Plenarprotokoll 17/112

Deutscher

Stenografischer Bericht

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Inhalt:

Begrüßung der anwesenden amerikanischen Tagesordnungspunkt 25: Stipendiatinnen und Stipendiaten des Par- lamentarischen Patenschafts-Programms . 12815 A Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeord- Abwicklung der Tagesordnung ...... 12815 B neter und der Fraktion DIE LINKE: Rekom- munalisierung beschleunigen – Öffentlich- Private Partnerschaften stoppen Tagesordnungspunkt 24: (Drucksache 17/5776) ...... 12835 D Abgabe einer Regierungserklärung durch den Harald Wolf, Senator (Berlin) ...... 12836 A Bundesminister der Verteidigung: zur Neu- Jan Mücke (FDP) ...... 12837 B ausrichtung der ...... 12815 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 12837 D BMVg ...... 12815 D (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 12818 B DIE GRÜNEN) ...... 12840 A (FDP) ...... 12820 D Harald Wolf, Senator (Berlin) ...... 12840 B Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 12822 A Rüdiger Kruse (CDU/CSU) ...... 12841 B (CDU/CSU) ...... 12823 C Johannes Kahrs (SPD) ...... 12843 A Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Klaus Breil (FDP) ...... 12844 C DIE GRÜNEN) ...... 12824 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12846 A Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 12825 D Jan Mücke (FDP) ...... 12847 C Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 12827 A (FDP) ...... 12848 D Dr. (CDU/CSU) . . . . . 12828 B (CDU/CSU) ...... 12849 B (DIE LINKE) ...... 12829 D (SPD) ...... 12851 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12830 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 12852 A Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (FDP) ...... 12853 B (CDU/CSU) ...... 12832 A Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 12855 A (CDU/CSU) ...... 12833 C Bernd Scheelen (SPD) ...... 12856 B Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 12834 C Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . 12857 D II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Tagesordnungspunkt 28: Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Klima- und Umweltschutz im und a) Antrag der Abgeordneten , durch den Sport stärken – Für eine verant- Dirk Fischer (), , wortungsvolle Sportentwicklung in Deutsch- weiterer Abgeordneter und der Fraktion land der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (Drucksache 17/5779) ...... 12876 C , Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die Verkehrssicher- Tagesordnungspunkt 29: heit in Deutschland weiter verbessern (Drucksache 17/5530) ...... 12859 A Antrag der Abgeordneten Dr. , Beate Müller-Gemmeke, , b) Antrag der Abgeordneten Kirsten Lühmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion , , weiterer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ELENA – Mel- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: depflicht aufheben und Daten der Beschäf- Sicher durch den Straßenverkehr – Für tigten löschen eine ambitionierte Verkehrssicherheits- (Drucksache 17/5527) ...... 12876 D arbeit in Deutschland (Drucksache 17/5772) ...... 12859 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12877 A Gero Storjohann (CDU/CSU) ...... 12859 C (CDU/CSU) ...... 12878 A Kirsten Lühmann (SPD) ...... 12860 D (SPD) ...... 12878 D Oliver Luksic (FDP) ...... 12863 A (FDP) ...... 12880 C (DIE LINKE) ...... 12864 B Dr. Konstantin von Notz (BÜND- (BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 12881 A DIE GRÜNEN) ...... 12865 C (DIE LINKE) ...... 12882 D (CDU/CSU) ...... 12866 C

Nächste Sitzung ...... 12883 D Tagesordnungspunkt 27:

Antrag der Abgeordneten Dr. , Anlage 1 , Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12885 A Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen (Drucksache 17/3685) ...... 12867 C Anlage 2 Dr. Edgar Franke (SPD) ...... 12867 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Klima- und Umweltschutz im (CDU/CSU) ...... 12868 D und durch den Sport stärken – Für eine verant- (DIE LINKE) ...... 12870 B wortungsvolle Sportentwicklung in Deutsch- land (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Erwin Lotter (FDP) ...... 12871 C (CDU/CSU) ...... 12886 A Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 12872 D (CDU/CSU) ...... 12888 A Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) ...... 12874 A Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) ...... 12889 B Dr. (SPD) ...... 12875 A Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 12890 B Dr. Erwin Lotter (FDP) ...... 12876 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 12891 A Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 12892 B Tagesordnungspunkt 26: Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 12893 A Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, , (Altötting), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Anlage 3 CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Dr. Lutz Knopek, Gisela Amtliche Mitteilungen ...... 12894 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12815

(A) (C) Redetext

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. : Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgabe einer Regierungserklärung durch den Sitzung ist eröffnet. Bundesminister der Verteidigung Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, zur Neuausrichtung der Bundeswehr möchte ich die anwesenden 350 amerikanischen Sti- pendiatinnen und Stipendiaten des Parlamentari- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schen Patenschafts-Programms sowie Vertreter der die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- deutschen und amerikanischen Austauschorganisa- rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen tionen auf den Tribünen herzlich begrüßen. Diese jun- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gen Amerikanerinnen und Amerikaner bilden bereits den Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat 27. Jahrgang des PPP und besuchen zum Ende ihres ein- nun der Bundesminister der Verteidigung, Thomas jährigen Aufenthaltes in Deutschland zurzeit Berlin und de Maizière. (B) heute den Deutschen Bundestag. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Parlamentarische Patenschafts-Programm wurde 1983 vom Bundestag und dem amerikanischen Kongress Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- vereinbart, und seitdem sind fast 20 000 junge Stipendia- teidigung: ten jeweils für ein Jahr in das Partnerland gereist. In Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gastfamilien und im unmittelbaren Kontakt mit den Mit- Kolleginnen und Kollegen! Die Neuausrichtung der schülern oder den Arbeitskollegen lernen die Stipendia- Bundeswehr hat begonnen. In der vergangenen Woche ten, was unsere Länder gesellschaftlich, kulturell und habe ich die Eckpunkte dafür und neue Verteidigungs- politisch verbindet. Dieser Jugendaustausch fördert das politische Richtlinien vorgestellt und ausführlich be- gegenseitige Verständnis und trägt dazu bei, die Bezie- gründet. Am Mittwoch haben wir meine Entscheidungen hungen zwischen Deutschland und Amerika weiter zu und Überlegungen in den Verteidigungsausschüssen des stärken. Bundestages und des Bundesrates diskutiert. Das werden Sie, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, sind wir sicher auch weiter tun. Der richtige Ort für die öf- schon in jungen Jahren aufgebrochen, um außerhalb des fentliche Diskussion über die Neuausrichtung der Bun- deswehr ist aber natürlich das Plenum des Deutschen eigenen Landes Erfahrungen zu sammeln, von anderen Bundestages. Deshalb bin ich für die Möglichkeit dank- zu lernen und quasi als „junge Botschafter“ ihr Land auf bar, mit der heutigen Regierungserklärung und der der anderen Seite des Atlantiks zu vertreten. Ich wün- gleich folgenden Aussprache die sicherheitspolitische sche Ihnen im Namen des ganzen Bundestages weiterhin Debatte in dieses Hohe Haus zu führen. einen interessanten Aufenthalt in Deutschland und eine erfolgreiche Zukunft und wünsche mir, dass Sie Bot- Wir brauchen diese politische Diskussion; denn ich schafter der deutsch-amerikanischen Freundschaft sein bin davon überzeugt: Die Neuausrichtung der Bundes- mögen. wehr geht nicht nur die Bundeswehr an. Gerade eine Ar- mee ohne Wehrpflicht braucht die öffentliche Debatte (Beifall) über sie, und sie braucht öffentliche Unterstützung für die Nachwuchsgewinnung und für die Einsätze. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Tagesordnung. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord- Die Bundeswehr hat seit ihrer Gründung 1955 einen nungspunkte 26 und 28 zu tauschen. Sind Sie damit ein- wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens in Frei- verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das heit im geteilten Deutschland geleistet, aber auch zum so beschlossen. Frieden in Europa und in der Welt. 12816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr.Bundesminister Thomas de Maizière, Dr. Thomas Bundesminister de Maizière der Verteidigung (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Militärische Einsätze ziehen weitreichende Folgen (C) nach sich, auch politisch. Das muss man vor jedem Ein- Sie hat auch das Bild eines weltoffenen und seiner Ver- satz bedenken. Auch das Ende muss man bedenken. Da- antwortung bewussten Deutschland mitgeprägt. Dafür her ist in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die war es von Zeit zu Zeit immer wieder notwendig, die Frage notwendig, inwieweit die unmittelbaren oder mit- sich ändernden Herausforderungen für unsere Sicherheit telbaren Interessen Deutschlands oder eben auch die neu zu bewerten und den Auftrag der Bundeswehr ent- Wahrnehmung internationaler Verantwortung den jewei- sprechend neu zu definieren. Jetzt ist es wieder notwen- ligen Einsatz erfordern und rechtfertigen, aber auch, dig. welche Folgen die Entscheidung hat, nicht an einem Ein- Unsere Bundeswehr ist jetzt so auszurichten, dass sie satz teilzunehmen. Wir bleiben dabei zurückhaltend und für die erkennbaren sicherheitspolitischen Herausforde- verantwortungsvoll – in jede Richtung. rungen von heute gewappnet ist, aber auch für die noch nicht klar erkennbaren Herausforderungen von morgen – Unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslandsein- so gut es eben geht. Dieses Ziel verbindet uns alle. Es ist sätzen sind hervorragende Repräsentanten unseres Lan- eine gute Tradition, dass wir zu den grundlegenden Ent- des. Sie sind gerade auch mit ihrer Uniform sichtbarer scheidungen zur Sicherheitspolitik ein großes Einver- Ausdruck der Tatsache, dass wir unseren Beitrag zu nehmen zwischen Regierung und Opposition hatten und Frieden und Sicherheit in der Welt leisten. haben. Ich will mich auch jetzt darum bemühen – und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) habe es bereits getan. Im Grundgesetz steht: Meine Damen und Herren, die Verteidigungspoliti- schen Richtlinien sind der Ausgangspunkt für die Neu- Eigentum verpflichtet. ausrichtung. Die Organisation der Bundeswehr folgt ihrem Auftrag und nicht umgekehrt. Die Verteidigungs- Das ist, wenn Sie so wollen, die Kurzformel für die so- politischen Richtlinien formulieren die sicherheitspoliti- ziale Marktwirtschaft. Auf die internationale Politik schen Zielsetzungen und die langfristigen Sicherheitsin- übertragen, heißt das: Wohlstand verpflichtet. Daraus er- teressen Deutschlands deutlich und in klarer Sprache. wachsen auch internationale Verantwortung und Solida- Auf dieser Grundlage werden die Aufgaben der Bundes- rität, und das kann auch heißen: Beteiligung an interna- wehr festgelegt. Unsere nationalen Interessen wahren, tionalen Einsätzen aus internationaler Verantwortung. internationale Verantwortung übernehmen und die Si- Wir haben den Anspruch, ein souveräner, starker und cherheit gemeinsam gestalten – das ist der Anspruch an verlässlicher Partner im Bündnis, in Europa und in der unsere Politik und an unsere Bundeswehr. Welt zu sein. (B) (D) Eigentlich sollte es inzwischen eine Selbstverständ- lichkeit sein, dass wir uns über unsere nationalen Inte- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ressen im Klaren sind und sie offen vertreten. Es sollte bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- ebenso selbstverständlich sein, dass wir in den interna- NISSES 90/DIE GRÜNEN) tionalen Organisationen – in den Vereinten Nationen, in Wir erfüllen diesen Anspruch. Das umfassende Engage- unserem nordatlantischen Bündnis, in der Europäischen ment der Bundeswehr etwa im Kosovo steht beispielhaft Union – die internationale Verantwortung übernehmen, dafür, dass es Deutschland mit seiner internationalen die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man Verantwortung ernst meint. Durch den vernetzten Ein- von uns erwartet. Das ist mehr, als es bisher in Deutsch- satz von zivilen und militärischen Mitteln haben wir den land bekannt oder wohl auch akzeptiert ist. Menschen auf dem Balkan nicht nur Frieden gebracht, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern tragen wir auch weiterhin zur Stabilität der Re- NEN]: Das ist richtig!) gion bei. Der Einsatz im Kosovo zeigt, wie wichtig es ist, Streitkräfte zum richtigen Zeitpunkt und in geeigne- Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich ter Weise zum Einsatz zu bringen. aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den internationalen Verflechtungen unseres Landes und un- Die Wahrung unserer nationalen Interessen und die serer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung ist und rohstoffarme Exportnation. Auch Bündnisinteressen nicht eine Aufgabe für die Bundeswehr alleine. Der Ein- sind meist zugleich unsere nationalen Sicherheitsinteres- satz von Streitkräften muss nicht immer als zeitlich letz- sen. Sicherheit für unser Land zu gewährleisten, bedeu- tes Mittel erfolgen. Er darf aber immer nur dann erfol- tet heute insbesondere, Auswirkungen von Krisen und gen, wenn es keine geeigneteren Mittel gibt, um den Konflikten möglichst auf Distanz zu halten und sich ak- Einsatzauftrag zu erfüllen. tiv an deren Vorbeugung und Einhegung zu beteiligen. Das Konzept der vernetzten Sicherheit setzt konse- Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbst- quent auf einen ressortgemeinsamen Einsatz. Wer zur in- behauptungswillens und staatlicher Souveränität zur ternationalen Sicherheit beitragen will, kann dies nur, Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum natio- wenn die Instrumente richtig aufgestellt sind und in- naler Handlungsinstrumente im Rahmen des Völker- einandergreifen. Wer etwa einen von inneren Konflikten rechts einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von geschundenen Staat stabilisieren will, kann nicht in ers- Streitkräften. ter Linie nur Soldaten einsetzen, sondern muss vielmehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch Entwicklungshelfer, Lehrer, Richter und Polizei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12817

Dr.Bundesminister Thomas de Maizière, Dr. Thomas Bundesminister de Maizière der Verteidigung (A) ausbilder sowie Wirtschaftsförderer zum Einsatz brin- Es ist unsere nationale Zielvorgabe, langfristig zeit- (C) gen. gleich rund 10 000 Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und in mehreren kleineren Einsatzgebieten flexi- Als ich in New York war, hat mich der Satz eines UN- bel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des in- Botschafters eines großen Staates sehr bewegt, der ge- ternationalen Krisenmanagements bereitstellen zu kön- sagt hat: Wir bekommen heutzutage in der Welt in ein nen. Das nennt man den internationalen „Level of Krisengebiet leichter zwei schwere Kampfbataillone als Ambition“. Für den Schutz der Heimat halten wir ausrei- zehn Richter. – Denken wir einmal über diesen Satz chend Kräfte bereit. Zusätzlich setzen wir auf unsere nach, darüber, was dies eigentlich bedeutet und ob wir Reservisten. Ihre Aufgabe wird wichtiger denn je. Insge- nicht, was vernetzte Sicherheit angeht, noch etwas wei- samt soll die Bundeswehr künftig über eine Personal- ter denken müssen. stärke von bis zu 240 000 Angehörigen verfügen, davon Über die Mandate der Bundeswehr entscheidet der bis zu 185 000 Soldaten und 55 000 zivile Mitarbeiter. Deutsche Bundestag. Wer einen Auftrag erteilt und ein entsprechendes Mandat beschließt, der übernimmt Ver- Zur Zahl der Soldaten. Wir planen 170 000 Berufs- antwortung. Verantwortung zu tragen, heißt dann auch und Zeitsoldaten ein, plus rund 5 000 freiwillig Wehr- Mitsorge und Fürsorge für die Bundeswehr, ihre zivilen dienstleistende. Es können bis zu 10 000 weitere freiwil- Mitarbeiter und die Soldaten. Die verfassungsrechtlich lig Wehrdienstleistende hinzukommen. Sie kennen die gebotene Einbindung des Deutschen Bundestages für die Formel, die ich in der letzten Woche so zusammenge- Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte fasst habe: 170 plus 5 plus x. Ich freue mich, wenn über bleibt wichtig. Sie stärkt auch die Soldaten im Einsatz. die 5 000 eingeplanten weitere 10 000 freiwillig Wehr- Zu speziell oder zu eng sollten die Mandate allerdings dienstleistende hinzukommen. Aber ich möchte mit nicht formuliert sein. Die Soldaten vor Ort müssen lage- Blick auf die Bevölkerungsentwicklung lieber sicher angepasst verantwortlich entscheiden können. planen und Erwartungen übertreffen, als Erwartungen nicht erfüllen. Ziel der Neuausrichtung ist es, dass wir über eine leis- tungsfähige Bundeswehr verfügen, die der Politik ein Auch das Ministerium ordnen wir neu. Wir straffen möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen bietet Hierarchieebenen, verringern die Zahl der Ministeriums- und mitten in der Gesellschaft verankert bleibt. Die Auf- mitarbeiter von jetzt über 3 000 auf dann nur noch rund gaben der Bundeswehr sind vielfältig: die Landes- und 2 000. Damit wir diese Ziele erreichen, müssen wir Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO, die interna- gleichzeitig Personal halten, Personal gewinnen und Per- tionale Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung im sonal abbauen. Das wird nicht leicht. Das erfordert neue Rahmen der Vereinten Nationen, die militärische Beteili- Ansätze und Ideen in der Nachwuchsgewinnung, beim (B) gung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Personalumbau und auch beim Personalabbau. Das gilt (D) Verteidigungspolitik der Europäischen Union, die Ret- umso mehr mit Blick auf die Tatsache, dass wir gleich- tung und Evakuierung deutscher Staatsbürger ein- zeitig den Umbau zu einer reinen Freiwilligenarmee zu- schließlich der Geiselbefreiung im Ausland, Einsätze im stande bringen müssen. Rahmen der humanitären Hilfe sowie Unterstützung bei heimischen Katastrophen und Heimatschutz. Das ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neuausrichtung breites Aufgabenspektrum. der Bundeswehr beginnt. In den nächsten sechs bis acht Jahren wird sich die Bundeswehr stärker verändern, als Krisen und Konflikte unterscheiden sich in ihren An- dies vielen heute vielleicht schon bewusst ist. Wir wol- forderungen und treten meist kurzfristig und leider oft len, dass die Hauptveränderungen in den nächsten zwei unvorhergesehen auf. Um sie eindämmen und lösen zu Jahren stattfinden werden. können, müssen wir in der Lage sein, auch über große Distanzen hinweg schnell und variabel einzugreifen. Ein Die Bundeswehr setzt alles daran, ihre starke Bindung dem entsprechendes Fähigkeitsprofil können unsere in die Gesellschaft auszubauen. Dazu setzen wir auch Streitkräfte jedoch heute noch nicht vorweisen. auf unsere Reservisten als Staatsbürger in Uniform. Das Die Bundeswehr ist zudem strukturell unterfinanziert Angebot des freiwilligen Wehrdienstes ist nur ein Bei- für die Aufgaben, die ihr gestellt sind. Sie verfügt nicht spiel dafür, dass auch die neue Bundeswehr das vertritt, über ausreichende Mittel, nicht über ausreichende Fähig- was unsere Soldatinnen und Soldaten heute schon aus- keiten und nicht über optimale Führungsstrukturen, um zeichnet: die Bereitschaft zum Einsatz für andere und die ihre Aufgaben effizient zu erfüllen. Unser Ziel ist des- Bereitschaft zum Dienst für unser Land als Staatsbürger halb eine Bundeswehr, die ihren Auftrag mit den Mit- in Uniform. teln, die sie hat, erfüllen kann, eine Bundeswehr, die Vergessen wir nicht: Während wir hier in Berlin über nachhaltig finanziert ist, und eine Bundeswehr, deren die Neuausrichtung der Bundeswehr diskutieren, erfül- Personalplanung demografiefest ist, also Rücksicht len Soldaten der Bundeswehr gleichzeitig weiterhin die nimmt auf das, was an Menschen da ist. bestehenden Einsatzverpflichtungen – in Afghanistan, Wir setzen auf ein breites Fähigkeitsprofil der Bun- im Libanon, auf dem Balkan, in Afrika und an anderen deswehr. Das neue Fähigkeitsprofil gibt eine Antwort Orten weltweit. Diese Einsätze und das Tagesgeschäft auf die Frage, was wir können wollen, nachdem die Si- können nicht ruhen, während wir die Neuausrichtung der cherheitspolitik die Antwort auf die Frage gegeben hat, Bundeswehr planen. Auch das muss gleichzeitig erfol- was wir wollen können. gen. 12818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr.Bundesminister Thomas de Maizière, Dr. Thomas Bundesminister de Maizière der Verteidigung (A) Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten bei der Er- Die Bundeswehr leistet eine gute Arbeit. Wir sollten (C) füllung der von uns erteilten Mandate einen hervorra- bei der Reformdebatte nicht so tun, als ob man mit allem genden Dienst, häufig unter Einsatz ihres Lebens und neu beginnen müsste. Bei der Bundeswehr gibt es viel Gefahren für ihre Gesundheit. Heute gedenken wir des- Vernünftiges; es ist ein Niveau, das sich im Vergleich zu wegen besonders des vor zwei Tagen gefallenen Kame- unseren internationalen Partnern wirklich sehen lassen raden und seiner Angehörigen. kann. Trotzdem ist es richtig: Es muss immer wieder neu bedacht werden, inwieweit sich die Welt verändert hat Meine Damen und Herren, dass unsere Streitkräfte und die Herausforderungen, auch für die Truppe, neue vollumfänglich in der Lage sind, zu kämpfen, ist auch und andere sind. Wir wissen aber auch: Die Debatte der die Maßgabe dafür, ob unsere Bundeswehr einsatzbereit letzten Monate dauert eigentlich schon ein wenig zu ist. Die Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr wie- lang; sie schlägt natürlich auch auf die Motivation der derum ist die Maßgabe dafür, ob wir als Deutscher Bun- Soldaten durch, die jetzt dringend Klarheit für sich und destag unserer Verantwortung nachkommen – gegenüber ihre Familien brauchen. den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, gegen- über den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und Herr Minister, ich finde es gut, dass Sie hier eine De- gegenüber den Freunden und Partnern in der Welt. batte über nationale Interessen und die Legitimation von Einsätzen führen. Wir nehmen daran gerne teil. Ich Die Umsetzung beginnt. Der Grund ist gelegt. Die glaube, das ist in Deutschland in der Vergangenheit zu Feinplanung ist in Arbeit. Im Herbst lege ich die Details kurz gekommen. Dazu gehört aber noch etwas anderes: zu den Fähigkeiten der Bundeswehr im Einzelnen, zum Es muss deutlich werden, dass Sicherheitspolitik und neuen Personalsoll und das Stationierungskonzept vor. Verantwortung für die Streitkräfte eben nicht nur Sache Mit der Verabschiedung des Haushalts in diesem der Verteidigungspolitik sind, sondern die gesamte Re- Sommer besteht dann auch im Detail Klarheit über die gierung hier in der Verantwortung steht. Wenn man ge- Finanzierung. nau zugehört hat, hatte man den Eindruck: Vieles von Wir können diesen Auftrag am besten erfüllen, wenn dem, was Sie gesagt haben, ist eigentlich Aufgabe des wir ihn gemeinsam wahrnehmen: Bundesregierung, Außenministers. Es wäre auch Aufgabe der Kanzlerin, in Deutscher Bundestag, Bundesrat und die deutsche Öf- den internationalen Organisationen das Gewicht Deutsch- fentlichkeit. Die Bundeswehr reicht der Öffentlichkeit lands einzubringen und Prozesse anzustoßen. Dazu ist die Hand. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit diese Hand diese Regierung in den letzten Monaten leider in keiner annimmt und gemeinsam daran arbeitet, dass die Neu- Weise in der Lage gewesen. ausrichtung der Bundeswehr gelingt. So dienen wir (Beifall bei der SPD) Deutschland, so schützen wir die Menschen in unserem (B) Land, so sorgen wir für unsere Sicherheit. Wenn wir über die Legitimation von Einsätzen reden, (D) Vielen Dank. ist es sicherlich richtig: Deutschland hat als wirtschafts- starkes Land eine ethische Verantwortung. Es kann nicht (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und einfach zuschauen, wenn in der Welt Völkermord statt- der FDP) findet – das ist richtig –, und natürlich haben wir wohl- verstandene Stabilitätsinteressen. Das bedeutet aller- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dings auch, dass man nicht immer Ja sagt, und das Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen bedeutet, dass man sich vor dem Hintergrund dieser Sta- Rainer Arnold für die SPD-Fraktion das Wort. bilitätsinteressen insbesondere der Umbruchsituation im nördlichen Afrika in anderer Art und Weise stellt, als die (Beifall bei der SPD) Bundesregierung dies in den letzten Wochen getan hat. Natürlich kann man auch über wohlverstandene Wirt- Rainer Arnold (SPD): schaftsinteressen reden. Das heißt nicht, dass sie gegen Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! andere gerichtet sind, sondern das bedeutet vielmehr: Herr Minister, es ist gut, dass mit Ihrer Amtsübernahme Stabilität als Voraussetzung für fairen Handel, von dem ein Stück weit Vernunft und Sachlichkeit in die Arbeit die Menschen in Deutschland, aber auch in den Ländern, zurückgekehrt sind. Seither wird noch deutlicher, wie mit denen wir handeln, große Vorteile haben. Das ist da- oberflächlich vor Ihrer Amtsübernahme leider monate- mit gemeint. Dann ist das auch in Ordnung. lang mit dem ernsten Thema Bundeswehr umgegangen wurde. Sie haben etwas Neues hinzugefügt. Sie haben gesagt: Dieses reiche Land muss möglicherweise auch ohne un- (Beifall bei der SPD) mittelbare Interessen agieren. – Ja. Ich glaube aber nicht, Hier geht es für uns um etwas ganz Wichtiges: Parla- dass Deutschland in diesen Fällen keine Interessen hat. mentsarmee bedeutet, dass sich alle Fraktionen, Regie- Deutschland hat ein Interesse daran, internationale Pro- rungskoalition und Opposition, der gemeinsamen Ver- zesse wirklich gestalten zu können. Auch das ist ein antwortung für die Soldaten stellen, die wir miteinander wohlverstandenes Interesse. Erinnern wir uns daran, in gefährliche und schwierige Einsätze entsenden. Diese dass wir Soldaten nach Osttimor geschickt haben. Ost- gemeinsame Verantwortung wird gerade auch in diesen timor liegt nicht vor unserer Haustür. Damals hatten wir Tagen sehr deutlich, wenn wir an die Familie denken, die großes Interesse an der Beilegung des Konfliktes. Es ihren Sohn verloren hat, und an die anderen Familien, muss weiterhin unser Ziel sein, die Idee der Vereinten die hoffen, dass ihre Kinder bald wieder genesen. Nationen zu stärken, dass das Gewaltmonopol aus- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12819

Rainer Arnold (A) schließlich bei den Vereinten Nationen liegt. Deshalb denn erst dann werden die Probleme deutlich zutage tre- (C) war der Einsatz in Osttimor legitim. Das ist eine richtige ten. und sinnvolle Debatte. Herr Minister, Sie haben ein zweites Problem. Am Es gibt noch ein paar weitere positive Dinge, die ich letzten Mittwoch haben Sie die Erwartung geweckt, Sie nennen möchte, bevor ich zu der eigentlichen Opposi- würden die Öffentlichkeit und die Soldaten endlich da- tionsaufgabe komme und die kritischen Punkte heraus- rüber informieren, wie Sie das fiskalische Loch auffüllen stelle. Herr Minister, Sie haben sich die Struktur des wollen. Darauf haben alle gewartet. Ihre erste Reaktion Ministeriums genau angeschaut und ein paar gravierende aber war, zu sagen: Ich verstehe mich gut mit dem Fehler, die Ihr Vorgänger begangen hat, korrigiert. Das Finanzminister. – Das ist prima, das glauben wir Ihnen ist in Ordnung. Wenn in einem Ministerium manche auch. Ihre zweite Antwort war: Das regeln wir in der Dinge nicht gut laufen, liegt das meistens nicht an den Haushaltsdebatte. – Das regeln wir jedes Jahr in der Mitarbeitern, sondern an den Strukturen, die Politik vor- Haushaltsdebatte, das ist etwas ganz Normales. Sie kom- gegeben hat und die sie selbstverständlich auch wieder men nicht weiter, weil Sie einen Koalitionspartner ha- ändern kann. Wir unterstützen Sie auf dem Weg, die Ent- ben, dem Sparen um jeden Preis wichtiger ist als eine scheidungsprozesse im Ministerium zu straffen. verantwortungsvolle Sicherheitspolitik, und zwar des- halb, weil Steuersenkungen nach wie vor im Mittelpunkt Zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Was hat der FDP-Politik stehen. sich in der Welt eigentlich verändert? In den letzten zwei, drei Jahren doch nicht so viel. Deshalb enthalten (Zurufe von der CDU/CSU) die Verteidigungspolitischen Richtlinien auch nicht so viel Neues; Sie brechen vielmehr das Weißbuch der alten Wenn jetzt einige Kollegen von der CSU schreien, muss Bundesregierung auf die Verteidigungspolitischen Richt- ich Sie daran erinnern: Sie dürfen nicht klagen, dass linien herunter. Geändert hat sich eigentlich nur, dass wir Standorte geschlossen werden, wenn Sie gleichzeitig der erkannt haben: Der Einsatz in Afghanistan ist viel Auffassung sind, dass die Senkung der Steuern für Ihre schwieriger, als wir uns das am Anfang vorgestellt ha- Hoteliers in Bayern wichtiger ist als eine seriöse Finanz- ben. Ebenfalls geändert hat sich, dass die Schulden- ausstattung der Bundeswehr. bremse uns alle zwingt, ein Stück weit auf die Haus- (Beifall bei der SPD) haltssituation zu achten. Herr Minister, unsere Erwartung ist: Finanzieren Sie die Die Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen aber Bundeswehrreform seriös. Wenn dies nicht gelingt, wer- auch ein Defizit auf. Bisher war die Feststellung, dass den die Soldaten kein Vertrauen in weitere Reform- Deutschland im Rahmen der internationalen Politik Mo- schritte haben, und ohne Vertrauen werden Sie die not- (B) tor der Rüstungskontrolle und Abrüstung ist, ein wichti- wendige Motivation nicht erzeugen können. (D) ger Punkt in den VPR. Wir finden es sehr bedauerlich, dass sich das in dem neuen Buch nicht wiederfindet. Lassen Sie mich auch etwas zum Umfang der Bundeswehr sagen, Herr Minister. Sie sprachen von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 170 000 Zeit- und Berufssoldaten. Das ist knapp, das ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf Kante genäht. Ich glaube, das wissen alle. Aber wir Aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien kann der können da mitgehen – allerdings unter einer Vorausset- Umfang der Streitkräfte nicht abgeleitet werden. In zung: Die Zahl muss eindeutig und klar sein. Dahin ge- Wirklichkeit beinhaltet diese Reform nichts anderes als hend bitten wir Sie um Korrektur. Sie beziehen bei den die Aussetzung der Wehrpflicht und eine deutliche Re- 170 000 Zeit- und Berufssoldaten auch die Reservisten duzierung des Personalkörpers. Dies steht bis zum heuti- ein, ohne auszuweisen, um wie viele Zeit- und Berufs- gen Tag im Mittelpunkt der Reform. soldaten bzw. Reservisten es sich dabei handelt. Das ent- spricht eigentlich nicht Ihrer sonstigen Vorgehensweise. Diese Reform ist auch nicht in erster Linie sicher- Unsere Bitte ist, bei den 170 000 Zeit- und Berufssolda- heitspolitisch getrieben; sie ist nun mal fiskalisch getrie- ten, wie bisher, die Reservisten getrennt auszuweisen, ben. Dies war der Auslöser. Herr Minister, Sie sind in und zwar mit Dienstposten. Das ist notwendig und wäre eine Falle getreten, die Sie selbst mit aufgestellt haben. auch richtig. Die Bundeswehr hat entsprechend der laufenden Haus- haltsplanung von Jahr zu Jahr Sparmaßnahmen im Um- Herr Minister, Sie sprachen davon, dass die Bundes- fang von 700 Millionen Euro zu erbringen. Hinzu kom- wehr mitten in der Gesellschaft bleiben soll. Ja, das ist men Preissteigerungen und Betriebskostensteigerungen. unser gemeinsames Anliegen und entspricht unserem Dann hat diese Regierung gesagt: Wir müssen auf das Bild von Streitkräften in der Demokratie. Dazu braucht bereits geplante Sparvolumen noch einmal 8,3 Milliar- die Bundeswehr nicht nur eine große Zahl von Köpfen, den Euro draufsatteln. – Herr Minister, Sie haben dem sondern sie braucht vor allen Dingen die richtigen Men- zugestimmt. Ich sage Ihnen: Das ist eine Luftbuchung. schen bei den Streitkräften. Das ist die große Herausfor- Das ist angesichts dessen, was Sie vorsehen, überhaupt derung. nicht realisierbar. Vor allen Dingen finde ich es nicht in Hier machen Sie einen weiteren Fehler, Herr Minister. Ordnung, dass Sie dieses Problem der nächsten Bundes- Es gab die richtige Idee, mit der Aussetzung des Wehr- regierung vor die Tür legen; dienstes einen freiwilligen Wehrdienst einzuführen. Da- ( [SPD]: Das sind wir, Mensch! mit könnte es uns wie bisher gelingen, die gesamte ge- Der schafft wieder unsere Probleme hier!) sellschaftliche Breite anzusprechen und junge Menschen 12820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Rainer Arnold (A) aus allen sozialen Schichten für die Bundeswehr zu ge- sich deutlich gezeigt: Je weniger Soldaten es gibt, umso (C) winnen. Die Zahlen sehen im Augenblick eher positiv mehr Unterstützung durch zivile Mitarbeiter – vor allen aus. Da hatten Sie im Verteidigungsausschuss recht, Herr Dingen im anspruchsvollen technischen Bereich – ist Minister; wir haben uns von den Zahlen überzeugt. Bei notwendig. Überdenken Sie diese Zahlen noch einmal. den jungen Menschen ist die Bereitschaft für den Frei- Wir haben den Eindruck, dass es hier nur um eine Schät- willigendienst vorhanden. Leider wird dieses Projekt zung geht und es keine seriöse Planung gibt. Wenn Sie von der Regierung in der ganzen Breite der Jugendfrei- zu sehr kürzen, werden Sie am Ende merken, wie not- willigendienste, von der Bundeswehr bis hin zum sozia- wendig die zivilen Beschäftigten sind. len Bereich, völlig unengagiert und uninspiriert ange- Lassen Sie mich zum Schluss Ihr Angebot annehmen. gangen. Den jungen Menschen wird lediglich ein liebloser Brief bzw. ein Flyer zugeschickt. Das reicht nicht aus. Es muss ein Projekt der Politik werden, Ju- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gendfreiwilligendienste attraktiv zu machen, und zwar Sie müssen wirklich zum Schluss kommen, Herr Kol- sowohl ideell als auch materiell. Unser dringender Rat lege. lautet: Werfen Sie einen Blick in die Bundesländer. Schauen Sie sich beispielsweise die guten Vorschläge Rainer Arnold (SPD): aus Rheinland-Pfalz an. Ich komme zum Schluss. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oijoijoi!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie brauchen die Bundesländer, wenn Sie diese Idee ins Herr Minister, wenn Sie an diesen Stellen nachjustie- Bildungssystem implementieren wollen. Sie brauchen ren, kann es in der Tat so sein, dass die Sozialdemokra- ebenso den Städte- und Gemeindetag, um aus dieser ten diese Reform am Ende politisch mittragen; aber die grundsätzlich guten Idee eine Anerkennungskultur zu von mir skizzierten Punkte sind unabdingbar. Ich glaube, entwickeln. die Reform würde besser, wenn Sie hier zuhören; sie Aber nichts passiert, Herr Minister. Das mangelnde würde besser für unsere Gesellschaft, für deutsche Si- Engagement erkennt man an dem, was Sie selbst vorge- cherheitsinteressen und auch für die Soldaten. tragen haben. Die ursprüngliche Idee war es, 15 000 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dienstposten zu schaffen. Diese Zahl haben Sie bereits auf 5 000 reduziert, und jetzt warten Sie ab, ob noch (Beifall bei der SPD) mehr dazukommen. Nein, Herr Minister, Sie müssen 15 000 Freiwillige wollen und alles dafür tun, dass sie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (B) auch kommen. Das ist Ihre Aufgabe. Das Wort hat nun Kollegin Elke Hoff für die FDP- (D) (Beifall bei der SPD) Fraktion. Deshalb muss auch an dieser Stelle nachjustiert werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Wichtigste in den nächsten Jahren aber wird sein, den Soldatenberuf unter veränderten demografischen Elke Hoff (FDP): Voraussetzungen und einer veränderten Wirtschaft mit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! mehr Wettbewerb um die klugen jungen Leute attraktiv Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her- zu halten. In einer Schublade im Ministerium liegen seit ren! Herr Minister, lassen Sie auch mich zu Beginn mei- Jahren 82 Vorschläge für ein Attraktivitätsprogramm. ner Rede Ihnen im Namen der FDP-Fraktion unsere Wir erwarten nicht, dass diese über Nacht umgesetzt herzliche Anteilnahme am Tod eines jungen Hauptman- werden. Wir erwarten aber, dass Prioritäten gesetzt wer- nes im Einsatz zum Ausdruck bringen. Auch wir sind in den und dass den Soldaten und den potenziellen Bewer- Gedanken bei der Familie, den Angehörigen und den bern genau erklärt wird, welche Attraktivitätsschritte in Freunden. den nächsten Jahren unternommen werden. Das wird Geld kosten; das gehört zur Wirklichkeit. Wenn wir die- Ich glaube, es wird in dieser schwierigen Zeit in ses Attraktivitätsprogramm jetzt nicht aufs Gleis setzen, Afghanistan nicht das letzte Mal sein, dass wir uns damit werden wir in 10 bis 15 Jahren vielleicht noch die aus- auseinandersetzen müssen. Deswegen ist es so wichtig, reichende Zahl von Köpfen bei der Bundeswehr haben, dass Sie heute in dieser Debatte einen Akzent gesetzt ha- wir werden jedoch eine andere Bundeswehr haben. Wir ben, der über den Alltag hinausgeht. Wir diskutieren werden nicht mehr die Bundeswehr haben, auf die wir so heute nicht nur darüber, wie die Strukturen der Bundes- stolz sein können, weil sie die Prinzipien vom Staatsbür- wehr in Zukunft aussehen sollen, wir diskutieren auch ger in Uniform und der Inneren Führung durchgängig nicht nur über die Wehrform oder über die Attraktivität von den Generälen bis zu den Mannschaften lebt und der Streitkräfte, sondern wir diskutieren auch über das versteht. Daher ist die Attraktivitätssteigerung für uns veränderte sicherheitspolitische Umfeld weltweit, in das die zentrale Herausforderung. wir unsere Streitkräfte in den nächsten Jahren entsenden werden. Letzter Punkt. Herr Minister, kürzen Sie die Zahl der Zivilbeschäftigten nicht so stark wie vorgesehen! Bei al- Sie haben mit der Vorlage der Verteidigungspoliti- len Armeen, die ihre Streitkräfte verkleinert haben, zum schen Richtlinien etwas getan, das von vielen Soldatin- Beispiel Frankreich, Großbritannien und die USA, hat nen und Soldaten im Einsatz in Gesprächen vor Ort im- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12821

Elke Hoff (A) mer wieder gefordert wird: Erklärt uns, warum wir vom Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, an dieser (C) Deutschen Bundestag in einen Einsatz geschickt wer- Stelle darauf einzugehen. Sie haben klugerweise immer den! – Ich glaube, es ist sehr wichtig, an dieser Stelle zu wieder darauf hingewiesen, dass die Reform der Struktur erwähnen, dass die zukünftigen Herausforderungen in der Streitkräfte nicht nur in finanzieller Hinsicht und der Sicherheitspolitik weit von dem entfernt sind, wofür nicht nur durch die bestehenden Herausforderungen de- die Streitkräfte seinerzeit in der Bundesrepublik terminiert ist, sondern auch durch die demografische Deutschland aufgestellt worden sind. Die Sicherheits- Entwicklung. Wir müssen uns darauf einstellen, dass lage hat sich verändert; der symmetrische Krieg von da- sich in Zukunft nicht mehr so viele junge Männer und mals hat sich zu einer asymmetrischen Herausforderung Frauen für den Dienst an der Waffe entscheiden werden, entwickelt. Das bedeutet, dass auch die Herausforderun- wie es in der Vergangenheit der Fall war. gen für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz mehr denn je davon abhängen, welche Rückendeckung Vor diesem Hintergrund kommt der Attraktivität des sie von der Politik haben und wie klar der Auftrag ist, Soldatenberufes eine erhebliche Bedeutung zu. Die Re- mit dem sie in Einsätze gesendet werden. gierungsfraktionen und die Bundesregierung haben sehr klare Vorstellungen davon, wie die Attraktivität der Bun- Meines Erachtens müssen wir auch viel intensiver da- deswehr gesteigert werden kann. Ich glaube, dass auch rüber diskutieren, dass die Zivilbevölkerung in den je- die Opposition bereit ist, sich konstruktiv in diese Dis- weiligen Krisengebieten immer mehr zum Mitstreiter, kussion einzubringen und die notwendigen Entscheidun- zur Zielgruppe, zur Partei, zum Beteiligten in Konflikten gen im Sinne der Bundeswehr und der deutschen Sicher- wird. Das heißt, unsere Soldatinnen und Soldaten wer- heitspolitik mitzutragen. So habe ich Sie, Herr Kollege den in ein Umfeld geschickt, das unklar ist. Die Fähig- Arnold, trotz aller Kritik, die Sie geäußert haben, ver- keiten, die sie in Zukunft brauchen werden, dürfen daher standen. nicht allein den Umgang mit militärischem Gerät be- inhalten. Sie müssen weitere Qualifikationen haben, zum Wir diskutieren heute nicht zum letzten Mal darüber, Beispiel kulturelle Kompetenz, Sprachfähigkeiten und wie die Bundeswehr der Zukunft aussieht. Für meine die Fähigkeit, sich mit zivilen Beschäftigten vor Ort zu Begriffe müsste die heutige Diskussion eigentlich der vernetzen. Sie müssen auch den vernetzten Ansatz, den Beginn einer breiten sicherheitspolitischen Debatte sein. Sie hier mit Recht deutlich hervorgehoben haben, voran- Wir dürfen nicht den Fehler machen, lediglich zum Aus- bringen. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur das druck zu bringen: Ja, wir werden die Bundeswehr in Zu- militärische Portfolio und das militärische Spektrum ei- kunft in internationale Einsätze schicken. – Das reicht nes Einsatzes der Bundeswehr festlegen, sondern weit nicht aus. Wir müssen uns auch fragen: Kann sie das darüber hinausgehen müssen. Ich darf an dieser Stelle leisten? Können wir die notwendigen zivilen und militä- (B) eine persönliche Bemerkung machen: Ich glaube, dass rischen Fähigkeiten überhaupt bereitstellen? Wann über- (D) wir über kurz oder lang nicht an der Definition einer na- fordern wir unser eigenes Gemeinwesen, wenn es darum tionalen Sicherheitsstrategie vorbeikommen werden, geht, in Konfliktregionen dieser Welt zu intervenieren und sich dort einzusetzen? Ich glaube, dass wir es nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur uns selbst, sondern auch der Bevölkerung schuldig der CDU/CSU) sind, ganz klar zu sagen, was wir können und was wir nicht können. weil die Herausforderungen ungleich größer werden. Wir haben in letzter Zeit, gerade in der Diskussion Wir müssen uns auch damit befassen, die Legitima- über Libyen, viel über „responsibility to protect“ gespro- tion zukünftiger Einsätze der Bundeswehr durch zwei chen. Das klingt sehr gut, und das ist ein hehrer morali- wichtige Komponenten zu ergänzen: Erstens bedarf es scher Anspruch. Dennoch sollten wir gleichzeitig auch der Legitimität der Zivilbevölkerung im Einsatzland, an „ability to protect“ denken. Verfügen wir tatsächlich zweitens aber auch der Unterstützung und der Legitimi- über die notwendigen Fähigkeiten? Wenn es um den tät der entsendenden Nation. Das heißt, die Erklärung, Einsatz unserer Streitkräfte geht, dürfen wir nicht Emo- warum wir uns an einem Einsatz beteiligen, ist meines tionen zur Grundlage unserer Entscheidung machen. Es Erachtens wichtiger und notwendiger denn je, insbeson- darf nicht so sein, dass wir dort tätig werden, wo die dere dann, wenn das, was Sie, Herr Minister, vorgetra- meisten Fernsehbilder entstehen und wo die mediale gen haben, zutrifft: wenn ein originäres nationales Inte- Aufmerksamkeit am größten ist. Vielmehr müssen wir resse möglicherweise nicht so klar zu definieren ist, wie bei unserer Entscheidung bedenken: Wo haben wir ein es in der Vergangenheit der Fall war. Interesse? Wo können wir helfen? Haben wir die Mittel? Was ist das Ziel, was soll am Ende herauskommen? Es Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in Zukunft ist nämlich leichter, einen militärischen Konflikt zu be- auf internationaler Ebene auch über die Frage diskutie- ginnen, als ihn zu beenden. ren müssen: Wie definieren wir den Status eines Kom- battanten? Neue Technologien und neue Herausforde- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rungen führen dazu, dass die Zivilisierung auch der CDU/CSU) militärischer Fähigkeiten immer weiter voranschreitet. Die Frage „Was sind die Sicherheitsherausforderungen Ich glaube, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten des 21. Jahrhunderts?“ geht weit über das hinaus, wo- schuldig sind, sehr genau zu erwägen, in welches Szena- rüber wir hier und heute in Bezug auf die zukünftige rio wir sie schicken, weil sie es am Ende sind, die den Struktur der Bundeswehr diskutieren. ultimativen Preis dafür bezahlen müssen, wenn wir eine 12822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Elke Hoff (A) sicherheitspolitische Fehleinschätzung vorgenommen ha- Die Grundrichtung stimmt nicht. Sie wollen die Per- (C) ben. sonalstärke der Streitkräfte zwar verringern; aber den Anteil der Soldatinnen und Soldaten, die dauerhaft in Ich möchte meine Rede mit den Worten des berühm- Auslandseinsätzen kämpfen können, wollen Sie noch er- ten chinesischen Generals und Militärphilosophen Sun höhen. Wofür? Wozu? Unter welchen Voraussetzungen? Tzu beenden. Er hat gesagt: Das bleibt unklar, Hauptsache: allzeit bereit – und das Die Kunst des Krieges ist für den Staat von ent- weltweit. scheidender Bedeutung. Sie ist eine Angelegenheit Wenn Sie auch noch sagen: „Wir wollen eine Bundes- von Leben und Tod, eine Straße, die zur Sicherheit wehr zur Sicherung der außenpolitischen Handlungsfä- oder in den Untergang führt. Deshalb darf sie unter higkeit des Landes“ – das sagen Sie so –, dann ist das in keinen Umständen vernachlässigt werden. unseren Augen nichts weiter als ein Blankoscheck für Vielen Dank. Interventionismus, und dafür gilt: Ohne uns! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien sind Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – man muss es so sagen – ein alter Hut. Sie beschwören Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion wieder einmal die bekannten diffusen Risiken, denen wir Die Linke. zukünftig ausgesetzt sein werden – Flüchtlingsströme, knapper werdende Rohstoffe, Weiterverbreitung von (Beifall bei der LINKEN) Atomwaffen –, und präsentieren wieder nur die alte Ant- wort, dass man in der Lage sein müsse, diesen Risiken Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): auch militärisch zu begegnen. Unsere Antwort ist eine an- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- dere: Die neuen globalen Probleme können nachhaltig ren! Natürlich ist man froh, wenn ein Bundesminister nur mit nichtmilitärischen, das heißt mit zivilen Mitteln der Verteidigung sich seriös und weniger glamourös prä- und mit einer Politik globaler Gerechtigkeit gelöst wer- sentiert. den. Das ist das, für das sich die Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) land im UNO-Sicherheitsrat stark machen müsste. Aber nicht auf die Inszenierung, auf die Inhalte kommt (Beifall bei der LINKEN) es an, und die sind falsch – bei zu Guttenberg wie bei de Neu, Herr Minister, ist allenfalls die Tonlage, mit der Maizière. Sie über den Zusammenhang von Militär und wirtschaft- (B) (Beifall bei der LINKEN) lichen Interessen reden. Sie haben bei der Präsentation (D) der Verteidigungspolitischen Richtlinien gesagt, unser Herr Minister, Sie wollen eine Armee, die weltweit Platz in der Welt werde dadurch bestimmt, dass wir von einsetzbar ist, die im Zweifelsfall auch Krieg führen soll Rohstoffen und Exporten abhängig seien, und dann un- und die auch ein Instrument durch Durchsetzung macht- verblümt festgestellt – ich zitiere –: und wirtschaftspolitischer Interessen sein kann. Das al- Wir haben ein nationales Interesse am Zugang zu les halten wir für falsch. Wasser, zu Lande und in der Luft. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! So ist Sie reden, Herr Minister, von einer Neuausrichtung das!) der Bundeswehr. Doch davon kann überhaupt keine Das ist kühn. Meinen Sie das auch weltweit? Sie sollten Rede sein. Sie setzen den unter SPD und Grünen begon- schon höllisch aufpassen, wenn Sie eine solch aggres- nenen Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee fort. sive, zumindest missverständliche Sprache gebrauchen. Eine wirkliche Reform müsste innehalten und eine kriti- Die Linke will jedenfalls nicht, dass Bundeswehrsolda- sche, schonungslose Bilanz der Auslandseinsätze ziehen. ten für Wirtschaftskriege in Marsch gesetzt werden. Das Daraus müssten Schlüsse gezogen werden. Aber genau ist mit uns nicht zu machen. das tun Sie nicht. Die Bundeswehr ist seit zehn Jahren im Einsatz im Afghanistan. Ein Ende ist nicht absehbar. (Beifall bei der LINKEN) Die Sicherheitslage hat sich von Jahr zu Jahr verschlech- Es geht uns also nicht darum, die vorhandenen Struktu- tert. Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich. Für den ren zu optimieren; es geht darum, sie zu revidieren. Dazu Einsatz wird eine Riesenmenge an Geld und Ressourcen haben wir unsere Position als Bundestagsfraktion kon- benötigt. Deshalb kann man sagen: Afghanistan ist keine kretisiert. Blaupause für künftige Bundeswehreinsätze; es ist ein abschreckendes Beispiel. An erster Stelle steht für uns die Rückbesinnung auf den Auftrag in Art. 87 a des Grundgesetzes: (Beifall bei der LINKEN) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Die Lektion lautet: Man kann mit militärischen Mitteln den Terrorismus nicht schlagen und auch keine Nationen Davon ist auch unsere zweite Forderung bestimmt: aufbauen. Aber Sie machen weiter, haben jetzt sogar Die Bundeswehr sollte in ihren Strukturen auf Defensive noch Pakistan als möglichen neuen Einsatzort ins Ge- ausgerichtet sein. Das heißt, wir brauchen keine verleg- spräch gebracht. Da wird einem angst und bange. baren Hauptquartiere und keine Einsatzverbände, die, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12823

Paul Schäfer (Köln) (A) 6 000 Kilometer oder weiter entfernt, in anderen Staaten Volker Kauder (CDU/CSU): (C) Operationen durchführen können. Milliardenschweres Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Gerät wie den Jagdbomber Eurofighter brauchen wir Herren! Wir haben heute Morgen hier im Deutschen auch nicht. Bundestag eine bemerkenswerte Regierungserklärung erlebt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wenn der Satz gilt, dass wir auf absehbare Zeit nicht [SPD]: Das haben Sie bei militärisch bedroht sind, dann heißt das drittens: Wir Guttenberg auch schon gesagt!) können den Umfang der Streitkräfte erheblich reduzie- ren, wir sagen: um die Hälfte. Eine Bundeswehr mit In Nüchternheit und Klarheit und mit bestechender logi- 125 000 Soldatinnen und Soldaten reicht aus, um die scher Konsequenz wird die Bundeswehr in eine neue Aufgaben der Landesverteidigung wahrzunehmen. Zeit geführt. Herr Minister, herzlichen Dank dafür! Viertens. Unser Konzept der zukünftigen Bundeswehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ist eng verknüpft mit einer stärkeren Demokratisierung, Michael Groschek [SPD]: Endlich!) mehr Zivilität, mehr Parlamentsheer. Es geht schlicht da- Bei der Regierungserklärung des Verteidigungsministers rum, dass die Bundeswehr, will sie in der Gesellschaft ist deutlich geworden – so viel zu den kritischen Anmer- verankert bleiben, auch die Normen und Werte dieser kungen zum Verhältnis von Außenministerium und Ver- Gesellschaft verinnerlichen muss. Wir reden von Bin- teidigungsministerium –, dass die Bundeswehr in das au- dung an Recht und Gesetz, ebenso wie von soldatischer ßenpolitische Konzept der Bundesregierung eingebettet Interessenvertretung und humaner Menschenführung; da ist und dass es da eine gemeinsame Politik und Strategie ist noch viel zu tun. gibt. Fünftens. Wir sagen klar Nein zur Ausweitung der (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundeswehreinsätze im Innern. Bewaffnete Einsätze im NEN]: Es ist umgekehrt, Herr Kauder!) Innern müssen grundsätzlich tabu bleiben. – Warten Sie einmal ab. Es ist nicht so, wie Sie es gern (Beifall bei der LINKEN) hätten. Ich schildere, wie es tatsächlich ist. Der weiteren Vermischung von Zivilem und Militäri- (Beifall bei der CDU/CSU) schem ist ein Riegel vorzuschieben. Katastrophenschutz ist eine zivile Angelegenheit, und dafür müssen dort die Außenpolitik und Verteidigungspolitik bilden in unserer Kapazitäten ausgebaut werden. Regierung eine Einheit. (B) (Beifall bei der LINKEN) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) SES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜND- Mit das Beste an unserem Bundeswehrkonzept ist: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Eine solche Reform wäre finanzierbar. Sie würde Mittel freisetzen für soziale und entwicklungspolitische Be- Das bedeutet, dass in der Außenpolitik und in der Vertei- lange, auch für solide Konversionsprogramme, womit digungspolitik gemeinsam die Ziele formuliert werden, man den Kommunen helfen würde, und auch für das die für uns wichtig sind. Bundeswehrpersonal stünde mehr Geld zur Verfügung. Thomas de Maizière hat gesagt, dass die Bundeswehr Ihre Sparvorgabe von 8,3 Milliarden Euro kann man in- die Aufgaben erfüllen muss, die wir politisch formuliert zwischen getrost vergessen. Sie werden noch genug haben. Sie hat natürlich zum einen die Sicherheit unseres schieben, tricksen und täuschen, um das Geld zusam- Landes zu gewährleisten; zum anderen hat sie die Auf- menzubekommen. Das wird nicht funktionieren. gaben zu erfüllen, die im Rahmen unserer Bündnisver- Dass – diese Bemerkung kann ich mir am Schluss pflichtung, wie Thomas de Maizière es formuliert hat, nicht verkneifen – die SPD mit dieser Reform nur ein auf uns zukommen und die wir bisher nicht immer so Problem zu haben scheint, nämlich dass man noch mehr deutlich in der Öffentlichkeit haben darstellen können. Geld in das System Bundeswehr stecken muss, ist für Wir sind in das System sowohl der UNO als auch der eine Partei, die sich einmal zu Frieden und Abrüstung NATO eingebettet. Hier erfüllen wir unsere Aufgaben. verpflichtet hat, kläglich. Die Bundeswehr leistet einen Beitrag zur Friedenssiche- rung, und das hat eine ganz andere Bedeutung als früher. (Beifall bei der LINKEN) Die Friedenssicherung findet nämlich nicht mehr aus- Wir als Linke werden den Zielen Abrüstung und Frie- schließlich in unserem Land statt. Unser Frieden ist viel- den jedenfalls weiterhin verpflichtet bleiben. mehr durch vielfältige, auch terroristische Aktionen auf der ganzen Welt bedroht. Wer hier für Frieden und Si- Danke schön. cherheit sorgen will, kann keine Bundeswehr aufstellen, (Beifall bei der LINKEN) die ihre Arbeit nur im eigenen Land verrichtet. Das ist unsere Botschaft. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSU- Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Bun- Fraktion. deswehr über ihren Auftrag hinaus tätig wird. Im Übri- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen waren es Sie von den Grünen und den Roten, die die 12824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Volker Kauder (A) Bundeswehr zum ersten Mal im Ausland eingesetzt ha- tun. Deswegen sage ich einen herzlichen Dank an alle (C) ben. Sie waren es, die den Auftrag der Bundeswehr neu Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an alle Soldatinnen formuliert haben. und Soldaten in der Bundeswehr. Wir sind dankbar da- für, dass sie diesen Dienst für unser Vaterland verrichten. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das haben wir zusammen getan!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen kann ich Ihnen nur raten, an der Diskussion über die Reform der Bundeswehr, darüber, sie auf die Die Reform der Bundeswehr hat begonnen. Thomas neuen Aufgaben auszurichten, teilzunehmen. Herr Kol- de Maizière hat darauf hingewiesen, dass dies ein Pro- lege Trittin, hier haben Sie sich so verhalten, wie Sie das zess ist. Deswegen ist Ihre Kritik nicht angebracht, Herr in Ihrer Regierungsverantwortung vielfach getan haben. Arnold. Sie haben Dinge angestoßen, aber die Konsequenzen Selbstverständlich werden im Zuge dessen, was an nicht bedacht. Sie haben die Reform der Bundeswehr notwendigen Veränderungen vorgestellt worden ist, die nicht vorangebracht. Diese Aufgabe haben Sie schön an- finanziellen Grundlagen dargelegt. Diese finanziellen deren überlassen. Grundlagen werden nicht, wie Sie es formuliert haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie immer im Haushaltsplan berücksichtigt; sie werden zum ersten Mal im neuen Haushaltsplan berücksichtigt, Diese Aufgabe werden wir nun erfüllen. Thomas de der im Herbst beraten und verabschiedet wird. Es ist völ- Maizière hat die Punkte angesprochen. Die Bundeswehr lig richtig, dass Thomas de Maizière jetzt keine Zahlen ist auf die neuen Herausforderungen auszurichten, aber nennt und darauf verweist, dass wir im Rahmen der sie muss ihren Auftrag auch unter veränderten Bedin- Haushaltsplanberatungen und der mittelfristigen Finanz- gungen erfüllen können. Wir haben über Jahre hinweg planung auch das Finanzierungskonzept für die Reform gesehen, dass die Wehrpflicht nicht mehr so konsequent vorlegen werden. durchgesetzt werden konnte, wie es notwendig war. Des- wegen war es richtig, dass wir Überlegungen angestellt Als Sie, Herr Arnold, gesprochen haben, habe ich Ih- haben, wie wir darauf reagieren, und nun sagen: Wir ha- nen angemerkt, dass Sie wissen, dass da jemand seine ben in der Bundeswehr einen festen Stamm und Freiwil- Arbeit macht, der die Dinge konsequent und logisch an- lige. Ich kann mir nur wünschen, dass die Bundeswehr geht und das in einer Ruhe und Selbstverständlichkeit durch die Reform so attraktiv wird – schon deshalb ist macht, die Sie im Grunde genommen sehr beeindruckt die Reform so wichtig; Thomas de Maizière hat es ange- hat. Das hat man bei Ihrer Rede nämlich auch gemerkt, sprochen –, dass sich junge Menschen für die Bundes- lieber Herr Arnold. wehr interessieren und im Hauptberuf und als Freiwil- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D) lige bei der Bundeswehr ihren Dienst tun. Rainer Arnold [SPD]: Es konnte ja nur besser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden!) Wir müssen klarstellen, dass wir Freiwilligendienste Man hat Ihnen angesehen, wie Sie sich gesagt haben: in unserem Land brauchen, dass wir junge Menschen „Mensch, es wird mir doch noch irgendetwas einfallen, brauchen, die im sozialen Bereich, in unseren Hilfsorga- was ich kritisch anmerken kann.“ Entsprechend schlecht nisationen tätig sind, dass aber der freiwillige Dienst in war es dann auch, weil Ihnen nämlich nichts Gescheites der Bundeswehr genauso wichtig und ehrenhaft ist wie eingefallen ist. jeder andere freiwillige Dienst. Das müssen wir deutlich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und machen. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man kann nämlich überhaupt keinen kritischen Einwand Es gibt hier keine Abstufung nach dem Motto: Im sozia- gegen dieses Konzept vorbringen. len Bereich ist das gut, bei der Bundeswehr weniger. Herr Bundesminister, wir sind dankbar für die Nein, der Freiwilligendienst ist ein Dienst an unserem Schritte, die Sie eingeleitet haben. Wir begleiten Sie bei Land – bei der Bundeswehr oder in sozialen Einrichtun- dieser Aufgabe, und wir stehen zu dieser Reform der gen. Dafür müssen wir werben. Bundeswehr. Wir wünschen Ihnen dabei viel Erfolg. (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Dann macht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mal!) Es hat doch mit Prestige zu tun, wenn wir vom Dienst in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Bundeswehr sprechen. Das Wort hat nun Jürgen Trittin für die Fraktion Wir sehen natürlich, dass der Dienst in der Bundes- Bündnis 90/Die Grünen. wehr etwas Besonderes ist, weil er die ganze Person for- dert und natürlich auch gefährlich ist. Wir haben in die- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen Tagen wieder erleben müssen, dass der Dienst in der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeiten Bundeswehr lebensgefährlich ist. Ich finde, umso größer haben sich geändert. Früher erlebten wir ein permanen- muss unser Respekt vor denjenigen sein, die in unserem tes Schaulaufen des Verteidigungsministers mit dem Au- Auftrag und für unsere politischen Ziele ihren Dienst ßenminister, wer der Wichtigere im Kabinett sei. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12825

Jürgen Trittin (A) Mit der heutigen Regierungserklärung müssen wir Ausrichtung. Sie haben gesagt: Für uns kommt die Ver- (C) feststellen: Die Zeiten haben sich geändert. Die Frage ist teidigung im Bündnis an erster Stelle. auch entschieden. Über die strategische und sicherheits- Wir glauben, dass Sie hier nicht konsequent sind. Es politische Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland wird die Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein, wird im Verteidigungsministerium entschieden. Dort wird der internationalen Verantwortung stärker gerecht zu formuliert. Insofern muss man Ihnen an dieser Stelle, Herr werden. Internationale Verantwortung bedeutet nicht, wie de Maizière, ein Kompliment machen. einige glauben, dass man sich unilateral um die Sicherung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Rohstoffquellen kümmert; so habe ich das nicht ver- und der SPD sowie bei Abgeordneten der standen. Internationale Verantwortung heißt, dass wir uns CDU/CSU und der FDP) an den Gefahren für die Sicherheit, die sich auf der Welt ergeben, orientieren. Es geht dabei nicht mehr um zwi- Sie haben begonnen, sich der Realität zu stellen. Die schenstaatliche Konflikte zwischen hochgerüsteten Ar- CDU/CSU verabschiedet sich von etwas, das lange Zeit meen. Aber genau daran halten Sie noch immer in Ihrer für sie identitätsstiftend war: der Wehrpflicht. Sie versu- Prioritätenreihenfolge fest. Es geht typischerweise um chen jetzt, in diese Richtung Grund hineinzubringen. asymmetrische Konflikte. Es geht typischerweise um das Sie sagen der deutschen Öffentlichkeit: Wir wollen mit Vorgehen in gemischten zivil-militärischen Missionen. einem Konzept von 175 000 plus x künftig diese Aufga- Es geht typischerweise um die Sicherung vor Staatszer- ben einer Bundeswehr bewältigen. Ich hätte in Ihrer heu- fall und Ähnlichem. tigen Regierungserklärung, gerade weil ich wichtige stra- In einer solchen Debatte, in der wir über die Ausrich- tegische Grundentscheidungen, die Sie mit benannt tung der Bundeswehr sprechen, will ich sagen: In diesem haben, teile, gerne von Ihnen eine Begründung gehört, Zusammenhang wird mehr auf die Bundesrepublik warum das, was Ihnen Ihr eigener Generalinspekteur auf- Deutschland zukommen als in der Vergangenheit. Das geschrieben hat, nicht Leitlinie gewesen ist. Warum hat- ist eine Botschaft, die man in einer solchen Debatte aus- ten Sie nicht den Mut, auf die Größe der Bundeswehr zu sprechen muss. Ich will nicht spekulieren. Wenn ich mir gehen, die von der Aufgabe her definiert vom Generalin- aber anschaue, wie sich beispielsweise der Trennungs- spekteur auf etwas über 160 000 beziffert wurde? Sie mö- prozess zwischen dem Südsudan und dem Sudan entwi- gen das für kleinlich halten, was die Zahlen angeht. Ich ckelt, dann bin ich mir nicht sicher, ob wir weiterhin mit glaube aber, dass hinter dem Unterschied zwischen den etwas mehr als 20 unbewaffneten Militärbeobachtern 185 000, auf die Sie kommen wollen, was nach Ansicht auskommen oder ob nicht andere mehr von uns erwar- der SPD vielleicht noch zu knapp ist, und den 160 000, ten. Wenn das alles so ist, dann brauchen wir eine konse- die nach Auffassung des Generalinspekteurs und meiner quente Ausrichtung der Bundeswehr im Hinblick auf (B) Fraktion angemessen wären, genau das Stück Halbher- multilaterale Einsätze im Auftrag der Vereinten Natio- (D) zigkeit steht, das immer noch in dieser Reform steckt. nen zur Stabilisierung von zerfallenden Staaten; das wird Dieses Stück Halbherzigkeit finden Sie in den Verteidi- die Kernanforderung sein. Nur so werden wir unserer in- gungspolitischen Richtlinien, die die Grundlage der Re- ternationalen Verantwortung gerecht. form sein sollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute ha- ben Sie zu der Feststellung, dass jetzt anders als in den Deutschland muss seiner internationalen Verantwor- Verteidigungspolitischen Richtlinien unter Peter Struck tung gerecht werden. Das zielt insbesondere auf die Si- bei den Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr der Aus- cherung und die Herstellung der Herrschaft des Rechts. landseinsatz im multilateralen Verband an vorderer Wir dürfen keine rechtsfreien Räume auf diesem Globus Stelle steht, sondern die Verteidigung im Bündnis, ge- dulden. Das heißt für uns: Ausbildung, Ausrichtung und sagt, das sei keine Rangfolge, sondern nur eine Reihen- Ausrüstung der Bundeswehr müssen sich klar an dieser folge. Ich halte dies für beschönigend und für falsch. Es Priorität orientieren. Da haben Sie noch ein bisschen Ar- ist offensichtlich eine Rangfolge, die Sie hier vorgenom- beit vor sich, Herr Minister. men haben. Sie gewichten die Verteidigung im Bündnis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wieder höher als die Aufgabe, die wir alle als wichtig identifiziert haben, nämlich mehr Einheiten sowie mehr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Soldatinnen und Soldaten für Auslandseinsätze bereitzu- Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak- stellen. tion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Wir teilen die Auffassung, dass wir 10 000 Soldatinnen und Soldaten für Auslandseinsätze vorhalten müssen. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Aber das gefährden Sie, bis hin zur Beschaffung. Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus müssen dem Hohen Haus einmal erklären, warum wir unserer Sicht ist das, was der Minister heute vorgetragen noch immer über 1 000 Panzer – wir haben festgestellt, hat, seit der Zusammenlegung von Bundeswehr und NVA dass es 1 048 sind – haben. Warum müssen wir an Rüs- vor über 20 Jahren die größte Reform, die wir bei der tungsprojekten wie Tiger und MEADS festhalten, die da- Bundeswehr durchführen. Diese Reform wäre auch not- rauf ausgerichtet sind, große Panzerverbände zu bekämp- wendig gewesen – davon sind wir überzeugt –, wenn wir fen? All dies ist Folge der von Ihnen vorgenommenen die Wehrpflicht nicht ausgesetzt hätten. Die FDP hat im- 12826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (A) mer gefragt: Werden die Haushaltsmittel richtig einge- fern, weil wir dann zukünftig mehr Geld zur Verfügung (C) setzt? Sind die Beschaffungsmaßnahmen, die einst be- hätten. schlossen wurden, noch richtig? Herr Trittin, Sie haben die Frage gestellt, warum wir an dem einen oder anderen Des Weiteren stellt sich die Frage, ob das Liegen- – Sie haben als Beispiel MEADS genannt – noch festhal- schaftsmanagement, das uns Rot-Grün eingebrockt hat, ten. Ich kann Ihnen sagen, warum. wirklich etwas Gutes für die Bundeswehr ist. Ich habe erhebliche Zweifel. Wir plagen uns in dieser Zeit auch Wir halten gar nicht daran fest. Aber wir haben aus im Haushaltsausschuss damit herum. der Zeit der rot-grünen Koalition – bei den großen Be- schaffungsprojekten waren die Grünen voll dabei – Ver- Sie haben uns wirklich unglaublich viele Baustellen träge, aus denen man nur schwer herauskommt. Das ist hinterlassen, Herr Kollege Arnold. Insofern kann ich eines unserer Probleme. Sie als Grüne haben bei allen verstehen, dass Sie zu der wirklich ausgesprochen guten großen Rüstungsprojekten mitgemacht, beispielsweise Rede des Ministers und zu dem, was wir als Reform bei MEADS. Wir haben es Gott sei Dank geschafft, die wollen, keine Alternativen angeboten haben. Ihr Beitrag Anzahl der Transportflugzeuge zu reduzieren. Sie woll- wäre – lassen Sie es mich süffisant sagen – eher für ei- ten 90 bestellen; dann hat Peter Struck die Anzahl auf 60 nen Lyrikkongress geeignet gewesen als für eine vertei- reduziert. Nur in dieser Koalition – ich sage ausdrück- digungspolitische Debatte. Sie haben keine Alternativen lich Danke schön an den Koalitionspartner; Volker vorgetragen. Herr Trittin sprach von „halbherzig“. Was Kauder hat es ja in seiner Rede deutlich gemacht – ist ist denn halbherzig? Ich kann nur sagen: Das eine oder diese Reform möglich gewesen. Wir haben es gesehen: andere wird zu korrigieren sein – das wird sich im Laufe Sie als Grüne haben sich bei den Sozialdemokraten nie der Zeit herausstellen –, aber die Richtung stimmt doch. durchsetzen können. Sie waren ähnlich wie wir für die Man kann doch bei dieser Reform nicht von halbherzig Aussetzung der Wehrpflicht. sprechen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ma- chen Sie mit! Bringen Sie sich ein! Bringen Sie Ihre Vor- (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schläge ein! Sie haben sich, Herr Trittin – das kann ich NEN]: Wir wollten sie abschaffen!) verstehen, weil Sie im Auswärtigen Ausschuss sitzen –, Sie haben sich nicht durchsetzen können. Die Freien De- mehr in die Außenpolitik geflüchtet. Das Entscheidende mokraten haben sich in dieser Koalition mit dieser For- wäre aber gewesen, konkret zu sagen, was Sie für unsere derung durchgesetzt. Das war nicht leicht für unseren Bundeswehr wollen. Das wäre besser gewesen als das, Koalitionspartner, aber er hat mitgemacht. Das ist eine was heute vorgetragen worden ist. der größten Reformen, und dafür sagen wir als FDP Im Haushaltsausschuss sollen wir ja die Beschaf- Danke an die Christlich Demokratische Union. fungsmaßnahmen finanziell untermauern. Insofern ist es (B) (D) (Beifall bei der FDP) mir als Haushälter sehr wichtig, dass wir alles auf den Prüfstand stellen. Wir haben zu viele Eurofighter; das ist Aber die Frage ist durchaus berechtigt: Wie finanzie- unser Problem, denn diese Entscheidung stammt noch ren wir zukünftig die Bundeswehr? Hier kann ich für die aus der Zeit der alten Koalition. Gott sei Dank haben wir FDP sagen: Natürlich wollen wir Einsparungen vorneh- beim A400M einiges korrigiert. Wir werden uns weiter- men. Aber es wird auf keinen Fall auf Kosten der Solda- hin Herkules ansehen. MEADS ist – da gibt es kein Ver- ten oder der Zivilangehörigen gehen. Wir gehen an die tun – für uns beendet; das war ein großes Projekt aus rot- vielen Beschaffungsmaßnahmen heran – davon habe ich grüner Zeit. Wir schauen uns noch einmal das Liegen- schon gesprochen –, die nach unserer Auffassung über- schaftsmanagement und den Bundeswehrfuhrpark an. flüssig sind. Herr Kollege Arnold, Sie haben uns doch Das Entscheidendste ist aber, dass das Ministerium ver- mit dem Herkules-Projekt ein Milliardengrab einge- kleinert wird – das eine oder andere kann ich mir noch brockt. Wir versuchen nun, das Beste daraus zu machen. vorstellen –, damit die Entscheidungsabläufe in der Bun- Das funktioniert doch heute noch nicht richtig. Das sind deswehr zügiger vonstatten gehen. Es kann einfach nicht Ihre Entscheidungen gewesen, nicht unsere. Das Gleiche sein, Herr Minister – ich nenne nur ein Beispiel –, wenn gilt für das Übermaß an Bürokratie. unsere Soldaten in Afghanistan Schutzbrillen brauchen, (Beifall bei der FDP) dass die Entscheidung darüber nach zwei Jahren noch nicht gefallen ist. Das kann nur an dem großen Apparat Sie fordern hier jetzt: Herr Minister, finanzieren Sie liegen. Woran kann es denn sonst liegen? Diese Forde- seriös! – Dass Sie das überhaupt wagen. Herr Scharping rung ist doch berechtigt. hat uns die Privatisierung eingebrockt. Das war nicht die FDP. Wir waren gegen diese Privatisierung. Wir sind Vor allem – lassen Sie mich das zum Schluss sagen; nämlich nicht für Privatisierung um jeden Preis. Wir ha- werfen Sie darauf bitte auch einen Blick – muss es für ben gesagt, dass wir auch bei der Logistik nicht mitma- das, was wir beschaffen, jeweils einen Verantwortlichen chen. Aber wer hat uns denn den Bundeswehrfuhrpark geben. Es kann nicht sein, dass es immer nur der beam- und alles andere eingebrockt, ohne je zu überprüfen, ob tete Staatssekretär ist. Es wäre gut für die Bundeswehr, es effektiv ist? Kümmern Sie sich um die Projekte, die wenn mehr Verantwortung auf einzelne Personen über- Sie uns eingebrockt haben, die heute die Bundeswehr tragen würde. Auch das gehört für uns zu dieser Reform sehr viel Geld kosten und bei der Bundeswehr überhaupt dazu. nicht ankommen! Überprüfen Sie das selber und bringen Viel Glück bei dieser Reform! Wir sind dabei. Sie Korrekturvorschläge ein! Dann würden Sie einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Bundeswehr lie- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12827

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie diesen Dienst attraktiver! Es geht nicht nur mit Ehre. (C) Das Wort hat nun Hans-Peter Bartels für die SPD- Werben Sie flächendeckend für das freiwillige Engage- Fraktion. ment junger Leute in allen Formen, die unser Land an- bietet und braucht: bei der Bundeswehr, im Freiwilligen (Beifall bei der SPD) Sozialen oder Ökologischen Jahr, im Entwicklungs- dienst, im neuen Bundesfreiwilligendienst und natürlich Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): im THW und bei den anderen Diensten des Katastro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe phenschutzes, die auch alle bisher auf Wehrpflichtige Kollegen von der Koalition, ich glaube, wenn Sie sagen rechnen konnten. müssten, was jetzt genau das Ziel dieser Bundeswehr- Der unorganisierte, überstürzte Ausstieg aus der reform sein soll, dann kämen Sie ganz schön ins Wehrpflicht war ein Fehler. Das werden Sie demnächst Schwimmen. Geht es vorrangig um die Schuldenbremse sogar bei den Bewerbungen für den Dienst als Zeitsoldat als höchsten strategischen Parameter, wie Ihr verflosse- merken. Wundern Sie sich dann nicht. Sie müssen jetzt ner Minister zu Guttenberg das genannt hat, oder geht es für eine Kultur der Freiwilligkeit in diesem Land wer- um die bessere Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte? ben, nicht mit Abenteueranzeigen in der Bild-Zeitung, Dann frage ich Sie: Wo genau sind die Verbesserungen sondern massiv, flächendeckend, umfassend, für alle versteckt? Oder ging es einfach nur um die Abschaffung Dienste. Rufen Sie eine „Woche der Freiwilligkeit“ aus, der Wehrpflicht, womit die FDP – herzlichen Glück- in der sich alle Träger öffentlich darstellen, oder denken wunsch, Herr Koppelin! – sich nun fast vollständig Sie sich etwas anderes aus! Das ist eine aktive Gestal- durchgesetzt hat? Ich glaube, Sie sind selbst ein bisschen tungsaufgabe. Wer bloß abwartet, will vielleicht gar kei- unglücklich darüber, dass man nicht wirklich erkennen nen Erfolg. Ich wünschte mir eine Regierung, die nicht kann, welcher Rationalität diese Operation folgt. reaktiv, sondern die aktiv an diese Fragen herangeht. Sie bekommen eine kleinere Bundeswehr; das ist klar. (Beifall bei der SPD) Aber wenn wir nicht alle aufpassen, dann erleben wir den Übergang von einer größeren unterfinanzierten Bun- Fangen Sie damit an, wir machen dann schon weiter. deswehr zu einer etwas kleineren unterfinanzierten Bun- deswehr. Ich warne davor, liebe Kolleginnen und Kolle- Herr Minister, da dies nun nicht die erste Reform von gen. Die Finanzierung muss stimmen. Streitkräften ist, gibt es schon einige Erfahrungen, die auch zum Beispiel Sozialdemokraten in Regierungsver- Auch bei dem gerade neu eingeführten freiwilligen antwortung gemacht haben und die Sie sicher gern mit Wehrdienst sind alle Parameter unklar. Wie viele freiwil- uns teilen wollen. Ich nenne sechs Punkte: lig Wehrdienstleistende wollen Sie denn nun haben? (B) Erstens. Begrenzen Sie den Umzugsaufwand so stark (D) 7 500, wie es in den ersten Papieren von Generalinspek- wie möglich. Auch diese Reform schafft keine Struktu- teur Wieker hieß, oder 15 000 wie der Amtsvorgänger ren und Stationierungen für die Ewigkeit. Kleine Stand- des jetzigen Ministers in Aussicht gestellt hat, oder nur orte können effektiv, größere können uneffektiv sein. Sie 5 000 plus, wie jetzt Herr de Maizière sagt? Was wollen kennen Beispiele. Sparen Sie unnötige Transaktionskos- Sie wirklich? Wollen Sie möglichst wenige Freiwillige, ten. damit Sie nicht mehr bezahlen müssen, oder wollen Sie den freiwilligen Wehrdienst so schnell wie möglich ganz Zweitens. Bleiben Sie mit der Bundeswehr in der Flä- abschaffen? Das Vorgängermodell, der von Ihnen einge- che. Der Arbeitgeber Bundeswehr muss sichtbar und er- führte sechsmonatige Grundwehrdienst, hat auch nur für lebbar sein. Das Militärische darf dem Zivilen nicht zu drei Quartale gegolten. fremd werden. Ich sage Ihnen heute voraus: Auch der freiwillige (Beifall bei der SPD) Wehrdienst wird bei Ihnen jetzt nur eine Durchgangssta- tion auf dem Weg zur völligen Abschaffung dieser Drittens. Vorsicht mit den Ärmelschonerklischees Wehrform sein. Das ist schade, das ist bitter, das ist nicht über die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr. Wir brau- gut. Wir hätten hier im Parlament gemeinsam zwischen chen diese Mitarbeiter. Wer überproportional Zivilperso- Koalition und Opposition etwas Besseres vereinbaren nal abbaut, der bürdet den immer weniger werdenden können, etwas Dauerhaftes. Wir Sozialdemokraten hät- Soldaten Aufgaben auf, die nicht zu deren Kernauftrag ten im Übrigen diesen leichtfertigen Umgang mit der gehören, oder er füttert private Dienstleistungsfirmen. Wehrpflicht gerade von der CDU und CSU nicht erwar- Wir brauchen aber Experten in den Wehrtechnischen tet. Dienststellen, wir brauchen die erfahrenen Kollegen in den Arsenalbetrieben, in den Bundeswehr-Dienstleis- (Beifall bei der SPD) tungszentren, in der Wehrverwaltung, in den Kranken- häusern, in den Instituten und in den Streitkräftestruktu- Ich fordere Sie auf: Stehen Sie zum freiwilligen ren selbst, etwa die zivilen Seeleute im Trossgeschwader Wehrdienst, den Sie vor acht Wochen doch selbst erst der Marine. Das ist kein überflüssiges Zusatzpersonal, hier im Bundestag beschlossen haben! Planen Sie dann das ist die Bundeswehr selbst: Soldaten und Zivilbe- eine substanzielle Zahl von Freiwilligen ein, auf richti- schäftigte. gen Dienstposten, für einen Dienst, der gebraucht wird, nicht auf Extrastellen außerhalb der Streitkräftestruktur, Viertens. Das Heer leidet stärker als andere Teilstreit- nicht als fünftes Rad am Wagen! Das nämlich hätten die kräfte unter dem Wegfall der Wehrpflichtigen. Ihr An- jungen Leute, die sich melden, nicht verdient. Machen satz, Herr Minister, dennoch das Spektrum der Fähigkei- 12828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. Hans-Peter Bartels (A) ten des Heeres in geringerer Stärke weitgehend zu Verteidigungsminister seine Arbeit richtig gut gemacht (C) erhalten, ist richtig, solange es keine wirkliche europäi- haben. sche Streitkräfteplanung, kein Pooling und Sharing gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aber bleiben Sie bitte konsequent. Erhalten Sie zum Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Beispiel auch ein Element Heeresflugabwehrtruppe und Besser als der Vorgänger!) bei der Marine zum Beispiel auch die U-Abwehrfähig- keit der Flotte. Mit den Eckpunkten und den Verteidigungspolitischen Richtlinien ist eine hervorragende Grundlage für die not- Fünftens. Die Spitzengliederung der Teilstreitkräfte wendige Neuausrichtung der Bundeswehr vorgelegt zu straffen, aus drei Stäben jeweils eine Kommandobe- worden. hörde zu machen, findet unsere Unterstützung, ebenso die Stärkung des Generalinspekteurs. Aber entlassen Sie Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundes- die Inspekteure der Teilstreitkräfte – oder Befehlshaber, tagsfraktion dankt Ihnen für Ihre sorgfältige, seriöse und wie sie wohl künftig heißen sollen – nicht aus der minis- ungeschönte Analyse der Lage. teriellen Mitverantwortung. Nicht ihre Führungsstäbe, (Michael Groschek [SPD]: Ich dachte, für die aber die Befehlshaber in Person brauchen einen Platz im Rede in der Fraktion!) Ministerium als Mitglieder des Militärischen Führungs- rates. Vermeiden Sie die Konfliktlinie: hier Berlin, da Sie haben die Gründe für die Neuausrichtung der Bun- Truppe. Teilstreitkraftübergreifendes Denken muss die deswehr ausführlich angesprochen. Ihre Darlegungen Rationalität der neuen Bundeswehr sein. zeigen die Größe der Herausforderungen und die Schwierigkeiten auf, die Pläne für die Neuausrichtung Sechstens. Herr Minister, Sie sind Abgeordneter für der Bundeswehr umzusetzen, zumal wir schon heute die Meißen im Freistaat Sachsen. Auch Sachsen hat bedeu- zu erwartenden Widerstände in den Apparaten, aber tende Bundeswehrstandorte. Auf die Stationierung der auch in der Fläche gut abschätzen können, wenn es da- kleineren Bundeswehr angesprochen, werden Sie mit rum geht, Veränderungen und tiefgreifende Einschnitte dem Satz zitiert: „Ich weiß, wo ich herkomme.“ Das ist zu akzeptieren. Wir alle stehen vor der Frage: Wollen nicht zu kritisieren, aber Sie wissen, dass es vielen Kol- wir eine moderne, effiziente Bundeswehr mit zukunfts- legen hier im Hause auch so geht wie Ihnen. Fast überall fähigen Strukturen, die den sicherheitspolitischen Auf- identifizieren sich Kommunen, Bundesländer und Abge- gaben im 21. Jahrhundert und dem Heimatschutz gerecht ordnete mit ihrer Bundeswehr vor Ort. Das ist kein be- wird, die bündnisfähig ist und die als Instrument der Au- dauernswerter Kirchturmpatriotismus und sollte auch ßenpolitik zur Wahrung unserer Interessen beitragen nicht so verstanden werden, sondern das ist ein gutes kann, oder wollen wir das nicht? Die CDU/CSU-Bun- (B) Fundament für die Verankerung unserer Bundeswehr in destagsfraktion will eine solche Bundeswehr. Deshalb (D) unserer Gesellschaft. unterstützen wir Sie, Herr Minister, bei Ihren Reform- Abschließend: Diese Reform ist chaotisch gestartet, plänen nachdrücklich. der neue Minister hatte nicht mehr wirklich die Chance, Meine Damen und Herren, die drängendste Frage die Reset-Taste zu drücken. Aber wir nehmen Ihnen ehr- – das wurde zu Recht angesprochen – ist die der Perso- lich ab, dass Sie bemüht sind, jetzt das Beste daraus zu nalgewinnung. Die Bundeswehr muss sich gegen die machen. Lassen Sie uns versuchen, dabei so viel partei- Konkurrenz am Arbeitsmarkt künftig noch stärker be- übergreifenden Konsens wie möglich zu finden. haupten. Deshalb müssen wir die Attraktivität des Schönen Dank. Dienstes deutlich verbessern. Wir brauchen ein neues Konzept für die Rekrutierung von Nachwuchs. Es gibt (Beifall bei der SPD) inzwischen viele Vorschläge, wie dies geschehen könnte, beispielsweise durch Maßnahmen zur Verbesserung der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vereinbarkeit von Familie und Dienst, durch attraktivere Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die Laufbahnen oder durch die Ausweitung der Möglichkei- CDU/CSU-Fraktion. ten, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben. Vor allem aber muss ein wirksames Attraktivitätsprogramm ziel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gruppenorientiert formuliert, konzipiert und kommuni- ziert werden. Aus unserer Sicht geht es dabei vorrangig Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): um Besoldung, Dienstzeitregelungen, Aus- und Weiter- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bildungsmöglichkeiten, attraktive Standorte, angemes- Wenn eine Tageszeitung, die unserer Regierungsarbeit sene Unterkünfte sowie umfassende Einsatzversorgung nicht immer wohlwollend gegenübersteht, einschließlich der Nachsorge. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weil das Thema von Herrn Bartels und Herrn Arnold NEN]: Die FAZ?) angesprochen wurde, möchte ich festhalten: Es ist realis- tisch, dass der Verteidigungsminister die Zahl der frei- schreibt: „… was Thomas de Maizière … als knallharte willig Wehrdienstleistenden zunächst mit 5 000 ansetzt. Analyse der Lage präsentiert und als künftige Ausrich- Es war uns von Anfang an klar, dass die Bereitschaft zu tung der Bundeswehr vorgegeben hat, das hat Hand und diesem Dienst in der Übergangszeit eher niedriger sein Fuß“, und wenn dies die überwiegende Meinung der wird. Es ist daher besser, weniger einzuplanen und dann meisten Kommentatoren widerspiegelt, dann muss der mehr zu erhalten als umgekehrt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12829

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Natürlich, Herr Arnold und Herr Bartels, rennen Sie Es wird kein Weg daran vorbeiführen, zu prüfen und (C) bei uns offene Türen ein, wenn Sie sagen, man müsse al- dann auch umzusetzen, wo wir Fähigkeiten mit anderen les tun, damit es mehr als 5 000 junge Menschen wer- teilen wollen, wo wir Fähigkeiten übernational mit ande- den, die den freiwilligen Wehrdienst leisten wollen. ren einbringen wollen und auf welche Fähigkeiten wir ganz verzichten wollen, weil andere sie verlässlich und (Rainer Arnold [SPD]: Tun Sie es doch!) günstiger bereitstellen. – Sehr richtig, aber dann müssen auch Sie und Ihre Par- (Michael Groschek [SPD]: Dann muss man tei alles dafür tun. – Das heißt zunächst einmal, dass der das schreiben!) Bundeswehr die Möglichkeit gegeben wird, in den Schu- len offensiv zu werben. Es ist richtig: Gegenseitige Abhängigkeiten für den Einsatz und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Einsatz dürfen nur in dem Maße zugelassen wer- Stattdessen besteht doch in den SPD-regierten Bundes- den, wie dies die Wahrnehmung der Aufgaben er- ländern und Kommunen die Tendenz, Soldaten in Uni- fordert. form mehr und mehr aus den Schulen herauszudrängen So steht es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien. oder Jugendoffiziere erst gar nicht mehr hereinzulassen. Das ist die Realität. Das muss aufhören. Aber es sind eben gegenseitige Abhängigkeiten, die uns als Parlament mit unserem Recht der Mandatierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Bundeswehreinsätzen vor neue Herausforderungen stellen; denn unsere Partner werden berechtigterweise Meine Damen und Herren, über die Verteidigungspo- fragen, ob wir als Bundestag im entscheidenden Moment litischen Richtlinien hat Stefan Kornelius vor wenigen bereit sind, die deutschen Streitkräfte zur Verfügung zu Tagen in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: stellen, auf die sich unsere Partner in einem solchen De Maizières Richtlinie ist ein bemerkenswertes Konzept der Aufgabenteilung stützen. Das müssen wir Dokument sicherheitspolitischer Reife, sachlich natürlich auch von unseren Partnern wissen. Es geht kühl, punktgenau und ohne sprachliche Verbrä- hierbei um Berechenbarkeit, um Verlässlichkeit und um mung. gegenseitiges Vertrauen unter Bündnispartnern. Dies er- fordert eine ehrliche Diskussion darüber, wo wir der- Es ist gut, dass ein solches Dokument in verständli- artige Streitkräfte einsetzen wollen und wo wir sie nicht cher Klarheit unsere sicherheitspolitischen Interessen, einsetzen wollen. Aufgaben und Ziele beschreibt. Kernpunkt der Neuaus- (B) richtung ist, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr Meine Damen und Herren, wir begrüßen es ausdrück- (D) aus ihrem Auftrag und ihren Aufgaben ableiten. Die Be- lich, dass der Verteidigungsminister die Debatte über deutung, die die Verteidigungspolitischen Richtlinien diese sicherheitspolitischen Fragen und unsere sicher- der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewäl- heitspolitischen Interessen offensiv führt. Nur durch eine tigung beimessen, wird von uns ausdrücklich geteilt. solche Debatte werden wir das Verständnis der Men- Derartige Einsatzszenarien bleiben für die Bundeswehr schen in unserem Land für die Herausforderungen und auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten Aufgaben. Bedrohungen für unsere Sicherheit und für die sich da- Dazu gehört auch, dass Deutschland bei der Wahrneh- raus ergebenden Aufgaben der Bundeswehr befördern mung dieser Aufgaben aufgrund seines Gewichts und können. Das ist dringend notwendig. seiner Wirtschaftskraft grundsätzlich eine besondere Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundes- Verantwortung hat. tagsfraktion hält Ihre Überlegungen und Pläne zur Neu- ausrichtung der Bundeswehr für richtig. Diese in die Tat Ich stimme dem Verteidigungsminister zudem aus- umzusetzen, ist eine Mammutaufgabe, die uns über viele drücklich zu, dass wir vor der Entsendung von deutschen Jahre fordern wird. Wir werden Sie dabei tatkräftig un- Soldaten zuvorderst unsere primär sicherheitspolitischen terstützen. Interessen diskutieren sollten. Dies ist gerade auch wich- tig für die Beantwortung einer Frage, die wir jetzt ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stärkt angehen müssen – zunächst bei uns und dann mit unseren Partnern –: Welche Aufgaben können künftig in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der EU und im Bündnis gemeinsam oder arbeitsteilig Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion wahrgenommen werden? Denn eines ist klar: In der EU Die Linke. geht die Zeit von voll ausgerüsteten Armeen zu Ende. Will Europa dennoch seine Handlungsfähigkeit zur Ver- (Beifall bei der LINKEN) teidigung seiner Sicherheit und seiner Interessen wah- ren, braucht es starke und effiziente europäische Streit- Christine Buchholz (DIE LINKE): kräfte. Diese werden sich nur aus einer verstärkten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bündelung von nationalen Fähigkeiten und Kapazitäten Minister hat gesagt, er möchte zeitgleich 10 000 Solda- (Michael Groschek [SPD]: Richtig!) tinnen und Soldaten in zwei großen und mehreren klei- neren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig ein- sowie aus einer verstärkten Rollen- und Aufgabenvertei- setzen können. Herr Trittin möchte noch mehr davon. lung ergeben. Das heißt im Klartext, dass Sie in Zukunft in der Lage 12830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Christine Buchholz (A) sein wollen, zwei Einsätze wie den in Afghanistan niemand, dass man fett wird, wenn man 5 Kilogramm (C) durchzuführen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! davon isst. Das, meine Damen und Herren, ist zynisch. Der eine Einsatz, den wir haben, ist schon viel zu viel. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundeswehr muss sofort aus Afghanistan und den anderen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden. Die Bundeswehr steigert ihre Aktivitäten an Schulen sowie in der Lehrer- und Referendarausbildung. Wir (Beifall bei der LINKEN) meinen: Die Bundeswehr hat an der Schule nichts zu su- Sie sagen, neben den finanziellen Anreizen gehe es chen. Politische Bildung ist die Aufgabe von ausgebilde- darum, die jungen Menschen davon zu überzeugen, den ten Pädagoginnen und Pädagogen. Dafür muss Geld aus- Reiz des Besonderen zu erfahren, sich selbst einen gegeben werden, nicht aber für die Propaganda der Dienst zu erweisen und unserem Land zu dienen. Am Bundeswehr. Mittwoch ist nun ein weiterer junger Mann in Afghanis- (Beifall bei der LINKEN) tan getötet worden. Meinen Sie ernsthaft, dass Ihre sal- bungsvollen Worte ein Trost für die Eltern und Freunde Es kann ja wohl nicht wahr sein: Erst strangulieren Sie der inzwischen 49 in Afghanistan getöteten und der un- mit Ihrer Kürzungspolitik das Bildungssystem, und dann zähligen traumatisierten Soldaten sind? springt die Bundeswehr mit ihrer Propaganda ein. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind In vielen Bundesländern regt sich Widerstand von zynisch!) Schülern, Eltern und Lehrern gegen die Auftritte von Bundeswehr an Schulen und auf Berufsmessen. Wir hal- Um genügend junge Männer und Frauen für den frei- ten das für gut. willigen Wehrdienst zu ködern, rührt das Verteidigungs- ministerium nun kräftig die Werbetrommel. Was viele (Beifall bei der LINKEN – [CDU/ nicht wissen: Mit diesem freiwilligen Wehrdienst ist ein CSU]: Regen Sie sich mal nicht so auf!) Einsatz im Ausland verbunden. GEW, kirchliche Gruppen und Schüler schließen sich Seit 2006 haben sich die Anzahl der öffentlichen Auf- zusammen und setzen sich zur Wehr. Neulich erzählte tritte der Bundeswehr auf Ausbildungsmessen und ande- mir eine Lehrerin aus dem Bezirk Tempelhof-Schöne- ren Veranstaltungen sowie die Kosten dafür mehr als berg, dass sich das Robert-Blum-Gymnasium in einer verdoppelt, und das bereits vor der Aussetzung der Schulkonferenz zur Schule ohne Militär erklärt hat. Wehrpflicht. Seit März läuft eine millionenschwere Wer- Schüler der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf bekampagne in der Springer-Presse, auf Radio- und haben ihre Lehrer und Eltern überzeugt, keine Bundes- Fernsehkanälen. wehr mehr an ihre Schule zu lassen. Das sind die richti- (B) gen Schritte, die Schüler, Eltern und Lehrer machen kön- (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Die Frau spricht im nen. militärischen Befehlston!) (Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen Neulich hat das ARD-Magazin Panorama einen inte- [FDP]: Genau das Gegenteil! – Henning Otte ressanten Beitrag zu diesem Thema gebracht. Ein Lehrer [CDU/CSU]: Deswegen dürfen Sie nicht ge- berichtete darin über den Besuch eines Wehrdienstbera- wählt werden!) ters in einer Schule in Prerow, Mecklenburg-Vorpom- mern. Der Lehrer wunderte sich, warum der Wehrdienst- Ich denke oft an eine Mutter aus Thüringen, die mir berater eine Karriere bei der Bundeswehr als einen Job berichtete, ihre beiden Söhne seien nach dem Einsatz in wie jeden anderen, wie bei BMW, Mercedes oder einer Afghanistan traumatisiert, hätten selbst nach Monaten Werft, darstellte, aber von Krieg und posttraumatischen nicht in den Alltag zurückgefunden. Für sie und alle Belastungsstörungen nicht redete. Eltern wünsche ich mir, dass sie mit Reinhard Mey sa- gen: Nein, unsere Söhne geben wir nicht – und unsere Bei der Werbekampagne der Bundeswehr kommen Töchter auch nicht. die hässlichen Bilder aus Afghanistan nicht vor. Darin ist immer von Chancen, Karriere und Ausbildung die Rede. (Beifall bei der LINKEN) Aber welche Chancen haben jetzt die Soldaten, die getö- tet wurden, oder all die Soldaten, die mit körperlichen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und seelischen Verletzungen heimgekommen sind? Sie Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion geben vor, den Jugendlichen eine Perspektive zu bieten; Bündnis 90/Die Grünen. doch Sie verschweigen die Risiken und Nebenwirkun- gen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben in Ihrer Rede heute, aber auch mit Dies betrifft besonders die Jugendlichen aus struktur- der großen – nein, ich korrigiere mich –, mit der langen schwachen Regionen. Rede in der letzten Woche einiges gesagt, was unsere Zustimmung findet. Aber Sie haben viele Fehler der Re- Die Geschäftsführerin der Werbeagentur, die mit der form nicht behoben bzw. gar nicht angehen können. Werbekampagne der Bundeswehr beauftragt worden ist, hat es ganz ehrlich auf den Punkt gebracht: Wenn man Ich beginne mit der sicherheitspolitischen Ableitung, für Schokoriegel Werbung macht, dann sagt Ihnen auch mit dem Geburtsfehler der Reform. Die Reform ist von Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12831

Omid Nouripour (A) der Reihenfolge her auf den Kopf gestellt. Normaler- ein halbes Jahr nachdem die politische Entscheidung be- (C) weise definiert man Aufgaben, und anschließend sagt reits gefallen war. Die sinngemäße Antwort des Staats- man, welche Strukturen man dafür braucht. Ihr Vorgän- sekretärs war: Das ist eine gute Frage; wir denken jetzt ger hat erst erklärt, was alles in den Strukturen passieren einmal darüber nach, wie wir das machen. muss, wie das Ministerium möglicherweise auszusehen Über unglaublich viele relevante Details Ihrer Reform hat, und hat dann gesagt: Am Ende machen wir viel- wurde nicht entschieden. Sie sind auf diese Details auch leicht auch noch ein neues Weißbuch. – Sie haben jetzt in Ihren Reden überhaupt nicht eingegangen. Wie wollen versucht, die sicherheitspolitische Begründung nachzu- Sie eigentlich mehr Freiwillige gewinnen? Das ist mir liefern. bisher nicht klar geworden. Sie haben nur gesagt, dass Sie haben mittlerweile die Verteidigungspolitischen sich die Bundeswehr auf Veranstaltungen vorstellen soll. Richtlinien verfasst, die aber – das muss man feststellen, Das ist aber kein schlüssiges Konzept, wie man Freiwil- wenn man ehrlich ist – nur so etwas wie Ihre Privat- lige gewinnen kann; wir verstehen es nicht. Es ist auch meinung sein können. Die Inkraftsetzung der Verteidi- nichts, was bisher zu Ende gedacht worden ist. gungspolitischen Richtlinien ist ein Verwaltungsakt. Das gilt natürlich auch für die Beschaffung. Die Be- Das, was Sie heute hier beschrieben haben, ist nicht schaffungsfrage ist von zentraler Bedeutung, wenn es deckungsgleich mit dem, wie beispielsweise der Außen- darum geht, das Geld zusammenzuhalten. Es gibt Be- minister im UN-Sicherheitsrat gehandelt hat. schaffungsprojekte, die in den 80er-Jahren begonnen Das heißt, wenn wir eine kohärente verteidigungs- wurden – da haben die Grünen im Übrigen nicht regiert, und sicherheitspolitische Ableitung brauchen, dann Herr Koppelin – und die bis heute noch nicht abge- schlossen sind. Die Frage ist, welche Philosophie man in muss es eine sein, die auch innerhalb der Bundesregie- Bezug auf die Beschaffung verfolgt. Die Beschaffung rung abgestimmt ist. Das, was Sie heute beschrieben ha- darf sich nicht daran ausrichten, wie man am besten ben, wird in der Bundesregierung möglicherweise gar Standortpolitik macht. Auch dazu haben Sie bisher kein kein Konsens sein. Sie hatten Vorgänger, die versucht einziges Wort gesagt. haben, die Verteidigungspolitischen Richtlinien im Ka- binett beschließen zu lassen. Sie hingegen haben dies gar Das Zusammenhalten des Geldes ist ein wichtiger nicht erst versucht. Wenn ich mir das Kabinett anschaue, Punkt, wenn man das Ziel erreichen möchte, die Bundes- verstehe ich das zwar in emotionaler Hinsicht, allerdings wehr flexibel zu gestalten. Flexibilität ist bekannter- ist es handwerklich unsauber. maßen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Bun- deswehr. Wir konnten uns vor zehn Jahren noch nicht Damit bin ich beim zweiten großen Problem. Die vorstellen, dass wir in den Afghanistan-Einsatz gehen. Auseinandersetzung begann mit der Frage nach den Ein- (B) Wir haben vor drei Monaten noch nicht daran gedacht, (D) sparzielen: Wie sehen die aus? Wie sparen wir? Was was in Libyen passiert. Wir wissen auch nicht, über was kostet das alles? Das alles wissen wir nicht; das alles sa- wir in fünf oder zehn Jahren diskutieren. gen Sie uns nicht. Sie sagen zwar: „Wir führen jetzt eine große Reform durch“, aber die Information über das, Wie gesagt, die Flexibilität ist ein entscheidender was die Grundlage dafür ist, nämlich die finanzielle Punkt. Um sie zu gewährleisten, müssen Sie angemes- Ausstattung, enthalten Sie uns komplett vor. sene Strukturen schaffen und an die Beschaffungsfrage anders herangehen. Außerdem müssen Sie das Geld zu- Fakt ist: Das Kabinett hat beschlossen, 8,3 Milliarden sammenhalten. Mit der Feilscherei um die Sparziele leis- Euro in vier Jahren einzusparen. Dafür haben der dama- ten Sie der Bundeswehr einen Bärendienst. Was Sie lige Verteidigungsminister, die Bundeskanzlerin, der da- heute nicht einsparen, was Sie dem Finanzminister heute malige Gesundheitsminister, der Außenminister und der doch noch abknapsen, müssen Sie morgen zweimal oder ehemalige Innenminister die Hand gehoben. Sie alle dreimal bezahlen. haben die Hand für Einsparungen in Höhe von 8,3 Milliarden Euro in vier Jahren gehoben. Wenige Letzter Punkt. Sie haben viel von Bündnissolidarität Wochen später hat dasselbe Kabinett beschlossen, dass und Bündnispolitik gesprochen. In einer Zeit, in der we- die Bundeswehr eine Gesamtgröße von 185 000 Solda- gen der Finanzfrage alle relevanten Bündnispartner ebenfalls Reformen durchführen – viele ten haben soll. Im Anschluss hat der damalige Verteidi- sparen ein; darin liegt eine große Chance für Abrüstung, worüber Sie gungsminister gesagt: Im Übrigen sind die Einsparziele ebenfalls kein Wort verloren haben –, führen Sie aber nicht mehr zu erreichen. – Angesichts dessen stellt sich eine rein nationale Reform durch, statt sich im NATO- die Frage: Weiß das Kabinett eigentlich noch, was es be- Bündnis und auf Ebene der EU abzusprechen, wie man schließt? In einer solchen Situation ist es kein Wunder, Potenziale schaffen, wie man gemeinsam einsparen und dass Sie nicht das gesamte Kabinett mit Ihren Plänen be- wie man Synergieeffekte nutzen kann. trauen. Was Sie vorhaben, passt vorne und hinten nicht zusammen; die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie gehen aber auch nicht auf Fragen ein, die sich auf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ihr eigenes Handeln beziehen. Mit Blick auf die Ausset- Das Wort hat nun Ernst-Reinhard Beck für die CDU/ zung der Wehrpflicht stellt sich beispielsweise die Frage, CSU-Fraktion. wer den Objektschutz durchführt, wenn es keine Wehr- dienstleistenden mehr gibt. Diese Frage habe ich gestellt, (Beifall bei der CDU/CSU) 12832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und NEN]: Jetzt bestätigen Sie mich aber!) Herren! Herr Kollege Bartels hat, in Frageform geklei- Ich nenne zum Beispiel: Cyberwar. Das ist eine neue Art det, festgestellt, er habe noch nicht verstanden, was der der Bedrohung. Ich nenne auch die Abwehr ballistischer Sinn dieser Reform sei. Entweder hat er nicht zugehört, Raketen. Diese Bedrohungen bestehen, wenngleich es oder er hat nur eine rhetorische Frage gestellt, die er al- keine konventionelle Bedrohung an den Grenzen gibt. lerdings am Schluss seiner Rede selbst beantwortet hat. Die sechs Punkte, die er vorgestellt hat, habe ich so ver- Herr Kollege Schäfer, ich höre, Sie wollen, dass sich standen, dass er die Grundannahmen dieser Reform zwar die Bundeswehr allein auf die Landesverteidigung kon- für richtig hält, dass er aber bestimmte Aspekte noch im zentriert. Ich mache Sie deshalb auf Art. 24 Grundgesetz Detail diskutieren will. Ich glaube, genau das ist der Sinn aufmerksam, der das kollektive Sicherheitssystem und dieser Debatte. Daher fordere ich Sie zu einer konstruk- die Mitwirkung der Staaten an der Aufrechterhaltung der tiven Zusammenarbeit auf. Polemik dieser Art gehört internationalen Stabilität und Sicherheit zum Thema hat. vielleicht am Anfang der Debatte dazu; aber am Ende Ihre Aussage zeigt im Grunde, dass Sie diese Verantwor- muss sie konstruktiv verlaufen. tung, die Sie bisher bei allen Auslandseinsätzen ausblen- den, bewusst ausblenden. Das finde ich nicht in Ord- Was der Minister hier unaufgeregt vorgetragen hat, nung; ich muss das in aller Klarheit sagen. war ein klar definiertes Konzept zur künftigen Rolle der Bundeswehr im Rahmen nationaler Sicherheitsvorsorge (Dr. [DIE LINKE]: Un- und internationaler Bündnisverpflichtungen. Die Eck- sere Verantwortung für das Leben von Solda- punkte der Neuausrichtung basieren auf einer fundierten ten sollten wir auch wahrnehmen!) sicherheitspolitischen Analyse, aus der sich Aufgaben und Aufgabenprofil der Bundeswehr geradezu zwangs- – Die Verantwortung für das Leben von Soldaten neh- läufig ableiten lassen. men wir dadurch wahr, dass wir sie gut ausbilden, gut ausrüsten und mit einem entsprechenden Auftrag in den Herr Kollege Schäfer, die Verteidigungspolitischen Einsatz schicken. Ich glaube, es ist eine ethische Verant- Richtlinien sind eben kein alter Hut, sondern das Ergeb- wortung, den Schutz des Lebens der Zivilbevölkerung nis einer nüchternen Beschreibung von sicherheitspoliti- und die Hilfeleistung im Einsatz zu gewährleisten. Frau schen Fakten. Sie bilden im Grunde eine realistische Ba- Kollegin, der Schutz von Soldaten allein kann nicht das sis für eine Analyse der Fähigkeiten unserer Streitkräfte. oberste Prinzip des Handelns sein; sonst dürften wir sie Sie zeichnen sich durch Klarheit, durch eine gewisse erst gar nicht in den Einsatz schicken. Schärfe in der Formulierung, aber auch durch Sachlich- Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Heimat- (B) keit aus. Sie zeigen auf, wie unsere Sicherheitsinteressen (D) von unseren Werten und Zielen abgeleitet werden. Ich schutz – für viele ein Relikt aus vergangenen Zeiten – finde es also richtig, dass wir an dieser Stelle auch über wird ausdrücklich an privilegierter Stelle erwähnt. Die unsere Interessen diskutieren. Bundeswehr hat sich hier in der Vergangenheit als tat- kräftiger Helfer erwiesen und zugleich die Verbunden- Herr Kollege Trittin, ich halte es für erfreulich, dass heit mit den Menschen in unserem Land unter Beweis an erster Stelle im Aufgabenspektrum die Landesvertei- gestellt. digung als Bündnisverteidigung steht. Ich sage Ihnen Der Minister hat dankenswerterweise an mehreren auch, warum. Wir können semantisch darüber streiten, Stellen darauf hingewiesen, dass wir ein modernes Re- ob es „Reihenfolge“ oder „Rangfolge“ heißen sollte. servistenkonzept brauchen. Reservisten sind nicht nur (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein Bindeglied zwischen Bundeswehr und Gesellschaft, NEN]: Das hat der Verteidigungsminister ge- sondern auch eine Verstärkung der Truppe bei den viel- macht, nicht ich!) fältigen Aufgaben, die jetzt auf uns zukommen. – Aber Sie haben es angesprochen. – Zur Rangfolge Die deutschen Sicherheitsinteressen werden mit Kon- möchte ich sagen, dass in Art. 87 a Abs. 1 Grundgesetz fliktverhinderung, sicherheitspolitischer Glaubwürdig- steht: keit, transatlantischer und europäischer Partnerschaft, in- ternationaler Geltung der Menschenrechte, Demokratie Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. und Völkerrecht umfassend beschrieben. Ich brauche hier nicht im Einzelnen darauf einzugehen. Das ist völlig richtig; es ist die primäre, von der Bevöl- kerung zu nahezu 100 Prozent akzeptierte Aufgabe von Lassen Sie mich zum Umfang der Bundeswehr kom- Streitkräften, den Schutz des eigenen Landes und der men. 170 000 länger dienende Berufs- und Zeitsoldaten Bürger zu gewährleisten. Ich finde es richtig, dass das sind eine realistische Zahl; es ist für mich die Grenze, am Anfang steht und damit eine gewisse Wertigkeit hat. die Deutschland als ein Land, das in Europa eine beson- dere Verantwortung trägt, nicht unterschreiten sollten. Sie leiten aus der geringeren Bedeutung der Landes- verteidigung ab, dass man bei der Ausrüstung auf Altes, Lassen Sich mich ein Wort zum Thema Freiwilligen- was man früher für die Landesverteidigung im klassi- werbung sagen. Herr Kollege Arnold, Sie haben hier schen Sinne benötigte, verzichten kann. Dazu muss ich frühzeitig ein Konzept zum Scheitern verurteilt, dessen sagen: Das wäre eine fahrlässige Vernachlässigung po- Umsetzung eigentlich noch gar nicht richtig begonnen tenzieller Bedrohungen. hat. Es wäre eigentlich schade, wenn es scheitern würde. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12833

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) (Rainer Arnold [SPD]: Finde ich auch!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) Denn ich glaube, dass eine Chance darin liegt, Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU- Fraktion. (Beifall des Abg. [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an die jungen Menschen zu appellieren: Tut etwas für neten der FDP) euer Land, egal ob bei der Bundeswehr, in einem sozia- len Jahr, im Entwicklungsdienst oder auf andere Art und Florian Hahn (CDU/CSU): Weise! Wir sollten im Grunde klarmachen: Wir brauchen Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- junge Menschen, die sich für die Gemeinschaft einset- gen! Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben CDU, zen. CSU und FDP die Neuausrichtung der Bundeswehr an- (Michael Groschek [SPD]: Sie müssen sich gelegt. Der ehemalige Verteidigungsminister Karl- auch eingeladen fühlen!) Theodor zu Guttenberg hat diese Aufgabe mit großer Entschlossenheit angenommen. – Herr Groschek, da sind wir uns einig. – Es geht darum, dass in einem bestimmten Teil der Biografie nicht nur (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: das Ich im Vordergrund steht, sondern auch deutlich Aber hallo!) wird, dass es eine Verpflichtung gegenüber den anderen gibt. Lassen Sie uns daran arbeiten und nicht vorzeitig Er hat eine der größten Reformen dieser Legislatur mit aufgeben. Wir müssen mit einer Anerkennungskultur für Weitblick, mit Dynamik und mit großem Mut auf den die Freiwilligendienste, das Ehrenamt und den Einsatz richtigen Weg gebracht. für die Gemeinschaft werben. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael (Rainer Arnold [SPD]: Sagen Sie das Ihrer Re- Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das klang gierung, nicht uns!) heute schon anders!) Kollegin Buchholz, es ist einfach primitive Polemik, Das ist ein Verdienst, das bleibt. wenn Sie von der Propaganda der Bundeswehr und ähn- Dies haben Sie, Herr Minister de Maizière, in Ihrer lichen Dingen sprechen. Ich halte es für wichtig, dass Rede zur Neuausrichtung der Bundeswehr am 18. Mai junge Menschen informiert – nicht indoktriniert – wer- 2011 in Berlin deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen den: über die Aufgaben der Streitkräfte, über die ele- ausdrücklich danken. Sie haben darauf aufgebaut, und mentare Aufgabe des Staates, für die Sicherheit eines Sie haben mit der Fertigstellung der Verteidigungspoliti- Landes zu sorgen. Das ist eine wichtige Bildungsauf- schen Richtlinien der Reform unserer Streitkräfte die (B) gabe, und keine Propaganda; lassen Sie sich das an die- notwendige und vor allem richtige sicherheitspolitische (D) ser Stelle sagen. Ausrichtung gegeben. Damit ist ein solides Fundament (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gegossen, auf das wir nun fähigkeits- und einsatzorien- FDP) tiert aufbauen können. Dies erfolgt unter den richtigen Prämissen der nachhaltigen Finanzierbarkeit und der De- Zum Finanzkonzept. Seitens der Opposition ist viel mografiefestigkeit. Kritik daran geübt worden. Es wurde auch gesagt, dass ein solches Konzept im Augenblick fehlt. Ich meine, Wie sich Fundament und Prämissen auf die Neuge- diese Kritik ist dem politischen Ritual geschuldet. Natür- staltung auswirken, zeigt sich beispielsweise bei der Pla- lich steht und fällt die Reform mit einer soliden Finanz- nung des zukünftigen Personalumfangs. Mit 240 000 mi- inie; das ist völlig klar. Ich bin sicher, dass wir diese be- litärischen und zivilen Dienststellen haben wir einen kommen werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle daran Level erreicht, der verteidigungspolitisch noch verant- erinnern, dass das gesamte Parlament Verantwortung für wortbar ist. Das ist aber auch ein Umfang, der mit Blick die Parlamentsarmee trägt und nicht nur die Regierung auf die demografische Entwicklung erreichbar zu sein und die sie tragenden Fraktionen. Ich lade die Opposi- scheint, ohne Qualitätseinbußen hinnehmen zu müssen. tion herzlich ein, bei der Bewältigung dieser schwierigen Denn was nützt es uns, wenn wir auf dem Papier mit Finanzierungsaufgabe mitzuwirken. Nachwuchs planen, die gewünschte Zahl an qualifizier- ten Nachwuchskräften aber nicht erreichen können? Kritisch angemerkt wurde auch die fehlende Einbin- Diese wichtige demografische Dimension haben Sie, dung, etwa in den europäischen Kontext. Ich glaube, Herr Minister, in vielen Gesprächen in den letzten Wo- dass sich jeder Bündnispartner bei der Reform seiner chen immer wieder sehr eindrucksvoll aufgezeigt. Streitkräfte zunächst am nationalen Rahmen orientiert und dabei die entsprechenden Potenziale aufrechterhält. Mit einer sicherheitspolitisch verantwortbaren und demografiefesten Reduzierung des Personalumfangs Der Präsident zeigt mir an, dass meine Redezeit abge- kann langfristig auch ein entscheidender Sparbeitrag ge- laufen ist. Ich möchte schließen mit dem Dank an den leistet werden. Bis dahin verlangt der Personalumbau Minister für das Konzept. Ich möchte ihm für diese aber wahrscheinlich zusätzliche Mittel, die es aus meiner schwierige Aufgabe die Unterstützung meiner Fraktion Sicht entsprechend einzelplanunschädlich zu berücksich- zusichern und ihm eine glückliche Hand wünschen. tigen gilt. Vielen Dank. (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Was heißt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das?) 12834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Florian Hahn (A) – Es ist genau so, wie ich es gesagt habe, Herr Bartels: nen unsere Anerkennung und nicht parteipolitisches (C) einzelplanunschädlich. Das wäre mein Vorschlag an die- Klein-Klein. ser Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Insgesamt gilt, dass Sicherheit Kernelement staatli- Allen Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Familien chen Handelns ist und wir die Bundeswehr finanziell wünsche ich von dieser Stelle aus Gottes Segen. nachhaltig ausstatten müssen, damit unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag bestmöglich erfüllen kön- Es freut mich nun, dass nach mir Frau Julia Klöckner nen. Zur optimalen Auftragserfüllung gehört die Bereit- ihre Rede hält. Es ist immer besonders bedauerlich, stellung einer modernen, schützenden Ausrüstung. Hier- wenn mit dem Ausscheiden einer Kollegin aus diesem bei leisten gerade die deutsche und die europäische Haus auch Kompetenz, Schlagfertigkeit und Charme Wehrtechnik einen wichtigen Beitrag. Den Erhalt deut- verloren gehen. Glück und Gottes Segen für Ihre neue scher Kernfähigkeiten im Bereich dieser Hochtechnolo- Aufgabe in Rheinland-Pfalz! gien gilt es daher unbedingt zu berücksichtigen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen unsere Soldaten weiterhin optimal ausstatten können, ohne uns von anderen abhängig zu machen. Hierzu brauchen wir – auch das wurde schon angespro- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chen – optimale Beschaffungsprozesse. Nun hat mir Kollege Hahn schon die Arbeit abge- nommen. Also, Kollegin Klöckner, ergreifen Sie das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wort. Ich möchte Ihnen, Herr Minister, auch dafür danken, (Beifall bei der CDU/CSU – Florian Hahn dass Sie am 18. Mai so deutliche Worte zur Frage der [CDU/CSU]: Ich war mir nicht sicher, ob Sie Standorte gefunden und sich für ihre Erhaltung in der das gut machen!) Fläche ausgesprochen haben. (Michael Groschek [SPD]: Wir zählen nach!) Julia Klöckner (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Gerade in regionaler Nähe wird die Bundeswehr als at- der Tat, es ist meine letzte Rede hier im Deutschen Bun- traktiver Arbeitgeber wahrgenommen. Das ist als ein destag, zumindest meine vorerst letzte Rede. Aspekt erfolgreicher Personalrekrutierung zu sehen. Da- rüber hinaus erhält eine Flächenpräsenz die große Ver- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Von der Bun- bundenheit mit der Bevölkerung am Standort und damit desratsbank aus sehen wir Sie in fünf Jahren die Verankerung der Armee in unserer Gesellschaft auf- dann wieder!) (B) recht. Diese Verankerung wird durch die Verkleinerung (D) auf der einen Seite und die Aussetzung der Wehrpflicht Ich möchte das einhalten, was ich vor der Wahl verspro- auf der anderen Seite nicht leichter. Die damit verbun- chen habe: dass ich komplett nach Rheinland-Pfalz dene Herausforderung müssen wir bei der Neuausrich- wechsele. tung im Auge behalten. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sind Sie gut aufgehoben, beim Ministerpräsidenten Um gerade jungen Menschen die wichtige Rolle der Beck!) Bundeswehr in unserem Staatswesen zu vermitteln, hat sich beispielsweise das Konzept der Jugendoffiziere be- Für meine Rede heute habe ich mir bewusst das währt. Das gilt es zu erhalten und zu stärken. Die Bun- Thema Bundeswehr ausgesucht. Ich komme aus einem deswehr als attraktiver Arbeitgeber muss weiterentwi- Bundesland, in dem die Bundeswehr eine große Rolle ckelt werden. Vor allem muss ihre Attraktivität mit spielt. Das gilt nicht nur für die Soldatinnen und Solda- geeigneten Instrumenten kommuniziert werden. Die be- ten, sondern auch für die Zivilbeschäftigten, sei es in rufliche Ausbildung sowie das Konzept der Bundes- Birkenfeld, in Baumholder, im Grunde in ganz Rhein- wehruniversitäten sind dabei wichtige Markenzeichen land-Pfalz. der Bundeswehr. (Jörg van Essen [FDP]: Idar-Oberstein nicht zu Kolleginnen und Kollegen, im Hinblick auf die zuvor vergessen! Als Artillerist ist mir das ganz geführte Diskussion und gerade im Hinblick auf die Dis- wichtig!) kussion im Ausschuss möchte ich dem Minister noch – Dazu wollte ich gerade kommen. – Ich habe in Idar- einmal ganz herzlich danken. Er hat ein solides und trag- Oberstein regelmäßig Gespräche mit Menschen geführt, fähiges Konzept auf den Tisch gelegt. Dabei ist es ihm deren Angehörige beispielsweise in Afghanistan sind. gelungen, zumindest die ernstzunehmenden Fachpoliti- Wenn ich diese Gespräche beendet hatte, hatte ich meist ker der Opposition für weite Teile der Reform zu gewin- mehr Fragen, als ich Antworten bekommen hatte. Ich nen. Der Versuch, auch heute ein Haar in der Suppe zu weiß nicht, wie es Ihnen geht: Im Deutschen Bundestag suchen, ist ihrer Oppositionsrolle geschuldet und natür- haben wir häufig über Einsätze im Ausland entschieden. lich okay. Nicht selten sind wir danach bei parlamentarischen (Stefan Rebmann [SPD]: Wie großzügig!) Empfängen gewesen und zur Tagesordnung übergegan- gen. Für unsere Soldatinnen und Soldaten ist es wichtig, dass die Reform auf einer breiten parlamentarischen Ich kann für mich sagen: Manche Entscheidungen Mehrheit fußt. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdie- habe ich schweren Herzens getroffen. Wir erleben dieser Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12835

Julia Klöckner (A) Tage, dass Menschen, die wir in den Auslandseinsatz ge- Das halte ich für nicht angemessen. (C) schickt haben, ums Leben kommen. Es ist gleich, ob wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – diese Einsätze als Krieg bezeichnen oder nicht. Sie las- Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist sen ihr Leben im Dienst für unser Land. Das verdient unglaublich, was Sie hier machen! Unfassbar!) Anerkennung. Das gilt auch für diejenigen, die sich in Zukunft für die Bundeswehr entscheiden. Die Bundeswehr hat etwas in der Schule zu suchen; denn sie bietet Berufsperspektiven. Die Bundeswehr bietet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Studienmöglichkeiten, handwerkliche Ausbildungen und Ich gebe zu: Ich war immer eine Anhängerin der auch Sanitätsausbildungen. Wehrpflicht. Aber ich musste einsehen, dass die Wehr- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dass Sie pflicht aufgrund des demografischen Wandels und der nicht Ministerpräsidentin geworden sind, war fehlenden Wehrgerechtigkeit so nicht mehr aufrechtzuer- gut! – Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter halten ist. Ich war auch eine Verfechterin der allgemei- [CDU/CSU]: Nur getroffene Hunde bellen!) nen Dienstpflicht. Dienst an einem Land kann ganz ver- schiedene Gesichter haben. Man kann sich um alte Deshalb wird es auch Aufgabe der Bundeswehr sein, Menschen oder um Natur und Umwelt kümmern, und zu werben, damit sich junge Menschen für den Dienst in man kann sich für die Sicherheit des Landes einsetzen. der Bundeswehr entscheiden. Wir haben bisher keine ei- Eine allgemeine Dienstpflicht ist verfassungsmäßig pro- genen Erfahrungswerte, wie wir geeigneten Nachwuchs blematisch. auf einer Freiwilligenbasis gewinnen können. Wir brau- chen jeden. Ich bin auch Realistin: Das Ehrenvolle ist Deshalb setzt der Weg, den unser Bundesverteidi- das eine; aber bei der Gewinnung von Vollbeschäftigten gungsminister eingeschlagen hat und fortführen wird, werden wir aufgrund der Attraktivität vieler anderer Ar- großes Vertrauen voraus. Er hat bereits große Zustim- beitsplätze vor besonderen Herausforderungen stehen. mung bei den Betroffenen hervorgerufen. Deshalb bitte Deshalb sollten wir bei dieser Zäsur darauf achten, ich Sie alle hier im Parlament – ich werde das Nötige dass das Gespräch über die Bundeswehr, über ihre ver- von Rheinland-Pfalz aus tun –, den Minister bei diesem fassungsgemäße Verankerung nicht von den Tischen der Weg zu unterstützen und die Gelder zur Verfügung zu Familien, nicht aus der Gesellschaft verschwindet. Die stellen, die wir jetzt brauchen, damit wir auf längere Bundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr steht Sicht – nach der Neustrukturierung der Bundeswehr – auch unter einer Kontrolle. Die Bundeswehr ist für uns weniger Geld brauchen. Das ist keine parteipolitische im Einsatz. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden Frage, sondern gesamtgesellschaftliche Verantwortung. darüber entscheiden, wen Sie wohin schicken. Die Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen können freiwillig wählen, ob sie Dienst in der (B) Bundeswehr leisten – ja, das stimmt -; aber wir sollten (D) Herr Arnold hat vorhin Rheinland-Pfalz gelobt. Ich nicht leichtfertig über die Einsätze entscheiden. finde, Rheinland-Pfalz ist ein super Bundesland. Wie gesagt, sehr geehrter Herr Minister, von Rhein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der land-Pfalz aus werde ich Sie unterstützen. Ich bedanke SPD und der FDP – Rainer Arnold [SPD]: Es mich bei Ihnen und euch allen für eine tolle Zeit in neun wird auch gut regiert! – Christian Lange Jahren. [Backnang] [SPD]: Seit Jahrzehnten sozialde- mokratisch regiert! Da haben Sie recht! Her- Herzlichen Dank. vorragend!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Dass es so super ist, hat es seinen Bürgerinnen und Bür- der FDP) gern, sicherlich auch den Winzerinnen und Winzern, zu verdanken. Vizepräsident Dr. : Frau Klöckner, ich bedanke mich bei Ihnen im Na- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Als men des ganzen Hauses für Ihre engagierte Arbeit im was reden Sie jetzt?) Deutschen Bundestag. Ob das allerdings Ihre letzte Rede Bei allem geschätzten Können Ihrer Parteikollegen: Es im Deutschen Bundestag war, kann man heute in Anbe- geht auch um die Kraft der Menschen und darum, was tracht Ihres Alters noch nicht vorhersehen. die Menschen selber dort erreichen können. Ich halte es (Beifall) für nicht angemessen, dass in dem jetzigen Koalitions- vertrag von Rot und Grün steht, dass die Schule kein Re- Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesord- krutierungsort für die Bundeswehr sein soll. nungspunkt 25 auf: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Damit stellen Sie die Bundeswehr mit Rechtsradikalen- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE gruppen und Sekten gleich, die nicht in der Schule wer- ben dürfen. Rekommunalisierung beschleunigen – Öffent- lich-Private Partnerschaften stoppen (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Omid Nouripour – Drucksache 17/5776 – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen bildet! Überweisungsvorschlag: Entschuldigung, das steht da nicht drin!) Haushaltsausschuss (f) 12836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) winne für die Haushalte sind in der Regel nicht eingetre- (C) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ten; sie bestanden vor allen Dingen aus Steuerersparnis- Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sen für Leasinggesellschaften oder andere Betreiber. Die Federführung strittig Risiken blieben in der Regel bei der öffentlichen Hand. Deshalb hat übrigens das Abgeordnetenhaus von Berlin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vor geraumer Zeit mit einer breiten Mehrheit, die über die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es die Mehrheit der Koalition von SPD und Linken hinaus- Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist ging, beschlossen, keine Projekte der Öffentlich-Priva- das so beschlossen. ten Partnerschaft einzugehen. Der Grundsatz Öffentlich- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Privater Partnerschaften lautet nämlich: Public – das ner dem Wirtschaftssenator von Berlin, Harald Wolf, das heißt die Öffentlichkeit – pays, Private profits. Wort. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (Beifall bei der LINKEN) Na ja! Das ist aber nicht passiert!) Für die Kommunen lohnen sie sich nicht. Harald Wolf, Senator (Berlin): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr letzten Jahren haben immer mehr Kommunen ehemals von Stetten [CDU/CSU]: Das ist ja schon privatisierte Unternehmen der öffentlichen Daseins- Wahlkampf, was Sie jetzt machen! – Gegenruf vorsorge rekommunalisiert, wieder in kommunales des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Eigentum überführt. Das geschah unabhängig von der macht er doch immer!) politischen Couleur: Bürgermeister, Stadträte und Ge- Die Erfahrungen mit der Privatisierung von Unterneh- meinderäte von CDU, SPD, Linken und Grünen – von men der öffentlichen Daseinsvorsorge waren häufig, der FDP ist mir nichts bekannt; aber selbst das will ich dass die Preise gestiegen sind, dass insbesondere bei den nicht ausschließen – haben sich im Interesse ihrer Kom- infrastrukturgebundenen Leistungen Monopolstellun- munen entschieden, öffentliches Eigentum in öffentliche gen zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher aus- Verantwortung zurückzunehmen, und damit die Voraus- genutzt wurden, dass teilweise Investitionen und In- setzungen für die Kommune geschaffen, in Verantwor- standhaltung zurückgefahren worden sind und tung für die Bürgerinnen und Bürger die Gewährleistung Arbeitsbedingungen sich verschlechtert haben; auch der öffentlicher Daseinsvorsorge zu verbessern. Verlust der öffentlichen Steuerung ist selbstverständlich (Beifall bei der LINKEN) eine der Folgen. (B) (D) Seit 2007 sind 42 neue Stadtwerke gegründet worden, Ich will an dieser Stelle sagen: Es hat sich auch finan- und 100 Konzessionsverträge für die Netze sind von ziell für die Kommunen nicht ausgezahlt; denn für eine Stadtwerken übernommen worden. Bei der Abfallentsor- kurzfristige Einnahme – einmalig in einem Haushalts- gung hat es zwischen 2004 und 2008 im Rahmen von jahr – wurde eine langfristige, nachhaltige Einnahme- Neuvergaben 49 Rekommunalisierungen gegeben. Bür- quelle aufgegeben. Ich will Ihnen das an einem Beispiel gerinnen und Bürger wehren sich mit Volksentscheiden deutlich machen. gegen Privatisierungspläne oder haben über Volksent- Ich habe schon die Teilprivatisierung der Berliner scheide Rekommunalisierungen durchgesetzt. In Berlin Wasserbetriebe angesprochen. Damals ist für haben wir vor einiger Zeit den Erfolg eines Volksent- 1,7 Milliarden Euro die Hälfte der Anteile an Private scheids erlebt, der unter dem Motto „Wir wollen unser veräußert worden. Wenn man ausrechnet, welche Zinser- Wasser zurück“ den Protest gegen die Teilprivatisierung sparnis das bedeutet – 1,7 Milliarden Euro, 4 Prozent der Berliner Wasserbetriebe im Jahre 1999 durch die da- Zinsen –, kommt man auf circa 70 Millionen Euro. Die malige Große Koalition artikuliert hat. Über 700 000 Privaten haben eine Rendite von circa 120 Millionen Berlinerinnen und Berliner haben diesen Volksentscheid Euro. Das heißt, ich könnte für den Haushalt jährlich unterstützt. diese Zinsersparnis von 70 Millionen Euro sozusagen als (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. öffentliche Einnahme verbuchen, wenn ich die Anteile Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE noch hätte, und gleichzeitig hätte ich ein Tarifsenkungs- GRÜNEN]) potenzial zugunsten der Kundinnen und Kunden in Höhe von 50 Millionen Euro. Es hat sich also weder für die Dies zeigt: Immer mehr in den Kommunen Verant- Kunden noch für die Kommune gerechnet. wortliche und immer mehr Bürgerinnen und Bürger ha- ben mit der Privatisierungswelle der 90er-Jahre Erfah- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil Sie das rungen gemacht. Viele der Versprechungen, die damals falsch angefangen haben!) gemacht wurden, haben sich nicht erfüllt, und viele Ver- Aus derartigen Privatisierungserfahrungen müssen die heißungen, die damals an die Wand gemalt wurden, ha- Lehren gezogen werden. ben sich nicht realisiert. (Beifall bei der LINKEN) Die Öffentlich-Privaten Partnerschaften haben sich als nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme er- Deshalb hat der Senat von Berlin auch beschlossen, wiesen. Die kommunalen Haushalte wurden durch lang die Berliner Wasserbetriebe zu rekommunalisieren. Wir laufende Verbindlichkeiten weiter belastet. Effizienzge- stehen gegenwärtig in Verhandlungen mit RWE über den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12837

Senator Harald Wolf (Berlin) (A) Rückkauf der Anteile und in Verhandlungen mit dem (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) zweiten Anteilseigner, Veolia, über einen Neuabschluss Berlin ist ganz anders!) der Verträge. Verbunden war damit die Auflage des Verfassungsge- Wir haben eine breite Diskussion über die öffentliche richts, dass wir nur noch gesetzlich vorgeschriebene Verfügung über die Energienetze, weil 2014 die Konzes- Ausgaben tätigen dürfen und alle möglichen Einnahmen sionsverträge auslaufen. realisieren müssen. Der Senat hat damals jene Entschei- dung getroffen, um die finanzielle Handlungsfähigkeit Wir haben in Berlin eine kommunale Wertstofftonne zu gewährleisten – vor dem Hintergrund des von Ihrer eingeführt, um unseren kommunalen Entsorger zu stär- Partei, von den Grünen und von der CDU angeregten ken. Verfassungsgerichtsurteils mit der Auflage, Handlungs- Wir haben noch eine Konsequenz aus den Erfahrun- fähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten. gen der Vergangenheit gezogen, nämlich die, dass bei ( [CDU/CSU]: Eine unglaubli- der Übertragung öffentlicher Aufgaben der Daseinsvor- che Frechheit, wie Sie das hier darstellen!) sorge an Dritte die Verträge offengelegt werden müssen, dass keine vertraulichen Verträge mehr abgeschlossen Ich sage im Nachhinein: Wir hätten an dieser Stelle werden dürfen. Wir haben ferner die Voraussetzung da- standhafter sein müssen. für geschaffen, dass derartige Verträge auch rückwirkend (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: offengelegt werden können. Ich würde mich freuen, Das ist schade!) wenn andere Bundesländer sich daran ein Beispiel neh- men würden, weil das die Transparenz stärkt. Aber nehmen auch Sie Ihre Mitverantwortung oder die Ihrer Parteifreunde wahr. Niemand hat damals einen (Beifall bei der LINKEN) Vorschlag zur Finanzierung des Berliner Haushalts ma- chen können. Vor diesem Hintergrund ist jene Entschei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dung getroffen worden. Herr Senator Wolf, ich darf Sie kurz unterbrechen. Wir haben mittlerweile eine klare Beschlussfassung Der Kollege Mücke von der FDP und der Kollege – das ist eine Lehre aus diesem Fehler –: Es gibt keine Ströbele von den Grünen würden Ihnen gerne jeweils Rekommunalisierung kommunalen Wohnungsbestandes, eine Zwischenfrage stellen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Harald Wolf, Senator (Berlin): Das ist gut so!) Gern. und es gibt keine Privatisierung von Unternehmen der (B) (D) Daseinsvorsorge. Das ist klare Beschlussvereinbarung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei uns, das ist Koalitionsvereinbarung, und das ist auch Bitte schön. Beschlusslage im Senat, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Jan Mücke (FDP): Herr Senator, wir haben jetzt Ihre Skepsis gegenüber Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Privatisierungen gehört. Ich vertrete als Liberaler dazu Jetzt der Herr Kollege Ströbele. eine andere Auffassung. Es ist bemerkenswert, welche Position Sie einnehmen. Deshalb meine Frage. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Der rot-rote Senat hatte vor einiger Zeit die größte GRÜNEN): landeseigene Wohnungsbaugesellschaft an die Börse ge- Herr Senator, ich begrüße Sie im Deutschen Bundes- bracht und damit privatisiert. Plant der Senat von Berlin tag. – Sie haben lobend den Volksentscheid zu den Berli- jetzt einen Rückerwerb dieser Anteile, und, wenn ja, wie ner Wasserbetrieben erwähnt. Meine Frage lautet: Haben will er diesen Rückerwerb finanzieren? der Senat von Berlin und Sie persönlich den Volksent- scheid unterstützt, oder hat sich der Volksentscheid ge- Harald Wolf, Senator (Berlin): gen den Senat gerichtet, nachdem der Senat von Berlin Herr Abgeordneter, Sie sind nicht richtig informiert. und der zuständige Senator sich geweigert haben, die Wir haben diese Gesellschaft nicht an die Börse ge- Verträge über den Verkauf der Wasserbetriebe von Ber- bracht. lin offenzulegen, und der Senat trotz einer Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichts diese Verträge weiter- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hin nur sehr unvollständig offengelegt hat und deshalb Sie haben sie erst verkauft, und jetzt sind sie durch den Volksentscheid dazu gezwungen werden an der Börse!) musste, die Verträge vollständig offenzulegen? Sie tun so, als wenn das ein Volksentscheid gewesen wäre, der 2003 gab es eine Privatisierung – das ist richtig –, unter vom Berliner Senat unterstützt, vielleicht sogar initiiert folgenden Bedingungen, nämlich dass damals die verei- worden ist. Ich finde es hervorragend, dass Sie das jetzt nigte Opposition von Grünen, CDU und FDP vor dem prüfen; aber wir wollen doch der historischen Wahrheit Verfassungsgericht gegen den Berliner Landeshaushalt die Ehre geben. geklagt und ihn für verfassungswidrig hat erklären las- sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 12838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Harald Wolf, Senator (Berlin): Das Abgeordnetenhaus hat die Verträge auf der Grund- (C) Lieber Christian Ströbele, auch ich bin sehr dafür, der lage einer Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes of- historischen Wahrheit die Ehre zu geben, und ich stelle fengelegt, und zwar vor dem Volksentscheid. fest, dass, wenn grüne Politiker aus Berlin im Deutschen (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Bundestag sitzen, sie manchmal die Verästelungen der nicht vollständig! Das wissen Sie doch!) Berliner Politik nicht wirklich wahrnehmen; Das ist die Wahrheit, wenn Sie eine ganz kurze Antwort (Lachen des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) wollen. das stellen wir gegenwärtig auch im Wahlkampf fest. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Lisa Paus [BÜND- Jetzt fahre ich in meinen Ausführungen fort. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wollen wir doch mal gucken, was Herr Wolf in der taz zu dem (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Thema gesagt hat! – Manfred Grund [CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal die CSU]: Die Belehrungen können Sie im Senat Frage beantworten? Beantworten Sie doch mal machen, aber nicht hier!) die Frage! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hat er doch beant- – Ich spreche gerade mit dem Kollegen Ströbele, der mir wortet!) eine Frage gestellt hat, die ich, wie sich das gehört, an- ständig beantworten will. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist so beantwortet, wie er sie beantworten Dann geben Sie sich mal Mühe!) wollte. Der Herr Senator kann jetzt mit seiner Rede fort- Herr Ströbele, das Abgeordnetenhaus von Berlin hat fahren. – Bitte schön, Herr Senator. eine Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes beschlos- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- sen und damit der Intention des Volksbegehrens Rech- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist nicht nung getragen; denn auf der Grundlage dieses vom Par- beantwortet! Das ist doch albern!) lament – übrigens mit aktiver Mitwirkung der Fraktion der Grünen – beschlossenen Gesetzes können die Ver- Harald Wolf, Senator (Berlin): träge veröffentlicht werden. Ich würde einfach bitten, die Frage, von der Sie mei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – nen, dass sie noch nicht beantwortet ist, jetzt noch ein- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- mal zu wiederholen. Ich beantworte sie dann gern, falls (B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber nicht mir doch die Fragestellung entgangen sein sollte. (D) die Frage! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- GRÜNEN]: Gutes Gesetz!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich gebe Ihnen nicht – Das ist ein gutes Gesetz, genau. Die Offenlegung ist noch drei Minuten mehr Zeit! Hören Sie doch erfolgt, und zwar vor dem Volksentscheid. Der Senat einfach zu!) bzw. das Abgeordnetenhaus hat alles getan, um der In- – Okay. Dann wird die Frage nicht gestellt, und deshalb tention des Volksbegehrens Genüge zu tun. kann ich sie auch nicht beantworten. Ich fahre jetzt fort. Ich kann mich erinnern – um auch das einmal zu sa- (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund gen, Kollege Ströbele –: [CDU/CSU]: Die Partei hat immer recht!) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Bei dem Antrag der Fraktion Die Linke geht es da- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie endlich rum, die Rahmenbedingungen für Rekommunalisierung die Frage beantworten?) zu verbessern und Rahmenbedingungen, die in der Ver- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordneten- gangenheit geschaffen wurden, um Privatisierung zu be- haus hatte auch – – fördern, abzuschaffen bzw. zurückzudrängen. Dazu dient der Vorschlag, das ÖPP-Beschleunigungsgesetz, mit (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- dem Privatisierungen befördert werden sollen, aufzuhe- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ging doch darum, ben und stattdessen gesetzliche Regelungen zu treffen, was Sie und der Senat dazu gemeint haben!) mit denen Rekommunalisierung, die Rückführung von – Ja, aber das habe ich doch gerade gesagt. privatisierten Unternehmen in öffentliches Eigentum, befördert werden kann. Das heißt auch, dass die ÖPP (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Deutschland AG aufgelöst wird und es eine Anlaufstelle NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine ganz für die Kommunen gibt, um sie bei ihren Rekommunali- einfache Frage! Da kann man doch kurz drauf sierungsbestrebungen zu unterstützen. Dazu gehört, dass antworten!) das Förderprogramm der KfW Bankengruppe „Kommu- nal investieren“ umgewidmet werden muss. Statt mit – Ja. Ganz einfache Frage. diesem Programm Privatisierungsprojekte zu unterstüt- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- zen, soll damit in Zukunft eine kosten- und zinsgünstige NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um Ihre Finanzierung von Rekommunalisierungsprojekten be- Meinung und die des Senats!) reitgestellt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12839

Senator Harald Wolf (Berlin) (A) (Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Schauen Sie sich an, welche Auseinandersetzungen in (C) meldet sich zu einer Zwischenfrage) den Kommunen gegenwärtig geführt werden. Dabei geht es auch um die Höhe des Rückkaufwerts in dem Fall, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass man die Konzession nicht verlängern, sondern die Netze selbst übernehmen will. Herr Kollege. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Irgendwie versteht er uns nicht!) Harald Wolf, Senator (Berlin): Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage mehr zu. Hier sage ich ganz klar: Im Sinne einer Rekommunali- sierung muss geregelt werden, dass nicht der Sachzeit- wert oder der Ertragswert, sondern der kalkulatorische Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Restbuchwert entscheidend ist. Durch die Rekommuna- Keine Zwischenfrage. lisierung müssen die alten Netzbetreiber nicht auch noch zusätzlich verdienen. Deshalb fordern wir hier eine sol- Harald Wolf, Senator (Berlin): che klare Regelung. Ich habe ausführlich geantwortet und führe meine (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Rede jetzt im Zusammenhang zu Ende. Also doch Enteignung!) (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr Hieran schließen wir die Forderung an, dass es eine von Stetten [CDU/CSU]: Sagen Sie doch ein- klare Verpflichtung zur Offenlegung aller Daten gibt, die mal etwas zu den Stadtwerken! – für die Netzübernahme notwendig sind. Dies muss vier Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Jahre vor Auslaufen des Konzessionsvertrages erfolgen, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade haben Sie weil hier gegenwärtig langwierige Prozesse und juristi- dazu aufgefordert, eine Frage zu stellen! Jetzt sche Auseinandersetzungen notwendig sind. Auch hier lassen Sie sie nicht mehr zu! Die Linke weiß bedarf es also einer Klarstellung. einfach nicht, was sie will! – Gegenruf der (Beifall bei der LINKEN) Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir haben im Antrag deutlich gemacht, was Auch bei der Novellierung des Personenbeförde- wir wollen!) rungsgesetzes kommt es darauf an, dass es keinen Vor- rang für kommerzielle Betreiber gibt, sondern dass im Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen muss Gegenteil den Möglichkeiten, die EU-rechtlich gegeben klargestellt werden, dass die interkommunale Zusam- sind – Tariftreue, soziale und ökologische Standards bei (B) (D) menarbeit der Kommunen vergaberechtsfrei ist; denn für der Vergabe –, ein großes Gewicht eingeräumt wird. die Kommunen – gerade für die kleinen – ist es wichtig, dass sie hier untereinander kooperieren können. Das ist ( [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Sie übrigens auch eine Forderung, die der deutsche Bundes- können doch die Inhouse-Regelung anwen- rat gestellt hat, und ich finde, der Deutsche Bundestag den!) täte gut daran, das zu unterstützen. Ich muss zum Schluss kommen. Gerade in der gegenwärtigen Diskussion um die (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Energiewende hat das Thema Energienetze eine beson- Schade!) dere Bedeutung. Die Energiewende wird nur möglich sein, wenn wir die Energienetze, und zwar nicht nur die Ich glaube, dass wir bei derartigen positiven Rahmenbe- Übertragungsnetze, sondern auch die Verteilnetze, dafür dingungen für die Rekommunalisierung einen Zugewinn ertüchtigen, dass sie regenerative Energien, die von ihrer an Demokratie in den Kommunen erzielen können, weil Natur her dezentral und fluktuierend sind, aufnehmen die Aufgaben der Daseinsvorsorge, die ja ganz entschei- können, und wenn wir die Energienetze kommunal zu dend für die Lebensbedingungen und das Funktionieren einem virtuellen Kraftwerk miteinander verbinden. einer Kommune sind, wieder der politischen und demo- kratischen Kontrolle unterworfen werden können. Dane- Dafür sind Investitionen in diese Netze notwendig. ben können wir bessere und notwendige Voraussetzun- Um diese Investitionen steuern zu können, müssen die gen für eine wirkliche Energiewende schaffen und dafür Kommunen Einfluss auf die Netze nehmen können. Die- sorgen, dass Wertschöpfung und Arbeitsplätze in den ser öffentliche Einfluss ist eine Voraussetzung für die Kommunen erhalten bleiben; denn rekommunalisierte Energiewende; denn diese wird nicht dadurch herbeige- Unternehmen stärken – das zeigt die Erfahrung – durch führt werden, dass man die vier großen Oligopolisten ihre Auftragsvergabe gerade die örtliche, lokale Ökono- große Offshoreanlagen bauen lässt und damit die Zentra- mie. Wir können auch eine gute kommunale Infrastruk- lisierung der Energieversorgung weiter zementiert; viel- tur entwickeln. mehr muss die Energieversorgung kommunalisiert, de- zentralisiert und damit auch regenerativ gestaltet Deshalb glaube ich, dass es richtig und wichtig ist, werden. den Kommunen den Weg zur Rekommunalisierung zu erleichtern und damit die Voraussetzungen für bessere (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr Lebensbedingungen in den Kommunen und für bessere von Stetten [CDU/CSU]: Wollen Sie auch ent- öffentliche Dienstleistungen für die Bürgerinnen und eignen?) Bürgern zu gewährleisten. 12840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Senator Harald Wolf (Berlin) (A) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage dieses Gesetzes sind die Verträge (C) veröffentlicht worden. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: So viel Dialektik! Ein großer (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dialektiker, der Herr Wolf!) GRÜNEN]: Das stimmt nicht! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht voll- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ständig!) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der – Vollständig. Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/Die Grünen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Senator Wolf, da Sie die Zwischenfrage nicht Zweitens kann ich mich gut erinnern, dass die Frak- mehr zugelassen und die Frage meines Kollegen Herrn tion der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus die Be- Ströbele nach der Haltung des Senats zu dem Volksent- denken, ob der Gesetzentwurf, der zum Volksentscheid scheid nicht beantwortet haben, will ich Sie ein bisschen zur Abstimmung stand, in den einzelnen Formulierun- in Ihrem Erinnerungsvermögen unterstützen. gen verfassungsmäßig ist, geteilt hat. Ich kann mich gut erinnern, dass der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Wir beide wissen doch, dass Sie als Senator noch kurz Die Grünen vor der Volksabstimmung gefragt hat, wie vor dem Volksentscheid in einem Interview in der taz ge- wir ein verfassungswidriges Gesetz verhindern können. raten haben, diesem Volksentscheid nicht zuzustimmen. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir beide wissen auch, dass die Haltung des Senats ge- genüber dem Volksentscheid insgesamt über die ganze Jetzt können Sie nicht so tun, als ob die Fraktion der Zeit hinweg sehr zögerlich gewesen ist. Am Anfang ging Grünen oder die grüne Partei dieses Volksbegehren un- es sogar um die Frage, inwieweit dieser Volksentscheid terstützt hätte. Nein, wir haben die Intention der Offen- verfassungsrechtlich zulässig ist. Die ganze Zeit über hat legung der Verträge unterstützt, und wir haben die recht- der Senat den Volksentscheid nicht positiv begleitet, lichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Auf dieser sondern ihm im Gegenteil sämtliche Steine in den Weg Grundlage sind die Verträge veröffentlicht worden. gelegt. Setzen Sie ein solches Informationsfreiheitsgesetz Erlauben Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Wir dort um, wo Sie als Grüne in der Landesregierung sind! beide sind uns grundsätzlich in der kritischen Haltung Dann wären wir in der Bundesrepublik Deutschland wei- gegenüber Öffentlich-Privaten Partnerschaften einig. ter. (B) Nichtsdestotrotz gehört zur Wahrheit auch, dass die rot- (D) rote Praxis in den letzten zehn Jahren leider deutlich an- (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund ders war. Es ist nicht nur die Wohnungsbaugesellschaft [CDU/CSU]: Bitte keine Drohungen!) privatisiert worden, die hier bereits Thema gewesen ist, Drittens. Ja, Frau Paus, unter unserer Ägide ist auch sondern auch eine Gewerbesiedlungsgesellschaft, und es die Königliche Porzellan-Manufaktur privatisiert wor- hat weitere Aktivitäten gegeben. den. Das stimmt, aber sie gehört nicht zur öffentlichen Sie haben in Ihrer Verantwortung als Wirtschaftssena- Daseinsvorsorge. Ich bin nicht der Auffassung, dass die tor über zehn Jahre lang das Thema Wasserbetriebe nicht Produktion von Tellern und Tassen eine öffentliche Auf- etwa in Richtung Rekommunalisierung bewegt. Im Ge- gabe ist. genteil, Sie haben ein Verfassungsgerichtsurteil, das wir (Beifall bei der LINKEN) beide noch 1999 zusammen erstritten haben, wasserdicht gemacht, sodass jetzt eine Rekommunalisierung der Aber Wasser, Elektrizität und alle anderen Bereiche der Wasserbetriebe schwieriger ist, als sie 2000/2001 gewe- Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand. sen wäre. Vierter Punkt, Teilprivatisierung. Sie wissen genauso Von daher sollten Sie ein bisschen näher an der Wahr- gut wie ich, dass die Große Koalition 1999 einen Vertrag heit bleiben. Wir sind immerhin im Deutschen Bundes- geschlossen hat, in dem das Land zu einem Ausgleich al- tag. ler wirtschaftlichen Nachteile, die aus dem damaligen Verfassungsgerichtsurteil erwachsen könnten, verpflich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tet wurde. Wir waren damals – genauso wie heute – an sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) diesen Vertrag rechtskräftig gebunden. Daran hätten auch die Grünen nichts ändern können. Vor diesem Hin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tergrund haben wir eine Gesetzesänderung vornehmen Herr Senator, ich bitte Sie, vom Platz aus zu antwor- müssen, um das Teilprivatisierungsgesetz an das Verfas- ten. sungsgerichtsurteil anzupassen. Aber wir haben in kei- nem Punkt mit unserer Kritik nachgelassen. Harald Wolf, Senator (Berlin): Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach Frau Paus, erstens hat der Senat, um das noch einmal auch die Wasserversorgung der kartellrechtlichen Miss- zu sagen, ein Informationsfreiheitsgesetz beschlossen, brauchsaufsicht unterliegt, haben wir nun das Bundes- durch das die Offenlegung der Verträge möglich wurde. kartellamt eingeschaltet. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12841

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: volle Tafelsilber des Landes Berlin zu verkaufen. Das (C) Herr Kollege Wolf, Ihre Redezeit ist zu Ende. war notwendig, weil Sie in Ihrer Ausgabenpolitik nicht einhalten wollten. Harald Wolf, Senator (Berlin): (Zuruf von der LINKEN: Das sagen Sie!) Ich komme sofort zum Ende. – Heute sind wir zumin- dest in der Lage, eine Rekommunalisierung in Erwägung Wenn die Opposition ihr Recht wahrnimmt, die Regie- zu ziehen; denn es gibt politischen Druck auf die Priva- rung zu kontrollieren, und feststellt, dass die Regierung ten. Es ist klar, dass Privatisierungen in Berlin nicht keinen verfassungsgemäßen Haushalt aufgestellt hat, mehr akzeptiert werden und nicht gewollt sind. 2003 war dann sagen Sie quasi im Umkehrschluss, die Opposition die Situation anders. Damals gab es rechtskräftige Ver- sei daran schuld, dass die Regierung ein Wohnungsbau- träge, die wir erfüllen mussten. unternehmen verkaufen müsse. Diese Logik ist interes- sant, aber nicht richtig. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. [CDU/CSU]: Sehr gut Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. herausgearbeitet!) Zuerst habe ich mich gefragt, warum wir über Ihren Harald Wolf, Senator (Berlin): Antrag überhaupt diskutieren. Schließlich geht es nur Diese Verträge müssen wir noch heute erfüllen. um ein paar Hochbauprojekte im Rahmen von ÖPP. Wenn man aber genau hinschaut, stellt man fest, dass Ihr (Beifall bei der LINKEN) Antrag sehr stringent ist. Die dort erhobenen vier Forde- rungen greifen sehr klar ineinander. Entgegen Ihrer Auf- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fassung geht es im Wesentlichen aber nicht darum, über Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Kruse von der Privatisierungen zu reden. ÖPP ist nicht mit Privatisie- CDU/CSU-Fraktion. rung gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich um eine Partnerschaft zwischen Privaten und Öffentlichen zum (Johannes Kahrs [SPD]: Früher habt ihr mal Zwecke der Durchführung und des Betreibens von Pro- geklatscht, als eure Leute nach vorne gegan- jekten. Es geht Ihnen also gar nicht darum, Fehler der gen sind! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund Vergangenheit aufzuarbeiten. Als Hamburger weise ich [CDU/CSU]: Wir klatschen für Leistung und darauf hin: Wir haben als CDU ganz klar gesetzlich fest- nicht für das Nach-vorne-Gehen!) gelegt, dass die Wasserwerke nicht verkauft werden dür- fen. Ich glaube, das ist eine sehr gute Entscheidung ge- Rüdiger Kruse (CDU/CSU): wesen. (D) (B) Ja, damals, Johannes. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Grundsätzlich freue ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ mich sehr, wenn auf der Bundesratsbank Leute sitzen. DIE GRÜNEN) Wenn diese dann auch noch sprechen, ist das in der Re- Ihr Antrag stellt keine Einladung dar, um über die gel nett. Als Hamburger habe ich dann erst einmal den Vorteile und Nachteile von ÖPP anhand der knapp positiven Reflex: Der ist immerhin Senator. – Aber die 100 Projekte, die bisher durchgeführt wurden, zu disku- Erwartungen werden nicht immer so erfüllt, wie man es tieren. Es gibt ja einen Erfahrungsbericht. Dieser Erfah- sich wünscht. rungsbericht sagt aus, dass 14 Prozent der Projekte un- Sie haben leider sehr wenig zu dem vorliegenden An- terhalb der Kostenschätzung vor Ausschreibungsbeginn trag gesagt. Das mag man Ihnen nachsehen; denn Sie sind lagen. Die Verteilung der Aufträge ist ja immer kritisch. kein Mitglied dieses Parlaments. Ich komme gleich auf Siegen immer nur die Großen? Die Verteilung ist um die Punkte Ihres Antrages zu sprechen. Aber Sie haben 5 Prozent besser als bei der herkömmlichen Vergabe, immerhin tiefe Einblicke in Ihr politisches Selbstver- wenn mittelständische Betriebe, vor allen Dingen die im ständnis und das Ihrer Regierung gegeben. Am Schluss regionalen Umkreis von 100 Kilometern, mit einbezo- haben Sie gesagt, Ihre Vorstellungen seien ein Weg für gen werden. Bei den 16 bisher fertiggestellten, schluss- mehr Demokratie. Wenn ich mir Ihre gesamte Rede in Er- gerechneten Projekten ist das Verhältnis so, dass drei da- innerung rufe, dann frage ich mich, was Sie eigentlich zu von etwas teurer geworden sind, drei etwas billiger und Ihrem Demokratieverständnis gesagt haben. Als das Par- logischerweise zehn auf den Punkt abgeschlossen haben. lament in Berlin sein vornehmstes Recht und seine vor- Das ist alles nicht sehr spannend. Das würde derartige nehmste Pflicht, Sachwalter des Haushaltes zu sein und Maßnahmen also nur im Einzelfall erlauben; da gebe ich die Haushaltskontrolle auszuüben, wahrgenommen hat den Antragstellern recht. Natürlich gibt es auch Projekte, und – weil Sie nicht hören wollten – vor Gericht ziehen bei denen man sagen muss: Da ist ÖPP nicht sinnvoll ge- musste, um Sie zu zwingen, einen verfassungsgemäßen wesen. Es ist also kein Allheilmittel. Haushalt vorzulegen, haben Sie sich von dunklen Mäch- Der Antrag will aber etwas anderes. Wenn wir diesen ten umgeben und verfolgt gefühlt. Antrag beschließen würden, dann würde sich die Repu- blik verändern. Warum? Der Einstieg betrifft nur ÖPP. ( [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Dann sagen Sie, Sie wollen mehr in die Kommunen ver- Diese dunklen Mächte – FDP, Grüne und CDU, also Par- lagern. Dem kann man natürlich entgegnen, dass es nach teien, die einen wesentlichen Bestandteil dieser Demo- unserer Erinnerung in der Vergangenheit nicht immer so kratie darstellen – haben Sie dann genötigt, das wert- gewesen ist, dass Kommunen automatisch besser gewirt- 12842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Rüdiger Kruse (A) schaftet hätten; das ist ein weites Feld. Sonst wären wir sie von ihm als Mensch und von seiner Fachkompetenz (C) ja auch nicht auf die Idee gekommen, private, marktwirt- und seiner moralischen Kompetenz überzeugt ist. Die schaftliche Elemente mit einzubauen. schickt ihn in ein Unternehmen, damit er zum Wohle dieses Unternehmens und im Interesse der Anteilseigner Dann sagen Sie, wir möchten, dass dort, wo die Kom- handelt. Sie mit Ihrem grundsätzlichen Misstrauen ge- mune beteiligt ist, das Aktienrecht geändert wird. Und genüber jedem Individuum wollen das nicht. Sie wollen Sie sagen, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen ihm detailliert vorgeben, was er zu tun hat. Er soll wei- Tätigkeit von Kommunen aufgehoben werden soll. sungsgebunden handeln. Er soll zurückberichten, wieder Wozu würde das Ganze führen? hinlaufen und sagen: Meine Partei hat mir gesagt, ich (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Zu Transparenz!) soll dieses oder jenes entscheiden. – Zu Transparenz, das ist interessant. Es hat nichts mit (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir nennen Transparenz zu tun, wenn die Einschränkung der wirt- das Sozialismus! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: schaftlichen Tätigkeit von Kommunen aufgehoben wird, Mein Stadtrat, nicht meine Partei!) sondern dies ist eine Wettbewerbsverzerrung. Warum? – Ja, Ihr Stadtrat. Dass Sie gerne eine Räterepublik ha- Ein kommunaler Betrieb kann kaum pleitegehen. Ich ben wollen, das habe ich Ihrem Antrag auch entnommen. weiß, Berlin bzw. Sie arbeiten daran, aber das dauert Das ist nicht der richtige Weg. sehr lange. Was würde am Ende passieren, wenn Ihr Projekt (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Norbert Barthle durchgesetzt würde? Sie würden eine Gesellschaft be- [CDU/CSU]: Irgendwann schon!) kommen, in der es nur staatliche Betriebe und Großkon- Die meisten unter uns sind sich einig, dass die Was- zerne gäbe. Großkonzerne würden sicherlich in Ihrem serwerke staatlich bleiben müssen. Nun kann ein Was- System überleben. Verschwinden würden kleine und serwerk natürlich sagen: Wenn wir schon die Wasserlei- mittelständische Betriebe. Genau das ist Ihr Ziel. Das ist tung legen, dann könnten wir auch den Hausanschluss auch okay, und das Ziel ist legitim. Sie wissen, dass die legen. Und wenn wir schon einmal da sind, dann – nach Gesellschaft, die Sie wollen, keine Gesellschaft ist, in dem Motto: alles aus einer Hand, „one face to the custo- der es kleine, selbstständige Einheiten und ein freies Un- mer“ – bauen wir Ihnen auch noch die Badewanne ein. ternehmertum gibt. Dann sagt man noch: Wir brauchen ja Arbeitsplätze im (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Deshalb fördern Handwerk, von daher stellen wir Leute ein. – Ihr Ange- wir dezentrale Energiestrukturen und Sie die bot für diese Badezimmergestaltung erstellen sie vor großen Vier! Das ist ein Widerspruch in sich!) dem Hintergrund der Gebühreneinnahmen. Das heißt, (B) sie können auf dem Markt interessante Angebote ma- – Bei der Kritik, die eben durchschien – auch ich bin (D) chen und müssen keine Konkurrenz scheuen; denn im kein Freund der großen Vier –, müssen Sie eines sehen: Zweifelsfall liegen sie in ihrem Preis unter dem der Kon- Die Energiestruktur, die wir heute haben, ist nicht auf kurrenz. Das bedeutet, der kleinere Betrieb hat das privatwirtschaftlicher Basis entstanden. Kein einziges Nachsehen. Der kann sich nicht so rückfinanzieren wie Atomkraftwerk ist von einem privaten Unternehmen ge- ein kommunales Unternehmen, weil er natürlich nicht plant oder gebaut worden. Die Atomkraftwerke sind das Rating hat wie eine Kommune. Darüber hinaus kann staatlich entstanden. Das heißt, dass staatliche Systeme er auch nicht auf Gebühreneinnahmen zurückgreifen. sehr wohl zu Fehlern neigen. Das haben wir überall be- Das ist keine Transparenz, sondern die Zerstörung von wiesen, Sie besser als wir. Strukturen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Norbert Dann wollen Sie das Aktienrecht mal so eben – nur Barthle [CDU/CSU]: Das war ein vergiftetes wegen Ihrer Rekommunalisierung – dahin gehend än- Lob!) dern, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates weisungsge- bunden sein sollen und Bericht erstatten müssen. Zu argumentieren, wenn ein Unternehmen in kommu- nalem Besitz sei, würden immer die richtigen Entschei- Nehmen wir zunächst einmal den letzten Punkt, die dungen getroffen, ist falsch. Die Energiewende, die in Berichterstattung. Sie wollen, dass die Mitglieder des unserer Gesellschaft stattfindet, ist nicht von den Kom- Aufsichtsrates verpflichtet sind, die vertraulichen Infor- munen ausgegangen, sondern von privaten Stromanbie- mationen, die sie dort bekommen, an ihre Entsender wei- tern wie LichtBlick, die darauf vertraut haben, dass es in terzugeben. Das können Sie auch einfacher haben: Ich diesem Land Kunden für Ökostrom gibt. Diese haben würde das Ganze einfach auf YouTube oder anderweitig bahnbrechend gewirkt. Nur deswegen ist das so. Wenn ins Internet stellen. Die Vertraulichkeit ist dann natürlich heute kommunale Betreiber anfangen, in der Kreislauf- weg. Sie können dann Unternehmensinterna nicht mehr wirtschaft Angebote zu machen, dann tun sie das nur, diskutieren, bzw. sie sind nicht mehr intern. Das ist, weil private Unternehmen ihnen das vormachen. glaube ich, ein großer Nachteil. Das Subsidiaritätsprinzip sollten wir nicht anrühren. Zweitens, die Weisungsgebundenheit. Man kann na- Wenn Ihr Projekt greift, die Kommunen vor Ort, vor allen türlich das tun, was Sie da wollen, aber das ist ein ande- Dingen in strukturschwachen Gebieten, die Führung res System. Wir haben ein System, das aus Verantwor- übernehmen und die Stadtreinigung auch noch Garten- tung, Freiheit und Gewissen besteht. Das bedeutet, die bauleistungen anbietet, dann wird die Vielfalt verschwin- Gewerkschaft, die einen Vertreter entsendet, tut das, weil den, und die Städte und Gemeinden werden grauer. Die- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12843

Rüdiger Kruse (A) ses Modell ist erst 20 Jahre her. Wir möchten es nicht der auch von der mittelständischen Wirtschaft Berlins (C) wiederhaben. Deswegen werden wir Ihren Antrag ableh- gelobt wird. Das ärgert häufig Ihre Bundespartei, aber nen. die Linke in Berlin findet das gut. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss sich mit diesem Antrag inhaltlich beschäf- tigen. Wenn wir das tun, kommen wir zu dem Ergebnis, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass es nicht so ist, dass die Kommune immer alles rich- Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs von tig macht, aber auch nicht so, dass die Privaten alles der SPD-Fraktion. richtig machen. Wenn wir den Antrag lesen, stellen wir fest, dass in einer, wie ich finde, unerträglichen Art und (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ Weise der Bereich der Privatisierung und Rekommunali- CSU]: Herr Kahrs, bei Ihnen haben vier Leute sierung mit ÖPP vermischt wird. Das eine hat nur sehr geklatscht!) begrenzt mit dem anderen etwas zu tun; das hat Herr Kollege Kruse auch gesagt. Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Es ist doch so, dass die umfangreichste Verstaatli- Kollegen! Es ist immer wieder eine Freude, wenn man chung gerade in Baden-Württemberg stattgefunden hat. hier im Deutschen Bundestag eine inhaltliche Debatte Die Anteile an EnBW wurden, glaube ich, nicht von der führen kann. Bisher habe ich das vermisst. Ich habe et- Linkspartei zurückgekauft, sondern von einer Koalition was vom Berliner Lokalwahlkampf erlebt. aus CDU und FDP. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich auch!) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig überteuert!) Ich frage mich, ob hier der Ort dafür ist. Ich bin mir si- cher, dass die Debatte, die zwischen den Kollegen von Also können Sie den vorliegenden Antrag mit sehr viel den Grünen und der Linken geführt worden ist, im Berli- mehr Wohlwollen lesen als wir Sozialdemokraten. ner Abgeordnetenhaus sehr viel qualifizierter mindes- (Florian Toncar [FDP]: Alle Parteien haben tens 20- bis 30-mal geführt worden ist. Deswegen frage zugestimmt!) ich, warum man uns hier damit behelligen muss. Ich glaube nicht, dass es für das Land ein wirklich tolles Im Ergebnis stellt man, wenn man den Antrag der Geschäft war, was der damalige und zu Recht abge- Linken liest, fest, dass reine Ideologie gefeiert wird. Hier wählte Ministerpräsident da eingefädelt hat. wird gesagt: Staat ist immer besser als privat. – Das ist genauso intelligent wie die Aussage der FDP: Privat geht (B) Wenn wir uns mit der Sache – kurze Ausflüge seien (D) vor Staat. – An den Rändern sitzen die Ideologen, und mir gestattet – beschäftigen, jetzt ist es an uns in der Mitte, zu erklären, dass das Le- ben nicht ganz so einfach ist, wie sich das manch (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie haben eine schlichter Antragsteller vorstellt. große Sachkenntnis, Herr Kollege!) (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Florian dann können wir feststellen, dass es im Bereich ÖPP so- Toncar [FDP]) wohl Licht als auch Schatten gibt. Am Anfang haben viele gedacht: Wunderbar, das ist die Lösung, jetzt kön- – Nur getroffene Hunde bellen, Herr Kollege. nen wir uns als Kommune endlich all das leisten, was Als ich diesen Antrag gelesen habe, habe ich gedacht: wir uns früher nie leisten konnten. Irgendwer muss das Das ist wieder die übliche grüne, Entschuldigung, linke einmal bezahlen, aber das ist noch ewig hin. Schreibe. In dieser Situation sind auch Fehler passiert; das muss (Heiterkeit bei der LINKEN – Britta Haßelmann man zur Kenntnis nehmen. Ich als Haushälter finde, dass [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen man sich die ÖPP sehr misstrauisch und sehr genau an- Sie mal den Textbaustein ändern! – Weiterer schauen muss. Es gibt sehr viele Chancen, und es gibt Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was sehr viele Risiken. Ich glaube, dass man jeden Fall ein- denn nun?) zeln betrachten muss. Deswegen taugt das Thema weder für den Berliner Kommunalwahlkampf noch für lustige Im Ergebnis kann man sagen, dass es wohl auch so ist. Anträge der Linken, sondern es geht um die durchaus Was mich wirklich gewundert hat, ist, dass Sie, Herr ernstzunehmende Frage, wo ÖPP Sinn machen oder Senator, sich dafür hergegeben haben, diesen Senf auch eben nicht. noch zu verteidigen. Die Aussage des Kollegen Kruse Ich als Haushälter bin ein großer Anhänger der Ka- über die Wertschätzung von Senatoren teile ich; denn bei meralistik. Das mag für viele hier im Haus eine sehr uns in Hamburg sind Senatoren in der Regel sehr seriöse langweilige Materie sein. Man kann auch über viele an- Personen. Wenn Sie einen solchen Antrag verteidigen, dere Systeme, zum Beispiel die Doppik, reden, in denen bringen Sie das Bild ins Wanken, das ich bisher von Ih- man sich die Zahlen so hindrehen kann, wie man sie nen hatte. Ich kenne Sie nur als sehr kompetenten Sena- braucht. Die Kameralistik hingegen ist ehrlich. Sie zeigt tor, genau auf, wo man Geld hat, wie viel Geld man hat und (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Deshalb unter- was man mit dem Geld tun kann oder auch nicht. Das ist stützt er die Rekommunalisierung!) für die Bürger sehr transparent. 12844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Johannes Kahrs (A) Man muss die ÖPP so gestalten, dass sie mit der Ka- Natürlich muss eine Kommune auch in der Lage sein, (C) meralistik in Übereinstimmung gebracht werden. Man Grundstücke zu verkaufen, zum Beispiel an Wohnungs- muss abbilden, wie sich die Kosten für eine bestimmte unternehmen oder an Genossenschaften, die darauf Maßnahme im Rahmen der ÖPP im Laufe der Zeit im bauen wollen. Das ist ein wichtiger Bestandteil des so- Haushalt widerspiegeln. Sie müssen im Haushalt auftau- zialen Wohnungsbaus. chen. Die Menschen müssen wissen, was die Vorhaben kosten. Man kann den Menschen doch ehrlich sagen: Das alles gehört zusammen. Deswegen muss man, Wir haben kein Geld, um eine Schule zu bauen oder sie wie ich finde, den vorliegenden Antrag der Linken ab- zu sanieren, aber wir glauben, dass es dringend notwen- lehnen. Er ist nämlich erstens undifferenziert und zwei- dig ist, weil Bildung wichtig ist. Es gehört dazu, dass tens hochideologisch. Deswegen, Herr Senator, war es Schulen anständig aussehen. – Wenn man dann sagt: „Es bedauerlich, dass Sie sich dafür hergegeben haben. gibt eine Möglichkeit, ein Vorhaben umzusetzen, das Vielen Dank. Schönen Tag noch! kostet Geld, aber damit kann man das Ganze nachvoll- ziehbar gestalten“, dann kann man das in einer Kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mune ernsthaft diskutieren. der CDU/CSU und der FDP) Man muss allerdings aufpassen, dass bestimmte Feh- ler nicht passieren. Es muss ein transparentes Verfahren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geben, die Verträge müssen einsehbar sein, man muss sie Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil von der offenlegen können. Wenn einige Parteien sagen: „Wir FDP-Fraktion. wollen alles offenlegen“, dann ist es nicht so, dass nur die Unternehmen die Bösen sind. Es gibt auch viele Un- (Beifall bei der FDP) ternehmen, die die Verträge gerne offenlegen würden. Es gibt dazu ein Schreiben von der deutschen Bauindustrie. Klaus Breil (FDP): Darin heißt es, dass man ein großes Interesse an mehr Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Transparenz und an der Offenlegung von ÖPP-Vertrags- gen! Der Antrag der Linken, den wir heute debattieren, werken hat, weil man nämlich glaubt, dass dies für alle ist blanke Augenwischerei. Sie von der Linken reden da Beteiligten Sinn macht, auch was die Akzeptanz angeht. von Beratung kommunaler Unternehmen und von wirt- Denn die Bürger wundern sich doch: Auf der einen Seite schaftlich arbeitenden Unternehmen. In Wirklichkeit ist ihre Kommune pleite, und auf der anderen Seite wer- sollen Räte gebildet werden, um die Unternehmen kon- den Schwimmbäder, Kindergärten und Schulen saniert. trollieren zu können. Sie schreiben da von Änderungen Natürlich wundern sich die Bürger und fragen sich, wo- (B) im Aktiengesetz. Tatsächlich wollen Sie die Aktionäre (D) her das Geld auf einmal kommt. Dann muss man ihnen entmachten. Sie fordern in Ihrem Antrag die Rekommu- den Sachverhalt erklären und darauf hinweisen, dass nalisierung öffentlich-privater Projekte. Ihr wahres Ziel ÖPP Sinn machen kann. Man muss die Kosten offen- ist aber die Verstaatlichung der Wirtschaft. Die mate- legen. Dann muss man sich das Ergebnis genau an- rielle Gleichheit aller – das ist das zentrale Ziel der schauen. Es darf nicht dazu führen, dass die Schulden in Linkspartei. Niemand darf mehr haben als der andere. die Zukunft geschoben werden und dass die, die jetzt zur Schule gehen, diese am Ende ihres Arbeitslebens immer (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist noch abbezahlen. Man muss die Vorteile und die Nach- doch Unsinn!) teile abwägen. Wenn man dann zu dem Ergebnis kommt, dass man das machen kann, ist das gut. Sie haben keinen Bezug zu den Menschen, die hart und fleißig arbeiten. Sie haben keinen Bezug zu den Es gibt gute Beispiele für ÖPP, und es gibt schlechte Leistungsträgern in unserer Gesellschaft, außer natürlich Beispiele. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Privati- den, dass Sie deren Erfolg abgreifen wollen. sierung und Entkommunalisierung. In Hamburg wurde ein Volksentscheid durchgeführt: Der Stadt sollte zu- (Zurufe von der LINKEN) künftig verboten werden, irgendetwas zu verkaufen. Er Bevor allerdings die Linkspartei das Eigentum dieser ist durchgefallen – normalerweise sind solche Begehren fleißigen Menschen großzügig verteilen kann, muss sie immer erfolgreich –, und zwar deswegen, weil nicht klar es „vergesellschaften“ oder, wie Sie es neuerdings for- und transparent gesagt wurde, was denn dann verkauft mulieren, „demokratisieren“. Alles Geplänkel! Der rich- werden soll. Es wurde einfach gesagt: Die Kommune tige Begriff lautet: verstaatlichen. Sie lassen dabei be- darf gar nichts mehr verkaufen. wusst offen, in welchem Ausmaß und in welcher Form Ich finde es auf der einen Seite richtig, in Hamburg Sie diese Enteignungen vornehmen wollen. Doch wie die Wasserwerke oder die öffentlichen Unternehmen des Eisenfedern aus einem uralten Sofa, so baumeln Ihre Wohnungswesens, SAGA/GWG, nicht zu verkaufen. wahren Ziele schlaff aus dem heutigen Antrag. Das ist richtig, wichtig und gut. Auf der anderen Seite ist (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der nicht einsehbar, warum es nicht möglich ist, dass man CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- sich von Unternehmen – Hapag-Lloyd oder andere –, die SES 90/DIE GRÜNEN) in Schwierigkeiten geraten sind und denen man finan- ziell geholfen hat, dieses Geld zurückholt, sobald es ei- Vorformuliert ist das alles in den Gründungsdoku- nem solchen Unternehmen wieder besser geht. menten der Linkspartei. Sie bekennen dort schamlos: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12845

Klaus Breil (A) Die Demokratisierung der Wirtschaft erfordert, die (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (C) Verfügungsgewalt über alle Formen des Eigentums NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gleichzeitig hat man sozialen Maßstäben unterzuordnen. den Kommunen das Geld abgegraben!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ein Beispiel: Unsere christlich-liberale Koalition hat bei der Neuregelung des SGB II eine bedeutende Kor- Schließlich sagt Ihr Genosse, unser Kollege Diether rektur vorgenommen. Der Bund wird schrittweise die Dehm: Kosten der Grundsicherung im Alter übernehmen: Unser Fernziel ist, Konzerne wie Daimler-Chrysler, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- BMW und Großbanken wie die Deutsche Bank zu NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nimmt man der vergesellschaften. Bundesagentur für Arbeit weg!) (Zurufe von der LINKEN: Richtig!) 45 Prozent im Jahr 2012, 75 Prozent in 2013 und 100 Prozent ab 2014. Die Kosten dafür betragen aktuell Das ist das, was die Linken unter Demokratisierung und 3,9 Milliarden Euro pro Jahr, bei einer geschätzten Stei- unter Vergesellschaftung verstehen: Verstaatlichung auf gerung von 5 Prozent im Jahr. 4,5 Milliarden Euro Zu- allen Ebenen. schuss vom Bund für die Kommunen im Jahr 2014 – das ist eine klare Ansage. Hier und heute sind eben die Kommunen fällig. Klar- heit schafft das linke Wahlprogramm von 2005: Gleichwohl ist es auch immer erste Aufgabe der Kommunen, sorgsam mit ihren Mitteln zu wirtschaften. Die Versorgung der Menschen mit Wasser und Strom, die Müll- und Abwasserentsorgung, der (Johannes Kahrs [SPD]: Linke und FDP-Ideo- öffentliche Personenverkehr, … sind Leistungen, logie auf einmal ist schwer zu ertragen!) die … nicht der privaten Konkurrenz unterworfen werden dürfen. Wenn sich zum Beispiel eine Kommune durch Über- nahme des Stromnetzes Effizienzvorteile oder Synergie- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ulla effekte erhofft, kann eine solche Übernahme durchaus Lötzer [DIE LINKE]: Weil es Leistungen der sinnvoll sein. Auch für Investitionen kann der Zusam- Daseinsvorsorge sind!) menschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebs- führung gelegentlich Vorteile bringen. So steht es in Ihrem Wahlprogramm. Aber pauschal eine Rekommunalisierung zu verord- Um diesen Sichelschnitt den Kommunen schmack- nen, kann nicht im Interesse der Kommunen liegen; (B) haft zu machen, entdecken Sie auf einmal Ihr Herz für denn der Drang zum eigenen Stadtwerk entspringt ge- (D) das regionale Handwerk, ein Handwerk, das, wie Sie in rade bei kleineren Kommunen vielfach dem Wunsch, Ihrem Antrag ausführen, von öffentlich-privaten Ge- vermeintlich versäumte Versorgungssicherheit nachzu- meinschaftsunternehmen nur gequält wird und schließ- holen. Dabei werden komplexe Regelungen und deutlich lich leer ausgeht. gestiegene Geschäftsrisiken gerade für kleine Versor- gungsunternehmen vehement verkannt. Wenn dann noch Kommen wir nun zur Wahrheit: Die Kommunen lei- die Kommune die Kosten für künftige Aufrüstungen, den unter einem strukturellen Defizit. Dies kann unserer Zinsen und Erhaltung unterschätzt, schadet sie sich Ansicht nach nur mit sinnvollen strukturellen Reformen selbst und damit vor allem ihren Bürgern. behoben werden. Sehr geehrte Damen und Herren, ein glänzendes Bei- (Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) spiel für gelungene Öffentlich-Private Partnerschaft fin- det sich hier ganz in der Nähe. Es ist ein Beispiel, das Ziel muss sein, die kommunalen Einnahmen zu versteti- gerade die Linke in freudige Erregung versetzen muss; gen und die Ausgabenseite zu entlasten. Das ist nur im denn in Kürze werden Sie sich dort auf der frisch polier- Gesamtpaket zu erreichen. ten Regierungsbank niederlassen. Es ist der Landtags- Den Kommunen wurden in den letzten Jahrzehnten neubau in Potsdam, Kostenpunkt 120 Millionen Euro. ständig neue Aufgaben übertragen, und das ohne ausrei- Das Gebäude wird von dem niederländischen Konsor- chende Finanzausstattung. tium Royal BAM errichtet und die nächsten 30 Jahre be- trieben. Ab 2013 wird das Land Brandenburg 30 Jahre (Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Sie waren lang 9 Millionen Euro Miete pro Jahr zahlen. Übrigens daran nicht beteiligt? – Zuruf des Abg. Sven- wirkt die Bayerische Landesbank, die Bayern LB, feder- Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führend an der Finanzierung des PPP-Modells mit. Sie NEN]) sehen, es geht doch. Es ist die christlich-liberale Bundesregierung, die damit (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schluss gemacht hat. NEN]: Wenn es die Bayerische Landesbank dann noch gibt! – Heiterkeit bei der SPD und (Johannes Kahrs [SPD]: Sie hat mit der FDP dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Schluss gemacht!) Lange [Backnang] [SPD]: Kurze Schock- starre!) Sie hat damit begonnen, Entlastungen der Kommunen auf der Ausgabenseite einzuleiten. Danke. 12846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Klaus Breil (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – munalisierung und Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand (C) Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir haben auf ist. Die Tatsache, dass Sie eine Wohnungsbaugesell- mehr von der Bayerischen Landesbank ge- schaft und die Siedlungsbaugesellschaft veräußern lauscht!) mussten, damit zu begründen, dass es eine Verfassungs- klage der Grünen und der CDU gegen Ihren Haushalt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gab, ist doch völlig absurd. Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann von (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Bündnis 90/Die Grünen. Haßelmann, da muss ich Ihnen schon wieder zustimmen!) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe auch schon Urteile von Verfassungsgerichten Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen gesehen. Das Verfassungsgericht gibt Ihnen in solchen und Kollegen! Ich kann heute weder mit Sichelschnitt Fällen bestimmte Auflagen, aber es zwingt Sie nicht noch mit Eisenfedern dienen; ich versuche es sachlich in dazu, Wohnungen zu veräußern. Bezug auf die Themen, die im Antrag der Fraktion Die Linke angesprochen worden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das wäre ja der FDP) neu bei Ihnen, Frau Haßelmann!) Diesen Beschluss, Herr Wolf, hat Rot-Rot zu verantwor- – Hallo, Herr Kampeter, schön, dass Sie der Debatte fol- ten. Darum sollten sich die Linken kümmern. gen! Im Haushaltsausschuss wird das ja auch noch zu thematisieren sein. Viele der Vorschläge der Linken wer- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie wäre es den dort diskutiert werden, weil sie Ihren Fachausschuss mal mit Sparen? – Steffen Kampeter [CDU/ betreffen. CSU]: Zwei Partys weniger für Wowereit!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie da Ich bin zwar keine Berlinerin – ich lebe hier nur mit jetzt Mitglied werden?) Zweitwohnsitz –, aber ich glaube, dass dies Berlin bis heute nachhängt und dass auch heute noch Wohnungen Es geht hier ja nicht nur um einen kritischen Blick veräußert werden. Das halte ich wirklich für nicht ver- und eine kritische Reflexion im Hinblick auf ÖPP und antwortlich. Da klafft eine große Lücke zwischen dem die Frage, welche Risiken eigentlich in diesem Projekt Anspruch, den Sie hier formulieren, und Ihrer realen bestehen. Als der Kollege Breil das letzte Projekt gerade Politik, die Sie in Berlin bereits seit zehn Jahren zu ver- so glanzvoll beschrieben hat, mussten wir allesamt ein antworten haben. (B) bisschen schmunzeln, weil als Garant für die Realisie- (D) rung die Landesbank in Bayern genannt worden ist. (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist wie bei den Grünen!) (Heiterkeit des Abg. Johannes Kahrs [SPD] – Klaus Breil [FDP]: Die ist auch öffentlich! – Dieser Diskussion müssen Sie sich stellen. Es geht nicht, Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Man hier überall zu erklären, Sie seien die ausgewiesenen muss manchmal nur Geduld haben!) Verfechter der Rekommunalisierung, obgleich Sie jede Menge öffentliches Eigentum verkauft haben, wobei Sie Ich glaube, dass wir über die Fragen, wie ÖPP-Pro- auch andere Akzente hätten setzen können. jekte wirken, wie viele Risiken dort bestehen, wie Trans- parenz hergestellt wird, wie nachvollziehbar solche Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) träge sind und wie einseitig oder auch nicht Lasten und Denken Sie doch einmal an die massive Kritik, die Verantwortung in solchen Verträgen verteilt sind, eine Sie seitens der Sparkassenverbände und anderer Institu- kritische Debatte zu führen haben. Das ist der erste tionen bekommen haben, als Sie die Landesbank ver- Punkt; deshalb ist es auch in Ordnung, dass wir die De- kauft haben. batte heute hier vertieft führen, dann aber auch in den Fachausschüssen. Ich halte eine solche Debatte für not- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sa- wendig. gen Sie doch einmal etwas Vernünftiges! Dann können wir auch klatschen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir können das gern vertiefen, nicht nur im Berlin-Dis- Der zweite Punkt: Das, was Sie angesprochen haben, kurs. Herr Senator Wolf, sind aber die Themen Rekommunali- sierung und Privatisierung. Sie müssen es an einer sol- Das Thema „Privat vor Staat“ wird oft sehr ideolo- chen Stelle schon aushalten, dass Sie nicht besonders gut gisch und sehr radikal diskutiert. Zu den Verfechterinnen aussehen, wenn Sie hier im Parlament Ihren Vortrag mit und Verfechtern gehören einige der Kolleginnen und Vehemenz halten und sich als Garant für die Rekommu- Kollegen zu meiner rechten Seite des Hauses. Wir haben nalisierung und gegen die Privatisierung darstellen. damit in Nordrhein-Westfalen hinreichende Erfahrungen gemacht, wo in der letzten Legislaturperiode unter (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aller- Schwarz-Gelb die wirtschaftliche Betätigung der Kom- dings wahr!) munen massiv eingeschränkt wurde. Dies stieß nicht nur Sie hatten zehn Jahre Zeit, in Berlin politisch unter Be- auf Kritik aufseiten der SPD oder Grünen oder des Ver- weis zu stellen, wie wichtig Ihnen das Thema Rekom- bandes kommunaler Unternehmen. Nein, auch der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12847

Britta Haßelmann (A) Handwerkskammertag und die kommunalen Spitzenver- Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Weil nicht jeder (C) bände, in denen nach meiner Information auch viele Hinterbänkler hier redet!) CDU-Mitglieder aktiv sind, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt rutschen Jan Mücke (FDP): Sie ins Unsachliche ab!) Frau Kollegin Haßelmann, auch Sie haben jetzt zur Kenntnis gegeben, dass Sie Privatisierungen sehr kri- haben massiv Kritik an dieser einseitigen Privilegierung tisch gegenüberstehen, insbesondere wenn es sich um und Ausrichtung auf „Privat vor Staat“ geäußert. Wohnungen handelt, die im öffentlichen Eigentum ste- ( [FDP]: Was für ein Unsinn! hen oder gestanden haben. Wenn ich richtig informiert Was erzählen Sie da für einen Unsinn!) bin, hat im Jahr 2000 Rot-Grün regiert. – Herr Lindner, wir haben das alles jetzt gemeinsam mit (Johannes Kahrs [SPD]: Gut!) dem Handwerkskammertag wieder zurückgenommen. Wenn ich weiter richtig informiert bin, hat im Jahr 2000 (Christian Lindner [FDP]: Den Vertreter der eine rot-grüne Bundesregierung 114 000 Wohnungen Handelskammer habe ich damals im Landtag veräußert, nämlich die sogenannten Eisenbahnerwoh- von Nordrhein-Westfalen mit angehört! Die nungen. Wie können Sie mir erklären, dass Sie heute haben das etwas präziser gesagt! Sie scheinen diese Position einnehmen und damals eine andere hat- die letzten Jahre in Nordrhein-Westfalen je- ten? doch nicht viel hinbekommen zu haben! – Ge- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Es NEN]: Wir reden doch von Nordrhein-West- muss sich doch nicht jeder Hinterbänkler der falen! – Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter FDP hier melden!) [CDU/CSU]: Eigentlich reden wir über Bun- – Ich weiß. Herr Lindner, dass Sie zu der Zeit im Land- despolitik!) tag waren, macht es ja nicht besser, oder? Stimmen Sie mir zu, dass Ihre Argumentation angesichts (Christian Lindner [FDP]: Aber ich kenne die dieser Fakten ein bisschen zwielichtig erscheint? Fakten!) Ich weiß auf jeden Fall, dass wir diesen Punkt der Ge- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): meindeordnung längst geändert haben. Nein, ich teile Ihre Einschätzung an dieser Stelle nicht. Über die Frage, ob der Bund zur Erfüllung seiner (Christian Lindner [FDP]: Waren Sie einmal in Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge bestimmtes (B) Brüssel?) Eigentum besitzen muss oder nicht, können wir hier gern (D) – In Brüssel war ich noch nie als Abgeordnete. Aber diskutieren und streiten. Aber Sie haben mich an Ihrer vielleicht können wir uns darüber an anderer Stelle aus- Seite, wenn klar ist, dass zum Beispiel ein Land wie tauschen. Nordrhein-Westfalen beim Verkauf der Wohnungen der Landesentwicklungsgesellschaft einen Fehler gemacht (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine schöne hat. Reise, Frau Kollegin!) Ich kann Ihnen auch das Beispiel Freiburg nennen. Darum geht es jetzt auch nicht. Ich war nicht für den Verkauf der Wohnungsbaugesell- Der Umgang mit dem Thema wirtschaftliche Betäti- schaft oder städtischer Wohnungen. gung hat sich in Nordrhein-Westfalen geändert, und dies (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: wird nicht nur von den Städten und Gemeinden begrüßt. Dort gibt es aber auch einen grünen Oberbür- Darüber hinaus wird es auch vom Handwerk sehr be- germeister!) grüßt. Das ist ein Fakt, mit dem Sie sich abfinden müs- sen. Ich habe selbst elf Jahre Kommunalpolitik gemacht und weiß, dass wir Steuerungsinstrumente in der Woh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nungspolitik als Mittel für die sozialräumliche Integra- tion brauchen, und diese Anforderung erfüllen wir in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erster Linie durch sozialen Wohnungsbau und Woh- Frau Kollegin Haßelmann, entschuldigen Sie die Un- nungsbaugesellschaften, auf die wir Einfluss ausüben terbrechung. Der Kollege Mücke möchte Ihnen gern können. eine Zwischenfrage stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb ist das für mich überhaupt kein Widerspruch. Ja, bitte. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat aber et- was völlig anderes gefragt! Herr Mücke hat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nach Ihrer Position zu der Privatisierung ge- Bitte, Herr Mücke. fragt! – Johannes Kahrs [SPD]: Sie müssen die Frage beantworten!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Warum nicht Herr Lindner? – Gegenruf des – Das habe ich gerade schon gemacht. 12848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Britta Haßelmann (A) Die Kommunen brauchen einen Rechtsrahmen, inner- Frage, welche Akzente Sie da setzen. Hier fahren Sie (C) halb dessen sie selbst entscheiden können, ob und wie vonseiten der Koalition einen völlig falschen Kurs, in- sie ihre Leistungen erbringen wollen. Wichtig dabei ist dem Sie falsche Entscheidungen, die gegen die Kommu- doch, dass bestimmte Kriterien erfüllt sind: Es muss eine nen gerichtet sind, treffen und indem Sie die Privaten strategische, vor allem transparente Entscheidung ge- privilegieren, anstatt den Kommunen die Möglichkeit zu troffen werden, die den Städten und Gemeinden die lassen, selbst darüber zu entscheiden, wie kommunale politische Steuerungsfähigkeit und demokratische Kon- Aufgaben wahrgenommen werden sollen. trolle lässt, und die Aufgabe muss effizient wahrgenom- men werden. Das ist die Grundentscheidung. Wir haben auch eine Debatte im Zusammenhang mit dem Energiewirtschaftsgesetz zu führen. Ganz viele Es geht nicht um einen theoretischen Diskurs über das Kommunen wollen ihre Stromnetze wieder im eigenen Verhältnis von Privat zu Staat. Wir müssen immer da- Verantwortungsbereich haben. Das ist auch gut so. Ihre rüber nachdenken, wie Städte und Gemeinden ihre kom- Entscheidung, den Atomkonsens rückgängig zu machen, munalen Aufgaben in transparenter Weise wahrnehmen war nicht nur in der Sache, also energiepolitisch, falsch. können und welche Steuerungsmöglichkeiten die ge- Dies war auch eine Entscheidung gegen die Städte und wählten Gemeindevertreter haben sollen. Darum geht es, Gemeinden. An dieser Stelle ist es deshalb so wichtig, wenn wir über die Wahrnehmung von Aufgaben vor Ort dass wir auch im Zusammenhang mit der Rekommunali- reden. sierung über das Thema Energiewende und über die Ver- fügbarkeit von Energienetzen vor Ort reden. Da gibt es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch viele inhaltliche Fragen, die wir zu erörtern haben. Machen wir uns nichts vor: Viele Städte- und Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meinderäte entscheiden sich parteiübergreifend für eine Rekommunalisierung. Ich weiß, dass das der FDP be- Ich bin mir sicher, dass wir eine konstruktive Debatte sonders wehtut. in den entsprechenden Fachausschüssen führen. Es ist notwendig, einen Akzent in Richtung Rekommunalisie- (Florian Toncar [FDP]: Gar nicht!) rung zu setzen. An die Adresse der Linken sage ich: Ich Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass sich nach würde mir wünschen, dass Sie nicht nur im Deutschen einer Privatisierung von Aufgaben die Gemeinderäte da- Bundestag über dieses Thema reden. für entscheiden, ebendiese Aufgaben in den Verantwor- tungsbereich der Stadt zurückzuholen. Warum tun sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das? Sie haben den Eindruck, dass hier eine Schieflage Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin entstanden ist. Oftmals ist es nämlich so, dass Gewinne Skudelny? (D) (B) privatisiert und Verluste sozialisiert wurden, sodass die Städte auf den Kosten sitzen blieben. Dass dies vonsei- ten der Städte und Gemeinden sowie der Bürgerinnen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Bürger nicht akzeptiert wird, ist doch klar. Man Ja, gerne. möchte nicht, dass private Unternehmen die Gewinne einstecken und dass die Verluste über Gebühren und an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dere Abgaben auf die Bürger umgelegt werden. Bitte, Frau Skudelny. Ganz viele Städte und Gemeinden entschließen sich daher, Aufgaben zu rekommunalisieren. Das ist auch in Judith Skudelny (FDP): Bayern, Baden-Württemberg und anderswo der Fall. Da- Stimmen Sie mir zu, dass man über die Netze über- rüber gibt es mittlerweile Erhebungen. Unterhalten Sie haupt keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des sich einmal mit den Leuten vor Ort. Es gehört zum Spek- transportierten Stroms hat? Die Netze sind grundsätzlich trum kommunalpolitischen Handelns, dass Aufgaben in barrierefrei. Das heißt, der Eigentümer des Netzes kann die Entscheidungskompetenz der Kommunen wieder zu- überhaupt nicht bestimmen, auf welche Art der Strom, rückgeholt werden. der durch seine Netze fließt, erzeugt wird. Deswegen ist (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das geht immer der Einfluss der Netzbetreiber in Richtung Ener- so oder so! Das geht immer zweigleisig!) giewende relativ beschränkt. – Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass (Florian Toncar [FDP]: Gleich Null! – Markus ich das versucht habe zu erläutern. Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber an den Anschlussstellen kann man bestim- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein! Sie haben men!) nur von Einseitigkeit gesprochen!) Die Kommunen wissen, dass sie von den Bürgerinnen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Bürgern für Aufgaben, die sie eigentlich delegiert Ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen ausspre- haben, in die Verantwortung genommen werden. chen, dass Kommunen über Netze verfügen Es ist gut, dass wir eine vertiefte Diskussion über Re- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: kommunalisierung führen. Demnächst wird über das Das tut sie doch gar nicht! Aber sie ist gegen Abfallwirtschaftsgesetz zu diskutieren sein und über die Enteignungen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12849

Britta Haßelmann (A) und damit diejenigen sein können, die klar darüber ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) scheiden, wie sie ihre Energieversorgung gestalten wol- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das wollen len; darum geht es doch im Kern. wir nicht! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Im Ge- genteil!) (Judith Skudelny [FDP]: Nein!) Ein anderes Thema sind die Menschen, die Arbeits- Es geht nicht darum, die Netze bei den vier großen Ener- plätze haben wollen. Im Zusammenhang mit ÖPP-Pro- gieversorgern zu belassen und Verträge, die vor 20 oder jekten ist immer wieder über die Frage diskutiert wor- 40 Jahren geschlossen wurden, mit bestimmten vertrag- den, ob ein Auftrag für eine große Firma – beim lichen Grundlagen auf immer zu zementieren. Ich weiß, Landtagsbau in Potsdam war es zum Beispiel eine nie- dass das der Wunsch vieler großer Konzerne ist. Aber derländische Firma – dazu führt, dass Arbeitsplätze vor ich finde es toll, dass momentan in den Städten und Ge- Ort verloren gehen. In Baden-Württemberg hat es ein ei- meinden eine lebhafte Debatte darüber geführt wird, genes Forschungsprojekt gegeben, bei dem exakt diese weil sie das Gefühl haben, dass sie viel mehr Chancen Frage untersucht worden ist. Siehe da: Gerade bei ÖPP- und Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihr eige- Projekten erhalten mittelständische Unternehmen 83 Pro- nes Energie- und Klimakonzept vor Ort haben, wenn sie zent der Aufträge, bei der klassischen Vergabe sind es an Einfluss auf die Netze gewinnen. Deshalb sprechen nur 81 Prozent. wir uns dafür aus, ihren Einfluss zu steigern. Zudem ist untersucht worden, ob die Aufträge in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Region bleiben. Konkret wurde untersucht: Wie viele Meine Damen und Herren, wie gesagt: Ich wünsche Aufträge werden in einem Radius von 100 Kilometern mir von der Linken, dass solch ein Antrag nicht nur ein- vergeben? Bei ÖPP-Projekten sind es 73 Prozent der gebracht wird, sondern es auch in Berlin, in der realen Aufträge, bei klassischen Vergaben lediglich 65 Prozent. Politik zu Ergebnissen führt. Das heißt, bei ÖPP-Projekten werden mehr Aufträge in der Region vergeben. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben nicht zugehört! Das ist unverschämt! Das ist (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: unter Ihrem Niveau!) Das sind doch deutliche Zahlen!) Es liegt ganz offensichtlich auf der Hand, dass die rot- Dann kann man noch die Frage stellen, womit die rote Koalition in Berlin dies in zehn Jahren nicht ge- Menschen hinterher zufriedener sind. Auch das hat man schafft hat; mir fehlt die Redezeit, um das mit weiteren untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass ÖPP-Pro- Beispielen zu belegen. jekte mit einer Note von 2,4 benotet wurden, während die selbst vergebenen Projekte mit 2,6 bewertet wurden. (B) (D) Vielen Dank. Das heißt, die Menschen sind obendrein auch noch zu- friedener. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Pakt gegen Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann von der Ideologie! Sehr gut!) CDU/CSU-Fraktion. Das zeigt deutlich, dass es bei Ihrem Antrag um Ideo- logie geht, nicht darum, dem Mittelstand Aufträge zuzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) führen und den Menschen eine zufriedenstellende Lö- sung anzubieten. Norbert Brackmann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich habe aber Kollegen! Sonst bemühen sich die Linken immer, sich ganz andere Zahlen! – Gegenruf des Abg. den Anstrich zu geben, die Initiativen vor Ort aufzuneh- Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Na men und für die Menschen da zu sein. Aber was sind die ja, das haben die Griechen auch!) Kriterien, nach denen wir die aufgeworfene Frage der – Frau Höll, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen ha- Rekommunalisierung im Zusammenhang mit dem ÖPP- ben. Beschleunigungsgesetz bewerten sollten? Das können doch in Wirklichkeit nur die Menschen sein. Dann kön- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Von der nen wir wiederum schauen, ob die Menschen einen Nut- Hans-Böckler-Stiftung!) zen aus kommunalen Investitionen ziehen: Erhalten sie Meine Zahlen sind aber veröffentlicht; Sie können sie dadurch Arbeitsplätze? nachlesen. Ich kann feststellen: Der Antrag würde, wenn man ihn Ich komme zu einem weiteren Punkt. Im Antrag der beschließen würde, zunächst einmal die Freiheit der Grünen mit dem Titel „Transparenz in Public Privat Kommunen einschränken, darüber zu entscheiden, in Partnerships im Verkehrswesen“ wurde darauf hingewie- welcher Form sie ihren Bürgern Gutes tun wollen. sen, dass man den Sinn oder Unsinn von ÖPP-Projekten (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: So ein Unsinn!) anhand von Einzelfallentscheidungen bewerten kann und muss; die Zahlen ändern nichts. Das finde ich auch. Insofern sind Ihre Forderungen unmittelbar gegen die Insofern wundere ich mich ein Stück weit über die Rede Freiheitsrechte der Menschen gerichtet. meiner Vorrednerin. Darin stimmen wir völlig überein. 12850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Norbert Brackmann (A) Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Frage: Ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) ÖPP per se gut, oder ist eine Rekommunalisierung per se Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! gut? Man kann das immer nur an Einzelfällen festma- Unglaublicher Vorgang!) chen. Ich kann Ihnen an Beispielen aus meinem Wahlkreis (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) auch die Vorteile von ÖPP aufzeigen. Die Stadt Schwar- zenbek – sie ist ebenso wie viele andere Kommunen in In dieser Zeit, in der sich Bund, Länder und Kommu- dieser Region hochverschuldet – hat ein neues Gymna- nen in einer Konsolidierungsphase befinden, in der wir sium zuzüglich einer Drei-Feld-Sporthalle gebraucht. auf jeder Ebene darüber streiten, aber auch entscheiden Die Gebäude waren zu errichten, aber nicht zu finanzie- müssen, welches der richtige und wirtschaftlich vernünf- ren. Wie das heute bei einem solchen Projekt Pflicht ist, tigste Weg zur Beschaffung ist, dürfen wir bestimmte wurde eine Wirtschaftlichkeitsanalyse durchgeführt. Was Lösungsmöglichkeiten nicht von vornherein außer Be- ist günstiger? Eine Öffentlich-Private Partnerschaft oder tracht lassen. Wir werden nicht zulassen, dass es in die klassische Vergabe durch die Kommune selbst? In Deutschland wieder Denkverbote gibt. dieser Analyse hat man festgestellt, dass die Öffentlich- Private Partnerschaft einen Kostenvorteil von 19 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit sich bringt. Dann wurde das Ganze gebaut. Es gab Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich! ein paar Probleme. Der Kostenvorteil betrug am Ende Wir wollen keine Denkverbote! – Ulla Lötzer 12 Prozent. Durch diese wirtschaftliche Betätigung stan- [DIE LINKE]: Deshalb werden ÖPP-Projekte den der Stadt Schwarzenbek für Aufgaben der Daseins- gefördert!) vorsorge 3 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Ich frage Sie von der Fraktion Die Linke, wo Sie das (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) ganze Geld hernehmen wollen, das uns heute fehlt. Es hat ein paar Nebenwirkungen gegeben, die wir hier nicht verschweigen wollen: Der Neubau der Schule war (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aus dem früher fertig als geplant. Das ist etwas, was wir bei der SED-Vermögen wahrscheinlich!) kommunalen Vergabe nicht täglich finden. Man muss nur einmal vor die Haustür treten, um festzu- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Leider wahr!) stellen, dass es überall einen riesengroßen Investitions- bedarf gibt. Angesichts dessen ganz pragmatisch darüber Die Schülerzahlen steigen seitdem. Dafür gibt es einen nachzudenken, ob wir durch Öffentlich-Private Partner- Grund: Die Schule wurde als modernste Schule in Nord- schaften einen Schritt weiterkommen können, muss zu- deutschland ausgezeichnet. (B) (D) lässig sein. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Na also! Geht doch!) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das rechnet sich für die Kommunen langfristig nicht!) Das ist ein Beleg von vielen, dass Öffentlich-Private Partnerschaften wirtschaftlich sein können. Durch dieses Nun mögen Sie sagen, dass eine Kommune überfor- sparsame und effiziente Agieren können wir das Beste dert ist, wenn es darum geht, zu entscheiden, welches aus den Steuermitteln herausholen. Deswegen kann man das bessere Modell ist. Aber auch diesbezüglich ist der ÖPP nicht so pauschal verunglimpfen, wie Sie das mit Bund vorangegangen und hat unter anderem mit der Ihrem Antrag versuchen. ÖPP Deutschland AG eine Institution geschaffen, bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der sich Kommunen beraten lassen können. Dort können sie Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Qualitätsanaly- Natürlich gibt es auch negative Beispiele. Ich will sen durchführen lassen und sich beraten lassen, um dann jetzt gar nicht darauf eingehen, dass sich Ihr Antrag frei zu entscheiden, ob sie den Weg gehen wollen oder – angefangen beim Redner über die Beispiele bis hin zu nicht. den Debattenschwerpunkten – ausdrücklich mit Berlin beschäftigt hat. Als jemand, der in Berlin nur einen In Ihrem Antrag führen Sie ein negatives Beispiel aus Zweitwohnsitz hat, will ich auch gar nicht die Berliner meinem Wahlkreis an. In Ahrensburg wurde die Gasver- Situation bewerten. Ich stelle einfach nur fest, dass ers- sorgung in private Hand überführt. Später ist sie rekom- tens in wenigen Monaten hier eine Landtagswahl statt- munalisiert worden, weil das schiefgegangen ist. Mich findet, dass zweitens ein spezifisches Berliner Problem wundert, dass Sie, wenn Sie schon auf Ahrensburg im Vordergrund steht und dass sich drittens Berlin auf- schauen, selektiv die Stadtwerke herausgreifen; denn grund seiner Verhaltensweise nicht gerade in einer vor- Ahrensburg hat gerade drei ÖPP-Projekte durchgeführt. teilhaften Finanzsituation befindet. Es wurden eine Seniorentagesstätte und eine Schulsport- halle gebaut. Das sind Vorzeigeprojekte für Öffentlich- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Private Partnerschaften. Das Verhältnis ist also 2 : 1. Die Verschuldung Berlins in Höhe von 70 Milliarden Nun ist das keine statistische Erhebung, zeigt aber, wie Euro bedeutet eine Größenordnung, mit der sich der Sta- selektiv Sie die Wirklichkeit draußen wahrnehmen, und bilitätsrat beschäftigen muss. Der Rechnungshof warnt belegt, dass Sie aufgrund Ihrer ideologischen Verblen- vor Ihrem politischen Vorhaben der Rekommunalisie- dung alle bevormunden wollen, sobald Sie irgendwo et- rung, weil das die Verschuldung noch weiter in die Höhe was gefunden haben, was Ihre Annahmen bestätigt. treiben und den Menschen in Berlin damit noch mehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12851

Norbert Brackmann (A) Zukunftsperspektiven nehmen würde. Angesichts dessen munen nicht ein Instrument aus der Hand schlagen, das (C) ist es schon ein Stück aus dem Tollhaus, dass Sie mit Ih- sie dringend brauchen. rem Antrag den Deutschen Bundestag für den Berliner Landtagswahlkampf missbrauchen wollen. Erstens. Wenn die Öffentlichkeit ÖPP hört bzw. Ihren Antrag liest, dann entsteht der Eindruck, es ginge bei Öf- (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Freiherr fentlich-Privaten Partnerschaften um das Veräußern von von Stetten [CDU/CSU]: Das sind schon grie- Anteilen kommunaler Unternehmen. Dem ist nicht so. chische Verhältnisse, was der Wowereit da hat! – Das ist eine Begriffsverwirrung, die wir aufklären müs- Gegenruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE sen. LINKE]: Wer hat denn in Berlin so lange re- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: giert und den Schlamassel verursacht!) Eine bewusste Täuschung!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit Es ist eine Täuschung, ein Vermischen unterschiedlicher komme ich zum Schluss. Bei ÖPP-Projekten handelt es Sachverhalte, was dazu führt, dass in der Öffentlichkeit sich um Einzelfallentscheidungen, die jede Kommune ein falscher Eindruck entsteht und ein durchaus sinnvol- für sich selbst treffen muss. Warum soll der Bund die les Instrument desavouiert wird. Kommunen an dieser Stelle bevormunden? Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. (Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD] – Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) Zweitens. Wir müssen darüber reden, warum die Kom- munen überhaupt über derartige Instrumente nachden- Darum rufe ich Ihnen zu: Die Menschen haben es ver- ken. Das heißt, hinter unserer Debatte verbirgt sich die dient, die Luft der Freiheit zu atmen. Das umfasst auch Frage, wie es um die Finanzausstattung der Kommunen die Freiheit, einzelfallbezogen selbst entscheiden zu dür- bestellt ist und ob die öffentliche Hand genug Geld hat, fen, welche Form der Aufgabenerledigung für sie das ihre Aufgaben wahrzunehmen. Da hilft es nicht, meine Beste ist. Der Geist der Freiheit ist es, der unser demo- sehr verehrten Damen und Herren von Schwarz-Gelb, kratisches Gemeinwohl – – dass wir einerseits von starken Städten reden – bei Ihnen (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Der Geist der Frei- von der Union –, andererseits vom teuren Schwächling heit ist nicht der Geist der Privatisierung!) – bei der FDP – und dann wieder die Gewerbesteuer schleifen wollen oder mit einem sogenannten Wachs- – Der Geist der Freiheit ist aber, darüber zu entscheiden, tumsbeschleunigungsgesetz den Kommunen pro Jahr ob man privatisieren will oder nicht. 1,4 Milliarden Euro entziehen und ihnen bei der Finan- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter zierung von Projekten, die Arbeitsplätze schaffen, den fi- [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nanziellen Teppich unter den Füßen wegziehen. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist die Wahrheit!) Wir wollen nicht den Geist volkseigener Betriebe, um es auf den Punkt zu bringen. Finden Sie Ihren inneren Das verträgt sich nicht mit dem Thema, das wir heute Frieden mit der Vergangenheit. Kommen Sie endlich in diskutieren. der Gegenwart an. Dann haben Sie auch die Chance, da- rüber nachzudenken, wie Sie die Zukunft für die Men- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen gestalten wollen. DIE GRÜNEN) Danke schön. Jetzt zu den ÖPP. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, sehr geehrter Herr Senator Wolf, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mich wundert es, dass Sie dieses Anliegen vertreten. Denn diejenigen, die sich mit den wirtschaftlichen Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hältnissen der Kommunen auseinandersetzen, wissen, dass wir dieses Instrument – maßvoll und unter ganz be- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee von der stimmten Kriterien und Restriktionen angewendet – drin- SPD-Fraktion. gend brauchen. Warum? Es geht darum, dass wir Investi- (Beifall bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: tionen oder Beschaffungen gemeinsam mit privaten Guter Mann!) Partnern vornehmen, wenn wir dadurch einen Nutzeffekt haben. Wolfgang Tiefensee (SPD): Welches sind die Nutzeffekte? Ich will Ihnen ein Bei- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und spiel nennen, das Sie besichtigen und demzufolge auf Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen können. Es geht meine Redezeit darauf verwenden, eine Antwort auf die um die Stadt Magdeburg und meinen sehr verehrten Kol- Frage zu geben, worum es eigentlich geht, wenn von legen Trümper, den sozialdemokratischen Oberbürger- ÖPP – Öffentlich-Private Partnerschaften – die Rede ist, meister. Wie viele Oberbürgermeister stand er im Jahr und damit etwas mehr Klarheit schaffen. Außerdem 2008 vor folgender Frage: Soll ich in den Schulen, Kin- möchte ich dafür werben, dass wir – ähnlich wie es dertagesstätten und Sporthallen weiterhin notdürftig sa- meine Vorredner zum Teil gemacht haben – dieses In- nieren, Flickschusterei betreiben, oder nehme ich mit strument etwas differenzierter betrachten und den Kom- dem Instrument der ÖPP 20 Schulen, Kindertagesstätten 12852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Wolfgang Tiefensee (A) und Sporthallen auf einmal in Angriff, und – man höre – Wolfgang Tiefensee (SPD): (C) schaffe eine grundlegende, auch energetische Sanierung Frau Höll, Sie hätten Ihrem Senator nicht so viel Re- innerhalb einer Frist bis zum Jahre 2015? Das ist die Al- dezeit geben sollen, dann hätten auch Sie hier regulär die ternative. Möglichkeit zu einem Redebeitrag gehabt. Ich will Ih- Jetzt kommen Sie und sagen: Dieses Instrument will nen auf Ihre drei, vier Fragestellungen sehr gern antwor- ich dem Oberbürgermeister aus der Hand schlagen. Das ten. ist schlecht. Wir sollten der Öffentlichkeit sagen, dass Erstens. Wir sind uns bezüglich der Finanzausstattung ein solcher Antrag, würde er hier die Mehrheit finden, der Städte einig; das habe ich deutlich gemacht. Ich dazu führen würde, dass es ein solch segensreiches Wir- stehe dafür. Meine Fraktion und meine Partei stehen da- ken insbesondere für die Schülerinnen und Schüler nicht für. Wir sind eine Partei, die aus den Städten kommt, die geben würde. aus der schwierigen Situation in den Städten im ausge- (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wie wäre es, die henden 19. Jahrhundert entstanden ist. Dies ist also eines Finanzausstattung zu verbessern? – Abg. unserer Urthemen. Wir stehen dafür, dass die öffentliche Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] meldet sich zu Hand, ein aktiver Staat, dafür Sorge tragen muss, dass einer Zwischenfrage) die Kommunen ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge für die Bürger erledigt bekommen. – Es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage. Außerdem fragten Sie nach der Privatisierung der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Energieunternehmen, speziell in . Ich muss fest- Bitte schön. stellen: Sie sind wieder dabei, beide Themen zu vermi- schen. Ich möchte die Öffentlichkeit und uns alle bitten, das nicht zu tun. Wir reden hier über das Thema ÖPP. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Herr Tiefensee, als ehemaliger Oberbürgermeister Dennoch will ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage von Leipzig brauchen Sie nicht nach Magdeburg zu nicht schuldig bleiben. Sie erwischen damit nämlich ge- schauen. Wir kommen beide aus Leipzig und haben dort rade den Falschen. Während meiner Dienstzeit als Ober- gemeinsam erlebt, wie die Stadtverwaltung – mit Zu- bürgermeister von Leipzig von 1998 bis 2005 hat die stimmung der Mehrheiten, aber ohne unsere Stimmen Rekommunalisierung der Energieunternehmen stattge- als PDS – zweimal beschlossen hat, die Stadtwerke teil- funden. Lassen Sie uns über die Frage, unter welchen zuprivatisieren. Wir haben gesehen, welcher Schaden für Bedingungen die Privatisierung von Anteilen nötig ist, die Stadt entsteht, wenn man privatisiert. ein anderes Mal diskutieren. Wir müssen nämlich zwi- (B) schen der Aufgabenverantwortung einerseits und einer (D) Können Sie mir zustimmen, dass eine Stadt wie Leip- Erledigungs- bzw. Erfüllungsverantwortung anderer- zig mit einem wahnsinnigen Investitionsstau, was die seits unterscheiden. Das geht bei Ihnen aber munter Schulen, Kindergärten usw. betrifft, das nicht alleine durcheinander. stemmen kann? Es liegt eigentlich in der Verantwortung des Bundes und der Länder, dafür zu sorgen, dass die Wir sehen es so: Die öffentliche Hand wird niemals Kommunen genug Geld bekommen, dass sie eine or- die Aufgabenverantwortung für die öffentliche Daseins- dentliche Finanzausstattung haben, um diese Aufgaben, vorsorge aus der Hand geben dürfen. Aber sie darf sich die jetzt verfassungsmäßig ihre sind, erfüllen zu können. bei der Erfüllung dieser Aufgabe durchaus Privater be- Ohne eine ordentliche Finanzausstattung ist dies nicht dienen. Wir sind nicht der Auffassung, dass Private, zum möglich. Beispiel ein kleiner Handwerksbetrieb oder der Zusam- menschluss von Handwerksbetrieben, zu verteufeln sind. PPP rechnet sich langfristig weder für Leipzig noch Auch sie gehören zu unserer Gesellschaft. Im Übrigen für Magdeburg noch für andere Kommunen. Durch die arbeiten auch diese Betriebe im Interesse des Gemein- Gewinngarantien, die ausgesprochen werden, werden wohls. Aus diesem Grund gehören auch sie zu diesem die Städte immer weiter finanziell belastet. Ich denke, es Komplex. ist uns klar, dass sich Öffentlich-Private Partnerschaften für die private Seite nur lohnen, wenn sie Gewinne (Beifall bei der SPD) macht. Warum sollte man den Bürgerinnen und Bürgern diese Gewinne entziehen? Warum sollte man den Städ- Frau Höll, jetzt dürfen Sie sich setzen; denn ich fahre ten die Möglichkeit entziehen, diese Gewinne, die man in meiner Rede fort. nicht maximieren muss, – Ich würde gern zu der Frage „Wieso fließen die Ge- winne in die Taschen der Gesellschaften?“ Stellung neh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men. Ich möchte, auch am Beispiel von Magdeburg, auf Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Frage. die Vorzüge von PPP zu sprechen kommen und deutlich machen, dass sich diese Partnerschaften am Ende auch Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): für die Kommunen rechnen. – im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Was ist der erste Vorteil? Die Kommunen erstellen einzusetzen statt für private Interessen? zusammen mit den Privaten das Portfolio für eine zu (Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs leistende Investitionsaufgabe, und zwar in einer Trans- [SPD]: Welche Frage?) parenz, die beispielhaft ist. Ich kenne kaum Vorhaben Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12853

Wolfgang Tiefensee (A) der öffentlichen Hand, die derart transparent sind. Der vieles gesagt worden. Mir ist in der Debatte aufgefallen, (C) erste Vorteil ist also die Transparenz. wie sehr sich auch Parteien, die eigentlich eher zur Mitte des politischen Spektrums gehören, an der Formulierung Zweitens. Die Aufgabe wird schneller erledigt als „Privat vor Staat“ abgearbeitet haben. Der Kollege ohne PPP. Das heißt im Klartext, dass Kinder und Ju- Kahrs von der SPD sagte dazu, das sei eine extreme For- gendliche – um beim genannten Fall zu bleiben – schnel- mulierung, und die Kollegin Haßelmann hat in ihrer ler den Nutzen davon haben, dass die Gebäude saniert Rede geäußert, „Privat vor Staat“ sei quasi eine ideologi- worden sind. sche Aussage. Drittens. Es kommt zu einer Ersparnis; denken Sie (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ nur an die energetische Sanierung. DIE GRÜNEN]: So ist es!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) Ich will noch einmal daran erinnern, dass letzten En- Die öffentlichen Haushalte werden saniert, indem lau- des alle Freiheiten, die unsere Verfassung gewährt, dem fende Kosten minimiert werden. Schließlich arbeiten die Staat zunächst einmal vorgehen. Natürlich darf jeder Kommunen mit Partnern zusammen, die die jeweilige Bürger in Deutschland jeden Beruf ergreifen, den er er- Aufgabe ständig erledigen. Die Gesellschaften, die Part- greifen möchte. Natürlich darf jeder Bürger in Deutsch- ner der Kommunen sind, sind dafür prädestiniert, wäh- land in jeder Branche als Selbstständiger oder als Unter- rend insbesondere manch kleine Gemeinde solche Leis- nehmer tun, was er möchte, solange es eine legale tungen über Jahre hinweg nicht erbracht hat und erst in Tätigkeit ist. Das ist „Privat vor Staat“. Das ist letzten die Lage versetzt werden muss, dies zu tun. Die Privaten Endes eine der Grundaussagen unseres Grundgesetzes. können diese Leistungen im Verbund mit der öffentli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Hand besser erbringen. der CDU/CSU) Im Übrigen werden im Rahmen von PPP auch kleine Es ist völlig klar, dass der Staat aus guten Gründen Unternehmen angesprochen. Sehen Sie sich das Magde- Freiheiten einschränken darf, auch die Freiheit zur wirt- burger Modell an: Es fand eine europaweite Ausschrei- schaftlichen Betätigung, aber er darf es eben nicht will- bung statt, in vier Tranchen wurden 20 Schulen saniert, kürlich tun, sondern er muss es rechtfertigen. Er muss und das Verfahren war transparent. Durchgesetzt hat sich dafür zwingende öffentliche Gründe haben. die SALEG Sachsen-Anhaltinische Landesentwick- lungsgesellschaft mbH. Die Finanzierung, Frau Höll, Ihre Aussage, „Privat vor Staat“ sei extrem, Herr Kol- wurde übrigens von einer Bank aus Bremen und – man lege Kahrs, bietet mir eigentlich eher Anlass, Sie zu fra- höre und staune – der Sparkasse Magdeburg übernom- gen, ob Sie nicht einmal Ihren Standpunkt überprüfen (B) men, die, wie ich glaube, nicht im Verdacht steht, die sollten; denn das ist etwas, was auf der Grundlage unse- (D) Rendite in die eigene Tasche zu stecken. Hier ist also ein rer Verfassung so nicht haltbar ist. äußerst transparentes, sinnvolles Verfahren angewandt worden. Die Risiken werden von den Privaten getragen Die Grünen müssen sich fragen lassen, ob ihre Aus- – Geld wird erst dann gezahlt, wenn die Sanierung er- sage, „Privat vor Staat“ sei Ideologie, eigentlich auch folgt ist –, und den Nutzen der Sanierung haben die Kin- gilt für Themen wie die Vorratsdatenspeicherung oder der und Jugendlichen. die Meinungsfreiheit im Internet. Meine Damen und Herren, das ist beste Arbeit. Ich (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- betone aber: An anderer Stelle kann es durchaus sinnvoll NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über was sein, sich gegen Public-private-Partnerships zu entschei- ganz anderes! Es geht um Daseinsvorsorge! – den. Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Vermischen Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht die Themen, und schlagen Sie den Kommunen die- NEN]: Wir reden über Kommunen!) ses sinnvolle Instrument nicht aus der Hand. Es ist gut. Sehen Sie das da auch so, oder gilt da die Regel „Privat Wir wollen es stärken, wenn es maßvoll und am richti- vor Staat“ nicht ganz genauso? Wer das als Ideologie be- gen Ort eingesetzt wird. zeichnet, legt letzten Endes eine opportunistische Hal- Vielen Dank. tung gegenüber Grundrechten an den Tag. Eine Partei, die diese Auffassung vertritt, ist eigentlich keine Bürger- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der rechtspartei mehr. FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der Niemand, keine Kommune, kein Land, ist gezwun- FDP-Fraktion. gen, eine Öffentlich-Private Partnerschaft einzugehen. Das ist eine freiwillige Entscheidung, die eine Kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mune treffen kann. Wo das geschieht, entscheiden die der CDU/CSU) Verantwortlichen im Stadtrat, im Kreistag, wo auch im- mer, dass es offenkundig im Sinne der Bürger, im Sinne Florian Toncar (FDP): der Kommune besser ist, einen privaten Partner herein- Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten zuholen, weil es etwa den Bürgern am Ende Vorteile Damen und Herren! Zum Antrag der Linken ist bereits bringt, weil es vielleicht günstiger ist, es so zu machen, 12854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Florian Toncar (A) weil vielleicht der Service besser ist oder weil man mit Es ist also beileibe nicht so, dass die öffentliche Auf- (C) einem Spezialisten zusammenarbeiten möchte, der eine gabenerfüllung immer nur im Interesse des Gemein- bestimmte Dienstleistung tagtäglich erbringt. Es ge- wohls ist. Zum Teil dient sie schlicht und einfach ande- schieht übrigens auch in der freien Wirtschaft, dass man ren Interessen, und der Verbraucher und Bürger muss es sich für bestimmte Aufgaben Spezialisten von außen da- am Ende über Gebühren oder Entgelte bezahlen. Auch zukauft. Das ist nichts, was es nur beim Staat gibt. Es ist deshalb besteht Skepsis gegenüber öffentlichen Unter- oft genug sinnvoll, entweder unter Kostengesichtspunk- nehmen, und zwar da, wo sie so eingesetzt oder miss- ten oder unter Qualitätsgesichtspunkten. braucht werden. Öffentlich-Private Partnerschaften erlauben den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kommunen in der Regel eine sichere Kalkulation der Deswegen ist es auch immer besser, egal ob es um Kosten. Man kann aufgrund der Verträge ein paar Jahre eine öffentliche oder eine private Aufgabenerfüllung im Voraus sehen, was es kostet, und kann die Haushalte geht – zum Beispiel bei den Busverkehren oder bei der natürlich besser planen. Letzten Endes kann sich eine Entsorgung –, wenn derjenige, der beispielsweise die Kommune, wenn sie sich für ein solches Modell ent- Konzession hat, die Abfallentsorgung in einem Gebiet scheidet, von unternehmerischen Risiken befreien. Sie zu übernehmen, weiß, dass er, wenn er mit den Kosten trägt dann bestimmte Risiken nicht mehr, etwa bei Per- nicht mehr mithalten kann oder wenn jemand auftaucht, sonalkosten, Rohstoffkosten, Sachkosten, Baustoffkos- der das besser oder billiger machen kann, den Auftrag ten, was auch immer, sondern hat einen Vertrag, und be- los ist. Was wäre denn los und welche Gebühren müss- stimmte unternehmerische Risiken lasten dann am Ende ten die Bürger im Abfallbereich zahlen, wenn ein kom- auf dem Privaten. munaler Versorger ohne Grenzen und Beschränkungen auf alle Zeiten das Recht hätte, die Entsorgung zu über- Es gibt also gute Gründe dafür, sich für solche Mo- nehmen? Der müsste sich nicht mehr darum kümmern, delle zu entscheiden. Es ist jeder Kommune unbenom- die Gebühren zu senken und die Qualität zu verbessern. men, das zu tun. Es obliegt sicher nicht dem Deutschen Bundestag, den Kommunen das zu untersagen oder zu (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Sehr erschweren. Sie sollen die Möglichkeit und Freiheit ha- gut!) ben, dieses Instrument zu nutzen. Auch wenn es dafür Gründe gibt und es weiterhin mög- lich sein wird, dass Kommunen die Entsorgung überneh- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men – das wird sogar der Regelfall sein –, ist es gut und der CDU/CSU) im Interesse der Bürger, dass ein kommunaler Betrieb, wenn er nicht mehr wettbewerbsfähig ist und den Bür- (B) Der Antrag der Linken enthält die Aussage – darauf (D) möchte ich eingehen –, dass die öffentliche Aufgaben- gern kein gutes Angebot machen kann, den Druck von erfüllung dem Gemeinwohl diene und die private Aufga- privater Seite zu spüren bekommt. Das halte ich aus Sicht der Bürger und Gebührenzahler für richtig. benerfüllung nicht dem Gemeinwohl diene. Ich glaube, dass das eine Schwarz-Weiß-Betrachtung ist, dass das (Beifall bei der FDP) vielleicht auch eine etwas naive Sicht auf staatliche Strukturen bedeutet. Auch staatliche Strukturen können Natürlich muss man – das ist mein letzter Gedanke ein gewisses Eigeninteresse entwickeln, das sich vom hierzu – bei all diesen Themen, egal ob man eine Re- Allgemeinwohl abkapselt. Bei öffentlichen Unterneh- kommunalisierung, eine kommunale Aufgabenerfüllung men ist es oft genug so, dass die politischen Entschei- oder eine Öffentlich-Private Partnerschaft will, auf die dungsträger unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel Vertragsgestaltung achten. Selbstverständlich ist es am bestimmte Strukturveränderungen nicht durchzuführen, Ende eine Frage der Konditionen. Wenn man, wie Sie Stellenabbau oder anderes nicht zu betreiben. Man lässt offenbar als Regelfall unterstellen, einen Vertrag voraus- das einfach laufen, weil der politische Druck zu groß ist. setzt, der für einen Investor tatsächlich eine Lizenz zum Gelddrucken ist, würde ich einer solchen Vereinbarung Niemand, der in politischer Verantwortung ist, handelt als Kommunalpolitiker auch nicht zustimmen. Aber es gern gegen solchen Druck. liegt in der Verantwortung der kommunalen Mandatsträ- Öffentliche Unternehmen bergen sicher immer die ger vor Ort, Verträge mit privaten Partnern so abzu- Gefahr, dass deren Themen und deren wirtschaftliche schließen, dass sie im Interesse der Kommunen liegen Fragen in Wahlkämpfe, in politische Auseinandersetzun- und Vorteile bringen. Wenn Private mit der Erfüllung gen gezogen werden. Deswegen sind sie oft langsamer, von Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge betraut werden sollen, müssen die Verantwortlichen in den wenn es darum geht, sich an neue Entwicklungen auf Kommunen die Ausschreibung so gestalten, dass öffent- dem Markt anzupassen. lichen Interessen damit gedient ist. Letzten Endes muss man natürlich auch sehen, dass Insofern glaube ich, dass der Antrag grundsätzlich in öffentliche Unternehmen zum Teil auch völlig sach- die falsche Richtung geht. Die FDP bekennt sich dazu, fremd eingesetzt werden; ich glaube, wir alle kennen dass Öffentlich-Private Partnerschaften ein sinnvolles Beispiele dafür. Da werden Leute in Führungspositio- Instrument sein können und Aufgaben der Daseinsvor- nen, etwa als Geschäftsführer, untergebracht, nicht auf- sorge nach einer sinnvollen Ausschreibung im fairen grund ihrer Qualifikation oder Leistung, sondern eher Wettbewerb auch von Privaten erbracht werden können. aufgrund bestimmter politischer Vorlieben. Das kann passieren, und dafür gibt es Beispiele. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12855

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Kommunales Eigen- (C) Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken von der tum ist keine andere Gesellschaft!) CDU/CSU-Fraktion. Hier unterscheiden sich unsere Ansichten fundamental (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von dem, was Sie hier fordern. Pauschale Rekommunali- der FDP) sierungen können nicht im Interesse der Allgemeinheit sein. Deshalb setzen wir von der Union auf PPP bzw. Ernst Hinsken (CDU/CSU): ÖPP. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen verstärkt privates Kapital akquirieren. Für Ich betrachte es nicht als feinen Stil, wenn man als Berli- uns sind neue, innovative, effizienzsteigernde und damit ner Senator in den Bundestag kommt, als Antragsteller kostensparende Beschaffungsmethoden erforderlich, mit eine elfminütige Rede hält und dann, nachdem sie wahl- denen die Pflichtaufgaben des Staates finanziert und ab- kampfbetont herübergebracht wurde, von dannen zieht gewickelt werden können. und die Kolleginnen und Kollegen, die auch etwas dazu zu sagen haben, nicht mehr anhört. Schon in der Großen Koalition haben wir die Rah- menbedingungen hierfür verbessert. Diese Rahmenbe- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dingungen – ich möchte an das anknüpfen, was Herr und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Tiefensee soeben gesagt hat – haben sich zwi- Bitte geben Sie das an Herrn Senator Wolf weiter. schenzeitlich auch in Deutschland bewährt. Von 2002 bis 2010 wurden Investitionen in Höhe von gut 5,9 Mil- Meine Damen und Herren, ich habe mich mit diesem liarden Euro getätigt: vom Bund über 2 Milliarden Euro, Antrag intensiv auseinandergesetzt. Ich habe alle von den Ländern 1,5 Milliarden Euro und von den Kom- 35 Fragen gelesen, die Antworten genau studiert und bin munen 2,4 Milliarden Euro. zu einigen Ergebnissen gekommen, die ich Ihnen heute nicht vorenthalten möchte. Deshalb sage ich eingangs: Das Potenzial ist immer noch groß. Derzeit befinden Der Grundsatz, so viel Privat wie irgend möglich, und sich über 100 größere Projekte in der Ausschreibung und nur so viel Staat, wie unbedingt erforderlich, gilt nicht Vorbereitung. Das ist gut so; denn richtig durchgeführte nur für die FDP; für diesen Grundsatz steht auch meine PPP- bzw. ÖPP-Projekte führen erstens zur Entlastung Fraktion. der öffentlichen Haushalte, zweitens zu einer niedrigeren Staatsquote, drittens zur Verbesserung des Standortes (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutschland, viertens zu Wachstums- und Beschäfti- der FDP) gungsimpulsen, fünftens zur Mobilisierung von priva- tem Kapital, sechstens zur Umsetzung von Projekten, die (B) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken: (D) ansonsten nicht realisiert werden könnten, und siebtens Sie haben – das zeigt Ihr Antrag – nichts dazugelernt. Zu zur Freisetzung weiterer Investitionen. Wir alle, der viel Staat macht die Wirtschaft kaputt. Dafür gibt es ak- Staat, die Betriebe und die Bürger, profitieren davon. tuelle Beispiele. Schauen Sie einmal nach Griechenland: Das sollte auch heute als Botschaft mit hinausgehen. Hier arbeitet jeder vierte Erwerbstätige beim Staat. In der Bundesrepublik Deutschland ist es zurzeit jeder Verehrte Kolleginnen und Kollegen, klar ist aber Vierzehnte. Dazwischen klafft also eine riesengroße Lü- auch: PPP ist kein Allheilmittel für die Bewältigung der cke, und da kommen Sie mit Ihrem Antrag und wollen schwierigen Haushaltslage, aber unbestritten ergibt sich Verstaatlichungsorgien feiern. Meine Damen und Her- ein Effizienzvorteil. Zudem kann der Staat die benötig- ren, da machen wir nicht mit. ten Güter oder Projekte mit PPP meist schneller, günsti- ger und in höherer Qualität für den Bürger bereitstellen. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Das Einsatzspektrum für diese Programme ist breit, zum Sie gehen von dem Ansatz aus, dass der Unternehmer Beispiel in den Bereichen Infrastruktur, öffentliche Bau- zu verteufeln ist und dass die Devise „Staat, Staat, Staat; ten, Verkehr, Kultur und Forschung. es gibt nichts Besseres“ immer in den Vordergrund ge- Lassen Sie uns alle einmal über den Tellerrand und stellt werden muss. Wir lassen uns von ganz anderen die Landesgrenzen hinausschauen und sehen, wie die Vorstellungen leiten und ziehen vor allen Dingen Konse- Nachbarländer das machen. PPP hat sich in ganz Europa quenzen daraus, dass Ihre Vorgänger dies 40 Jahre in der bewährt, und die Erfahrungen zeigen: Mit diesem Pro- DDR praktiziert haben und jetzt festgestellt werden gramm können Infrastrukturprojekte schneller und kos- muss, wohin der Zug ging, nämlich in den „Bahnhof tengünstiger realisiert werden. Hier können wir lernen. Bankrott“. Auch das ist nicht von der Hand zu weisen. Allein 2010 hatte Public-Private Partnership in Europa (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ein Volumen von 18,3 Milliarden Euro. Deutschland be- Johannes Kahrs [SPD]: Ist der unterirdisch legt den achten Platz. Hier ist, anders als Sie meinen, oder oberirdisch?) also noch viel Luft nach oben drin. Es zeigt sich, dass Ihre Wahlprogramme und Ihr Wir wollen PPP nicht nur auf den Transportbereich, Wahlprogrammentwurf alle linken Ladenhüter beinhal- die Verkehrsinfrastruktur fokussieren. 2010 haben des- ten – bis hin zur Überführung von Schlüsselbereichen halb die Investitionen durch PPP in anderen Bereichen der Wirtschaft in Gemeineigentum und zur Verstaatli- bereits über die Hälfte ausgemacht. Die Erfolge sind chung auch anderer Bereiche. Wieder kommt zum Aus- enorm und überall zu sehen: Straßen, Brücken, Schulen, druck: Sie wollen eine andere Gesellschaft. Büros, Krankenhäuser, aber auch sozialer Wohnungs- 12856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Ernst Hinsken (A) bau, Luftraumüberwachung und sehr vieles mehr. Sie Ich will das unterstreichen: Es ist Ideologie. (C) alle wurden und werden über dieses Programm abgewi- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ckelt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Statt wie Sie von der Linken PPP zu verteufeln, ist es Es ist eine Ideologie, die krachend gescheitert ist. Sie ist meiner Meinung nach vielmehr erforderlich, dass sämtli- in diesem Jahr in Baden-Württemberg krachend geschei- che Rahmenbedingungen für PPP-Programme verbessert tert, und sie ist insbesondere vor einem Jahr in Nord- und Hemmnisse abgebaut werden. Wir wollen mehr rhein-Westfalen krachend gescheitert. „Insbesondere“ Aufgaben durch private Unternehmer erledigen lassen sage ich deswegen, weil es im Landtagswahlkampf in und dadurch dringend notwendige Arbeitsplätze schaf- Nordrhein-Westfalen darum ging, gerade diese Ideologie fen und zudem die Infrastruktur verbessern. wieder auszuhebeln. Die Bürger haben ein Mandat dafür Wir meinen auch – das sollte gerade in dieser Debatte gegeben, das alles zurückzudrehen, was Schwarz-Gelb zum Ausdruck kommen –: Mittelstand und PPP gehören unter der Ideologie „Privat vor Staat“ in Nordrhein- zusammen. Der Mittelstand profitiert sehr stark davon. Westfalen angerichtet hat. Dieses System stärkt die regionale Wirtschaft. Im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durchschnitt entfallen 83 Prozent des Auftragswertes DIE GRÜNEN) auf mittelständische Unternehmen. Sie haben nämlich den öffentlichen Unternehmen Richtig ist, dass unabhängig von einer Beteiligung auf Fesseln angelegt, die ihnen sozusagen einen Tod auf Ra- der Nachunternehmerebene mittelständische Unterneh- ten garantiert hätten. Sie haben ihnen nicht mehr als den men und Handwerksbetriebe als direkte Partner an Status quo garantiert. Sie haben ihnen durch die Ände- solchen Projekten beteiligt werden. Dabei dürfen Öffent- rung des § 107 der Gemeindeordnung jede Entwick- lich-Private Partnerschaften bisherige Investitionsvorha- lungsmöglichkeit genommen. ben des Staates nicht ersetzen. Ziel muss es deshalb sein, das Investitionsvolumen insgesamt zu erhöhen und die Das alles haben wir mit der neuen rot-grünen Koali- Wirtschaft das machen zu lassen, was sie besser kann als tion wieder zurückgedreht, und das ist in Nordrhein- der Staat. Westfalen sehr begrüßt worden. Die Bürger finden das übrigens sehr gut, weil sie gerade zu den kommunalen Die einzelnen Projekte, die von den Vorrednern ge- Unternehmen großes Vertrauen haben. Befragungen ha- nannt worden sind, haben das bereits eindrucksvoll zum ben ergeben, dass über 61 Prozent der Bürger ihnen viel Ausdruck gebracht. Ihr Antrag kommt aus der alten mehr trauen als anderen Unternehmen. Mottenkiste. Ich schätze Sie persönlich, Frau Kollegin Lötzer; Sie haben anscheinend nicht daran mitgewirkt, Uns geht es nicht darum, für die öffentlichen Unter- (B) (D) sonst wäre nicht so etwas herausgekommen. nehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber den privaten zu Ich meine, Sie liegen damit völlig falsch. Gehen Sie generieren. Das ist nicht der Ansatz. Wir wollen viel- in sich! Ziehen Sie Konsequenzen! Werfen Sie den An- mehr Wettbewerbsgleichheit. Das ist das Ziel, das wir erreichen wollen. Wir wollen, dass öffentliche Unterneh- trag in den Papierkorb und seien Sie bereit, unsere Argu- mente zu würdigen! Denn sie sind tausendmal besser als men die gleichen Chancen am Markt haben wie private das, was Sie mit Ihrem Antrag bewirken wollen. Unternehmen. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerk- Wer die Faktenlage kennt, weiß, dass sich öffentliche samkeit. Unternehmen in der Regel sowieso privater Unterneh- men bedienen, weil sie ihre Aufgaben nicht komplett al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lein erfüllen können. Sie wissen sicherlich, in welchem Maße das örtliche Handwerk von den Stadtwerken lebt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Auftragslage dort wäre ganz anders, wenn die Stadt- Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der werke die Entfaltungsmöglichkeiten, die sie heute in SPD-Fraktion. Nordrhein-Westfalen wieder haben – in anderen Ländern ist es leider noch nicht so weit –, nicht hätten. (Beifall bei der SPD) Insofern ist es eine Ideologie. Ich will es Ihnen an- hand Ihres Koalitionsvertrages entgegenhalten. Bernd Scheelen (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Johannes Kahrs [SPD]: An den werden sie gen! Es ist faszinierend, wie viel Lärm vier Personen er- ungern erinnert!) zeugen können: Vielen Dank für den Applaus. Auch wenn Sie sich nicht immer daran halten, sollte man (Johannes Kahrs [SPD]: Du hast ihn ja ihn lesen. Darin wird die Ideologie deutlich beschrieben. verdient!) Zum Thema Verkehr steht im Koalitionsvertrag: – Das wird sich zeigen. Aufgabe der Privatwirtschaft ist es, Personenver- kehr, Gütertransport und Logistik zu betreiben. Der Kollege Toncar hat daran Anstoß genommen, dass mein Kollege Kahrs das Mantra von Schwarz-Gelb Dann heißt es weiter: „Privat vor Staat“ als Ideologie bezeichnet hat. Aufgabe des Staates ist es, eine zukunfts- und leis- (Johannes Kahrs [SPD]: Was es ja ist!) tungsfähige Infrastruktur zu garantieren … Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12857

Bernd Scheelen (A) Was heißt das denn übersetzt? Das heißt, der Staat ist der che mit der Kommune das Projekt – darüber werden Ver- (C) Büttel derjenigen, die Gewinne machen. Der Staat muss träge geschlossen; entscheidend ist die Vertragsgestal- alles leisten, darf aber selber nicht an Gewinnen beteiligt tung – und betreibt das Projekt so lange, wie es der werden. Dafür sind die Privaten zuständig. Das ist nicht Lebenszyklus vorsieht. Das ist Teil der Leistung. Der unsere Ideologie. Unterschied zwischen einer PPP und der klassischen Va- riante ist die Lebenszyklusbetrachtung. Wenn wir ehrlich Zum öffentlichen Personennahverkehr schreiben Sie sind, müssen wir zugeben, dass die kommunalen Räte ganz unverblümt: den Lebenszyklus nicht immer im Blick haben. Bei einer Dabei werden wir den Vorrang kommerzieller Ver- PPP wird ein Objekt mit allen seinen Kosten bis zum kehre gewährleisten. Ende nach etwa 25 oder 30 Jahren betrachtet. Diese Kos- ten werden berechnet. Die Kommune mietet das Objekt Wer sich mit kommerziellen Verkehren in Städten aus- zu einem festen Satz und hat immer ein funktionierendes einandersetzt, der weiß, dass – als Folge der Privatisie- Objekt. Nach 25 oder 30 Jahren geht es in ihren Besitz rung – die betreffenden Unternehmen Dumpinglöhne über. Das ist PPP. Das ist kein Allheilmittel. zahlen und trotzdem die Fahrpreise steigen. In diese Richtung wollen wir nicht gehen. Aber das ist die Ideo- Jede Kommune muss für sich entscheiden, ob sie ein logie, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag ganz unver- Projekt so angehen will und angehen kann. Wir sind je- blümt niedergeschrieben haben. denfalls nicht bereit, dieses Instrument – es kann sinn- voll sein, muss es aber nicht – einfach zu beseitigen. Ihr Ich komme auf den Antrag der Linken zurück. Der Antrag liefe aber darauf hinaus, dieses Instrument abzu- Grundsatz „Privat vor Staat“ hat allerdings nichts mit schaffen. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die PPP zu tun. Ich glaube, da haben Sie – darauf haben Kommunen in der Lage sind, selber zu entscheiden, ob schon einige Redner hingewiesen – einiges durcheinan- PPP für sie ein sinnvolles Modell ist. dergeworfen. Man sollte vielleicht der Öffentlichkeit er- klären, was eine Öffentlich-Private Partnerschaft – ÖPP Sie behaupten in Ihrem Antrag, die PPP Deutschland oder auf Englisch PPP – eigentlich ist. Was kann man AG werde nur vom Bund und von Wirtschaftsunterneh- sich darunter vorstellen? Die Grundüberlegung ist, dass men betrieben. Das ist nicht richtig. Bund, Länder und die öffentliche Hand und private Unternehmen auf Au- Kommunen halten einen Anteil von 57 Prozent, während genhöhe miteinander verhandeln und einen Vertrag für die private Wirtschaft einen Anteil von 43 Prozent hält. ein Objekt schließen. Der Kollege Tiefensee hat vorhin Das heißt, Kommunen, die wollen, haben die Möglich- Beispiele aus dem schulischen Bereich genannt. In vie- keit, einzugreifen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel len Landesteilen der Republik lässt sich nachweisen, gibt es eine Taskforce für PPP. Das Finanzministerium (B) dass diese Partnerschaften funktionieren. hat ein Beratungsinstitut errichtet, das Kommunen berät, (D) die dieses Instrument nutzen wollen. Wir halten das für Wie geht das genau? Viele Kommunen stehen vor den richtigen Weg. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag dem Problem, dass die Schulen marode sind. Das kennen ab. Sie alle sicherlich aus Ihren Heimatgemeinden. Wenn je- mand eine Kommune kennt, in der die Situation besser Vielen Dank. ist, der sage mir bitte Bescheid. Die rund 75 Schulen in meiner Heimatgemeinde sind jedenfalls fast alle in ir- (Beifall bei der SPD) gendeiner Form renovierungsbedürftig. Der Investitions- bedarf beträgt grob geschätzt 150 Millionen bis 200 Mil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lionen Euro. Wenn eine Kommune nun etwas für Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Bildung tun und das schulische System verbessern will, erteile ich nun das Wort dem Kollegen Christian von dann müsste sie eigentlich das dafür notwendige Geld Stetten von der CDU/CSU-Fraktion. auf dem Kapitalmarkt aufnehmen und es sofort investie- ren. Das könnte sie, wenn sie es denn dürfte. Aber so (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) viel Kapital darf in der Regel keine Kommune aufneh- men. Da sind Regularien davor, die eine solche Kredit- aufnahme verhindern. Selbst wenn die Kommune es Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): dürfte: Was würde sie dann machen? Sie würde ihre Pla- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nungs- bzw. Architekturabteilung beauftragen, Pläne zu ren! Der heute von der Linksfraktion eingebrachte An- erarbeiten. Man darf aber nicht vergessen, dass die meis- trag fordert in seiner Überschrift eine Beschleunigung ten Kommunen in den letzten 20 bis 30 Jahren diese Ab- der Rekommunalisierung und einen Stopp der Öffent- teilungen abgebaut haben. Diese müssten also Private lich-Privaten Partnerschaften. Wenn man allerdings den mit der Planung beauftragen. Wenn die Planungen durch Antrag genau liest, dann wird deutlich, dass das, was Sie die parlamentarischen Gremien durch sind, würde die heute hier einfordern, im Prinzip ein Generalangriff auf Kommune private Unternehmen beauftragen, das ent- die kleinen Handwerker, die kleinen Dienstleister und sprechende Projekt zu realisieren, und zwar mit dem die Kleinstunternehmen in den Städten und Gemeinden Geld, das sich die Kommune – sofern sie es denn darf – ist. zuvor geliehen hat. Das ist bisher der klassische Weg. (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: So ein Unsinn! Eine PPP funktioniert wie folgt: Ein Privater stellt das Sämtliche Studien belegen, dass kleine Hand- notwendige Geld zur Verfügung, realisiert nach Abspra- werker dadurch Vorteile haben!) 12858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Christian Freiherr von Stetten (A) Frau Kollegin, Sie fordern – es wurde bereits erwähnt – das ist eine Renaissance des Sozialismus, und das wollen (C) unter anderem eine Änderung der Gemeindeordnung da- wir hier im Parlament nicht beschließen. hin gehend, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen aufgehoben werden soll. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist doch genau diese Regelung, die die Kleinstunterneh- Ich möchte nun noch ein weiteres Thema aufgreifen, mer, die Handwerker in unseren Kommunen schützt. da ich glaube, dass das Gegenteil von dem, was Sie hier (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) beschreiben, der Fall sein wird. Ich bin fest davon über- zeugt, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einen Wenn Sie nun das tun, was wir als verantwortliche Poli- weiteren Schritt gehen müssen, nämlich den Schritt in tiker nicht tun sollten, nämlich den kleinen Handwerkern Richtung Abschaffung der steuerlichen Ungleichbe- und den kleinen Gewerbetreibenden diesen Schutz neh- handlung von staatlichen Dienstleistungen und den men, dann nehmen Sie denen auch noch die Arbeit. Das Dienstleistungen, die von privaten Unternehmen er- sollte nicht im Sinn aller hier im Hause und auch nicht bracht werden. Die Europäische Union ermahnt uns Ihrer Fraktion sein. Dieser Schutz hat sich bewährt, und schon heute, hier für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit zu den werden wir auch weiterhin geben. sorgen. Beispielsweise gibt es eine Ungleichbehandlung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Bereich der Umsatzsteuer. Das trifft in dem Bereich jeden Bürger. Nun möchte ich einmal die rot-grüne Bundesregie- rung für einen Gesetzentwurf aus dem Jahr 2005 loben. (Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist immer gut!) Sie haben – wir befinden uns ja derzeit im Vorwahl- kampf in Berlin – die Berliner Verhältnisse angespro- Ihr habt damals – das war einer der letzten Gesetzent- chen. Insofern sollten Sie dies einmal mit den Berliner würfe, die Rot-Grün im Bundestag verabschiedet hat – Gastronomen und Unternehmern diskutieren. Derzeit einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Öffentlich- gibt es drei Möglichkeiten, Räume für eine Familienfeier Privaten Partnerschaften eing