SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Lutherzeit Teil III – Wittenberg

Mit Katharina Eickhoff

Sendung: 25. Oktober 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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SWR 2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff Montag, 23.10.2017 bis Freitag, 27.10.2017 Lutherzeit Teil III – Wittenberg

Signet

Guten Morgen wünscht Ihnen KE! Lutherzeit ist diese Woche in der SWR2 Musikstunde – Heute, zum dritten Teil, nehmen wir den Zug. Wohin? Na, nach Wittenberg natürlich,

Indikativ

„Unser nächster Halt in wenigen Minuten: Wittenberg“, schnarrt die Stimme aus dem IC-Lautsprecher – das ging schnell: Keine Dreiviertelstunde braucht der Zug vom Berliner Hauptbahnhof in die Stadt, die zu Recht den in ihren Namen eingebaut hat, denn Wittenberg verdankt Luther alles. - Könnte man denken, wenn man die vielen Luther-Touristen aus der ganzen Welt in Richtung Thesen-Tür rudern sieht, - die ist leicht daran zu erkennen, dass davor so viele Reisebusse parken. Aber Wittenberg verdankt Luther nicht alles. Warum nicht? – Darauf kommen wir noch, jetzt brauchen wir erstmal einen Regenschirm, denn es regnet Bindfäden auf die Lutherstadt.

Unter den in Plastik verpackten Exemplaren im Bahnhofsshop gibt es tatsächlich auch welche ohne Luther-Aufdruck, die Bahnhofsshop-Verkäuferin zupft am Plastik und fragt in schönstem Sachsen-Anhaltinisch, ob sie „ihn gleich nackig machen soll“, den Schirm, und ist überhaupt so herzlich und rosig, dass man die Wittenberger sofort ins Herz schließen will.

Draußen auf der Bahnhofstreppe überlegt man sich das aber nochmal, da kampiert ein Trupp Wittenberger Jungnazis mit einem Kasten Holsten–Bier. Offiziell handelt es sich laut Fanschals um Anhänger vom 1. FC Magdeburg, aber die Herren haben seltsame Frisuren und große schwarzsilberne Reichskreuze in die Ohren gestanzt, außerdem klingt das, was da laut aus ihrem Smartphone wummert, verdächtig nach

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Rechtsrock-Gebrüll. Erstaunlicherweise ist in dem Gewürge, soweit man es versteht, irgendwie von Freiheit die Rede, davon, dass man aufstehen soll für seine Meinung, auch wenn man damit allein gegen den Rest der Welt steht – Hier stehe ich, ich kann nicht anders, wenn das mal kein Luther-Thema ist...

Anonymus: Rechtsrock 0’20 Divers

Doch, auch das läuft unter Musik.

Google findet alles, sogar, anhand von ein paar Textfetzen, rechtsradikale Hooligan- Bands wie die, die mich in Wittenberg auf dem Bahnhof begrüßt, „Kategorie C“ nennen die sich, eine der übelsten unter den Rechtsrock-Combos, wie ich später rausfinde, mit NPD-Kontakten und Verfassungsschutz-Beobachtung. Die hässliche Truppe schmückt sich auf ihrer Homepage in ihrem Jubiläumsjahr mit dem Slogan „20 Jahre Fußball und Gewalt“. Das also hört heute die Jugend auf den Bahnhofstreppen der Lutherstadt. So klingt Wittenberg?

O weh. Und da steht auch gleich schon, imaginiert natürlich, der alte Luther-Verächter Thomas Mann neben mir, wackelt mit dem Kopf und murmelt etwas wie: „Ich hab’s ja immer gesagt.“ Laut Thomas Mann hat nämlich alles deutsche Unheil mit Luther angefangen, in Luthers spezifischer Art, typisch deutsch zu sein, hat Mann schon den Ungeist des Nazi-Reichs gewittert: „Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das Cholerisch- Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massiven Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe erregt meine innerliche Abneigung. Ich“, so Thomas Mann, „hätte nicht Luthers Tischgast sein mögen, ich hätte mich wahrscheinlich bei ihm wie im trauten Heim eines Ogers gefühlt.“

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Na bravo, das sind ja Aussichten für einen Besuch im ... Da brauchen wir doch gleich erst mal wieder ein bisschen Ermutigung, also bitte, Evangelisches Gesangbuch rausholen, Nummer 362 aufschlagen, und los!

Luthers Lieder CD 2, T. 12 0’50 Max Reger: „Ein feste Burg“, Choralvorspiel op. 67 Nr.6 Sophie Harmsen, Matthias Ank Carus 83.469

Das „Kriegslied des Glaubens“, so nennen Brentano und von Arnim Luthers Burglied in „Des Knaben Wunderhorn“, und mit diesem Lutherlied und keinem anderen im Ohr soll man Wittenberg betreten, denn es springt einen sowieso sofort an dort, nicht akustisch, sondern visuell, und der martialische Tonfall der Verse passt hier auch unbedingt zur Darreichungsform: Von links schiebt sich nämlich die Thesenkirche ins Bild, wo Luther vor ziemlich genau 500 Jahren seine 95 Thesen ausgehängt haben soll – der Ort stimmt, aber es ist nicht mehr dieselbe Kirche, und die Kirchentür, die alle wie verrückt fotografieren, hat Luther nie gesehen. Die jetzige Tür und dazugehörige Kirche stammen aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, und in ihren Kirchturm sind oben unter der Kuppel riesenhaft als Mosaikspruchband Luthers Worte eingelassen: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“...Wenn man sich den dusteren Turm so ansieht, diese gen Himmel gerichtete Kanone mit aggressiv stacheliger Pickelhaube, dann ist das ja auch ein schönes Sinnbild für den Preußenstaat, bei dem Wehr und Waffen bekanntlich schon immer großgeschrieben wurden... .

Die Preußen, Bewahrer des Protestantentums, haben sich nicht mit Ruhm bekleckert hier in Wittenberg, das merkt man schon an dieser kitschig-martialischen Kirche, an der irgendwie gar nichts mehr den genius loci atmet, ausser dass sich unter der Kanzel nach wie vor Martin Luthers Grab befindet. Es muss ein bombastischer Aufmarsch gewesen sein damals, bei Luthers Begräbnis am 22. Februar 1546, ein prominent besetzter Trauerzug, der die Hochachtung und Verehrung und auch die Macht belegt, die sich mit seinem Leben und

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Lehren innerhalb von nur knapp dreißig Jahren erstritten hat: So wurden sonst nur Fürsten und Kardinäle begraben. Vorweg die Schüler und Geistlichen, dann die Kurfürstenschaft und die Grafen von Mansfeld samt 65 Berittenen, dann der Wagen mit dem Sarg, schwarzes Tuch, weißes Kreuz, dahinter Luthers Frau Katharina und seine Tochter Margarete, gefolgt von den Söhnen, Luthers Bruder und anderen Verwandten, danach der Rektor der Universität, der Kanzler, die Professoren, Doktoren und Magister, dann der Rat der Stadt Wittenberg, Studenten, Frauen und Kinder, Stadtvolk, Neugierige... – Eine schöne Leich, die für die Welt auch noch schnell im Sarg liegend portraitiert worden ist, die Cranach-Werkstatt, Luthers Propaganda-Zentrum, hat dieses Bild vom friedlichen Luther im Totenhemd dann in X Wiederholungen in die Welt katapultiert, es bekam, wie die anderen Cranach- Portraits von Luther, ikonische Bedeutung – Martin Luther war immerhin tatsächlich der meistgemalte Mann seiner Zeit!

Dazu passend hat dann der begeisterte Protestant Caspar Othmayr ein Epitaph für Luther komponiert, Verba Lutheri ultima, Luthers angebliche letzte Worte, die natürlich ein wohlgeordnetes Gebet an den himmlischen Vater sind.

Gebr. CD T. 1 4’40 Caspar Othmayr: „Verba Lutheri Ultima“ Die himmlische Cantorey Cpo 9460825

...Luthers tatsächliche letzte Worte stehen übrigens auf einem Zettel, den man bei ihm gefunden hat, und sie sind eigentlich viel anrührender als jedes Vaterunser, da stand nämlich am Ende einfach: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ So ganz selbstverständlich ist es übrigens nicht, dass Luther bis heute in seinem Grab in der Schlosskirche ruht – Bis zu seinem Tod sind ja immer mehr deutsche Reichsfürsten zum Protestantentum übergelaufen, haben sich gar im sogenannten Schmalkaldischen Bund ganz offiziell gegen Papst und Kaiser organisiert, und Karl V. hätte sein Gesicht verloren, wenn er

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sich das hätte bieten lassen. Also hat er direkt nach Luthers Tod den schon länger vorbereiteten Schmalkaldischen Krieg gegen diese Fürsten angezettelt, den seine Truppen und Verbündeten auch gewonnen haben: Im Mai 1547 ist der Kaiser in Wittenberg einmarschiert – und hat sich gleich mal als erstes zum Grab des Mannes führen lassen, der ihn in den Jahrzehnten davor beschäftig hat wie kein anderer. Über die Szene „Karl V. an Luthers Grab“ gibt es viele Legenden, und die meisten haben mit dem Herzog von Alba zu tun: Kaiser Karls blutige rechte Hand, der Mann, der dann später in den spanischen Niederlanden so übel gehaust hat, dass ihn Friedrich Schiller im Don Carlos für alle Ewigkeit als intriganten Fiesling portraitiert hat. Alba also soll dem Kaiser vor Luthers Grab von der Seite eingeflüstert haben, dass man den Leichnam schnellstens aus der Erde reißen und die Lutherknochen noch posthum als Ketzerknochen auf dem Scheiterhaufen verbrennen müsse. Und Kaiser Karl soll ihm geantwortet haben: „Ich führe Krieg mit den Lebenden und nicht mit den Toten. Er hat seinen Richter gefunden.“ Wenn’s nicht wahr ist, ist es schön erfunden, so schön, dass der sächsische Hymnendichter Christoph Christian Hohlfeld darauf hochtönende Verse geschmiedet hat, aus denen dann eine der berüchtigten „Kaiserballaden“ von Carl Loewe geworden ist: „Kaiser Karl V. in Wittenberg“.

Gebr. CD T. 2 5’ Carl Loewe: „Kaiser Karl V. in Wittenberg“, Ballade Roman Trekel, Cord Garben cpo 999 562-2

Wie Kaiser Karl V. zu Wittenberg Luther dann doch nicht nochmal ausgegraben hat – das ist die Geschichte dieser feierlichen Ballade von Carl Loewe. Roman Trekel wurde da begleitet von Cord Garben.

Die alte Schlosskirche, an deren Portal Luther seinen Thesenzettel nagelte, und wo er dann so feierlich begraben wurde, gehörte also zum Schloss von Friedrich III., Kurfürst von Sachsen. Friedrich hat es ab 1500 nach allen Regeln der Kunst für sich umbauen lassen, und mit seiner prachtvollen Ausstattung, den vielen Gemälden und

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kostbaren Holzschnitzereien und der sagenhaften Reliquiensammlung, war es eins der schönsten Schlösser seiner Zeit – berichten die, die es gesehen haben damals. Was man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann: Mehrere Kriege haben Friedrichs Kleinod über die Jahrhunderte schwer beschädigt, und die Preußen haben ihm dann endgültig den Garaus gemacht, indem sie die Stockwerke und die Fenster zugemauert und den Trauerkloß zur Kaserne umgebaut haben. Heute stehen also von einem der prächtigsten Residenzschlösser der deutschen Renaissance nach außen hin bloß noch ein paar weißgetünchte, furchtbar deprimierende Mauern, die auf eine sumpfige Brache schauen und eher wie ein Getreidesilo wirken. Luther allein war es wie gesagt nicht, der Wittenberg groß gemacht hat –denn ohne den regierenden Fürsten wäre er wohl gar nicht erst dort gelandet. Friedrich III., völlig zu Recht auch Friedrich der Weise genannt, war der wohl fabelhafteste Kurfürst, den Sachsen je hatte. Ein frommer Katholik, der trotzdem immer wieder der Schützenhilfe gegeben hat, weil ihm zumindest Luthers Kritik an Papst und Kaiser durchaus sympathisch war. Ohne Friedrich wäre alles ganz anders gekommen, denn es war ja er, der nach Luthers dramatischem Auftritt vor Kaiser Karl in Worms den Luther auf dem Rückweg einfach hat kidnappen und auf die verfrachten lassen – um ihn zu schützen. Und damit, dass er Luthern erst mal aus dem Verkehr gezogen hat, hat er ihm vermutlich das Leben gerettet, denn einer, über den Reichsacht und Kirchenbann verhängt waren, war im Grunde so gut wie vogelfrei. Und in seiner Schutzhaft auf der Wartburg hat Luther ja dann Zeit gehabt für seine Bibelübersetzung. Wie gesagt: Friedrich der Weise hat an alledem keinen kleinen Anteil. Und ein vorbildlicher Landesherr war er außerdem, der mit klugen Strategien aus dem Provinznest Wittenberg ein Zentrum des europäischen Geisteslebens gemacht hat. Bevor Friedrich der Weise dort loslegte, war Wittenberg schlimmstes mittelalterliches Dunkeldeutschland, ein kulturelles Brachland, in dem man erst mal Licht machen musste. Für das Kunst- und Kulturleben, das der Fürst hier dann implantiert hat, hat er sich klugerweise an seinem großen Vorbild orientiert, an Kaiser Maximilian, dem kunstverrückten Habsburger und Vorgänger Karls V. Maximilian, auch der „Letzte Ritter“ genannt, hat ja in Sachen Musik ein sagenhaftes Händchen gehabt, die

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besten Komponisten und Musiker der Zeit haben für ihn geschrieben, gespielt und gesungen, und weil Friedrich dort in Wittenberg keine eigenen Hofkomponisten hatte, hat er kurzerhand per freundlicher Übernahme die im Umkreis von Maximilian gesammelten Notenbände übernommen – so dass also in Wittenberg, das wenig später das Bollwerk gegen die Habsburger werden würde, die gleiche Musik gespielt wurde wie bei Habsburgs. Die von Ludwig Senfl zum Beispiel:

CD Mitten im Leben T. 1 2’10 Ludwig Senfl: „Das Geläut zu Speyer“ Calmus Ensemble Lautten Compagney Carus 83.477

...Fast schon ein Steve Reich: Ludwig Senfls Kunststückchen „Das Geläut zu Speyer“. Ludwig Senfl war Schüler von Heinrich Isaac und lange Jahre Mitglied von Kaiser Maximilians Hofkapelle in Wien. Die Glocken von Worms hat Senfl auch läuten hören – er war bei dem folgenreichen Reichstag von 1521 dabei, wo Luther stand und nicht anders konnte, als Kaiser und Papst die Stirn zu bieten und kein einziges Wort seiner häretischen Schriften zu widerrufen, „weil“ – das ist es, was er wirklich gesagt hat – „wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“ Vermutlich hat Ludwig Senfl Luthers ungeheuer mutigen Auftritt vor Karl V. tatsächlich live erlebt, und Luther, der sich ja am allerliebsten mit Musikern ausgetauscht hat, scheint in Worms Kontakt zu Senfl gesucht zu haben – jedenfalls haben die beiden seit Worms Briefe gewechselt, und Ludwig Senfl wurde neben einer von Luthers wichtigsten Gesprächspartnern in Sachen Musik. Selber hat Senfl sich nie protestantisch taufen lassen wollen, aber Musik für Luther komponiert hat er trotzdem, ja, Luther hat sich sogar manchmal was von ihm wünschen dürfen – Musik war ja Luthers allergrößter Trost in dunklen Stunden, von denen er ziemlich viele hatte. Und an Freund Senfl schickt Luther immer wieder sehr persönliche Bekenntnisse. Da schreibt er zum Beispiel von der , wo er

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sich 1530 mal wieder vor Reichsacht und Kirchenbann verschanzen muss: „Ich hoffe in der Tat, dass mein Lebensende nahe ist. Die Welt hasst mich und kann mich nicht leiden; ich habe umgekehrt Ekel vor der Welt und verabscheue sie. Daher möge der beste und getreue Hirte meine Seele zu sich nehmen.“ Senfls Reaktion ist ziemlich anrührend, denn er antwortet Luther mit Musik, mit einer Vertonung des „Non moriar sed vivam“ – Nicht sterben werde ich, sondern leben. Eine schönere Ermutigung kann man sich nicht denken – Luther soll die Worte dann an die Wand seiner Stube in Coburg geschrieben haben...

CD Luther und die Musik T. 4 3’00 Ludwig Senfl: “Non moriar sed vivam” Wiener Motettenchor Musica Antiqua Wien Christophorus CHR 77403

Es regnet immer noch über Wittenberg, als ich die Schlossstraße zum Marktplatz hochlaufe und dabei schon mal meine Optionen für’s spätere Mittagessen auslote: Ein Lokal hat in protestantisch-sparsamem Layout ein Plakat ins Fenster gehängt, das einen „Reformationsteller“ anpreist: „Zum Jubiläumsjahr als wechselndes Tagesgericht für nur 8,50 Euro.“ Der Laden hat allerdings sonntags geschlossen, so dass nicht rauszufinden ist, was man sich unter einem Reformationsteller vorzustellen hat. Die Altstadtklause offeriert „Luthersteak mit Bärlauchschmand“, alternativ könnte ich mir aber auch einfach in dem kleinen Lädchen mit dem total originellen Namen „Sündikat“ – geschrieben mit ü – ein Päckchen „Lutherbrodt“ kaufen, Touristenfallen wie diese haben hier sonntags natürlich geöffnet. Im Gegensatz zur prachtvollen „Cranach-Apotheke“, die tatsächlich dereinst von Luthers PR-Genie Lucas Cranach gegründet wurde, der ja, g’schaftelhuberisch, wie er eben war, damals auf alle möglichen Geschäfte in Wittenberg das Monopol hatte, unter anderem auch das wichtige auf die Arzneimittel... .

Martin Luther kommt zuerst mal als Student an die frischgegründete Universität Wittenberg, in den Jahren 1508 bis 1509, und zwar wegen Johann von Staupitz, dem damaligen Leiter des theologischen Seminars: Staupitz wird Luthers Beichtvater und

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Mentor, er hat Luther hoch geschätzt, hat wohl auch seinen Mut bewundert. Vor allem hat Johann Staupitz Luther viel über die göttliche Nachsicht mit den Menschen beigebracht und ihn gelehrt, auch mal ein bisschen Nachsicht mit sich selber zu haben. Und obwohl er Luthers schroffe Absage an die katholische Kirche gar nicht mitgetragen hat, war er einer von Luthers treuesten Freunden. Staupitz ist es auch, der Luther dann 1511 als seinen Nachfolger an die Wittenberger Uni holt – ab da ist Luther also Leiter der theologischen Studien, hat einen festen Job und ein vom Kurfürsten geschütztes Umfeld, und dank seiner aufsehenerregenden Aktionen in den kommenden Jahren und der grandiosen -Propaganda aus Lucas Cranachs Druckerpressen rennen ihm die Studenten die Bude ein. Erstrecht, als der Kurfürst 1518 auch noch als Professor für Griechisch den Philipp Melanchthon aus Tübingen abwirbt. Der wird dann mit seinen vom Humanismus inspirierten, sprachmächtigen Vorlesungen schon bald eine europaweite Professorenlegende und ein Verkünder der Reformation – und dazu noch Luthers bester Freund.

CD Mitten im Leben T. 2 (erste Strophe) 3’53 Johann Walter: „Beati immaculati in via“ Calmus Ensemble Carus 83.477

Diese polyphone Spielerei hier gehört schon zu der sagenhaft raffinierten Luther-PR, die ab den 1520-er Jahren von Wittenberg ausgegangen ist.

Komponiert hat sie Luthers musikalisches alter ego Johann Walter, der Mann, der wie kein anderer die Musik der Reformation auf den Weg gebracht hat: Walter hat mit Luther zusammen die „Deutsche Messe“ ausgeheckt, und Johann Walter ist auch der Erfinder und Urvater der evangelischen Kantorei, deren erstes Exemplar hat er 1526 im nicht weit von Wittenberg elbaufwärts gelegenen Torgau gegründet. Wenn Wittenberg die Mutter der Reformation gewesen ist, sagt ein Bonmot, dann war Torgau ihre Amme...

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Es handelt sich bei diesem hübschen Kanon da um eine Huldigungs-Motette für Friedrich den Weisen, Basis ist der 119. Psalm „Beati immaculati in via“ – Der Alt ist sozusagen die Kurfürsten-Stimme und singt auf dem immer gleichen Ton: „Vivat vivat vivat Ioannes Friedrich, elector et dux saxonum, defensor veri dogmatis, pacisque custos per vigil, vivat per omne saeculum.“ Und auch wenn Friedrich als „defensor veri dogmatis“, Verteidiger des wahren Glaubens, Katholik geblieben ist und sich erst auf dem Sterbebett protestantisch taufen hat lassen – er gehört doch, das macht schon dieses Stück hier deutlich, untrennbar zur Geschichte der Reformation, und sein Leben ist, wie in der Musik hier, eng verflochten mit den zwei anderen Namen, die da von der Baßstimme in Quintsprüngen intoniert werden:

CD Mitten im Leben 3’53 Johann Walter: „Beati immaculati in via“, Teil 2 Calmus Ensemble Carus 83.477

...eine Hymne auf Friedrich den Weisen, Luther und seinen Freund Melanchthon.

...Natürlich ist auch Melanchthons Haus heute ein schick aufbereitetes Museum, an dem man auf dem Weg zum Luther-Haus unweigerlich vorbeikommt, es ist Teil der Luther-Puppenstube, die man sich hier in den letzten Jahrzehnten für viel, viel Geld zurechtrenoviert hat, nur dass es jetzt so schön und zuckrig ist, wie es zu Luthers Zeit nicht und sowieso nie gewesen ist...Wittenberg scheint irgendwie praktischerweise aus einer einzigen Straße zu bestehen, so dass der Eindruck entsteht, auch Luthers Leben sei so eine gerade Straße gewesen - sie beginnt unten mit der Thesenkirche, führt an den Cranach-Höfen und dem Melanchthon-Haus vorbei zu Luthers Predigtkirche, wo er irgendwann anfing, seine Predigten in deutscher Sprache zu halten, hin zum ehemaligen Augustinerkloster, das Luther ja dann zu seinem Familiensitz und zur Zitadelle der Reformation umgewidmet hat. Damals, als Luther hier seine Zelte aufgeschlagen hat, war dieses Wittenberg eine einzige gigantische Baustelle – Friedrich der Weise hatte Großes vor mit der Stadt,

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keine Frage, die Leucorea, die 1502 eröffnete Universität zu Wittenberg, ist die erste Uni, die von einem Landesfürsten und nicht von einer Kirche gegründet worden ist.

Aber das alles musste ja erst mal aus dem Boden gestampft werden, nicht bloß das Schloss und die Kirche und die Universitätsgebäude, sondern auch Häuser, wo die hoffentlich bald massenhaft strömenden Studenten und Beamten wohnen konnten, und dazu, das wusste man damals noch, brauchte so eine Stadt Gewerbetreibende, die sie zum Leben erwecken, Händler, Handwerker, gute Bäcker und Metzger, Buchdruck und Kunstgewerbe. Es war in gewisser Weise eine Retortenstadt, es gab ja kaum kulturelle Wurzeln hier und auch kein altes Großbürgertum, keine Verwaltungsstrukturen und keine echten städtischen Traditionen...Oder doch, eine schon zu Luthers Zeit Jahrhunderte alte Tradition gab es in Wittenberg, und das war der Antisemitismus. Im Stadtkern liegt zwar heute noch die „Jüdenstraße“, aber de facto hat man schon kurz nach 1300 alle Juden aus der Stadt getrieben. Und die hätten eigentlich wissen müssen, was ihnen blühte, denn der Judenhass von Wittenberg war damals schon gewissermaßen in Stein gemeißelt – und ist es bis heute: Wenn man die Stadtkirche, also Luthers Predigtkirche, umrundet, sieht man das Schandmal oben an einer der hinteren Gebäude-Ecken, ein Steinrelief von einem Schwein, an dessen Zitzen lemurenhafte Figuren mit Judenhüten saugen, einer linst dem Schwein begeistert ins Hinterteil. Das ist die sogenannte „Judensau“, geklöppelt um 1280, und sie sollte den Juden klarmachen: Ferkel wie ihr seid hier nicht willkommen, ihr seid die Christusmörder, also bleibt gefälligst weg.

Gebr. CD T. 3 1’00 J.S.Bach: „Johannes-Passion, Kreuzige“ Les Musiciens du Louvre Marc Minkowski Erato 6198784

Die Kreuzigungsrufe des blutrünstigen Judenvolks, das Jesus Christus ermordet hat: Luther hat diese Szenen in den Evangelien höchst anschaulich geschildert, und der hingebungsvolle Lutheraner Bach hat sie dann noch anschaulicher in den Turba- Chören seiner Johannes- und Mätthäuspassion vertont.

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Die Diskussion darüber, ob Bach nun Antisemit war, weil er die mordgierigen Juden so schön mit diesen damals kaum erträglichen Dissonanzen ausgestattet hat, diese Diskussion läuft noch, und man kann sie übertrieben finden. Nicht mehr diskutieren muss man allerdings Martin Luthers Antisemitismus, mit dem er offenbar ganz gut ins judenbereinigte Wittenberg gepasst hat. Luthers Judenhass geht über das „normale“ gerüttelt Maß an Antisemitismus hinaus, das immer und überall damals geherrscht hat – er verfolgt die angeblichen Christusmörder mit wirklich ohnmächtiger Wut, ganz besonders dann in seinem grauenerregenden Alterswerk, einer Schrift mit dem Titel „Von den Juden und ihren Lügen“, ein Hass- und Blut- und Rotzstarrendes Pamphlet, in dem Luther unter anderem dazu aufruft, die Synagogen in Brand zu stecken. Wenn es um die Juden ging, war der große Martin Luther wie von Sinnen, "Hieher zum Kusse! Der Teufel hat in die Hosen geschissen und den Bauch abermals geleeret. Das ist ein recht Heilightum, das die Juden und was Jude sein will, küssen, fressen, sauffen und anbeten... und soll der Teufel auch fressen und sauffen, was solche Jünger speien, oben und unten auswerfen können. Hier sind die rechten Gäste und Wirthe zusammengekommen... der Teufel... frißt mit Lust, was der Juden oberes und unteres Maul speiet und spritzet."

„Luther“, schreibt Adolf Hitler, „war ein großer Mann. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung; sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“

Gebr. CD T. 4 1’50 J.S.Bach: „Matthäus-Passion“ „Sein Blut komme über uns“ RIAS Kammerchor Akademie für Alte Musik Berlin René Jacobs Harmonia Mundi 3111737

„Sein Blut komme über uns“ – der sogenannte „Blutruf“ der Juden in der Matthäuspassion, wie ihn Luther so griffig dargestellt hat, und wie er Jahrhunderte lang als Rechtfertigung herhalten musste, von den mittelalterlichen Pogromen bis hin zum Massenmord im 20. Jahrhundert.

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Man muss zur Ehre Wittenbergs erwähnen, dass es zu Füßen der sogenannten „Judensau“ im Boden vor der Kirchenecke schon seit den späten DDR-Zeiten ein Mahnmal in Form einer Bodenplatte gibt, das benennt, wozu der uralte Judenhass in seiner grauenhaften Konsequenz im 20. Jahrhundert geführt hat.

So eine Stellungnahme ist nicht selbstverständlich: Ähnliche Skulpturen gibt es überall in Deutschland, in Regensburg oder Bad Wimpfen, Xanten oder Zerbst, und auch im Chorgestühl des Kölner Doms, aber die meisten Städte vertrauen darauf, dass das einfach irgendwie übersehen wird.

In Wittenberg ist der Streit um die „Judensau“ aber gerade zum Luther-Jubiläum wieder hochgekocht, mehrere Initiativen fordern, dass die hässliche Skulptur aus der Kirchenfassade genommen werden soll, auch der Zentralrat der Juden ist für die Abnahme. Die AFD hat daraufhin hurtig eine Gegeninitiative zum Erhalt aufgelegt. Erhalten will auch die evangelische Landesbischöfin Junkermann, allerdings mit einem Argument, das Björn Höcke und Konsorten nicht gefallen dürfte: Die Kirche, sagt sie, „muss diese Wunde ihrer eigenen Geschichte offen halten“.

Jahrhundertelang haben sich Protestanten auf Luther bezogen in ihren Aktionen und Predigten gegen die Juden, und im sogenannten „Dritten Reich“ haben ihn die Nazi- Größen genüsslich zitiert, noch bei den Nürnberger Prozessen hat der oberste Hetzer von Goebbels’ Gnaden, der „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher, sich mit stolzgeschwellter Brust auf Luther berufen.

Die Wunde Antisemitismus ist für die evangelische Kirche also auch die Wunde Luther, und die von Luther propagierte Feindschaft gegen andere Religionen und Konfessionen hat über die Jahrhunderte zu viel Unfrieden und Leid geführt – vielleicht wird es Zeit, das Credo, das Luther für die Deutsche Messe übersetzt hat, neu zu interpretieren, die erste Strophe jedenfalls wäre eine fabelhafte Hymne für den Religionsfrieden auf der Welt, immerhin heißt es da: „Wir glauben all an einen Gott“... .

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Felix Mendelssohn-Bartholdy, Kind einer traditionsreichen jüdischen Familie, hat das vertont.

Gebr. CD T. 5 2’00 Felix Mendelssohn-Bartholdy: „Wir glauben all an einen Gott“ Kammerchor Stuttgart Frieder Bernius Carus 5305597

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