-Schicksal für den täglichen Interview-Reihe stoph Boekel, 45, ging den Darsteller des deutschen Pa- von Raimund Hoghe promi- 20.15 -21.04 Uhr ARD umgekehrten Weg. Im Kri- triarchen (Dietmar Schön- nente und nicht prominente senjahr 1993 nahm der Autor herr) ein verspätetes Weih- Zeitgenossen ihre Lebens- Die Gerichtsreporterin am Leben seiner Moskauer nachtsgeschenk parat: Er träume. Heute sehnt sich Letzte Folge dieser Serie um Freunde teil und beobachtete darf, vom gnädigen Schürha- ein kahlköpfiger Techno- eine engagierte Journalistin von innen heraus, wie die er- ken eines Kamins gefällt, to- Diskjockey nach der Schwe- (Gerit Kling), eine heile klei- sten Bilder über den Putsch deshalber ausscheiden. Und relosigkeit im Weltraum, ne Zeitung (Bremer Kurier) die fröhliche Stimmung in muß doch bald auferstehen: morgen schwärmt eine Mut- und den penetrant siegrei- stummes Entsetzen umschla-

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gen ließen. Das Interessante sie aus dem Wettbewerb aus- de ist versöhnlicher, Ehefrau KIOSK an diesem Film sind die klei- geschieden. Maggie (Elizabeth Taylor) nen Fluchten, mit denen die kann ihren trunksüchtigen Menschen Moskaus die 23.05 – 0.40 Uhr ARD Mann Brick (Paul Newman) Kanone Schwierigkeiten des Alltags zurückgewinnen. Die Krise zu überstehen versuchen. Womit hab’ ich das Bricks wird mit einer gestör- am Morgen Boekel gelingt es, beim Zu- verdient? ten Vater-Sohn-Beziehung Das Spielen ziehen Kinder schauer das Gespür zu wek- . . . fragt sich Gloria erklärt und nicht mit dem zwar dem TV vor, doch all- ken, wie er wohl selbst in sol- (Carmen Maura), erschlägt Tod eines homosexuellen zuoft bleiben sie – wild cher Lage reagieren würde. ihren Mann mit einer Schin- Freundes. Trotzdem beein- kenkeule und verkauft einen druckt Richard Brooks’ Ver- ihrer mißratenen Söhne an filmung (USA 1958) des MITTWOCH einen Päderasten. Film des Spiels von schwächlichen 17.35 – 19.54 Uhr ARD spanischen Kino-Exzentri- Ehemännern und herrsch- kers Pedro Almodo´var. süchtigen Frauen anläßlich Fußball: Uefa-Pokal der Geburtstagsfeier des mo- Rückspiel SSC Neapel – Ein- 23.15 – 1.05 Uhr 3Sat ribunden „Big Daddy“. tracht Frankfurt. Hinspiel: 1:0 für die Heynckes-Truppe. Die Dämonen 0.00 – 1.50 Uhr Sat 1 Seinen Dostojewski-Film 20.10 – 21.55 Uhr Vox drehte Andrzej Wajda 1987 Finale in Berlin hauptsächlich mit französi- James-Bond-Regisseur Guy Der lange, heiße Sommer schen Darstellern in Polen. Hamilton führt in diesem Inmitten von Baumwollplan- Der Regisseur versucht englischen Agentenfilm tagen stehen die prachtvollen nicht, die Geschichte eines (1966) einen Anti-Bond an

BENALI / GAMMA / STUDIO X die Mauer: Der Briten-Agent Szene aus „Power Rangers“ Palmer (Michael Caine) trägt zum Kampf mit den Nackten hin und her zappend – vor und den Roten Hornbrille, der Glotze hängen. 82 Knitterhosen und einen intel- Prozent sehen täglich lektuellen Touch. fern, nur Hausaufgaben machen (90 Prozent) ist bedeutender, wie die FREITAG ARD/ZDF-Medienkommis- 20.15 – 22.05 Uhr Sat 1 sion in der Studie „Kinder und Medien“ herausfand. Asterix bei den Briten Fernsehen sei „Leitmedi- Die Süddeutsche war ent- um“ der Kids, erklären die täuscht von diesem Zeichen- Forscher, 20 Prozent ha- trickfilm (Frankreich 1986, ben sogar ein eigenes TV- Regie: Pino van Lamsweer- Gerät. Der Sündenfall ist de): Er sei langweilig. Die für Medienpädagogen der schlampige Animation ver-

Kanal RTL, der die Jung- DFD einfache und verflache, was Klientel schon morgens Szenenfoto aus „Der lange, heiße Sommer“ die Alben des Autors Rene´ mit Cartoons und Serien Goscinny und seines Zeich- wie dem Brutalo-Werk Säulenfassaden der Südstaa- Revoluzzergrüppchens in ei- ners Alberto Uderzo an Pla- „Power Rangers“ berie- ten-Herrenhäuser. In einem ner zaristischen Kleinstadt stizität vorgäben. Dort werde selt. Eine „unzulässige dieser Anwesen regiert ein um 1870 detailgetreu wieder- mit dem Leser gerechnet, im TV-Verführung“, so der Patriarch (Orson Welles), zugeben; er drängt, der Dra- Film nicht mit dem Zuschau- Kinderschutzbund. Diese der seine verklemmte Toch- matik zuliebe, die Haupter- er. Woche beschäftigen sich ter tyrannisiert und seinen eignisse in aberwitziger Kür- die Landesmedienanstal- schwächlichen Sohn demü- ze zusammen. Das gibt dem ten mit der Reihe „Power tigt. Eines Tages erscheint Anarchistentreiben eine hy- 21.15 – 21.45 Uhr ZDF Rangers“, in der fünf Tee- ein Tramp (Paul Newman), sterische Aufgeregtheit und der durch seine Gerissenheit jagt die Schauspieler in atem- Euro-Dumping auf der nies mit Karatetritten und Baustelle Laserkanonen gegen die Gunst des Alten erwirbt. lose Theatralik. Monster kämpfen. Sie Martin Ritts Verfilmung Die Brüsseler Korresponden- wurde in Kanada, Skandi- (USA 1958) eines William- tin des ZDF, Claudia Ruete, navien und Neuseeland Faulkner-Stoffes überzeugt DONNERSTAG untersucht die Folgen, die ei- wegen ihres soliden Hand- gestoppt. Womöglich rü- 20.10 – 22.05 Uhr Vox ne EU-Verordnung für die gen die Medienwächter werks. Arbeitsplätze in der Bauwirt- nun RTL. Der Sender hat Die Katze auf dem heißen schaft hat: Mit dem Sozial- Blechdach seine Kinder-Redaktion 20.15 – 23.15 Uhr RTL versicherungsausweis E 101, aufgelöst und bringt statt Das Kino der fünfziger Jahre der ihnen bescheinigt, selb- Eigenware wie „Li-La-Lau- Champions League forderte seinen Tribut, und ständig zu sein, booten vor nebär“ lieber billigere Li- Last Exit : Wenn die so wurden an Tennessee Wil- allem Arbeiter aus England zenzprogramme. Bayern heute nicht in Kiew liams’ Erfolgsstück Änderun- und Portugal mit Dumping- gegen Dynamo punkten, sind gen vorgenommen: Das En- löhnen deutsche Kollegen

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aus. Ein Gesetzentwurf für auf die poetische Weisung. Was sie machen, ist nur einheitliche Löhne verstaubt Don Siegels Film (USA Show. Dennoch stimmt die DIENSTAG seit drei Jahren in EU-Schub- 1977) mit Charles Bronson ist Quote beim Wrestling: bis 23.10 – 23.55 Uhr Sat 1 laden. ein spannender Thriller. Die zu 1,5 Millionen Zuschauer. SPIEGEL TV FAZ störte die Wortkargheit Heute treten acht Wrestler REPORTAGE des Helden Bronson und die in zwei Teams gegeneinan- 3000 Kilometer fuhren 30 23.50 – 1.25 Uhr RTL 2 sentimentale Brutalität: der an. Erst wenn alle Männer und Frauen vom Der Kühlschrank „Action ist ein Argument, Kämpfer einer Mannschaft Motorschiff „Greenpeace“ das jeden Gegner mundtot Fetter Mann und junge Da- besiegt sind, wird die andere durch den brasilianischen macht, Action ist Kult, Pro- me haben Geschlechtsver- Riege zum Sieger ausgeru- Regenwald, um auf eine vokation und Einsamkeit. kehr in einer vermüllten New fen. der schlimmsten Zerstö- Und sie ist eine Apotheose Yorker Wohnung. Nach der rungen der Erde hinzuwei- eines Narzißmus, der Charles Lust wird die Lady vom sen: den Kahlschlag in Bronson heißt.“ Kühlschrank gefressen. Lei- SONNTAG Amazonien. Trotz interna- der verschlang der Frigidaire 20.15 – 21.44 Uhr ARD tionalen Verbots werden nicht auch diese öde Horror- 20.15 – 22.00 Uhr Vox massenhaft Mahagoni- komödie (USA 1991, Regie: Tatort: . . . und die Musi Das Urteil spielt dazu bäume gefällt und, mit Nicholas A. E. Jacobs). Gewinnspannen wie im Um ihren seine Unschuld be- . . . und zwar einen Tusch, Kokainhandel, exportiert. teuernden Sohn (Michel Al- denn dieses Spiel um den Thomas Schaefer und Li- SAMSTAG bertini) vor der Todesstrafe Mord an einem Schunkelmo- liana Sulzbach erzählen in einem Mordfall zu bewah- derator (Georg Einerdinger), 20.15 – 22.00 Uhr ZDF die abenteuerliche Ge- ren, greift eine attraktive den die Kommissare Leit- schichte der Vernichtung Wetten, daß . . .? Mutter (Sophia Loren) zu ei- mayr (Udo Wachtveitl) und eines Paradieses. Gäste bei Thomas Gott- nem verzweifelten Mittel: Sie Batic (Miroslav Nemec) auf- schalk: Klaus Maria Brandau- entführt die zuckerkranke zuklären haben, ist genau der MITTWOCH er, dessen neuer Film „Mario Frau des Gerichtspräsidenten 300. Tatort. 22.00 – 22.45 Uhr Vox und der Zauberer“ Mitte De- (Jean Gabin), damit dieser zember im Kino startet, Alt- den Prozeß so führe, daß ein 20.15 – 21.45 Uhr ZDF SPIEGEL TV THEMA charmeur Johannes Heesters Freispruch herauskomme. Der Tagesspiegel kritisierte Das Beste aus „Voll Mit Zwölf ein Star – als und die spanische Sopranistin Erwischt“ Teenager im Rampenlicht. Montserrat Caballe´. die Darsteller in Andre´ Ca- yattes Film (Frankreich Die finanzschwachen Main- Und dann? Sandra 1974): „Die Loren, die laut zelmännchen erweisen sich in Schwarzhaupt, Nils Bokel- 20.15 – 21.55 Uhr ARD Drehbuch verzehrende Müt- letzter Zeit als Wiederho- berg und Hendrik Simons, terlichkeit nur so ausdünsten lungsweltmeister: erst ein alias „Heintje“, diskutie- Telefon müßte, ist durchgehend kalt, Dakapo für den „Großen ren über frühen Erfolg und „Des Waldes Dunkel zieht glatt und schön. Und Gabin, Bellheim“, dann für „Sissi“ seine Konsequenzen. mich an, doch muß zu meinem greiser Grandseigneur wie eh und nun die wiederaufge- Wort ich stehen und Meilen und je, stapft wie eh und je wärmten Neckereien mit der FREITAG versteckten Kamera aus Fritz 21.55 – 22.25 Uhr Vox Egners Show. Oll erwischt. SPIEGEL TV INTERVIEW 20.15 – 22.15 Uhr Premiere Im Sommer 1992 wurde Ein unmoralisches die sechsjährige Shari Angebot Weber vergewaltigt und David und Diana hat eine brutal ermordet. Auch Wirtschaftskrise bettelarm zweieinhalb Jahre danach gemacht. Auch der Trip nach kann ihre Mutter das Ver- Las Vegas bringt keine finan- brechen nicht vergessen. zielle Besserung. Doch dann Sie spricht über ihre Ge- verknallt sich ein Milliardär danken am Grab der Toch- (Robert Redford) in Diana ter und über ihre Gefühle (Demi Moore) und bietet für gegenüber dem Täter. eine Liebesnacht eine Million

ROSY-PRESS Dollar. Nabobs Offerte SONNTAG „Telefon“-Darsteller Bronson mit Lee Remick bringt den Ehesegen aus dem 22.15 – 22.55 Uhr RTL Lot, zwischen dem Lust- gehen, bevor ich schlafen durch den Film. Nur einmal molch und seinem Kaufob- SPIEGEL TV MAGAZIN kann“, spricht ein Sowjet- schimmert’s ein wenig wäßrig jekt entwickelt sich eine Ro- Europa im Kohlenpott – funktionär durchs Telefon, in seinen Augen.“ manze, aber am Ende trium- Beobachtungen auf dem und schon packt mitten in phiert die Gattenliebe. Der EU-Gipfel / Geisterfahrer den USA ein einst in Ruß- 22.00 – 1.05 Uhr RTL 2 britische Regisseur Adrian im Grenzbereich – der land konditionierter Mecha- Lyne („Eine verhängnisvolle Lkw-Stau von Frankfurt/ niker seine Bombe ein und World Wrestling Affäre“) entzog dem Plot Oder / Das Jerusalem-Syn- rast in ein Militärlager. Auch Federation sein Gift, und heraus kam ei- drom – Psychodramen in ein greiser Pfarrer reagiert Sie heißen Lex Luger, Tatan- ne zuckrige, aber annehmba- der heiligen Stadt. prompt und wie hypnotisch ka, Undertaker und Diesel. re Kinoperle.

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Aus einem Urteil des Landesarbeitsge- Zitat richts Brandenburg: „Die personenbe- dingte Kündigung einer stellvertreten- Die dänische Tageszeitung Jyllands-Po- den 1. Hornistin wegen nicht behebbarer sten aus A˚rhus über EUROPA: SPIEGEL- veranlagungsbedingter Mängel (hier: Gespräch mit Kommissionspräsident Ansatzschwierigkeiten), die sich im tona- Jacques Delors über die EU len Bereich auswirken, ist auch ohne eine (Nr. 48/1994): Abmahnung sozial gerechtfertigt.“ Der Vorsitzende der EU-Kommission Y Jacques Delors hat sich indirekt in den norwegischen EU-Wahlkampf einge- mischt, als er am Wahltag verkündete, für eine europäische Föderation von Nationalstaaten zu sein. – Er wurde in Norwegen zitiert. Die Einlassung hat er Montag im deutschen Nachrichten- magazin der SPIEGEL gemacht. Der norwegische Außenminister Björn To- re Godal distanzierte sich sofort von Delors’ Aussage. Godal versuchte da- mit, einer neuerlich aufkeimenden EU- Furcht unter den Wählern in der Aus Medizin heute Schlußphase der angespannten norwe- Y gischen EU-Debatte zu begegnen . . . Delors’ Aussage könnte noch kurz vor Aus der Münchner Abendzeitung: Toresschluß die Zweifler in der Ab- „George Weah spricht mit weicher, fast stimmungsfrage beeinflußt haben. Im samtener Stimme, seine feinen dunklen Pressebüro des Außenministeriums lief Poren auf der Schläfe lassen die Ge- am Montag das grüne Telefon heiß, schmeidigkeit seiner Bewegungen erah- die Hälfte der Anrufe betraf allein den nen.“ Vorschlag von Delors zur EU-Födera- Y tion.

Der SPIEGEL berichtete . . .

. . . in Nr. 38/1994 SPIONAGE-BERICHTE VON „ERICH“ über die langjährige Spit- zeltätigkeit des Stasi-Spions Dietrich Staritz. Der derzeitige Mannheimer DDR- Forscher hatte bis Anfang 1973 umfang- Aus dem Reiseteil der Zeit über eine reiche Agentenberichte nach Ost-Berlin Kreuzfahrt auf der „Achille Lauro“ geliefert – zuerst als Student und wis- senschaftlicher Mitarbeiter über die Y Freie Universität, später als West-Berli- ner SPIEGEL-Korrespondent über Redak- tionsgeheimnisse des SPIEGEL.

Vorige Woche gab die Mannheimer Universität bekannt, daß sie sich „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ von Pro- Aus einer Einladung zum Seminar „Der fessor Staritz trennen wolle. Rektor erfolgreiche Pressereferent“ Peter Frankenberg hatte, auf Anforde- rung, in der Vorwoche zwar erst 7 der Y insgesamt 2200 Seiten umfassenden Staritz-Akte von der Gauck-Behörde erhalten. Doch er beriet sich mit Professor Hermann Weber, Leiter des Mannheimer DDR-Forschungsbe- reichs, dem als Wissenschaftler vorran- gig bereits ein großer Aktenbestand ausgehändigt worden war. Staritz, dem Weber „wissenschaftliche Standards“ bescheinigt, sei als DDR-Forscher den- noch unhaltbar, lautete die Uni-Ent- scheidung. Mit seinem Ausscheiden ist, nach Einhaltung der Formalitäten, bin- Aus dem Landshuter Wochenblatt nen zwei Monaten zu rechnen.

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