iesmal dauert es fast 20 Minuten, bis jemand nach der DDR fragt. DLukrezia Jochimsen sitzt vor ei - nem Mikrofon im Landtagsgebäude von In der Zeitmaschine Potsdam, zwei Dutzend Abgeordnete der Brandenburger Linken hören zu, wie sie Luc Jochimsen wurde aufgestellt, weil für viele von ihrer Kindheit im Krieg erzählt, von Gandhi und ihrer Haltung zu Afghani - in der Linken unwählbar ist. Sie trat mit der Absicht an, Ost stan, bis ein Abgeordneter aus der Tiefe und West zu versöhnen. Nun spaltet sie sogar das eigene Lager. des Raums die Frage nach vorn wirft, wie sie das meinte, als sie sagte, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. Jochimsen holt Luft. Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des Bundestages, nann - te ihre Äußerungen schäbig und beschä - mend, der CDU-Generalsekretär Her - mann Gröhe sagte, sie verhöhne die Op - fer des DDR-Regimes. Jochimsens Partei, die Linke, will weg vom Ost- und Stasi- Image, aber ihr ist die Frage gar nicht un - angenehm. Ihre Kandidatur hat jetzt ein Leitmotiv. Die DDR. Wenigstens das. Die Kameras sind jetzt wieder da, wie früher. Ab und zu müssen ihr die Kameraleute nur sagen, sie solle nicht in das Objektiv schauen, sondern seitlich zu dem Mann mit dem Mikro in der Hand. Lukrezia Jochimsen ist 74 Jahre alt, ge - boren in Nürnberg, aufgewachsen in Düs - seldorf und , mit der DDR hatte sie zuweilen beruflich zu tun. Sie war Re - dakteurin des Fernsehmagazins „Panora - ma“, ARD-Korrespondentin in London und Chefredakteurin des Hessischen Rund - funks, die Zuschauer kannten sie als Luc Jochimsen. 2001 ging sie in den Ruhestand. Sie sagt, sie sei schon immer links gewe - sen. Seit 2005 sitzt sie für die Linkspartei im , als kulturpolitische Spre - cherin auf einem der hinteren Plätze. Vor drei Wochen klopfte Gesine Lötzsch, eine der beiden Parteivorsitzenden, an ihre Bürotür und fragte, ob sie nicht für die Wahl zum Bundespräsidenten kan - didieren wolle. Jochimsen sagte spontan ja. Gregor Gysi warb für sie anschließend mit dem Satz: „Sie musste versuchen, Sendungen für sämtliche Fernsehzu - schauerinnen und Fernsehzuschauer zu machen, das heißt, sie ist geeignet, an alle Bürger zu denken.“ Jochimsen reist seitdem in Begleitung von Hanno Harnisch, dem stellvertreten - den Pressesprecher der Linken-Bundes - tagsfraktion, von Zeitungs- zu Radioin - terviews und stellt sich Genossen vor, die sie Lüc nennen. Harnisch trägt knittrige Anzüge wie Inspektor „Columbo“, als IM „Egon“ lieferte er der Stasi Informa - tionen über Kollegen, Bekannte und das Umfeld von Wolf Biermann. Er arbeitete beim DDR-Jugendradio DT 64, war nach der Wende Pressesprecher der PDS und M

O bis vor kurzem Feuilletonchef der partei - C . S R

E nahen Zeitung „Neues Deutschland“. T L E Harnisch hilft der Kandidatin, den Weg W N O

D über dunkle Flure zu finden, er drückt R O

G Aufzugknöpfe, trägt Papiermappen und Kandidatin Jochimsen: „Warum darf ich nicht meine eigenen Worte benutzen?“ passt auf, dass nichts außer Kontrolle ge -

& '% ! 26/2010 33 Titel rät. Er ist freundlich, aber auf der Hut mousine, Harnisch schaut aus dem Bei - der Sicht auf die DDR hat sich wenig ge - bei Journalisten. Harnisch sagt, es sei ein - fahrerfenster und hört aufmerksam zu. ändert. Ihr Sender, erzählt sie, habe fach, einen von der Kandidatin dahinge - Sie sagt, als sie bei „Panorama“ war, galt 25 000 Mark für die Betreuung während sagten Halbsatz aus dem Zusammenhang ihre Redaktion als Nestbeschmutzer in der Dreharbeiten gezahlt, also auch da - zu reißen und zu verdrehen. der Bundesrepublik, sie habe sich damals für, dass die Stasi freundlicherweise die Wohin Jochimsen und Harnisch in den als Outcast gefühlt, als Paria, als Außen - Gesprächspartner organisiert hat. vergangenen Tagen auch reisten, das Ge - seiter. Es ist kein schlechtes Gefühl. Eine Die Umstände, unter denen der Film spräch landete meistens bei der DDR. Sie gegen die Mehrheit, gegen alle, gegen zustande kam, wurden vor zwei Jahren reisen in der Zeitmaschine. Back to the den Konsens, gegen das Böse. von Historikern in einem Kapitel des Bu - future. Den Abgeordneten in Potsdam 1981 wollte sie einen Dokumentarfilm ches „Operation Fernsehen – Die Stasi ruft Luc Jochimsen durch das Mikrofon über die weibliche Arbeitswelt in der und die Medien in Ost und West“ rekon - entgegen: „Die DDR hat unverzeihliches DDR drehen, ein Stück gegen die vielen struiert. Jochimsen taucht darin unter der Unrecht begangen, aber sie war kein Un - Klischees und die DDR-Feindlichkeit im Überschrift „Irreführung einer Betörten“ rechtsstaat, juristisch gesehen. Warum Westen. Sie meldete sich beim Interna - auf. Sie hat sich darüber so geärgert, dass darf ich nicht meine eigenen Worte be - tionalen Pressezentrum in Ost-Berlin und sie die Frauen von 1981 zusammenrief, nutzen?“ Sie hatte angekündigt, mit ihrer sagte, sie würde gern DDR-typische Frau - um sich bestätigen zu lassen, dass sie im Kandidatur wolle sie Brücken schlagen en porträtieren. Die Wahl fiel auf Erfurt, Film die Realität beschrieben habe. zwischen Ost und West, jetzt steht sie im worauf die Erfurter Bezirksverwaltung Nach der Wende beobachtete sie in - Dauergegenwind. Auch ihre Haare sehen zusammen mit der SED und dem Minis - teressiert, wie sich die PDS entwickelte, aus, als käme sie immer von irgendwo terium für Staatssicherheit erkunden ließ, sie sah, wie deren Politiker von anderen angerannt. wer vertrauenswürdig genug erschien, beschimpft wurden. Jochimsen kannte das Gefühl, sie hatte Sympathien. Die PDS war der Outcast im Bundestag. Sie hatte immer etwas übrig für die Ausge - stoßenen, sie mussten gar nicht unbedingt links sein. Es gibt ein Foto aus dem Jahr 2003, wo sie und ihr Mann auf einer Ho - telterrasse in Venedig sitzen und Michel Friedman trösten, der vor seinem Kokain- und Prostitutionsskandal geflohen war. Als nach ihrer Pensionierung Dietmar Bartsch von der PDS in ihrem italieni - schen Landhaus anrief und fragte, ob sie für ein Bundestagsmandat seiner Partei kandidieren wolle, musste sie nicht allzu lange überlegen. Jochimsen bezog das Abgeordnetenbüro Nummer E 070, im Erdgeschoss gelegen, gegenüber einem

O Palettenlager der Poststelle. T O H

P Sie steigt aus dem Wagen und betritt

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/ das Abgeordnetenhaus von Berlin. Drin -

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O Linksfraktion sowie Kameraleute und T U E

T Journalisten mit ihren Fragen zur DDR. Journalistin Jochimsen 1994: „Irreführung einer Betörten“ Es geht längst nicht mehr um die Frage, wie sich Ost und West vereinen lassen, Sie weiß selbst, dass sie nur eine Ne - mit einer Westreporterin zu sprechen. aber womöglich war die Unrechtsstaat- benrolle besetzt bei der Präsidentenwahl. Die Stasi stimmte schließlich einer Aus - Debatte auch nicht die richtige Strategie. Die Partei hat sie nominiert, weil Gysi wahl von sechs Damen mit dem deut - Sie ist jetzt Politikerin, nicht mehr Jour - und viele andere linke Abgeordnete Joa - lichsten Klassenstandpunkt zu, die vor nalistin, sie muss auf ihre Worte achten. chim Gauck, den ehemaligen Chef der den Dreharbeiten zum Strategiegespräch Nach der Diskussion mit den Abgeord - Stasi-Unterlagenbehörde, nur über ihre mit dem örtlichen Stasi-Offizier antraten, neten steht sie auf dem Treppenabsatz Leiche wählen würden; außerdem waren Deckname „Wolfgang“. Für das Team ge - vor den Kameras und gibt Interviews. sie wütend, dass die Grünen und die SPD stalteten sich die Recherchen erfreulich Eine Abgeordnete der Linksfraktion vorher nicht gefragt hatten. Jochimsen überraschungsarm. Bevor sie abreiste, be - schaut von der Seite zu und sagt, sie wün - kämpft deshalb auch gegen den Eindruck, dankte sich Jochimsen bei dem Stasi- sche sich von Luc manchmal ein Aber sie sei die Kandidatin der Eingeschnapp - Mann noch für die „Unterstützung durch zur DDR, ein differenzierteres Bild, nicht ten. An ihr klebte die Hoffnung, dass sie die verantwortlichen staatlichen Stellen“. nur Begeisterung. für ihre Partei zumindest ein bisschen we - Es sei ihr natürlich klar gewesen, dass Manche Parteifreunde zweifeln an ihr, niger peinlich sein würde als Peter So - sie die ganze Zeit beschattet wurden, sagt und die Linken-Politiker André Brie, dann, der frühere Tatort-Kommissar, des - Jochimsen heute. Die Stasi durfte mit Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch plä - sen Präsidentenkandidatur für die Linke dem Ergebnis zufrieden sein. Der 44 Mi - dieren mehr oder weniger direkt dafür, vor einem Jahr auf den Satz zusammen - nuten lange Dokumentarfilm wurde am in der Bundesversammlung doch Gauck schrumpfte, er löse jeden Morgen ein 10. April 1981 in der ARD ausgestrahlt, zu wählen, wenn es zu einem dritten Kreuzworträtsel auf dem Klo mit der er zeigt zu Beginn einen lächelnden Erich Wahlgang kommt. Lukrezia Jochimsen, Auflösung auf der Rückseite, weil er dann Honecker im Gespräch mit lächelnden die immer zu den Außenseitern wollte zwei Erfolgserlebnisse gleichzeitig habe. Frauen und beschreibt ein auch sonst ein - und zu deren Präsidentschaftskandidatin Jochimsen redet lieber von früher. Sie schränkungslos glückliches Leben im an - aufstieg, muss jetzt um Stimmen fürch - sitzt auf der Rückbank der Fraktionsli - deren Deutschland. An Jochimsens mil - ten. C & '($% S )&"##

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