Karl Christian Führer. 1861–1920: Ein Gewerkschafter im Kampf um ein „möglichst gutes Leben“ für alle Arbeiter. Essen: Klartext Verlag, 2009. 368 S. ISBN 978-3-8375-0186-5.

Reviewed by Michael Ruck

Published on H-Soz-u-Kult (December, 2012)

Der Name Carl (Karl) Legien ist in den Stra‐ Stefan Remeke, Doch nur ein Strohfeuer? Von der ßenverzeichnissen deutscher Städte allgegenwär‐ „kurzen“ Geschichtsschreibung über die deut‐ tig. Doch die Person des Namensgebers ist weithin schen Gewerkschaften – ein Zwischenruf, in: Mit‐ unbekannt. Nur wenige Menschen dürften mit teilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen ihm vage den Aufstieg der sozialistischen Gewerk‐ 36 (2006), S. 105–114. , die biografsche Forschung schaften zur Massenbewegung im Kaiserreich davon jedoch unberührt geblieben ist Jürgen Mit‐ und zur staatstragenden Kraft zu Beginn der Wei‐ tag, Biografsche Forschung und Arbeiterbewe‐ marer Republik, vor allem aber das „Stinnes-Legi‐ gung: Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.), en-Abkommen“ von Anfang November 1918 und Biografsche Ansätze zur Geschichte der Arbeiter‐ den Generalstreik gegen Kapp und Lüttwitz im bewegung im 20. Jahrhundert. (Mitteilungsblatt Frühjahr 1920 verbinden. Über das Leben und des Instituts für soziale Bewegungen, Nr. 45), Es‐ den Werdegang des drei Jahrzehnte amtierenden sen 2011, S. 5–21, hier: S. 11. Die von Karl Christi‐ ersten Dachverbandsvorsitzenden der sozialisti‐ an Führer nun vorgelegte Lebensbeschreibung schen Gewerkschaften war bislang selbst unter liegt mithin im Trend und sie verspricht, ein im‐ Historikern kaum Nachlesbares bekannt. Diese mer wieder beklagtes Desiderat zu beseitigen. Unterbelichtung ist umso vermerkenswerter, als Der Hamburger Historiker hat einen Mangel zwar die kurze Konjunktur der Arbeiter- und Ge‐ an persönlichen Selbstzeugnissen bestätigt gefun‐ werkschaftsbewegungshistoriografe bereits in den, der im Widerspruch zu dem Jahrzehnte wäh‐ den 1990er-Jahre wieder verebbte Vgl. dazu Klaus renden öfentlichen Wirken des Gewerkschafts‐ Schönhoven, Gewerkschaftsgeschichte als Sozial‐ führers und SPD-Reichstagsabgeordneten steht. geschichte. Überlegungen zu Forschungsstand Ein persönlicher Nachlass Legiens hat wohl exis‐ und Forschungsperspektiven (1988), in: ders., Ar‐ tiert (S. 11). Das mutmaßlich sehr umfangreiche beiterbewegung und soziale Demokratie in Deut‐ Material wurde Ende 1929 vom ADGB als Deposi‐ schland. Ausgewählte Beiträge, Hrsg. Michael tum an das Reichsarchiv in Potsdam gegeben Vgl. Ruck / Hans-Jochen Vogel, Bonn 2002, S. 27–41; H-Net Reviews

Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerk‐ te seit 1750, Oldenburg 1993, S. 101–126. , die bei‐ schaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 3,2, Köln den ersten Lebensjahrzehnte Legiens als Weg ei‐ 1986, Dok. 240 (25./26.11.1929), S. 1356 mit Anm. nes zwar katholisch getauften, aber kirchenfern 33. Führers Annahme, die Unterlagen seien be‐ und areligiös geprägten Sprösslings einer vielköp‐ reits in den 1920er-Jahren verloren gegangen, fgen Kleinbürgerfamilie, der als Waise im west‐ trift mithin nicht zu. und ist dort während der preußischen Garnisonsstädtchen Thorn zunächst NS-Zeit bis auf wenige Überreste, die heute im die Mittelschule durchlief, dann eine Drechsler‐ Bundesarchiv verwahrt werden, verloren lehre absolvierte, parallel dazu freiwillig die örtli‐ gegangen. Vgl. Klaus Schönhoven, Expansion und che Fortbildungsschule mit großem Engagement Konzentration. Studien zur Entwicklung der Frei‐ und Erfolg besuchte, um anschließend zwei Jahre en Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutsch‐ Militärdienst in Altenburg hinter sich zu bringen, land 1890 bis 1914, 1980, S. 18f. Wenige ohne dabei nennenswerte Spuren in der Quellen‐ Dokumente sind in der im selben Jahr vom ADGB überlieferung zu hinterlassen (S. 32). Immerhin herausgegebenen „Gedenkschrift“ seines Wegge‐ wird deutlich, dass Legien aus diesen formativen fährten und Nachfolgers Theodor Leipart überlie‐ Jugendjahren ein doppeltes Antriebsmoment mit‐ fert. Theodor Leipart, Carl Legien. Ein Gedenk‐ nahm, welches sein gewerkschaftliches Engage‐ buch, Berlin 1929 (Reprint Köln 1981). Danach die ment zeitlebens geprägt hat: das ausgeprägte Stre‐ Skizze von Gerhard Beier, Carl Legien. Der weiß‐ ben nach dem individuellem Aufstieg aus der pro‐ haarige Feuerkopf, in: ders., Schulter an Schulter, letaroiden Existenz und das aktive Eintreten für Schritt für Schritt. Lebensläufe deutscher Gewerk‐ eine durchgreifende Verbesserung der kollektiven schafter, Köln 1983, S. 121–126. Ansonsten musste Lebensbedingungen der deutschen Arbeiter‐ Führer sich überwiegend auf gedruckte Quellen schaft. Sein „enormer Bildungswille“, die eigenen stützen: neben Kongressberichten und Gremien‐ Ausgrenzungserfahrungen während der Wander‐ protokollen vor allem das von Legien begründete, schaft und die kritische Wahrnehmung der „ver‐ viele Jahre größtenteils von ihm persönlich ver‐ dammte[n] Bedürfnislosigkeit“ (S. 25) vieler Klas‐ fasste und redigierte „Correspondenzblatt der Ge‐ sengenossen bereiteten ofenbar den Entschluss neralkommission der Gewerkschaften Deutsch‐ vor, sich seit Ende 1886 in gewerk‐ lands“. Außerdem konnte er auf recht umfangrei‐ schaftlich zu betätigen. Führer deutet diese „Kon‐ che Berichte des obrigkeitsstaatlichen Überwa‐ version zum überzeugten Sozialisten“ (S. 34), die chungsapparats zurückgreifen, die freilich nur Legien im bewussten Bruch mit seiner kleinbür‐ ein perspektivisch verzerrtes Bild des öfentlich gerlich-national(istisch)en Sozialisation vollzogen agierenden Arbeiterfunktionärs Legien zeichnen. habe, nicht als „Karrierismus“, sondern als einen Gleichwohl darf er für sich in Anspruch nehmen, eigenständigen „Akt der Sinngebung“, für den „ein diferenziertes Bild von Legiens Person und kein persönliches Vorbild auszumachen sei (S. 39; seiner Arbeit als Gewerkschaftsführer“ (S. 11f.) vgl. S. 28). gezeichnet zu haben. Der beharrlich-energische, substanzverzeh‐ Zunächst schildert Führer, vor allem gestützt rende Einsatz Legiens in allen Ämtern, die er auf einen entlegenen Aufsatz von Klaus Saul übernahm, mündete bald schon in eine „geplante Klaus Saul, „Er liebte es nicht, darüber zu spre‐ Überforderung“ (S. 52). Sie war auch Konsequenz chen.“ Umrisse einer bürgerlichen Kindheit und eines frustrierenden Erlebnisses des frisch geba‐ proletarischen Jugend: Carl Legien (1861–1886), ckene Vorsitzenden des Drechsler-Verbandes: in: Ernst Hinrichs / Heinrich Schmidt (Hrsg.), Zwi‐ Nach dem ersten Streik seiner Berufsgenossen in schen ständischer Gesellschaft und „Volksgemein‐ Hamburg, dessen Erfolg nicht in eine Kollektiv‐ schaft“. Beiträge zur deutschen Regionalgeschich‐ vereinbarung mit den Arbeitgebern umgemünzt

2 H-Net Reviews worden war, musste er 1888/89 erleben, wie eine onspolitik „in ihr letztes Stadium“ (S. 87). In der durch starken Zuzug Arbeitssuchender angeheiz‐ Revolutionszeit 1918/19 und während des Kapp- te individuelle Konkurrenz das mühsam Errunge‐ Putsches 1920 agierte schließlich ein „sozial ‚funk‐ ne binnen kurzer Zeit wieder zunichte machte. tionaler‘ Alkoholiker“, der als „schwerkranker Gewerkschaftliche Interessenvertretung lebte Mann“ erkennbar dem baldigen Tod entgegensah nicht in erster Linie von „natürlicher“ Solidarität (S. 68–76). der Arbeiterschaft, sondern von rationaler, zen‐ Vor dem Hintergrund dieses ebenso eindring‐ traler Planung und Organisation durch ihre Funk‐ lich wie überzeugend gezeichneten Persönlich‐ tionäre. Dieses Credo lebte Legien fortan mit aller keitsbildes charakterisiert Führer seinen Protago‐ Konsequenz und Härte gegen sich und andere. nisten als einen paradigmatischen „Politiker“ im Unbeirrt von Kritik aus den eigenen Reihen, vor Sinne Max Webers: Von Beginn seiner Funktio‐ allem von Seiten der Partei (S. 45f.; vgl. S. 68). närslaufbahn an lebte Carl Legien für die Politik trieb er unter schwierigsten Umständen die Pro‐ und von der Politik (S. 77f.). In dieser Rolle war er fessionalisierung der Verbandsarbeit voran. überaus erfolgreich. Binnen weniger Jahre wurde Obschon noch eine „Randfgur der sozialisti‐ die Generalkommission unter Führung des „unbe‐ schen Arbeiterbewegung“, war Legien zur Stelle, stechlichen Realisten“ und rastlosen Organisators als im November 1890 in Berlin die „Generalkom‐ zu einem „Zentrum der sozialdemokratischen Ar‐ mission der Gewerkschaften Deutschlands“ ge‐ beiterbewegung“ (S. 92f.). Im Anschluss an die gründet wurde. Den Vorsitz dieses Koordinations‐ Arbeiten von Klaus Schönhoven, Gerhard A. Ritter ausschusses unbestimmtem Mandats nahm er mit und Klaus Tenfelde würdigt Führer diese außer‐ ausgeprägtem „Sinn für strategisches Denken“ gewöhnliche Lebensleistung, ohne dabei deren (S. 71) wiederum „sehr aktiv und planungsfreu‐ Begrenzungen zu beschweigen. Gefangen in ei‐ dig“ (S. 68) wahr. Zwar ließ der aufstrebende Ge‐ nem engen Korsett „vulgär-marxistischer“ Inter‐ werkschaftsführer sich dabei von „Widerstand pretamente (S. 117; vgl. S. 142), zudem „kulturell und Opposition“ nicht beirren, doch forderte der blind“ für die Belange nicht-deutscher Völker und andauernde Kraftakt schon früh seinen erkennba‐ Nationalitäten, scheiterte er bis 1914 etwa daran, ren Tribut. Von Zeitgenossen wurde er einerseits im Ruhrgebiet und in Elsaß-Lothringen eine wir‐ als tatkräftig, diszipliniert und rational abwägend, kungsvolle „Gewerkschaftsarbeit in einem natio‐ andererseits als distanziert und sarkastisch-zy‐ nal und sprachlich inhomogenen Milieu“ zu orga‐ nisch bis zur „Menschenverachtung“ (Theodor nisieren (S. 103). Und seine wiederholten Versu‐ Leipart) charakterisiert (S. 68f.). Ansonsten dauer‐ che, Bürgertum und Obrigkeitsstaat die Gewerk‐ haft unfähig zum Aufbau persönlicher Vertraut‐ schaften als eigentliche „nationale“ Bewegung heit, lebte er mit der Gewerkschafterin und SPD- nahe zubringen (S. 117f.), wurden dort erst – Agitatorin Emma Ihrer in einer „unkonventionel‐ scheinbar – gewürdigt, als es seit dem Sommer len“ Beziehung, welche ihn sozial noch weiter iso‐ 1914 darum ging, die Burgfriedenspolitik einzulei‐ lierte (S. 79, 86–89). Daraus füchtete sich Legien ten und gegen wachsende gesellschaftlich-politi‐ in exzessiven Alkohol- und Nikotinkonsum. Seine sche Widerstände abzusichern (S. 169f.). Daran, fortschreitende physische und psychische Zerrüt‐ dass Legien hier wie im Herbst 1918 (S. 219f.) tung wurde begleitet von schweren Erkrankun‐ durchweg als ein „nüchtern denkender Stratege“ gen und Zusammenbrüchen. Nach dem Tod sei‐ (S. 115) den richtigen Kurs steuerte (S. 177) und ner Kampfgefährtin erlebte Legien 1911 eine nicht etwa als sozialpatriotischer Organisationsfe‐ „emotionale Katastrophe“. Als er nach Wochen tischist die gesellschaftlichen Entwicklungen wie seine Arbeit wieder aufnehmen konnte, trat seine auch die Kalküle seiner Ansprech- und Kooperati‐ selbstzerstörerische Fixierung auf die Organisati‐ onspartner auf staatlicher und industrieller Seite

3 H-Net Reviews falsch einschätzte, bleiben auch nach der Lektüre der kritisch-zugewandten Darstellung gewisse Zweifel unausgeräumt. Doch ungeachtet aller Am‐ bivalenzen wird man der abschließenden Würdi‐ gung folgen können, dass Carl Legien zu jenen „großen Politikern“ im Sinne Max Webers gezählt werden darf, welche „Deutschland im 19. und frü‐ hen 20. Jahrhundert“ hervorgebracht hat (S. 265). Allen ungünstigen Voraussetzungen zum Trotz hat Karl-Christian Führer eine gediegene, je‐ derzeit gut lesbare und durch 18 aussagefähige Dokumente (S. 271–348) ergänzte Biografe vorge‐ legt. Substanzielleres wird über diesen bedeuten‐ den Gewerkschaftsführer wohl nicht mehr ge‐ schrieben werden können.

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Citation: Michael Ruck. Review of Führer, Karl Christian. Carl Legien 1861–1920: Ein Gewerkschafter im Kampf um ein „möglichst gutes Leben“ für alle Arbeiter. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. December, 2012.

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