Kapitalismus oder Markt- zit wird deutlich, dass diese Momente wirtschaft? in außereuropäischen Formen des Kapitalismus, die Kocka dankenswer- Jürgen Kocka, Geschichte des Kapi- terweise einbezieht, nicht immer ge- talismus, Verlag C. H. Beck-Wissen, geben sind. München 2013, 144 S., 8,95 Euro/ Ellen Meiksins Wood, Der Ursprung In den folgenden Teilen befasst sich des Kapitalismus. Eine Spurensu- der Autor mit der Herausbildung des che, LAIKA Verlag, Hamburg 2015, Kapitalismus in Form des Kauf- 231 S., 28 Euro/ Georg Fülberth, mannskapitalismus (II), der Rolle der Kapitalismus. PapyRossa Verlag- europäischen Expansion in koloniale Basiswissen, Köln 2015, 126 S., 9,90 Räume (III) und dem industriellen Euro Kapitalismus (IV), d.h. dem „Kapita- lismus in seiner Epoche“ (77). Erst Lange Zeit war zumindest im deut- diese etwa seit 1800 datierende Pro- schen Sprachraum „Kapitalismus“ ein duktionsweise besitzt die eingangs Schimpfwort, galt als ideologisch auf- aufgeführten Merkmale, erst jetzt geladener Versuch, die freie (wahlwei- werden diese „zum dominierenden se: soziale) Marktwirtschaft zu verun- wirtschaftlichen Regulierungsmecha- glimpfen. Damit ist spätestens seit nismus“, der die „fortwährende Um- 2008 Schluss, der Begriff Kapitalis- wälzung der Produktion“ bewirkt mus „ist…voll in den wissenschaftli- (83), wie Kocka unter Bezug auf chen Diskurs zurückgekehrt“ (6), wie Marx ausführt. Dazu gehört notwen- der renommierte Historiker Kocka in dig die Lohnarbeit, die in seiner Defi- seiner historischen Einführung ein- nition aber keine Rolle spielt. Kapita- räumt. Als Nichtmarxist macht er deut- lismus gibt es in diesem Sinne erst als lich, dass der Begriff hierzulande nicht Industriekapitalismus, vorher habe nur marxistisch geprägt ist, dass das dieser lediglich ein „Inseldasein“ ge- Bild der kapitalistischen Wirtschafts- führt (84). Bezeichnungen wie Han- und Gesellschaftsordnung sowohl von delskapitalismus oder Finanzkapita- Marx als auch von Max Weber und Jo- lismus für Erscheinungen vor dem In- seph Schumpeter geprägt ist. dustriekapitalismus sind also eigent- Am Anfang (Teil I) steht eine Defini- lich inkonsequent. tion. Demnach ist Kapitalismus durch In Teil IV behandelt der Verf. innere drei Merkmale gekennzeichnet: indi- Strukturveränderungen der kapitalis- viduelle Eigentumsrechte, Märkte als tischen Gesellschaft, wobei er zwei Koordinierungsinstanz und Kapital Elemente hervorhebt: den Wandel als Grundlage von Akkumulation vom Eigentümer- zum Managerkapi- (20/21). Außerdem gehört zum mo- talismus einerseits und Veränderun- dernen Kapitalismus die Institution gen der Lohnarbeit andererseits. Au- des privaten Unternehmens, das ßerdem beschreibt er Verschiebun- „Selbständigkeit gegenüber dem gen im Verhältnis Staat/Wirtschaft Staat“ (21) besitzt. Kocka hält diese und untersucht die Tendenz zur Fi- Definition, die aus der nordwesteuro- nanzialisierung, die er als Nieder- päischen Form des Kapitalismus ab- gangsphänomen charakterisiert, aber geleitet ist, nicht überall durch: Impli- letzten Endes nicht erklären kann: Buchbesprechungen 187

Denn der Übergang vom „Sparkapi- des Kapitalismus durchsetzen soll – talismus“ zum „Pumpkapitalismus“, im Rahmen einer Theorie des Kapi- den er als Moment der „Destabilisie- talismus, die den Klassenkampf zwi- rung des Kapitalismus“ begreift schen Arbeit und Kapital nicht kennt, (95/96), ist eine Beschreibung der eine kaum zu beantwortende Frage Finanzialisierung, keine Erklärung. Das Buch von Ellen Meiksins Wood In seinem Ausblick (Teil V) ist Ko- (eine Übersetzung ihres im engli- cka bezüglich der Lebensfähigkeit schen Sprachraum als Klassiker gel- des Kapitalismus optimistischer als tenden Werks von 2002), der leider im vierten Teil: Beeindruckt „von unlängst verstorbenen renommierten den immensen Fortschritten“, die der britischen Marxistin, langjährige Re- Kapitalismus hervorgebracht hat dakteurin von ‚New Left Review‘ (124), kann er doch nicht umhin, das und Mitherausgeberin der Zeitschrift Verhältnis Kapitalismus und Demo- ‚Monthly Review‘, beschäftigt sich kratie als zutiefst problematisch zu speziell mit der Entstehung des Kapi- kennzeichnen: „Auf grundsätzlichs- talismus, d.h. mit der Thematik, die ter Ebene bleibt die Diskrepanz zwi- Kocka in den Teilen I bis III behan- schen dem an universalisierbaren delt. Ihre Position ist, gelinde gesagt, Werten orientierten Verständigungs- ungewöhnlich: Die klassische Analy- und Gestaltungsanspruch demokrati- se, die den Kapitalismus als eine aus scher Politik einerseits und der sich dem westeuropäischen Feudalismus, demokratischer Politik und morali- vermittelt vor allem über das Kauf- scher Gestaltung entziehenden Dy- mannskapital, herausgewachsene namik des Kapitalismus andererseits Produktionsweise definiert, verwirft ein Dauerproblem.“ (127) Dieser sie in Bausch und Bogen als „Kom- Satz ist eigentlich eine vernichtende merzialisierungsmodell“ (21). So- Kritik am Kapitalismus: Ein System, wohl bürgerlichen wie marxistischen dessen Dynamik sich dauerhaft de- Historikern, die die Ursprünge des mokratischer Gestaltung entzieht, ist Kapitalismus in Handel und städti- angesichts der Entwicklung der Pro- scher Wirtschaft sehen, hält sie ent- duktivkräfte lebensgefährlich. Woher gegen: „Tendenziell ist diese Kon- er seinen historischen Optimismus zeption mit einer Geschichtstheorie hinsichtlich der Zivilisierbarkeit die- verbunden, in der der moderne Kapi- ses Systems bezieht, bleibt unklar: talismus das Ergebnis eines natürli- „Gegenwärtig sind überlegene Alter- chen und beinahe unausweichlichen nativen zum Kapitalismus nicht er- Prozesses ist, der bestimmten, uni- kennbar. Aber innerhalb des Kapita- versellen, transhistorischen und un- lismus sind sehr unterschiedliche Va- veränderlichen Gesetzen folgt.“ (27) rianten und Alternativen denkbar und Sie unterstellt damit (fast) allen mar- zum Teil auch beobachtbar. Um ihre xistischen Historikern die Position Entwicklung geht es. Die Reform des von Adam Smith und seinen Anhän- Kapitalismus ist eine Daueraufgabe. gern, die den Kapitalismus als Ent- Dabei spielt Kapitalismuskritik eine faltung des dem Menschen angebo- zentrale Rolle.“ (128) Es fragt sich renen Triebs zum Tausch betrachten allerdings, wer die ‚Zivilisierung‘ (48). Indem sie das tut, gibt sie aber 188 Z - Nr. 105 März 2016 einen guten Überblick über einige bis Faktor bei der Unterscheidung des heute wichtige innermarxistische Kapitalismus von allen anderen Debatten, so die Auseinandersetzung Formen der ‚kommerziellen Gesell- zwischen Sweezy und Dobb („Über- schaft‘ war die Herausbildung be- gangsdebatte“ – 51), die Kritik Ro- stimmter gesellschaftlicher Eigen- bert Brenners an André Gunder tumsverhältnisse, die Marktimperati- Frank und Immanuel Wallerstein und ve hervorbrachten, und kapitalisti- – last but not least – die Arbeiten von sche ‚Bewegungsgesetze‘, die der Perry Anderson über den europäi- Produktion auferlegt wurden.“ (92) schen Feudalismus und Absolutis- Das ist sicher richtig, auch wenn mus. Auch wenn man Woods rigide nicht klar wird, warum diese Fest- Kritik nicht teilt, so macht sie – wie stellung im Gegensatz zu Analysen ich meine – doch einen wichtigen stehen soll, die die Ursprünge des Punkt, wenn sie hervorhebt, dass Kapitalismus in Handel und städti- Handelsprofit – „billig kaufen, teuer scher Wirtschaft sehen. Wie man verkaufen“ – nichts mit kapitalisti- weiter sehen wird, ist sie aber mit ih- scher Akkumulation durch die An- rer Betonung der Eigentumsverhält- eignung von Mehrwert zu tun hat nisse selbst nicht konsequent: Denn (23). Das richtet sich gegen die ver- die besagten Eigentumsverhältnisse schiedenen Varianten der Weltsys- bestehen – mit Marx – in der Tren- temtheorie, die Kapitalismus mit un- nung der Produzenten von den Pro- gleichem Tausch verwechseln, aber duktionsmitteln, d.h. in der Eigen- auch gegen verbreitete Formeln, die tumslosigkeit der Arbeitenden. Das Handelskapitalismus und Indus- im Hinterkopf habend liest man spä- triekapitalismus nur als Entwick- ter, in Teil III, mit Verwunderung: lungsetappen eines Systems sehen: „Die spezifische Dynamik, die wir Wood zufolge hat Handel nicht un- mit dem Kapitalismus assoziieren, bedingt etwas mit Kapitalismus zu war also in der englischen Landwirt- tun; die sich im Feudalismus heraus- schaft bereits vor der Proletarisie- bildenden Formen von Handelskapi- rung der Arbeiterschaft vorhanden.“ tal und städtischer Wirtschaft hätten Und weiter: „Tatsächlich war diese nicht notwendig zum Kapitalismus Dynamik ein wesentlicher Faktor, führen müssen: „…der Kapitalismus der in England die Proletarisierung war nur eines der möglichen Ergeb- der Arbeiter hervorgebracht hat.“ nisse des Übergangs vom Feudalis- (151) Für Wood sind Lohnabhängig- mus.“ (194) keit, d.h. kapitalistische Eigentums- Auch wenn man bereit ist, ihr über verhältnisse, also Folge, nicht Trieb- den Teil I hinweg („Geschichten des kraft des Kapitalismus. In Wirklich- Übergangs“) zu folgen, so wird das keit sind für sie nicht die Eigentums- in Teil II („Der Ursprung des Kapita- verhältnisse, sondern die Konkur- lismus“) und Teil III („Der Agrarka- renz, der „Marktimperativ“ (94), pitalismus und darüber hinaus“) zu- Hauptmerkmal des Kapitalismus. nehmend schwerer. Gewendet gegen Von Kapitalismus kann demnach erst das „Kommerzialisierungsmodell“ die Rede sein, wenn außerökonomi- argumentiert sie: „Der entscheidende sche Formen der Mehrproduktaneig- Buchbesprechungen 189 nung verschwunden sind, wenn die zwang, ihre eigene ökonomische Steigerung von Ausbeutung und Pro- Entwicklung in eine kapitalistische fit – wegen der ökonomischen Kon- Richtung voranzutreiben.“ (163) Es kurrenz – nur noch durch Umwäl- ist vor allem diese Behauptung, bei zung der Produktivkräfte, durch er- der sie sich in Widersprüche verwi- höhte Produktivität, möglich ist. ckelt: Warum sollten Gesellschaften, Dies aber sei, und damit sind wir die wegen ihrer inneren Strukturen beim Kern von Woods historischer vorwiegend auf außerökonomische Analyse, nur aufgrund ganz besonde- Gewalt zur Steigerung des Mehrpro- rer Konstellationen in England der dukts setzten, auf einmal moderne Fall gewesen. In englischer Wirt- kapitalistische Methoden anwenden, schaftsgeschichte kennt sie sich gut um der englischen Konkurrenz Paroli aus: Die starke Konzentration des zu bieten? Wood kann das letzten Grundeigentums und die relative po- Endes im Rahmen ihres eigenen An- litische Machtlosigkeit der engli- satzes, der vom strikten Gegensatz schen Grundaristokratie versperrten zwischen politischer Gewalt und dieser den Weg der außerökonomi- Marktkonkurrenz ausgeht, nicht er- schen Mehrproduktabpressung und klären und behauptet: „Der Staat verwiesen sie auf „rein ökonomische selbst wurde ein wichtiger Akteur.“ Formen der Ausbeutung“ (136). (201) Wieso die feudalen, auf außer- Während Wood zufolge die Grund- ökonomischer Gewalt beruhenden herren in allen anderen europäischen Staaten Deutschlands und Frank- Ländern auf politische Gewalt gegen reichs auf einmal, unter dem Druck die landwirtschaftlichen Produzenten englischer Konkurrenz, zu kapitalis- setzen konnten, blieb den englischen tischen Ausbeutungsformen überge- Grundherren nur der Weg über die hen sollten, bleibt im Rahmen des Steigerung der Produktivität, was zur Wood’schen Ansatzes unklar. Innere Herrschaft des „Marktimperativs“ kapitalistische Triebkräfte sieht sie in führte. Das war nur in England der Kontinentaleuropa jedenfalls nicht Fall: „Die englische Situation war al- am Werk. Für sie ist der durch öko- so in vielerlei Hinsicht speziell.“ nomische Kräfte regulierte Markt die (162) „Ohne einen produktiven Quintessenz des Kapitalismus: Wo Landwirtschaftssektor … wäre die „immer Marktimperative die Öko- Entstehung des ersten industriellen nomie regulieren …. [wird es] kei- Kapitalismus der Welt unwahr- nen Ausweg aus der Ausbeutung ge- scheinlich gewesen.“ (163) Weiter- ben…“ (223) Dass im modernen hin: „Schließlich (dies ist zweifellos Monopolkapitalismus allein „Markt- der Punkt, der umstrittener ist) gäbe imperative“ die gesellschaftliche Re- es ohne den englischen Kapitalismus produktion regeln, ist aber zu be- wahrscheinlich kein irgendwie gear- zweifeln. Den von ihr unterstellten tetes kapitalistisches System. Es war Gegensatz zwischen ökonomischen in erster Linie der von England, ins- und außerökonomischen Formen der besondere vom industrialisierten Ausbeutung hat es auch historisch so England, ausgehende Konkurrenz- nie gegeben; angesichts der Ver- druck, der andere Länder dazu flechtung ökonomischer und politi- 190 Z - Nr. 105 März 2016 scher Macht im modernen Kapita- auch – anders als bei Wood – Han- lismus aber macht diese Unterschei- delsprofite kapitalistisch, so dass Fül- dung heute kaum noch Sinn. berths Bezeichnung der vorindustriel- Wahrscheinlich würde auch Georg len Zeit – von 1500 bis ca. 1780 – als Fülberths Buch, zumindest der defi- „Handelskapitalismus“ (27) begriff- nitorische und historische Teil, dem lich konsequent ist. Der Autor legt Woodschen Verdikt ‚Kommerziali- den Schwerpunkt der Analyse auf die sierungsmodell‘ verfallen. Allerdings Etappenfrage, wobei er den Gewinn- liegt Fülberths Schwerpunkt, anders typ zur Abgrenzung kapitalistischer als bei Wood und auch bei Kocka, Entwicklungsperioden zugrunde legt: auf der Analyse der heutigen Form Dementsprechend definiert er fünf des Kapitalismus. Auch er beginnt Kapitalarten, die in jeweils unter- mit Definitionen, wobei er – und das schiedlichem Ausmaß die kapitalisti- ist wichtig – zwischen Wirtschaft schen Perioden bestimmen: Waren- und Gesellschaft unterscheidet. Das handlungskapital (Handelsspanne) – wird heute oft nicht getan, wenn von Geldhandlungskapital (Zins) – In- Kapitalismus die Rede ist – Marx dustriekapital (Mehrwert) – Börsen- selbst hat bekanntlich nicht von Ka- spekulationskapital (Kursdifferenzen pitalismus, sondern von ‚kapitalisti- = Spekulationsgewinn). Die Unter- scher Produktionsweise‘ gesprochen scheidung einer fünften Kapitalart, und damit deutlich gemacht, dass Dienstleistungskapital, ist eher in- Produktionsweise und Gesellschaft konsequent, da die entsprechende nicht umstandslos zusammenfallen. Gewinnart, wie er selber sagt, eben- Kapitalismus beschreibt Fülberth zu- falls der Mehrwert ist (19). Dieser folge eine „Funktionsweise“ von Ge- Ansatz, der in dem kurzen Einfüh- sellschaften, „die auf dem Privatei- rungsbändchen nicht entwickelt wer- gentum an den wichtigsten Produkti- den kann, ist vor allem deshalb inno- onsmitteln, der Erzielung von Ge- vativ, weil mit der Unterscheidung winn und der Vermehrung der hier- zwischen Zins und Spekulationsge- für eingesetzten Mittel durch den winn deutlich wird, dass die gegen- Kauf und Verkauf von Waren … be- wärtige Phase des Kapitalismus, in ruhen.“ (6) Diese Definition, die wie der Spekulationsgewinne dominieren, Kocka und Wood Mehrwert und eine qualitativ neue Etappe ist. Lohnarbeit nicht zu unabdingbaren Der Teil II, der Hauptteil, folgt – nach Merkmalen des Kapitalismus zählt, der klassischen Darstellung der Her- wird bei Fülberth aber konsequenter ausbildung des Kapitalismus aus dem angewandt. Denn: „Gewinn … ist (westeuropäischen) Feudalismus – der der in Geld … ausgedrückte Über- im theoretischen Teil I skizzierten schuss des Verkaufspreises einer Phasenlogik. Den industriellen Revo- Ware entweder über ihren Einkaufs- lutionen (gekennzeichnet durch den preis oder über die Summe der Löh- breiten Einsatz von Maschinen und ne und der Preise der Waren, die als den Ersatz von Muskelkraft durch Produktionsvoraussetzung für die Wasser- und Dampfantrieb) folgt die Herstellung dieser Ware gekauft Periode des Organisierten Kapitalis- wurden.“ (8) In diesem Sinne sind mus (inkl. Imperialismus) und etwa Buchbesprechungen 191 ab 1945 die Periode des Wohlfahrts- Meiksins Wood lernt man viel über staats. Dieser wurde Mitte der 1970er die Geschichte des britischen Kapita- Jahre abgelöst durch den Finanz- lismus und dessen Besonderheiten; marktgetriebenen Kapitalismus. Bei außerdem bietet sie einen guten der Darstellung der unterschiedlichen Überblick über einschlägige inner- Perioden analysiert der Autor jeweils marxistische Debatten. Fülberth ge- verschiedene Ebenen, darunter die lingt es, die inneren Veränderungen stofflichen Grundlagen, die dominie- der kapitalistischen Produktionsweise rende Gewinnform, die räumlichen und deren Triebkräfte herauszuarbei- Bedingungen, Staat und Politik, die ten. Er trägt am meisten zum Ver- Organisation von Arbeit und Kapital. ständnis des zeitgenössischen Kapita- Den ‚gelernten‘ Marxisten irritiert, lismus bei. dass der Industriekapitalismus nicht Jörg Goldberg als besonderer historischer Einschnitt hervorgehoben wird – die Verallge- meinerung der Lohnarbeit wird als ein Akkumulationsstärke und Punkt unter vielen nicht besonders ge- -schwäche in der westeurasi- wichtet (48). Die besondere Qualität schen Zivilisation dieses Prozesses fällt in der Darstel- Karl Georg Zinn, Vom Kapitalismus lung ein bisschen der das Buch be- ohne Wachstum zur Marktwirtschaft stimmenden Periodisierungslogik zum ohne Kapitalismus. VSA-Verlag, Opfer. Hamburg 2015, 157 S., 16,80 Euro Dieser besondere Akzent ist trotzdem I Zum neuen Buch von Karl Georg eine Stärke des Buchs: Es wird deut- Zinn zunächst ein Auszug aus einem lich, dass der Kapitalismus ein sehr flexibles und anpassungsfähiges Sys- Lehrgespräch: „Warum hat Marx sein theoretisches Hauptwerk nicht ‚Der tem ist, das aus großen Krisen und Kapitalismus‘ genannt? – Weil ‚Kapi- Umbrüchen immer wieder in neuer talismus‘ ein unklarer bzw. falscher Gestalt hervorgehen kann (nicht Begriff ist. – Wieso denn das? – Ers- muss). Wer auf dessen Ende hofft tens weil es in unserer Zivilisation findet in Fülberths denkbar knappem Kapitelchen „Kein Ende abzusehen“ verschiedene Arten profitorientierter Ausbeutung gegeben hat und gibt; wenig Trost: Antikapitalistische zweitens, weil es der Wirtschafts- und Stimmungen und Bewegungen deute- Sozialforschung nicht um das Be- ten heute weniger auf dessen Ende als leuchten irgendwelcher Ismen, son- auf seine „neue Vitalisierung“, außer- dern um das Begreifen realer Kapital- halb der bisherigen Kerngebiete, hin. bewegungen gehen muss; drittens, Fragt man, welches der drei kapital- weil hierbei Gesetzmäßigkeiten der historisch angelegten Bücher vorzu- Kapitalanhäufung und der Profitra- ziehen sei, dann fällt eine Antwort tenbewegung im Mittelpunkt stehen schwer: Jedes setzt spezifische Ak- sollten; und schließlich, weil eine zente und hat besondere Stärken. Eine praktische Überwindung kapitalisti- relativ runde historische Einführung schen Wirtschaftens durch vernünfti- in die Entstehung des Kapitalismus ge Wirtschaftsweisen eine theoreti- findet sich am besten bei Kocka. Bei 192 Z - Nr. 105 März 2016 sche Prüfung unterschiedlicher dies- dere der schließlichen Entstehung einer bezüglicher Entwürfe (anstelle des Wachstumsschwäche „des Industrie- Hantierens mit Leerformeln) voraus- kapitalismus“. Abgesehen von der setzt, die der Titel ‚Kapitalismus’ Klärung begrifflicher Fragen ist hier nicht erwarten läßt.“ besonders wichtig, dass als die Spezi- II Mit diesen Stichworten sind das fik „industriekapitalistischer“ Repro- Anliegen und die Inhaltsgliederung duktion der zunächst profitable Pro- des vier Kapitel umfassenden Buchs zess der Akkumulation von Mehrpro- von Karl Georg Zinn (in dem übri- dukt und dessen kontraproduktive gens der Autor Marx, im Unterschied „Langfristwirkungen“ hervorgehoben zu einigen anderen Wirtschaftstheore- werden. (52ff) Im dritten Kapitel geht tikern, nur gelegentlich vorkommt) es um das Problem der hieraus resul- meines Erachtens schon einigermaßen tierenden Aktualität eines „Kapitalis- beschrieben: „Vom Kapitalismus oh- mus ohne Wachstum“ aufgrund zuvor ne Wachstum zur Marktwirtschaft „auslaufender industriekapitalistischer ohne Kapitalismus“ ist der Titel sei- Akkumulation“. (85ff) Nützlich er- nes kenntnisreich ausgeschilderten scheint mir hier die klare Absage an Wegweisers, der aus der gesellschaft- die Scheinlösung einer „Rückkehr zur lichen Sackgasse des sich todlaufen- alten Wachstumsdynamik“ (87; dies den Industriekapitalismus hin zu ak- soll auch für den „staatsregulierten tuellen Weggabelungen führt, welche Kapitalismus Chinas“ gelten) sowie die Wahl lassen zwischen verschie- die Verdeutlichung von Grenzen und denartigen Wirtschaftsverfassungen Widersprüchen verschiedener Strate- ohne Kapitalakkumulation, darunter gien eines „grünen Wachstums“. (98- sozialistischen Volkswirtschaften mit 105) Kapitel vier schließlich behan- demokratischer und marktwirtschaft- delt theoretische Modelle einer („so- licher Steuerung. Das außerordentlich zialistischen“) „Marktwirtschaft ohne ideen- und faktenreiche Buch kann Kapitalismus“ und von hierfür nützli- hier nur bruchstückhaft gewürdigt chen theoretischen Instrumenten, wo- werden. Dessen erstes Kapitel bietet bei Theorien von Joseph A. Schumpe- sozial- und wirtschaftsgeschichtliche ter und John Maynard Keynes eine Betrachtungen der „Ausbeutung der besondere Rolle spielen. Es wird da- Menschheit und der Natur“ (13) seit von ausgegangen, dass „gesamtwirt- den Anfängen herrschaftlich- schaftliche Planung und marktwirt- gewalttätigen Wirtschaftens im Aus- schaftliche Allokation […] keine gang der Jungsteinzeit, also seit den prinzipiellen Gegensätze sind, son- Übergängen zur westeurasischen Zi- dern [sich] gegenseitig [optimieren].“ vilisation. Bemerkenswert erscheint (113) Interessant die Bemerkung, dass mir unter anderem, dass diese Aus- in den vergangenen Zeiten der sog. beutungsgeschichte als (demogra- Systemkonkurrenz dieses von beiden phisch und ressourceal bedingte) Seiten jeweils heftig bestritten wurde. „Steigerung des [gesellschaftlichen] Die Erfahrungen des Versagens so- Aggressionspotenzials“ (17) begriffen wohl des bereits untergegangenen wird. Das zweite Kapitel befasst sich staatssozialistischen Systems als auch mit „Bewegungsgesetzen“, insbeson- des heftig angeschlagenen industrie- Buchbesprechungen 193 kapitalistischen Systems ohne reales letzten drei Jahrzehnten führt in die- Wachstum der Gegenwart, gemessen sen Volkswirtschaften sehr wahr- jeweils an den eigenen Zielsetzungen, scheinlich, in „äußerst plausibel er- werden die diesbezüglichen Mentalitä- scheinender Zukunftsnähe“, zu „einer ten verändern. Sie werden, so die kapitalistischen Formation ohne Ak- Hypothese, die Kombination von kumulation“ (86), aber mit leerlau- Marktwirtschaft ohne Kapitalakkumu- fendem „Wachstumsvoluntarismus“, lation und gesamtwirtschaftlicher so Zinn. Es gibt also einen Kapitalis- Rahmenplanung als sinnvoll erschei- mus ohne (realökonomische) Kapital- nen lassen. (113ff) Die Seriosität dieser akkumulation, den nachindustriellen Idee steht nicht in Zweifel, und so auch Kapitalismus. Und weiter: „die Trans- nicht die folgende Überschrift und der formation eines nachindustriellen Ka- Inhalt eines Textteils, der sich auf pitalismus in ein nicht-kapitalistisches Überlegungen Schumpeters aus dem System […] stellt jedenfalls eine Zu- Jahre 1942 bezieht: „Was übernimmt kunftsoption dar. Vielleicht bringt der Sozialismus vom Kapitalismus Kuba eine solche Formation zustande und was ist anders?“ (124-127) Und […]“. (114) – Marxisten verschiede- man kann schwerlich etwas dagegen ner Couleur werden eine solche Per- sagen, wenn Karl Georg Zinn in die- spektive nicht unbedingt befürworten, sem Kapitel dem Karl Heinrich Marx etwa dann, wenn es ihnen mehr auf eine gewisse „Undeutlichkeit bezüg- die Vermehrung als auf die Umnut- lich der Frage“ bescheinigt, „wie eine zung von Kapital ankommt oder mehr funktionierende sozialistische Wirt- um die Beherrschung als um die schaft gestaltet sein muss“. (115) Verwendung des „gesellschaftlichen III Karl Georg Zinn hat die in diesem Produkts“. Dieses Problem ist hier Buch vorgetragenen Gedanken um nicht zu diskutieren, es wird aber er- die – auch in seinen Schlussbemer- wähnt, um die Radikalität des Re- kungen formulierte – These zentriert, formkonzepts zu verdeutlichen, das in dass die „hochentwickelten Volks- diesem Buch vorliegt: die doppelte wirtschaften“, in denen wir leben, wie Transformation: von der Formierung schon erwähnt, als „Industriekapita- des Industriekapitalismus zum nicht- lismus“ zu begreifen sind. Nach etwa akkumulierenden/nach-industriellen zwei Jahrhunderten erfolgreicher Re- Kapitalismus und von diesem Nach- produktion, gekennzeichnet durch industriellen Kapitalismus zur – hof- (abgesehen von katastrophalischen fentlich – Nicht-kapitalistischen Unterbrechungen) kontinuierliche In- Volkswirtschaft. vestition von Surplusprodukt in Pro- IV Gegen diese Strategie gibt es ei- duktionskapital, entwickelte jedoch nen ernst zu nehmenden Einwand. Er dieser Industriekapitalismus eine un- lautet: einen nicht-akkumulierenden heimliche, wenngleich gesetzmäßige Kapitalismus (und dessen eventuelle Akkumulationsschwäche, die ihn Transformationen) wird es nicht ge- schließlich als Kapitalismus ohne ben, weil es zum Wesen des Kapita- Wachstum präsentiert und agieren lismus (zumindest des Industriekapi- lässt. Ein fortwährender Rückgang talismus) gehört, Mehrwert in mög- der profitablen Akkumulation in den lichst hohem Maße innovativ zu ak- 194 Z - Nr. 105 März 2016 kumulieren; schlichter: das Sozial- Entwicklung der Konkurrenz in der produkt zum Wachsen zu bringen. kapitalistischen Produktionsweise „Kapitalismus“ heißt: „Wachstums- zur nicht ganz überzeugenden Erklä- zwang“, „Wachstumszwang“ bein- rung eines „Akkumulationszwangs“ haltet „Akkumulationszwang“. Hätte herangezogen (vgl. u. a. Marx, Öko- denn die neuzeitliche „Industrielle nomische Manuskripte 1863-1867, Revolution“ im 18. Jh. in Großbri- MEGA II/4.2, 313; Marx, Das Kapi- tannien jemals begonnen, wenn nicht tal 1883, MEGA II/8, 556). So oder kleine Geschäftsleute und Handwer- so hilft uns sein Wortgebrauch beim ker dazu „geneigt“ gewesen wären, Versuch der Klärung gegenwärtiger in großem Umfang ihre Produktions- kapitalistischer Zwangsverhältnisse anlagen auszubauen und zu entwi- nur begrenzt weiter. ckeln? Die Antwort müsste lauten: es V Hilfreich ist Marx (zusammen mit kam hierbei vor allen auf die Nach- Engels) allerdings zweifellos da- frage durch Staatsaufträge und Über- durch, dass er die Geschichte der seehandel an, denn die „Privatwirt- Ausbeutung von Mensch und Um- schaft“ an sich hatte„eine Neigung welt grundsätzlich bis in die Anfänge lediglich zum Profit.“ (Eric Hobs- altorientalischer Gesellschaften und bawm, Industrie und Empire I, damit der Gesellschaftsgeschichte Frankfurt-M. 1969, 39) Gleichwohl der west-eurasischen Zivilisation ist die Meinung sehr verbreitet, dass verfolgt. Zinn folgt ihm insoweit, als „a cession of accumulation“ der „in- er grundsätzlich „kapitalistische ternal logic“ des „regime of capital“ Wirtschaftsenklaven [, die] seit der widerspricht, so dass soziale und ö- Frühzeit der Zivilisationsgeschichte kologische Reformen zwingend des- in sehr unterschiedlichen Gesell- sen Abschaffung voraussetzen. (z. B. schaftsformationen [existierten]“, an- John B. Foster u. a., The Ecological lässlich der Betrachtung des von ihm Rift“ New York 2010, 396) Man wä- so genannten „nachindustriellen re geneigt, das Wort „Akkumulati- ‚Neofeudalismus‘“ mit bedenkt. Die onszwang“ als Denkverbot einzustu- „vorindustrielle Epoche“ West- fen, gäbe es nicht den berühmten Eurasiens, die so ins Blickfeld gerät, Ausruf von Marx im Ersten Band hat uns bezüglich der Verfassung seines „Das Kapital“ von 1867: „Ac- menschlicher Gesellschaften einiges cumulirt, accumulirt! Das ist Moses zu sagen. Selbst die scheinbar so ver- und die Propheten!“ (Marx, Das Ka- ständliche Dichotomie „vorindus- pital 1867, MEGA II/5, 479) Wenn trielle“ versus „industrielle“ Gesell- ich das (als Nicht-Marxologe) richtig schaften verunklart sich. Wenn man sehe, hat Marx Erscheinungen wie etwa bei der Betrachtung der Ruinen „Akkumulationstrieb“, „Akkumula- riesiger Tempel- und Palastbauten tionsbedürfnis“ in den frühen Schrif- mit angeschlossenen manufakturel- ten zum und im Ersten Band eher len Großwerkstätten im frühen Baby- phänomenologisch wahrgenommen, lonien wahrnimmt, dass es hier als „charakteristisches Phänomen“ Großbetriebe mit tausenden arbei- der kapitalistischen Produktionswei- tender Menschen zur Herstellung se. Erst später, so scheint es, wird die von Exportgütern gab, gegen deren Buchbesprechungen 195

Erzeugnisse unter anderem sowohl lichen Gewaltverhältnissen dazu ge- Luxusgüter als auch Baumaterialien bracht wurden und werden, ihre ge- auf dem Wasserwege importiert sellschaftlichen Pflichten gegenüber wurden, dann fragt man sich, welche Vätern und Gatten, ihre Aufgaben Bedeutung die scheinbar einfache und Rollen als Untertanen oder Aus- Differenz von Konsumtion und Pro- länder etc. pp. zu erfüllen duktion hier hat und wie es mit der Karl Hermann Tjaden Trennschärfe der Kategorien „ge- samtwirtschaftliche Produktion“ „Reproduktion“ und „Akkumulati- Migrationsgeschichte als on“ bestellt ist. Wird nicht da, wo es Menschheitsgeschichte massenhafte „Produktion“ sowie Jochen Oltmer, Globale Migration. (vielfach durch Außenhandel vermit- Geschichte und Gegenwart, C.H. telt) auch „Reproduktion“ in Gestalt Beck-Verlag, München 2012, 128 der Errichtung und Nutzung von Seiten, 8,95 Euro Verwaltungs- und Werkstattbauten, Speicheranlagen, Bewässerungsanla- Migration und Flucht bilden in Form gen, Schiffen, Tongefäßen und der Flüchtlingskrise seit 2015 über landwirtschaftlichen Geräten gab, weite Strecken das beherrschende auch schon ein bisschen Nettoinves- Thema in Medien, Politik und Be- tition (also Akkumulation) dabei ge- völkerung und haben zu einer Polari- wesen sein? (Vgl. zur südmesopota- sierung der deutschen Gesellschaft mischen Ökonomie im 3./2. Jt. v. u. geführt. In Deutschland hat derweil Z: J. Nicholas Postgate, Early Meso- etwa jeder fünfte Mensch einen Mig- potamia, 1992, 155-222.) rationshintergrund. Beides regt zu der Frage an, wie es sich eigentlich Wie dem auch sei: Die Geschichte generell mit Migration innerhalb der der Ausbeutungsbeziehungen von historischen Entwicklung in einem Mensch und Umwelt sowie dessen, globalen Maßstab verhält. was Karl Georg Zinn mit einer tref- fenden Formulierung die langfristige Jochen Oltmer, Professor für Migra- Entwicklung eines Aggressionspo- tionsforschung und Interkulturelle tenzials nennt, bietet über die Be- Studien, stellt fest, dass Migration trachtung früherer Zustände hinaus „immer normal in der Geschichte der an, auch Geschichte von Ausbeu- Menschheit“ gewesen ist und welt- tungshilfen zu sein: Geschichte der weit keine Epoche erkennbar ist, „in der Sesshaftigkeit Normalität gewe- technischen Instrumente, mit denen 1 Menschen und andere Tiere in der sen wäre.“ In seinem Einführungs- Agrarwirtschaft ausgebeutet werden; büchlein arbeitet er diese zentrale der Mess-, Rechen- und Schreib- These auf. Neben globalen, also künste, die für die Aneignung und trans- und interkontinentalen Fern- Verteilung der Böden und Güter be- 1 nötigt wurden; und schließlich der „Jeder muss sich ständig irgendwo integrie- familialen und staatlichen Verfü- ren“ - Migration ist so alt wie die Mensch- heit; ein Gespräch mit Jochen Oltmer (URL: gungsgewalten und Zwangsmittel, http://zeitzeichen.net/archiv/interview/joche mit denen Menschen in unterschied- n-oltmer-normalfall-migration/). 196 Z - Nr. 105 März 2016 wanderungen, liegen seinen Ausfüh- große Rolle, vor allem im Hinblick rungen auch von der Globalisie- auf Zwangswanderungen (30).2 rungsdynamik beeinflusste lokale Anschließend kehrt Oltmer im dritten und regionale Migrationen zugrunde. Kapitel zur Historie zurück und be- Unter der Überschrift „Migrationsge- schreibt Migration vom 16. bis zum schichte als Menschheitsgeschichte“ 19. Jahrhundert unter dem Leitgedan- führt der Autor einleitend an, dass der ken der Erschließung und Verdich- anatomisch moderne Mensch der Gat- tung des globalen Raums. Die dama- tung Homo sapiens ohne Bewegung ligen Großmächte Spanien und Portu- im Raum nicht überlebt hätte (9). Die gal verfolgten in den Expansionsge- umfänglichen und nachhaltigen Wan- bieten ihres Territorialreiches keine derungsbewegungen der folgenden dezidierte Siedlungspolitik. Sie sahen Jahrtausende waren zwar insgesamt in den Kolonien die Möglichkeit wirt- von großem Umfang, aber „erstreckten schaftlicher Ausbeutung. Zur „Inwert- sich […] nur selten über sehr weite setzung“ der überseeischen Besitzun- Distanzen oder prägten sich gar als in- gen (32f.) benötigten sie Arbeitskräfte terkontinentale Bewegungen aus.“ – Sklaven aus Afrika (34ff.), aber (13f.) Von Migrationen in globalen auch Sträflinge und Kontraktknechte Maßstab (auch als interkontinentale aus Europa. Eine wegweisende Rolle Wanderungen) kann somit erst im 15. im Rahmen globaler Migrationsströ- Jahrhundert im Zuge der globalen Ex- me spielten die Entwicklungen im 19. pansion Europas gesprochen werden. Jahrhundert, denn in dieser Zeit Im zweiten Kapitel folgt eine kleine „nahm die europäische Abwanderung theoretische Aufbereitung. Oltmer in verschiedene Teile der Welt erheb- stellt hier überblickshaft und kennt- lich zu und dominierte die interkonti- nisreich zentrale Hintergründe und nentalen Bevölkerungsbewegungen verschiedene Formen und Folgen für mehr als ein Jahrhundert.“ (41) weltweiter Wanderungen differenziert Ein entstandenes „Missverhältnis von vor und verweist auch auf einige Ab- Bevölkerungswachstum und Er- grenzungsprobleme (21/31). Bedeu- werbsangebot“ (Klaus J. Bade) bilde- tende Begriffe im Themenfeld Migra- te den Ausgangspunkt für die Ab- tion werden definiert (18). Kommuni- wanderungen. Eine sich verbreitende kation und Netzwerken misst der Au- Modernisierung im Agrarsektor und tor bei der Entstehung räumlicher Be- die Industrialisierung waren nicht in völkerungsbewegungen großen Wert der Lage das Bevölkerungswachstum bei, da diese durch Kommunikations- auszugleichen (41). prozesse motiviert und strukturiert In Kapitel vier behandelt Oltmer un- werden (22), was er im Verlaufe des ter anderem die Länder und Regio- Buches mehrfach belegt – z.B. an- nen Australien, Argentinien, Sibi- hand von Pioniermigranten (42/71).

Neben individuell oder gruppenspezi- 2 fisch wirksamen Faktoren spielt der Daneben erfolgten auch Beschränkungen der Aufnahmequoten (1921 in den USA; Staat – als Migrationsregime – eine 93) oder gar ein Aufnahmeverbot bestimm- ter Migrations-Gruppen durch staatliche Stellen (1901 in Australien; 50). Buchbesprechungen 197 rien, Mandschurei und das südliche Marx und seine postmarxis- Afrika vor dem Hintergrund kolonia- tische Relevanz ler Expansion vor allem europäischer Staaten, aber auch der USA und Ja- Harald Klimenta, Andreas Fisahn pans (44-78). Flucht, Vertreibung u. a., Die Freihandelsfalle. Transat- und Deportation sind die kennzeich- lantische Industriepolitik ohne Bür- nenden Phänomene im Verhältnis gerbeteiligung – das TTIP, VSA, von Migration und weltweiten Krie- Hamburg 2014, 126 S., 9,- Euro gen im 20. Jahrhundert. Zum Bei- Michael Brie, Polanyi neu entde- spiel zeigten sich auch in Stellvertre- cken. Das hellblaue Bändchen zu ei- terkriegen (105ff.; Korea, Vietnam, nem möglichen Dialog von Nancy Afghanistan) die migratorischen Wir- Frazer & Karl Polanyi, VSA, Ham- kungen des Kalten Krieges, da es de burg 2015, 174 S., 10,- Euro facto auch in diesem Feld zu einer Joachim Bischoff und Bernd Müller, Zweiteilung der Welt kam: Arbeits- Piketty Kurz & Kritisch. Eine Flug- migration fand zwischen Ost und West schrift zum Kapitalismus im 21. nicht mehr statt (105). Im abschließen- Jahrhundert, VSA, Hamburg 2014, den Kapitel wirft der Migrationsfor- 93 S., 9,- Euro scher schlaglichtartig, leider sehr ver- Drei Bücher zu verschiedenen, kürzt, einen Blick auf Migrationsbe- gleichwohl vernetzten Themen: Zu wegungen und -verhältnisse im späten TTIP als dernier cri der Globalisie- 20. und frühen 21. Jahrhundert. rung, zu Piketty als Befürworter ei- Jochen Oltmer liefert eine gelungene nes dynamischen Kapitalismus, zu historische Übersicht, mit verständli- Polanyi und Nancy Frazer als Analy- chen selektiven Zügen aufgrund der tiker der Emanzipation. Masse an Migrationsbewegungen. Jede Beschäftigung mit Marx sollte Obwohl der Autor vielfältig Migrati- sich drei Fragen stellen: Was wird wie onsprozesse im Zuge der Dynamik beschrieben? Was wird wodurch er- der Globalisierung erörtert, geht er klärt? Was wird wie begründet vor- nicht auf Migration als Kehr- bzw. ausgesagt? Schattenseite der (vor allem neolibe- ralen) kapitalistischen Globalisierung Die erste Frage lässt sich so beant- ein. Das Buch trägt keine globalisie- worten: Marx konstatiert die Auflö- rungskritischen Züge, allerdings regen sung der Familie, der kleinen und die vielfältigen beschriebenen Formen mittleren Unternehmen und des Staa- von Migration zum Nachdenken dar- tes infolge der Marktdynamik. Er be- über an. Oltmer entwickelt auch keine antwortet sie ebenso durch die Ent- gesellschaftspolitische Perspektive fremdung des Menschen von sich und beschränkt sich auf eine histori- selbst, der genötigt wird, als Mittel für sche Betrachtung. Das Buch erschien andere zu arbeiten. Kritisiert wird da- 2012 und eine Erweiterung um die ran, dass kleine und mittlere Betriebe folgenden Jahre wäre aufgrund der durchaus weiter existieren trotz Kapi- aktuellen globalen Flüchtlings- und talakkumulation und absoluter Mehr- Migrationsströme wünschenswert. werterzeugung. Zur Entfremdung gilt: Marx ging von einer Disziplinarge- Patrick Ölkrug 198 Z - Nr. 105 März 2016 sellschaft aus, die seit langem entfiel. ne Techniktheorie verfügt, dass Mit der Freiheit von Arbeitszwängen Technik und Macht den Kapitalis- werde jedoch nicht die Entfrem- mus überleben können und dass der dungsbeschreibung hinfällig. Kapitalismus die Klassenkonflikte Die zweite Frage (Erklärung) beant- verrechtlicht, Krisen abfedert, zum wortet Marx mit einer ursprünglichen Beispiel durch staatsbürgerlichen Akkumulation in Großbritannien, mit Privatismus: Der Staat nimmt den Hilfe dialektischer Prozesse, mit ei- Bürgern einen Teil ihres Lebensrisi- nem Tausch gleicher Werte und einer kos ab und verlangt von den Arbei- Theorie von gegeneinander kämpfen- tern gleichzeitig, dass sie sich ledig- den Klassen. Kritisiert wird daran: lich als Bürger engagieren, nicht aber Die Akkumulation habe nur lokal an als Mitglieder einer gesellschaftli- verschiedenen Orten stattgefunden. chen Klasse. Zudem gehe sie weiter, während Insgesamt folgt aus der ausdifferen- Marx sie für abgeschlossen hielt. In zierten Kritik an Marx, dass Marx der Dialektik von Marx bleibe die Ar- falsifiziert ist, solange er als unver- beitskraft eine unveränderte Größe. änderlicher Bestand von Lehrsätzen Wert werde von Marx objektivistisch gelesen wird. Ebenso folgt: Marx konzipiert, indem behauptet wird, begleitet genau dann die weitere dass stets gleiche Werte getauscht Entwicklung des Kapitalismus, wenn werden. Die Börse sei jedoch extrem seine Beobachtungen, Erklärungen psychologisiert mit der Folge, dass und Voraussagen als etwas Elasti- Tauschvorgänge nach oft irrational sches gelesen werden, das sich zwi- subjektiven Einschätzungen erfolgen. schen falsch und wahr erstreckt und Außerdem bestimmen sich Wertbe- das prinzipiell helfen kann, in ver- stimmungen inzwischen auch nach schiedener Hinsicht zutreffend, Gesichtspunkten der ökologischen wenngleich nicht unfehlbar zu wer- Nachhaltigkeit. Marx sei von einem den. Diese zweifache Konsequenz naiven Realismus bestimmt und wisse ergibt sich aus so verschiedenen Mo- nichts von der Beobachtungsabhän- nografien und Einführungen des be- gigkeit von Wahrnehmungen und Ur- ginnenden 21. Jahrhunderts wie Gé- teilen. Zudem sei er fälschlich der rard Bensussan (Marx le sor- Ansicht gewesen, dass sich Machtbe- tant/Marx, Aussteiger aus der Philo- züge ausschließlich hinsichtlich der sophie, 2007), Bernd Ternes (Karl Klassengegensätze aussagen lassen. Marx, 2008), Robert Misik (Marx Macht würde es aber auch nach Ab- verstehen, 2010), Terry Eagleton schaffung der Klassengegensätze ge- (Why Marx was Right, 2011), Pierre ben. Dardot/Christian Laval (Marx, Die dritte Frage (Voraussage) be- prénom: Karl, 2012) und last not le- antwortet Marx mit einer Tendenz ast Domenico Losurdo, zuletzt mit: zum Fall der Profitrate infolge Über- La sinistra assente (Die abwesende produktion und Konkurrenz mit Ab- Linke), 2014. Auch jene Studie von satzminderung, Handelskrisen und Axel Honneth (Die Idee des Sozia- menschlicher Emanzipation. Kriti- lismus, 2015) schließt sich an, den siert wird daran, dass Marx über kei- Sozialismus als verstetigte Harmonie Buchbesprechungen 199 zwischen familiärer Intimität, politi- des hervorragenden Bändchens blei- scher Willensbildung und dem Ab- ben trotz dieser neuen Ereignisse ak- bau von Einkommensungleichheiten tuell. mittelbar im Sinn von Marx zu be- Die Globalisierung – verstanden als fürworten. Fortsetzung des Kolonialismus mit Die drei hier besprochenen Bücher anderen Mitteln und Benennungen – demonstrieren in verschiedener Hin- sollte dem Wort nach allen nützen sicht eine postmarxistische Gültigkeit und begünstigte der Sache nach we- der Marx’schen Beobachtungen, Er- nige. Die Krise von 2008 stärkte die klärungen und Voraussagen. Begin- Reichen. Das geplante Freihandels- nen wir mit Die Freihandelsfalle, dem abkommen zwischen der EU und den Sammelband zum TTIP-Abkommen. USA beweise, dass die „Regierungen Auf der Berliner Anti-TTIP- in Europa und den USA […] selbst Demonstration vom 10.10. 2015 mit aus der Finanzkrise nichts gelernt etwa 250.000 Demonstranten wurde haben“ (80). Dies stehe im Kontrast öffentlich, dass das CETA- zu Asien und Südamerika, die beide Abkommen zwischen Kanada und „aus ihren regionalen Krisen in der den USA auf beiden Seiten bereits Vergangenheit längst Schlüsse gezo- hunderttausende bis eine Million Ar- gen und sich für eine stärkere Rege- beitsplätze kostete. Die große Koali- lung der Finanzmärkte entschieden“ tion, die Unternehmer oder Beiträge haben. Das TTIP scheint unaus- auf „Spiegel-Online“ reden die weichlich, alle Sachzwänge sind TTIP-Risiken noch immer gering. wieder selbstgemacht und das La- Ulrich Grillo, Präsident des Bundes- mento derer, die nicht wissen konn- verbandes der deutschen Industrie, ten, welche Zwangsregeln installiert findet: „Wir Europäer müssen die werden, damit die Märkte definitiv Globalisierung gestalten wollen. Wer regulierungsimmun agieren, wird nur blockiert, verliert.“ Mit „wir“ wie üblich seitens derer hörbar wer- sind hier die europäischen Unter- den, die ein Buch wie dieses nicht la- nehmer gemeint. Die Formulierung sen. Daher sei es mit Nachdruck „gestalten wollen“ bezeichnet die empfohlen. Es bietet eine Mischung Entmachtung der Staaten zugunsten aus geordneten Informationen, ver- der Privatunternehmen. Das „ver- bunden mit kritischen Warnungen liert“ ist Wasser auf die Mühlen des und einer Liste der längst formulier- Vergessens. Denn Ende der 1990er ten Alternativen des „Alternative Jahre verschwand das Vorgänger- Trade Mandate.“ Alles, was die In- Projekt namens MAI in dem Augen- vestoren wollen, ist Schutz vor der blick, als Globalisierungskritiker es Diskriminierung durch die Gastlän- an die Öffentlichkeit brachten (74). der. Sie verlangen somit Garantieer- Wikileaks enthüllt im Oktober 2015 wartungen für private Güter. Die unter Verschluss gehaltene Papiere: Verfasserinnen und Verfasser setzen Mit dem geplanten Abkommen wer- diesem Wunsch den Gedanken einer den preiswerte Medikamente (Gene- Bewahrung der öffentlichen Güter rika) teurer und für bedürftige Pati- entgegen. Dazu gehören ein Schutz enten unerschwinglich. Die Analysen der regionalen Produktion, Schutz 200 Z - Nr. 105 März 2016 der Umwelt, Schutz der Arbeits- sind, die Mehrheit vor der Minder- märkte, der staatlich garantierten Öf- heit des Unternehmerhandelns zu fentlichkeit, der öffentlichen Dienst- schützen. Doch ein Denken des Ka- leistungen bezüglich Nahrung, Was- pitalismus in Kategorien des Schut- ser, Gesundheit und Bildung. zes vor dem Kapitalismus bleibt dem Man erkennt: Schutz wird sowohl Kapitalismus verhaftet und enthält von den Investoren als auch von den keinerlei über ihn hinausweisende Verbrauchern verlangt. Schutz Dimension. In einer darstellenden scheint das mit dem Kapitalismus Auseinandersetzung mit dem seit ei- derzeit am meisten verbundene Gut nigen Jahren erneut aktuell geworde- zu bilden. Neu erscheint dabei aller- nen Karl Polanyi und mit Nancy Fra- dings, dass der Schutz vor dem Kapi- zer legt Brie dar, dass die den Kapi- talismus ergänzt werden soll durch talismus überschreitende Dimension den Kapitalismus als schutzwürdiges nichts anderes als politische Emanzi- Gut. Ist eine solche Ergänzung mög- pation bedeuten kann. Politische lich? Die Frage hatte sich bisher Emanzipation: Bedeutet das nicht nicht gestellt. Mit dem TTIP ist sie jenen Utopierest des 19. Jahrhun- auf dem Tisch. Mit diesem Abkom- derts, der mehr als eine Reminiszenz men soll es in der Tat möglich sein, nicht zu bieten hat? Wie aber, wenn dass Konzerne für entgangene Ge- der kapitalistische Staat, der lediglich winne entschädigt werden können über eine Output-Demokratie ver- und zwar vor dem Richterstuhl priva- fügt, seine Bürger vor einer politi- ter Einrichtungen, die jeder staatli- schen Emanzipation deshalb schützt, chen Kontrolle entzogen sind. Auf weil er sie als revolutionäre Bedro- diese Wiese wird zweierlei einge- hung der „liberalen Oligarchie“ (Da- führt, ein Recht auf Belohnung für nilo Zolo für: „Demokratie“) wahr- Verluste und eine Staatsentmach- nimmt? Bereits 1881 hatte Bismarck tung. Innerhalb einer staatlichen seine Sozialgesetzgebung als Präven- Ordnung kann es kein Recht auf tion gegen Revolution verstanden, nicht erzielte Gewinne geben, ebenso worauf Brie passend verweist (26). wenig wie es ein Recht gibt, nicht Polanyis „Große Transformation“ ist bestandene Examina als bestanden 2001, versehen mit einem Vorwort zu buchen. Der Schutz des Kapita- von Joseph E. Stiglitz, bei Beacon lismus führt zu einer Beendigung des Press in Boston neu erschienen (The Schutzes vor dem Kapitalismus. Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time). Mit dem Thema des Schutzes vor Polanyis Diagnosen enthielten die dem Kapitalismus beschäftigt sich Einschätzung, dass Arbeit, Land und das Buch von Michael Brie. Es ist Geld lediglich fiktive Waren darstel- drei Phänomenen gewidmet, der Dy- len und dass ihre Vermarktung ein- namik des Kapitalismus, dem Schutz gestellt werden müsse. Stiglitz weist vor Kapitalismus und der Emanzipa- in seinem Vorwort darauf hin, der tion. Wenn Kapitalismus geschieht, von Polanyi als Täuschung verstan- dann muss der Staat oder die Gesell- dene selbstregulative Markt könne zu schaft Formen des Schutzes finden einem „Mafia capitalism“ und zu ei- und erfinden, welche in der Lage Buchbesprechungen 201 nem „Mafia political system“ führen. Vermögen ausruhenden Kapitalis- Das Beispiel Russlands nach der mus, ein Genießen von Luxus, eine Auflösung der Sowjetunion zeige: Erstarrung des Innovationsgeistes Der Markt richtete es nicht. Denn da- hatte bereits 1913 Werner Sombart in für fehlten „the necessary legal and seiner Studie Der Bourgeois. Zur institutional infrastructures.“ Geschichte des modernen Wirt- Unschätzbar sind die von Brie über- schaftsmenschen für Italien, Holland, setzten und abgedruckten Texte von Spanien, Frankreich und Großbritan- Nancy Frazer und Polanyi. Frazers nien im Unterschied zu Deutschland Überlegungen laufen auf den Schlüs- und den USA beobachtet. Marx hatte selsatz hinaus: „Von jetzt ab gibt es diese Tendenz nicht wahrgenommen. keinen sozialen Schutz mehr ohne Zweitens: Piketty entdeckt jene pro- Emanzipation.“ (114) Die abge- gressive Besteuerung wieder, welche druckten Texte von Polanyi – darun- die Autoren des Manifests der kom- ter ein Hamlet-Essay, der das düstere munistischen Partei 1848 forderten Zeitalter Polanyis als dennoch hoff- und welche seither ein kapitalisti- nungsgeladen deutet – und die Berli- sches Gemeinwesen überhaupt erst ner Rosa-Luxemburg-Lecture von lebensfähig werden ließ. Das Büch- Karin Polanyi-Levitt sind wertvolle lein zu Piketty leitet uns zu einem Dokumente, welche den „common Dilemma: Geschieht Wachstum, sense“ der Staatsbürger als „Basis dann scheinen ein ökologischer Kol- von Politik in einer Demokratie“ laps und soziale Ungleichheiten un- (128) auszeichnet. vermeidlich. Ein Luxus- und Vermö- genskapitalismus dagegen führt zu Das Büchlein zu Piketty ist leicht zu unausgleichbaren Ungleichheiten lesen und leicht zusammengefasst. und politischer Exklusion der Mehr- PikettyPiketty konstatiert einen Zu- heiten. Eine Diskussion und Bearbei- stand r>g (der Vermögensreichtum tung dieses Dilemmas steht noch aus. ist größer als das Wirtschaftswachs- tum) und verlangt eine Umkehrung: Die Studien zu TTIP und Piketty g>r (das Wachstum habe größer zu sind ökonomischen Disproportionen sein als der Vermögensreichtum). Als gewidmet. Es scheint sich Rathenaus Mittel zu dieser Umkehrung schlägt Wort zu bestätigen, dass die Wirt- Piketty eine globale Vermögenssteuer schaft unser Schicksal sei. Die Be- vor, die bei einer bestimmten Vermö- mühungen von Polanyi und Nancy genshöhe einsetzt. Konservative ver- Frazer laufen jedoch darauf hinaus, dächtigen Piketty eines verborgenen dass die Ökonomie nicht unser Marxismus. Linke Kritiker erblicken Schicksal wird und nicht werden in seinen Analysen lediglich System- darf. Axel Honneth möchte derzeit beschreibungen, welche die Frage des unter Sozialismus verstehen, dass In- Privatbesitzes der Produktionsmittel timität, politische Willensbildung nicht stellt. Das Büchlein verdeutlicht und ein institutionalisierter Abbau all diese Aspekte. von Einkommensungleichheit mit- einander harmonieren. Auf diese Ergänzend sei zweierlei festgestellt. Weise wird Marx nicht historisiert. Erstens, die Tendenz eines sich auf Vielmehr möchte der Postmarxismus 202 Z - Nr. 105 März 2016 die marxschen Quellen einer zumin- xibleren oder längeren Arbeitszeiten dest methodisch konzipierten post- sowie Lohnverzicht in der Hoffnung anthropozentrischen Harmonie zwi- zuzustimmen, Arbeitsplätze zu si- schen Natürlichkeit und Kultur flie- chern. Entwickelt und erprobt wurde ßen lassen, an deren Vergiftung der dieses Vorgehen Mitte der 1980er Kapitalismus mit immer neuen Ein- Jahre in den USA. Nach der großen fällen arbeitet. Krise der Autoindustrie Anfang der Bernhard H. F. Taureck 1990er Jahre kamen sie auch in Deutschland auf und gehören mitt-

lerweile insbesondere in der Metall- „Wettbewerbsbündnisse“ und und Elektroindustrie zum festen Be- Betriebsräte standteil unternehmerischer Wettbe- werbs- und betriebsrätlicher Interes- Daniel Behruzi, Wettbewerbspakte senpolitik (61-62). und linke Betriebsopposition. Fall- studien in der Automobilindustrie. Ausgangspunkt ist für Behruzi die VSA Verlag, Hamburg 2015, 421 These, dass derartige Wettbewerbs- Seiten, 29,80 Euro. bündnisse zu einer Erschöpfung der Legitimitätsressourcen der verant- Daniel Behruzi hat ein wissenschaft- lich und politisch nützliches Buch wortlichen InteressenvertreterInnen führen (13). Mit anderen Worten: Den geschrieben. Beides zusammen ist Betriebsräten droht der Verlust an für eine Doktorarbeit in der heutigen Rückhalt in den Belegschaften. Beh- Zeit kaum selbstverständlich. Ge- ruzi verknüpft diese Fragestellung mit genstand seiner empirischen Unter- der Untersuchung der Rolle unter- suchung sind sog. Wettbewerbspak- te, die in der Automobilindustrie auf schiedlicher politischer Strömungen innerhalb der Belegschaft bzw. inner- Ebene der Unternehmen zwischen halb der Betriebsratsgremien: Da Le- Management und Belegschaftsvertre- gitimationsprobleme nicht überall in tungen abgeschlossen werden, und gleichem Maße zu beobachten seien, die damit verbundenen Legitimati- wo es Wettbewerbsbündnisse gibt, onsprobleme für die mitverantwortli- chen Betriebsratsmehrheiten. Beson- müssen andere Faktoren den Aus- schlag geben. Hier schlägt die Stun- dere Aufmerksamkeit schenkt Beh- de linksoppositioneller Gruppen, ruzi dabei der Herausbildung (15) „die in der Lage sind, kritische Deu- und der Rolle linker oppositioneller tungen der Betriebsratspolitik in Betriebsratsgruppen. Unter Wettbe- wichtigen Belegschaftsteilen zu ver- werbspakten werden Vereinbarungen verstanden, in denen das Manage- breiten und Alternativen zu formulie- ren. Die zentrale Ausgangsthese die- ment Investitionen, Standort- oder ser Arbeit ist, dass die Legitimitäts- Beschäftigungsgarantien für einen verluste der Betriebsratsmehrheiten begrenzten Zeitraum zustimmt, um dadurch deutlich verstärkt werden.“ im Gegenzug Konzessionen von Be- legschaften zu erhalten. In diesen (14) Die empirische Basis der Studie ungleichen Tauschgeschäften sind sind jeweils zwei Betriebs- Fallstudien in den Konzernen Opel Interessenvertreter etwa bereit, fle- und Daimler, die auf 28 Expertenin- Buchbesprechungen 203 terviews, Dokumentenanalysen und den Passagen, in denen die Thesen gelegentlichen teilnehmenden Beo- vorgestellt werden (115-127), ist bachtungen beruhen (15). Als Aus- nicht immer ganz klar, welche Prob- weis für Legitimationsprobleme der lemstellung und welche der Thesen Betriebsratsmehrheit nimmt Behruzi nun im Zentrum der Arbeit stehen. zum einen Arbeitskämpfe, die nicht Diese Unklarheit wird gleichwohl für von der Betriebsratsmehrheit „kon- den Leser teilweise kompensiert, trolliert“ wurden, und zum anderen denn die Annahmen strukturieren die Wahl linker Oppositionsgruppen nicht nur die Betriebsfallstudien in den Betriebsrat. Dies ist die zent- (127-298) in übersichtlicher Weise, rale Fragestellung seiner Studie; dar- sondern ermöglichen es Behruzi über hinaus widmet sich Behruzi au- auch, im Schlussteil kompakt die ßerdem ausführlich der Überprüfung wesentlichen Befunde seiner Unter- von prominenten Annahmen über die suchung zu präsentieren (311ff.). Auswirkungen von Wettbewerbs- Einige Ergebnisse der Arbeit sind zu- bündnissen, die in der soziologischen nächst überraschend. Das gilt z.B. für Fachdiskussion eine Rolle spielen: den Befund,, dass die Spaltung der Welche Folgen haben die Pakte etwa Betriebsratsgremien nicht notwendi- für Löhne und Tarife, wie wirken sie gerweise zu einer Schwächung, son- sich auf die spezifischen Einfluss- dern dass die Existenz von linken Op- chancen von Betriebsräten aus? In positionsgruppen auch zu einer Stär- welchen Situationen entstehen Wett- kung der gewerkschaftlichen Organi- bewerbspakte – lediglich in Krisen- sationsmacht führen kann (336ff.); zeiten, oder werden sie auch in nor- oder dass eine linke Opposition die malen Zeiten genutzt, um die Wett- Betriebsratsmehrheiten in ihren Ver- bewerbsfähigkeit des Unternehmens handlungen mit dem Management so- zu verbessern? Oder: Ist auf die Ge- gar stärken kann, da letztere regelmä- genleistungen der Konzerne, die die- ßig auf die fordernden Kritiker verwei- se den Belegschaften für Flexibili- sen können und so über ein Druckmit- tätsbereitschaft und/oder Lohnzu- tel mehr verfügen. Mit Blick auf die rückhaltung versprechen, Verlass? Kernfragestellung ist interessant, dass Das alles sind wichtige Fragen, nicht Legitimationsprobleme sich keines- zuletzt für aktive GewerkschafterIn- wegs umstandslos auf die Wettbe- nen. Daher liest sich Behruzis Arbeit werbsbündnisse zurückführen lassen. auch nicht wie eine Detailstudie über Diese stellen lediglich eine Bedingung Legitimationsprobleme, sondern hat dar. Im Vergleich zwischen den vier den Charakter einer soliden Einfüh- Standorten wird vielmehr deutlich, rung in das Thema. Gleichzeitig dass linke Oppositionsgruppen bei führt das breite Erkenntnisinteresse Daimler/Untertürkheim (mit Wur- aber dazu, dass die Arbeit durch im- zeln in der Plakat-Gruppe um Willi merhin 17 Thesen strukturiert wird – Hoss) und Opel/Bochum (Gegen- ein nicht nur für qualitative Studien wehr ohne Grenzen) auf lange Tradi- außergewöhnliches Vorgehen. Der tionen blicken können, die bis in die Nachteil dieser Thesenwucht: Bereits 1970er Jahre zurückreichen. Das in der Einleitung, spätestens aber in scheint zunächst einmal kaum über- 204 Z - Nr. 105 März 2016 raschend – verweist allerdings auf Mainstream der Sozialwissenschaften die große Bedeutung, die der Her- als Ansicht zunehmend verbreitet. ausbildung von Aktivistenkernen in Conrad Schuhler nimmt neuere Dis- der Betriebspolitik zukommt. Von kussionen um den Zustand bürgerli- Spontaneität kann zumindest in diesen cher Demokratie zum Anlass einer Fällen keine Rede sein. Als kompli- marxistischen Bestandsaufnahme. Im ziert stellt sich, so Behruzi, zudem die Anfang seiner Überlegung steht die Verarbeitung von Legitimationsprob- (zutreffende) theoretische Grundan- lemen durch die Belegschaften dar. nahme, dass bürgerliche Demokratie Zur Erinnerung: Arbeitskämpfe, die seit ihren Anfängen „ein System der von den Betriebsratsmehrheiten nicht Klassenherrschaft des Kapitals“ (4) kontrolliert wurden, werden von Beh- war und jenes bis weit ins 19. – teil- ruzi als Ausweis von Legitimations- weise gar bis ins 20. – Jahrhundert problemen genommen. Derartige Ar- bemüht war, subalterne Klassen von beitskämpfe führten bei Daimler und jeder Einflussnahme auf politische Opel aber nicht zum Machtverlust der Willensbildung und Entscheidungs- Betriebsratsmehrheiten. Behruzi ar- findung formal auszuschließen. beitet eine Vielzahl von Faktoren her- Gleichwohl geht es Schuhler nicht aus, die dies verhindern (334ff., zuvörderst darum, die wechselhafte 350ff.). In diesem Zusammenhang ist Geschichte der Demokratie und die es gleichwohl schade, dass aus sie prägenden Dynamiken von Inklu- pragmatischen Gründen keine Inter- sion und Exklusion nachzuzeichnen. views mit Beschäftigten geführt Im Zentrum seiner Analyse steht viel- wurden. Über die Gerechtigkeits- mehr – zeitdiagnostisch – die Bedro- wahrnehmungen und die Verarbei- hung der Demokratie durch einen zu- tungsweisen der ArbeiterInnen er- nehmend offen autoritären Gegen- fährt man dementsprechend kaum wartskapitalismus. Schuhler arbeitet etwas. zum einen – historisch und theoriege- Thomas E. Goes schichtlich – heraus, dass neoliberale Denker wie Friedrich August von

Hayek oder Walter Lippmann seit je Kapitalismus oder Demokratie als potentielle Gefährde- Demokratie rin dessen charakterisieren, was sie Conrad Schuhler, Widerstand. Kapi- Freiheit nannten. Er erinnert in die- sem Kontext auch daran, dass noch talismus oder Demokratie, isw- vor dem Durchbruch neoliberal inspi- Report Nr. 96, München März 2014, rierter Wirtschaftspolitik in Großbri- 39 S., 3,50 Euro. tannien und den USA unter Thatcher Dass Kapitalismus und Demokratie und Reagan, der erste Modellversuch keineswegs in symbiotischer Bezie- einer neoliberalen Wirtschaftsordnung hung miteinander verbunden sind, in Chile mit dem Putsch Augusto Pi- sondern (vorsichtig formuliert) in ei- nochets und der Zerschlagung der nem Spannungsverhältnis zueinander Demokratie verbunden war. Zum an- stehen, hat sich spätestens seit der deren zeichnet er materialreich nach, Großen Krise von 2008ff. im wie gerade die Krisenprozesse der Buchbesprechungen 205 letzten Jahre das un- und antidemo- ben, keineswegs dem Versuch ge- kratische Programm des Neolibera- schuldet, Protestpotentiale kleinzuhal- lismus weit eher beschleunigt als ge- ten, sondern verweist auf ein wirkli- bremst haben. Der in eine Akzeptanz- ches Problem. Nicht erst PEGIDA krise geratene Neoliberalismus wirkt zeigt, dass keineswegs alle Proteste nun im Zeichen von Austerität und der letzten Jahre Ausdruck einer nach „Sicherheitspolitik“ noch stärker als links tendierenden Politisierung der Motor einer grassierenden Entdemo- sozialen Frage waren. Die Forderung, kratisierung, die nur durch konse- die Protestbewegungen (denken könn- quenten Widerstand aufgehalten wer- te man hier an ein Spektrum von den kann: „Je mehr die Resthegemo- Stuttgart 21 bis Blockupy) müssten nie an- und abgenagt wird, umsomehr zur „Erkenntnis vorstoßen […], dass wächst die Gefahr, dass die in Be- sie zusammengehören“ (36) bleibt drängnis geratenen Eliten auf die Un- eher ein gutgemeinter Appell als eine terstützung rechtsradikaler Kräfte und im realen Bewegungsgeschehen fun- auf die Gewalt von ‚Sicherheitskräf- dierte Strategie. Solche eher unbe- ten‘ setzen.“ (33) stimmten und appellatorischen Poli- Schuhlers Broschüre ist fraglos ein le- tikempfehlungen finden sich zahlrei- senswerter Beitrag zur Debatte, zumal che. So rät Schuhler den Gewerk- er viele Einzelaspekte behandelt und schaften – ganz im Kontrast zu den zusammendenkt: monopolisierte Me- ambivalenten Stimmungslagen der dienmacht und Privatisierungspolitik, Mitglieder, die er selbst gerade noch die Probleme sozialpartnerschaftlich referierte – sich durch politische konditionierter Mitbestimmung und Streiks „endlich den nötigen Einfluss die Bedeutung transnationaler Wert- auf die politische Konfliktebene [zu] schöpfungsketten. Auch zahlreiche verschaffen“ (35). Auch seine Kon- empirische Studien zieht Schuler her- zeption einer Wirtschaftsdemokratie, an: die Ergebnisse der Jenaer For- unter der er letztlich eine mit dem par- schungen zum Bewusstsein von lamentarischen Vertretungsprinzip Lohnabhängigen, die Mitgliederstudie brechende, aktualisierte Rätedemo- der IG Metall, aber auch neuere Un- kratie auf allen Ebenen (einschließlich tersuchungen sozialer Bewegungen. der Globalen) versteht, geht denn Stark ist Schuhlers Analyse dabei doch an zu vielen konkreten Fragen überall dort, wo sie sich auf konkrete vorbei: etwa dem Umgang mit tat- Krisentendenzen des Demokratischen sächlichen Repräsentations- und Par- bezieht. Schwächer wird seine Argu- tizipationskrisen oder auch schlicht mentation in den normativen Passa- der Organisationsfrage, die beantwor- gen. Schuhler kritisiert zu Recht eine tet werden muss, wenn politische Unterschätzung sozialer Protestbewe- Mobilisierung auf Dauer gestellt wer- gungen in der bürgerlichen Politik- den soll. Dies erscheint nicht zuletzt wissenschaft. Gleichwohl erscheint daher problematisch, als Schuhler die Feststellung, dass insbesondere sein Konzept durchaus nicht als Er- Proteste so genannter „Wutbürger“ weiterung, sondern im Gegensatz zu letztlich ein auch soziologisch bürger- pragmatischeren (aber eben auch rea- liches Phänomen (Franz Walter) blei- listischeren) Ansätzen der Etablierung 206 Z - Nr. 105 März 2016 wirtschaftsdemokratischer Steue- zugsrats der Groß-Berliner Arbeiter- rungsprinzipien – etwa den Überle- und Soldatenräte1, war in „Z“ von gungen Hans Jürgen Urbans, denen er Gerhard Engel unmittelbar nach Er- vorwirft, „Markt und Plan“ versöhnen scheinen ausführlich besprochen wor- zu wollen (29) – formuliert. Neben den.2 Hoffrogges Studie ist inzwischen richtigen und wichtigen Überlegun- in einer erweiterten und überarbeiteten gen – etwa zur Rolle der demokrati- Fassung auf Englisch erschienen; neu schen Frage beim Scheitern bisheriger sind u.a. die Kapitelzusammenfassun- Sozialismusversuche – und äußerst gen und die Einarbeitung der einschlä- bedenkenswerten Einschätzungen – gigen Literatur der Jahre 2008-2014. etwa zur Notwendigkeit zivilen Un- Da die Neuausgabe eine bemerkens- gehorsams angesichts wachsender werte Ergänzung enthält, soll sie hier Repression –, stehen Passagen, die kurz angezeigt werden. den Problemen gegenwärtiger Entde- Zur Erinnerung: Richard Müller war mokratisierung eher ausweichen, als zu Beginn des Ersten Weltkrieges sich ihnen wirklich zu stellen: so bei Branchenleiter der Berliner Dreher im der von Schuhler etwas vorschnell Deutschen Metallarbeiterverband. Er beiseite gewischten Spannung zwi- spielte eine führende Rolle bei der schen national verfassten demokrati- Herausbildung einer selbständigen lin- schen Systemen und supranationalen ken Strömung im DMV, die sich ge- Wirtschaftsregimen, zu deren Auflö- gen die Burgfriedenspolitik der Füh- sung die Forderung nach einer „um- rungen von Gewerkschaft und SPD fassende[n] demokratische[n] Ausges- stellte. Aus ihr gingen die weitgehend taltung der EU“ (31) nur wenig kon- konspirativ agierenden „revolutionären kretes beiträgt. So bleibt der Ein- Obleute“ hervor, die die großen Berli- druck, dass der Text zu viel sein will: ner Arbeiterstreiks der Jahre 1916, Politisches Strategiepapier, Zeitdiag- 1917 und 1918 sowie die Vorbereitun- nose und utopischer Entwurf. Weni- gen für den bewaffneten Aufstand in ger wäre (noch) mehr gewesen. Berlin im November 1918 organisier- David Salomon ten. Müller gehörte der USPD an, blieb aber in erster Linie Gewerkschafter, der sich von der politischen Führung Noch einmal zu Richard nichts sagen ließ. Dabei blieben in sei- Müller nem Denken sozialistisches Ziel und Ralf Hoffrogge, Working-Class Poli- gewerkschaftliche Organisationspraxis tics in the German Revolution. Richard „recht unverbunden“, wie Hoffrogge Müller, the Revolutionary Shop Stew- anmerkt. Dass der Kontakt zur Sparta- ards and the Origins of the Council kus-Gruppe während des Krieges nur Movement, Haymarket Books, Chicago lose war, hing aber auch mit deren nur 2015, 253 S., 28 $. schwacher Verankerung in der Arbei- Hoffrogges 2008 erschienene politi- 1 sche Biografie des unter Linken weit- Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hin unbekannten Richard Müller hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008. 2 (1880-1943), Vorsitzender des Voll- Gerhard Engel, Richard Müller – Obmann der Revolution, in: Z 77 (März 2009), S. 202-204. Buchbesprechungen 207 terschaft und im Milieu der gewerk- beit in den Gewerkschaften setzenden schaftlichen Obleute zusammen. So Einheitsfrontpolitik an Lenin, leitete gehörten Karl Liebknecht, Wilhelm zeitweilig die Betriebsrätezentrale der Pieck und Ernst Meyer erst seit Ende KPD, geriet dann aber nach dem Über- Oktober 1918 zur Leitung der revolu- gang des Parteivorsitzes von Levi an tionären Obleute.3 In den entscheiden- Brandler 1921 in Widerspruch zur den Phasen der Vorbereitung des be- „linken“ Offensivstrategie der KPD waffneten Aufstands, in denen strategi- und der „März-Aktion“, die er unter sches Denken gefragt war, kam es zwi- Hinweis auf die Stimmung in den Be- schen den auf Massenaktionen und de- trieben scharf ablehnte. Das trug ihm ren weitertreibende Dynamik setzen- ein Parteiausschlussverfahren ein, das den Spartakisten, insbesondere Lieb- aber nicht durchgesetzt wurde. Als knecht, und den mit der betrieblichen Kritiker der Zentrale nahm er u.a. mit Basis verbundenen, im gewerkschaft- Clara Zetkin am III. Kongress der KI lichen Organisationsdenken geschul- teil; sie fanden dort in den strittigen ten und eher vorsichtigen Obleuten, Fragen die Unterstützung Lenins. deren Repräsentant Müller war, zu Bisher war angenommen worden – so massiven Konflikten und wechselsei- auch in Hoffrogges Biographie von tigen Vorwürfen, wie man u.a. den 2008 –, dass Müller im Rahmen der in Aufzeichnungen Liebknechts ent- der KPD eskalierenden Konflikte nach nehmen kann. Diese politischen Dif- Ausschluss Levis und der von Levi ini- ferenzen blieben auch noch in den tiierten Gründung der „Kommunisti- nächsten Jahren virulent. Nach den schen Arbeitsgemeinschaft“ (KAG), Wahlen von Arbeiter- und Soldatenrä- mit der die meisten Obleute und auch ten in den Berliner Betrieben am 10. Müller sympathisierten, im Januar 1922 November 1918 wurde Müller zum aus der KPD ausgeschlossen worden Vorsitzenden des Vollzugsrats ge- sei. Dies trifft jedoch nicht zu. Hoffrog- wählt, in dem die Auseinandersetzun- ge fand im Moskauer RGASPI-Archiv gen zwischen (wiedererstarkter) (ehemaliges zentrales Parteiarchiv des Mehrheitssozialdemokratie und Linken IML) eine unter dem Namen Richard bis zur Beseitigung der Rätestrukturen Müller geführte Kaderakte der KI, die im Herbst 1919 sich fortsetzten. Unter sich als ein mixtum compositum der dem Eindruck des Scheiterns der Re- Dokumente von drei oder vier ver- volution und der zweideutigen Haltung schiedenen Richard Müllers erwies. der USPD beim Kapp-Putsch wandte Einige Dokumente sind eindeutig dem sich Müller Ende 1920 mit der Mehr- hier in Rede stehenden Richard Müller heit der USPD der KPD zu. Er orien- zuzuordnen, darunter ein ausführliches tierte sich als Anhänger einer auf Ar- Schreiben Müllers vom Oktober 1924, das Angaben zu seiner Tätigkeit seit 3 Vgl. Gerhard Engel, Bärbel Holtz, Ingo Ma- 1922 enthält. (174-183) Aus diesen in terna (Hrsg.)., Groß-Berliner Arbeiter- und Auszügen dokumentierten Unterlagen Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Do- ergibt sich folgendes: kumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revoluti- (1.) Müller blieb mindestens bis Ok- on bis zum 1. Reichsrätekongreß, Berlin tober 1924 KPD-Mitglied (174). Für 1993, S. XII. ihn kam aus politischen wie persönli- 208 Z - Nr. 105 März 2016 chen Gründen (Differenzen zu Levi) ei- hier zeigt sich eher seine Isolation. Er ne Mitgliedschaft weder in der USPD stützt sich allein auf die Vorgänge bei noch in der KAG in Frage (175). einer großen öffentlichen Parteiver- (2.) Müller reklamiert in seinem sammlung in Berlin. Die ein Jahr nach Schreiben, er sei seit 1921 wegen sei- den Ereignissen eigentlich zentrale ner kritischen Haltung zur Parteifüh- Frage, ob die Gesamteinschätzung im rung de facto kalt gestellt worden und Herbst 1923 als „akut revolutionär“ habe keine Funktionen ausüben kön- realistisch war, warum nicht einmal ein nen – weder im Rahmen der Roten Generalstreik zustande kam und wa- Gewerkschaftsinternationale noch als rum die Arbeiterschaft mehrheitlich auf dem Jenaer Parteitag 1921 ge- passiv blieb, wird – wie auch Hoffrog- wählter Sprecher der kommunisti- ge konstatiert – nicht aufgeworfen. Ge- schen Metallarbeiter noch als Autor rade das wäre aber das „Terrain“ ge- der „Roten Fahne“. (176) wesen, auf dem Müller immer sich auszukennen reklamierte. Denkbar ist (3.) Im November 1923, nach dem allerdings, dass Müller sich zu dieser Scheitern des „deutschen Oktober“, Frage in dem Schreiben an die KI, mit erhielt er das Angebot, die Gewerk- dem er seine Parteimitgliedschaft ret- schaftsarbeit der KPD in Berlin zu lei- ten wollte, schon deshalb nicht äußer- ten. Müller machte seine Einver- te, weil die KI in der Auseinanderset- ständnis von folgenden Konditionen zung um den „deutschen Oktober“ abhängig: Zustimmung der Berliner zunehmend auf den linksradikalen Betriebsräte zu seiner Partei- Flügel in der KPD setzte.4 Funktion; Bereitschaft der KPD, ein Aktions- und Organisationsprogramm Hoffrogges Fund unterstreicht den für die Betriebsrätebewegung auszu- Eindruck, dass Richard Müller seit arbeiten und das Verhältnis zwischen 1922 in zunehmender Isolation den KPD, Gewerkschaften und Betriebs- Kontakt zur politischen Praxis verlo- rätebewegung zu klären. Die KPD- ren hatte. Aber er hat diese Zeit auf Führung lehnte diese Bedingungen andere Weise produktiv genutzt: mit dem Hinweis auf „Größenwahn“ 1923/1924 erschienen die drei Bände ab. (180f.) In der Tat, meint Hoffrog- seiner eindrucksvollen, auf eigenem ge, hatte Müller überzogen. Er war Erleben und Handeln und einem ex- nicht mehr, wie in der Vergangenheit, quisiten Fundus an Dokumenten be- der Repräsentant der revolutionären ruhenden „Geschichte der deutschen Obleute und er repräsentierte 1923 Revolution“ über die Jahre 1914 bis keine relevante Gruppe der Berliner 1919. Und das ist nach wie vor ein Arbeiter. (181) linkes „Standardwerk“, dem in den nächsten Jahren der „Revolutionsjubi- (4.) Müller trägt in seinem Schreiben läen“ viele neue Leserinnen und Leser an die KI eine scharfe Kritik an der zu wünschen sind. Vorbereitung der KPD-Führung auf den Oktober 1923 vor. In der „akut André Leisewitz revolutionären“ Situation sei die Vor- 4 bereitung dilettantisch und „kriminell Detailliert dokumentiert bei Harald Jentsch, gegenüber der Partei“ gewesen. Auch Die KPD und der „deutsche Oktober“ 1923, Rostock 2005, S. 271-492. Buchbesprechungen 209

Ein Kriegsverbrecher, Verbrechen und deren Aufdeckung getarnt in der DDR es im vorliegenden Buch geht. Der Autor widmet seine Publikation den Siegfried Grundmann, Georg Frent- Opfern des 8. zel. PG und Angehöriger der SS- Einsatzgruppe B in der UdSSR. Ge- Frentzel, 1914 im Saarland geboren, nosse und Mitglied der Gesellschaft wurde 1934 dort Mitglied des Ord- für Deutsch-Sowjetische Freund- nungsdienstes der Deutschen Front, schaft. NORA Verlagsgemeinschaft, die die Saarabstimmung vom Januar Berlin 2015, 161 Seiten, 14,90 Euro 1935 und den Anschluss an Nazi- deutschland terroristisch vorbereite- Die allermeisten deutschen Kriegs- te. Nach vier Jahren in der Wehr- verbrecher zogen es nach der militä- macht trat er 1939 in die SS ein und rischen Niederlage und der Befrei- wurde Kraftfahrer bei der - ung des deutschen Volkes vom Fa- leitstelle Dresden. Diese schickte ihn schismus vor, schleunigst das retten- alsbald nach Oppeln, wo ein Ein- de westdeutsche Ufer zu erreichen. satzkommando der Dies gilt insbesondere für die höhe- und des SD aufgestellt wurde, das ren Chargen aus und SS, unmittelbar nach der Wehrmacht in Gestapo und SS-, aus Polen einrückte, dort Polen und Ju- dem leitenden Personal der Konzen- den verhaftete, quälte und mordete. trations- und Vernichtungslager, aus 1941 wurde Frentzel der persönliche den Geheimdiensten, der Justiz, der Fahrer von SS-Brigadeführer Karl NSDAP und der Ministerialbürokra- Eberhard Schöngarth, des Befehls- tie des Nazistaates und seinen Besat- habers der Sicherheitspolizei und des zungsverwaltungen im okkupierten SD (BdS) im „Generalgouvernement Europa. Sie hatten sich nicht ge- für die besetzten polnischen Gebiete“ täuscht und blieben dort in der Regel (der Zusatz entfiel 1940). Schöngarth straffrei, eine juristische Ahndung ih- war 1941-1943 BdS im GG. rer Verbrechen wurde sabotiert, blo- ckiert, verhindert. Die meisten von Als in Vorbereitung des Überfalls ihnen konnten ihre Berufskarrieren auf die Sowjetunion im Frühjahr im bundesdeutschen Staat fortsetzen. 1941 erneut SS-Einsatzgruppen auf- Es gab allerdings auch einige wenige gestellt wurden, wurde Frentzel nach Naziverbrecher, die ein unauffälliges Bad Schmiedeberg versetzt und als Weiterleben in der Sowjetischen Be- Kraftfahrer in das satzungszone und später der DDR für 8 der Einsatzgruppe B befohlen, das die bessere Tarnung hielten, so der bis März 1943 von SS- Arzt an der Rampe von Auschwitz, Sturmbannführer Otto Bradfisch Dr. Horst Fischer, der in Spreenha- kommandiert wurde. Die Einsatz- gen nahe Berlin praktizierte, so Ru- gruppe B war der Heeresgruppe Mit- dolf Zischka, einer der Mörder von te zugeordnet; ihr Einsatzkommando Theodor Lessing 1933, der bis zu 8 umfasste 60 bis 80 Mann und rück- seinem Tode 1978 unbehelligt in te über Białystok und Baranowicze Wernigerode am Harz lebte, und so nach vor. Es erreichte am 9. auch Georg Frentzel, um dessen September 1941 Mogiljew, wo es für den Winter stationiert wurde. Ent- 210 Z - Nr. 105 März 2016 sprechend bildet Mogiljew den terri- Dörfer niedergebrannt, wobei Frent- torialen Schwerpunkt seiner Verbre- zel mit einer Panzerabwehrkanone chen. Nachdem das Kommando be- Splittergranaten auf bewohnte Häu- reits auf seinem Weg mindestens ser abschoss, um seinen Einfalls- 1100 Juden und sowjetische Partei- reichtum bei den Mordtaten zu de- funktionäre in Białystok sowie wei- monstrieren. Die bekanntesten grö- tere 2400 Juden in Baranowicze und ßeren Aktionen waren die Vernich- Minsk erschossen hatte, folgten in tung des Dorfes Borki, bei der 1741 Mogiljew mindestens acht Massener- Bewohner ermordet wurden, und von schießungen von Juden aller Alters- sieben Dörfern bei Studenka, wo das stufen und sowjetischer Kriegsge- gleiche Schicksal 836 Bewohner traf. fangener mit mindestens 4100 Op- Frentzel erschoss bzw. erhängte fern, sodann bei einer Großaktion in hierbei Geiseln und als Partisanen Bobruisk, nördlich von Mogiljew, verdächtigte Gefangene. Er be- eine Massenerschießung von mindes- schränkte sich nicht auf die Dienste tens 5000 Juden beider Geschlechter als Kraftfahrer, trat vielmehr durch und aller Altersstufen. eigene zusätzliche Aktivitäten bei Als Kraftfahrer hätte sich Frentzel den Verbrechen hervor. Auch war er zurückhalten können, er war zur ein leidenschaftlicher Fotograf, der Teilnahme an solchen Einsätzen die Untaten im Bild festhielt und Fo- nicht kommandiert worden. Er fühlte tographien davon auch zu Hause sich als Kraftfahrer nicht ausgelastet, aufbewahrte. Im März 1943 wurde vor allem drängte er sich zur Mitwir- Frentzel wieder zur Gestapo in Kra- kung an den Aktionen des EK 8 und kau zurückversetzt und nahm in de- beging oft aus eigenem Antrieb Ver- ren Zweigstellen in Mielec, Stalowa brechen, um sich hervorzutun und Wola und Rzeszów an Vernehmun- die Anerkennung seiner Mordkum- gen und Erschießungen teil. pane zu erhalten. Frentzel trieb mit Nach der Kriegsniederlage war ihnen die Opfer zur Erschießungs- Frentzels Hauptsorge, seine Tätigkeit stelle, er erschoss sie persönlich, er als SS-Oberscharführer im Einsatz- trampelte auf den Leichen herum und kommando 8 zu verbergen. Von der misshandelte Gefangene. Im Oktober SS mit einem Soldbuch der Wehr- 1941 und Januar 1942 war Frentzel macht ausgestattet, kam er als Ober- an der Tötung von 600 „Geisteskran- gefreiter der Wehrmacht in sowjeti- ken“ von Mogiljew beteiligt, die sche Kriegsgefangenschaft. Hier durch Abgase eines umgebauten nahm er an Antifa-Schulungen teil, LKW, den auch er fuhr, vergiftet trat alsbald als aktiver und überzeug- wurden. Außerdem erschoss er 200 ter Antifaschist auf und schulte selbst psychisch Kranke persönlich und andere Gefangene. Als er 1949 aus warf anschließend noch Handgrana- der Kriegsgefangenschaft zurück- ten auf die Opfer. Darüber hinaus kehrte, ging er, um mehr zu verdie- wirkte Frentzel an der Vernichtung nen und seine Familie besser ernäh- mehrerer sog. Partisanendörfer mit. ren zu können, zur Wismut, wo er Deren Einwohner wurden zusam- sich rasch zum Steiger qualifizierte. mengetrieben und erschossen, die Allein viermal wurde er als Aktivist Buchbesprechungen 211 ausgezeichnet. Er trat in die SED ein deren Mitarbeiter bei der Wismut und wurde 1963 als „Verdienter nach Frentzels Verhaftung auch nicht Bergmann“ von der SED- glauben, dass dieser klassenbewusste Parteiorganisation der Wismut zum Arbeiter und vorbildliche Genosse VI. Parteitag delegiert. ein Massenmörder sein sollte. In Schneeberg, wo die Familie eine Die Untersuchungsorgane des MfS in Wohnung erhalten hatte, arbeitete er Berlin kamen durch einen Zufall und in einem Rechtssicherheitsaktiv mit, auf einem Umweg auf seine Spur, das öffentlich gewürdigt wurde. Bis nämlich durch die Ermittlungen gegen 1968 war Frentzel ein öffentlich ge- Rudolf Zimmermann, ebenfalls Berg- feierter Wismut-Kumpel und fun- arbeiter bei der Wismut. Aufgrund gierte als Inbegriff eines klassenbe- von israelischen Ermittlungen gegen wussten, aktivistischen Arbeiters. In Angehörige der Einsatzgruppe B der Wismut war er von der sowjeti- wurde über Anfragen der Staatsan- schen Abwehr als inoffizieller Mitar- waltschaft Freiburg gegen Zimmer- beiter angeworben worden. Das Mi- mann wegen seiner Verbrechen im nisterium für Staatssicherheit der polnischen Mielec ermittelt, wo jener DDR tat das gleiche. Beide Organisa- in der dortigen Gestapodienststelle tä- tionen in der Wismut hatten von sei- tig war. Zimmermann war wie Frent- ner früheren Tätigkeit bei der Gestapo zel beim SD in Kraków gewesen. Dresden und von seiner Zugehörigkeit 1944 selbst in Mielec, war er Zeuge zum EK 8 nicht die geringste Ah- der Verbrechen Zimmermanns gegen nung. Frentzel hatte von seinem Gel- Hunderte jüdischer Zwangsarbeiter tungsdrang nichts eingebüßt. Er war gewesen. Gegen Zimmermann, der wirklich ein Aktivist der Arbeit in 1966 verhaftet worden war, ermittelte der Wismut, er wollte Beachtung und das MfS bis 1968, im gleichen Jahr Anerkennung finden und dabei alle wurde er zu lebenslänglicher Haft materiellen Vorteile wahrnehmen. verurteilt. Als Kraftfahrer mit niederem SS- Die israelischen Hinweise an die Rang war Frentzel zweifellos ein Staatsanwaltschaft Freiburg enthiel- kleines Licht bei der Gestapo. Nach ten auch einen Verweis auf einen 1945 hoffte er, dies käme nie heraus. Kraftfahrer Frentzel. Zimmermann In den Fragebögen hatte er nach räumte ein, dass dieser zu den 1949 zwar seine frühere Mitglied- Dienststellen in Rzeszów, Mielec schaft in der NSDAP zugegeben, nie und Stalowa-Wola der Gestapo ge- aber jene in der Sicherheitspolizei. hörte, vermied aber, ihn zu belasten. Zwar musste er stets befürchten, dass Frentzel wurde 1969 verhaftet. Die die Aufdeckung und Verfolgung der schwierigen und langwierigen Er- Verbrechen der Einsatzgruppe B, für mittlungen gegen ihn führte der Mit- die es vor allem in der Ukraine und arbeiter des MfS der Wismut Helmut in Israel überlebende Zeugen gab, Hörl. Die Ermittlungen waren nicht auch ihn erreichen würde. Doch einfach und kamen bis zum Herbst glaubte er, sich durch das Vertrauen 1969 über einen toten Punkt nicht zweier Sicherheitsorgane ausrei- hinaus, weil Frentzel seine konkreten chend geschützt. In der Tat wollten Handlungen und die Tatorte nicht 212 Z - Nr. 105 März 2016 nennen wollte und sich dabei stets der Autor Frentzel im Erzählfluss auf sein angebliches Vertrauensver- Begriffe, Sprachmuster und Wertun- hältnis zum MfS berief. Doch dieses gen des Ermittlers benutzen lässt. Hindernis konnte überwunden wer- Diese literarische Fiktion dient vor den, erstens durch neue, belastende allem dazu, dem Leser Denken und Aussagen Zimmermanns, zweitens Fühlen des Verbrechers verständli- durch Zeugenaussagen sowjetischer cher zu machen, doch sind ihre Am- Bürger und durch sowjetische Be- bivalenzen nicht zu überlesen. weisdokumente aus Mogiljew. Die Konstruktion wird verständli- Schließlich konnte Frentzel seine cher, wenn der Autor im Nachwort Tatbeteiligung an konkreten Orten den Fragen nachgeht, was das Be- nachgewiesen werden. Zu Frentzels sondere am Fall Frentzel war und ob Verbrechen in Polen lagen eigene dessen Antworten glaubwürdig sei- Aussagen von ihm vor, doch wurden en. Grundmann hält dessen Angaben sie für das Urteil – lebenslange Haft im Großen und Ganzen für glaub- – nicht herangezogen, denn sie hät- würdig, und er bescheinigt den Er- ten ein weiteres Verfahren erfordert. mittlern des MfS, eine solide Arbeit Grundmann gliedert sein Buch in geleistet zu haben. Im Unterschied zu drei, dem Umfang nach sehr unglei- Höß, dem Kommandanten von che Teile. In der Einleitung beschreibt Auschwitz, gab Frentzel keine Befeh- er, wie Frentzels Tätigkeit zum Ge- le, es sei denn sich selbst; er führte sie genstand der Ermittlungen des MfS aus. Im Unterschied zu Höß, der nie wurde, wie die Klippen dieser Ermitt- persönlich einen Häftling tötete oder lung überwunden werden konnten misshandelte, mordete und folterte und wie er selbst auf diesen Gegens- Frentzel mit eigener Hand. Als Ober- tand stieß. Der Hauptteil unter dem scharführer der SS blieb Frentzel auf Titel „Ich, Georg Frentzel“ ist ein lite- der untersten Ebene der Mörder und rarischer Kunstgriff Grundmanns: Er Schinder. Da kann von industriemä- schildert ein Geständnis Frentzels, in ßiger Tötung keine Rede sein. das lange wörtliche Zitate aus den Doch ob Höß oder Frentzel, keines Vernehmungsprotokollen aufge- ihrer Opfer hatte ihnen jemals etwas nommen sind, während andere Pas- angetan, sie beraubt oder beleidigt, sagen vom Autor formuliert wurden. sie mordeten nicht aus Haß oder Ra- Ausführlich werden Dokumente zu chedurst, sie beglichen keine persön- den Verbrechen abgedruckt: Diese li- lichen Rechnungen, sie bereicherten terarische Konstruktion hat Vor- und sich nicht persönlich. In welchem Nachteile. Sie lehnt sich an Auf- Sinne kann von „niedrigen Motiven“ zeichnungen von Höß an, überzeugt gesprochen werden, wenn die Mör- aber nicht durchgängig als Geständ- der die für sie anonymen Opfer nicht nis Frentzels, weil sie in hohem Ma- als gleichwertige Menschen ansa- ße in einer vom Ermittler formulier- hen? Gegenüber den als minderwer- ten Sprache gehalten ist. Dies mag tig stigmatisierten Opfern gab es we- angehen, wo Fragen und Vorhaltun- der Haß noch Mitgefühl, es interes- gen des Ermittlers aufgegriffen wer- sierte Frentzel nicht, warum sie, ob den, wirkt aber wenig originär, wenn Jude, Kommunist oder Geisteskran- Buchbesprechungen 213 ker, erschossen wurden. Grundmann: Vergleich überhaupt möglich ist. „Kein ‚Unmensch, kein Sadist, kein Während dem viermal hintereinander Tier, nur eine Maschine, eine Tö- zum Bundeskanzler gewählten Ade- tungsmaschine ist er gewesen.“ (128) nauer heute niemand den Status eines Abschließend prüft der Autor die Staatsmanns versagt, haben die ton- Frage, ob Frentzel nach dem Krieg angebenden Medien von Ulbricht nur ein „anderer Mensch“ geworden sei. noch den Satz übrig gelassen, nie- „So er denn tatsächlich geglaubt ha- mand habe die Absicht, eine Mauer ben sollte, was er später öffentlich zu bauen. Im Zuge einer Rezeption verkündete, ist schwer zu begreifen, der Arbeiten von Peter Bender, Sebas- wie er sich den neuen Umständen tian Haffner und Bruno Mahlow seines Daseins entsprechend gewan- stimmt Benser schließlich Alfred Ko- delt und wie sich dem neuen Sein ent- sing zu, der Ulbricht für den bedeu- sprechend ein neues Bewußtsein ent- tendsten Staatsmann der DDR hält. wickelt hätte.“ (138) Reue zeigte er Schon frühzeitig demonstrierten Ade- weder vor noch nach seiner Festnah- nauer und Ulbricht ihre eigene Hand- me. Er setzte seine Lügen und Ver- schrift. So etwa Adenauer in seiner drehungen der eigenen Taten während Gegnerschaft zum sowjetischen Frie- der Ermittlungen fort. „Weniger sei- densvertragsvorschlag von 1952, des- ner Schuld als vielmehr drohender sen Ausloten er nicht zuließ. Zur glei- aber vielleicht noch vermeidbarer chen Zeit überraschte Ulbricht mit Strafe bewusst, hat er sich getarnt.“ seiner Initiative, auf der 2. Parteikon- (139). Nicht Reue, Tarnung blieb sein ferenz der SED den Aufbau der Ziel. Frentzel kam zu der Überzeu- Grundlagen des Sozialismus in der gung, durch sein politisches Auftreten DDR zu verkünden, womit er die für die DDR und seine berufliche Sowjetunion an die DDR zu binden Stellung nicht mehr erkannt und zur beabsichtigte. Rechenschaft gezogen zu werden. Benser fragt auch nach ähnlichen Dank der israelischen Hinweise und Charakterzügen der beiden, die unter der erfolgreichen Ermittlungsarbeit diametral entgegengesetzten gesell- des MfS trog diese Hoffnung. schaftlichen Verhältnissen und poli- Werner Röhr tischen Konstellationen zum Tragen kamen. Beide seien nicht konflikt-

scheu gewesen. Probleme wurden Staatsmänner Ost und West von beiden nicht eingenebelt, son- Günter Benser, Ulbricht vs. Adenau- dern auf den Punkt gebracht, und er im Vergleich. Spotless im Verlag zwar mit dem Ziel, sie einer Lösung Das Neue Berlin, Berlin 2015, 128 S. zuzuführen oder sie nach Prüfung als 12,99 Euro im konkreten zeitlichen Zusammen- hang nicht lösbar anzuerkennen. Erstmals wird ein Vergleich der so verschieden geprägten deutschen Po- Adenauer und Ulbricht verfügten über litiker Ulbricht und Adenauer in einer die Fähigkeit, verwirrende Ereignisse Studie gewagt. Zu Recht fragt Benser auf einen einfachen Nenner zu brin- gleich zu Beginn danach, ob solch ein gen. Biografen heben Ulbrichts her- ausragendes Vermögen hervor, strate- 214 Z - Nr. 105 März 2016 gisch zu denken und zu handeln. rungssystems darf daher in keinem Während Adenauer sich gefordert Teil Deutschlands zu einer politischen fühlte, die Außen- und Deutschland- Verfolgung der Anhänger des alten politik zu gestalten, konnte er der so- Systems führen.“ Benser fragt, ob zialen Marktwirtschaft die Lösung sich Adenauer wohl an diese Zusiche- konkreter ökonomischer und sozialer rungen gehalten hätte? Auch Ulbricht Probleme überlassen. Er musste allen- berief sich auf demokratische Prinzi- falls eine Anhäufung von sozialem pien. Wolfgang Leonhard erinnerte an Sprengstoff zu verhindern versuchen. eine Weisung Ulbrichts beim Neustart Ulbricht war demgegenüber auf ganz 1945, alles solle demokratisch ausse- andere Art mit einem Vorstoß in Neu- hen, aber die Kommunisten müssten land konfrontiert. Er bediente sich da- alles fest in der Hand haben. Ob das bei einer Reihe von Mitstreitern und wirklich so gesagt worden ist, sei da- Vertretern aus Wissenschaft und Kul- hingestellt, meint Benser, gedacht ha- tur. Solcherart Beratung bei der Lö- be Ulbricht gewiss so. sung seiner Aufgaben ist von Ade- Ausführlich beleuchtet Benser die nauer nicht überliefert. Der amerika- Bewertung historischer Prozesse nische Publizist Walter Lippmann durch Adenauer und Ulbricht – von fragte deshalb, ob man Adenauer an- der Gründung des Deutschen Reichs kreiden solle, dass die Deutschen un- 1871 über den Ersten Weltkrieg und ter ihm das geistesfeindlichste, das die Weimarer Republik bis zum geistesunempfindlichste Regiment Zweiten Weltkrieg und dem antifa- seit dem Soldatenkönig hatten. schistischen Widerstand. Beide wa- Weder Adenauer noch Ulbricht waren ren sich bewusst, dass sie auf einem in ihren strategischen Konzeptionen weit in die Vergangenheit zurück- unverrückbar festgefahren. Golo reichenden historischen Boden stan- Mann nannte Adenauer einen den und agierten. Bensers Studie ist „graue(n), fromme(n) Fuchs.“ Für Ru- spannend und regt zu weiterem dolf Augstein war Ulbricht „ein wen- Nachdenken an. So würde z.B. eine diger Fuchs“, „ein sehr energischer Betrachtung zur Haltung der beiden und geschickter Mann und den meis- zum Tag des 17. Juni 1953, zur Idee ten Führern des Ostblocks überlegen.“ einer deutschen Konföderation und dazu, wie ernst beide es mit der Im Unterschied zu den Vollstreckern Wahrheit nahmen, vermutlich zu des DDR-Anschlusses hatte Adenau- weiteren überraschenden Erkenntnis- er in einen Memorandum vom Sep- sen führen. Die Ulbricht unterstellte tember 1956 für den Fall der deut- „Jahrhundertlüge“ in Bezug auf den schen Einheit demokratische Prinzi- eingangs zitierten Satz über die pien beschworen: „Die Bundesregie- „Mauer“ würde sich vermutlich rung ist der Überzeugung, dass freie selbst als Lüge herausstellen. Wie Wahlen in ganz Deutschland, wie sie unseriös Adenauer mit der Wahrheit auch immer ausgehen mögen, nur umzugehen pflegte, offenbaren vor den Sinn haben dürfen, das deutsche allem seine Bundestags-Reden zu Volk zu einen und nicht zu entzweien. den sowjetischen Deutschlandnoten Die Errichtung eines neuen Regie- im Jahre 1952. In einer hoffentlich Buchbesprechungen 215 baldigen zweiten Auflage könnte mals öffentlich erwähnte. Weniger auch darauf eingegangen werden. bekannt sind die Debatten zwischen Siegfried Prokop Mai 1945 und der merklichen Spal- tung zwischen Ost und West wenige Jahre später. Hier war gerade kurz Kulturbund 1945-1948 nach Ende des Krieges mehr offen, Siegfried Prokop / Dieter Zänker als man heute gängigen Geschichts- [Hrsg.], Einheit im Geistigen? Proto- bildern zufolge vermuten kann. An- kolle des Präsidialrates des Kultur- dererseits waren durch die Abkom- bundes 1945-1948, Kai Homilius Ver- men der Alliierten die Handlungs- lag, Berlin 2015, 519 S., 22,95 Euro spielräume für den Aufbau eines neuen Deutschland nicht unbegrenzt. Die Befreiung im Mai 1945 bedeute- te das Ende der Nazibarbarei. Doch Viele innen- und (vor allem) außen- wie sollte es weitergehen? Wie konn- politische Faktoren bedingten das te man mit der Last dieser zwölf Jah- Handeln der damaligen Akteure. Ei- re im Rücken überhaupt noch nach ner davon war der am 3. Juli 1945 vorn blicken? Was sollte man mit ei- gegründete Kulturbund. Dessen Füh- ner Bevölkerung anfangen, die sich rung oblag einem Präsidialrat bzw. nun zwar gern ahnungslos gab, letz- dem dort angegliederten Arbeitsaus- ten Endes aber aus Tätern, Mitläu- schuss. Die Protokolle der damaligen fern oder Angepassten auf der einen Zusammenkünfte haben nun Sieg- Seite und Gepeinigten und befreiten fried Prokop und Dieter Zänker edi- Opfern auf der anderen Seite be- tiert. Der dabei zustande gekommene stand? „Die Mörder sind unter uns“ – Band setzt sich aus einer ausführli- so brachte es 1946 der Titel des ers- chen Einleitung und einer chronolo- ten Nachkriegsfilms auf den Punkt. gischen Zusammenstellung der Prä- Was tun also mit diesem Erbe? sidialratsprotokolle zusammen. Über den Umgang mit Altnazis in Zu Beginn wird das Selbstverständ- der Bundesrepublik zwischen Ade- nis der Gründerväter (es waren fast nauer und Achtundsechzig ist viel ausschließlich Männer) dargestellt: gesagt worden. Auch über den Um- „Der frühe Kulturbund war das beid- gang mit ihnen in der DDR wird spä- seitig gewollte und in der deutschen testens seit 1989 diskutiert und ge- Geschichte bisher einmalig daste- forscht. Der Streit verläuft hier zwi- hende Dialogforum von sozialisti- schen jenen, die im „staatlich ver- schen, christlichen, bürgerlichen und ordneten Antifaschismus“ einen Ge- atheistischen Intellektuellen.“ (6) winn sehen und jenen, die ihn als Der Präsidialrat konstituierte sich am Schimpfwort im Munde führen. 8. August 1945, zum Vorsitzenden wurde Johannes R. Becher gewählt. Diese Debatten sind hinlänglich be- Bei der ersten Sitzung ging es um die kannt und bis heute vom Kalten zu schaffenden Strukturen für den Krieg geprägt. Dessen Beginn wird Kulturbund, seine zu gründende häufig auf den 5. März 1946 datiert, Zeitschrift und den angegliederten den Tag, an dem Churchill in einer neuen Aufbau-Verlag. Weitere The- Rede den „Eisernen Vorhang“ erst- men waren der Umgang mit Alt- 216 Z - Nr. 105 März 2016

Nazis, der Aufbau des Kulturbundes Apropos Havemann: Im umfangrei- in Gesamtdeutschland und die Frage chen, aber dennoch lückenhaften von Lizenzen für Exilliteratur. Als Personenverzeichnis wurde nicht nur Arbeitsschwerpunkte setzte man sich Stalin vergessen, es fehlt leider auch selbst die Deutsche Einheit, die Ein- der Name Havemanns, obwohl er im bindung der Öffentlichkeit in die Buch häufiger genannt und auch bei Nürnberger Prozesse und eine Schul- den biographischen Angaben zu den reform. Diskutiert wurde im Präsidi- wichtigsten Personen aufgeführt alrat über vieles. Beispielsweise ging wird. Bekanntlich war er nicht nur im es um Formen von Demokratie, den Kulturbund aktiv, sondern fungierte Aufbau des neuen Deutschland (soll bis Anfang der 60er Jahre als Mehr- es föderalistisch sein oder nicht?) fachfunktionär in etlichen Leitungs- und die Frage, ob man „Reich“ oder positionen von Wissenschaft, Staat besser „Deutschland“ sagen sollte. und Partei. Nach seinem Bruch mit Etwa ein Jahr nach der Gründung der SED-Führung und der Entlassung war aufgrund des starken Anwach- aus allen Ämtern avancierte er ab En- sens der Organisation eine Neustruk- de der 60er Jahre zum bekanntesten turierung nötig geworden. Dem Prä- „Dissidenten“ der DDR. Seine Forde- sidialrat wurde nun ein ständiger Ar- rungen, die er über die Westmedien beitsausschuss zur Seite gestellt. zu verbreiten sich gezwungen sah, Zugleich wurde der Kulturbund in zielten auf einen demokratischen So- der SBZ wählbar – und somit im be- zialismus mit verwirklichten Bürger- ginnenden Kalten Krieg im Westen und Menschenrechten. Seine frühen argwöhnischer beäugt. Bereits im Äußerungen aus den Kulturbundpro- Mai 1947 beklagte man sich in den tokollen sind vor dem Hintergrund Protokollen über Behinderungen der dieser späteren Entwicklung sehr inte- eigenen Arbeit im Amerikanischen ressant – allerdings weniger verfäng- Sektor Berlins. Im Sommer 1948 lich, als man vermuten könnte. zeichnete sich schließlich eine end- Wo taucht Havemann also im Buch gültige Orientierung des Kulturbun- auf? Zunächst wird er bei der Auflis- des hin zu „den Völkern, die den tung der am 12. Februar 1946 in den Krieg […] nicht“ wünschen, ab. Zur Präsidialrat Gewählten genannt. ersten großen Zäsur kam es im Sep- Auch findet Erwähnung, dass ihn tember 1948, als in Abwesenheit der Becher erfolgreich für die Wahl in Vizepräsident und das Gründungs- den Präsidialausschuss vorschlug. mitglied Ferdinand Friedensburg (174 ff.) Im Juli 1946 wurde über die rausgeworfen wurde, da er Westber- Frage diskutiert, ob der Kulturbund liner Politik mit verantwortete. Er bei Wahlen antreten soll. Im Proto- bekam keine Möglichkeit einer koll heißt es: „Prof. Havemann äu- Rechtfertigung oder Verteidigung. ßert, es könnte von vielen Personen Friedensburgs Präsidiumskollege begrüßt werden, wenn ein überpartei- Robert Havemann bedauerte die Art licher Bund Kandidaten aufstellt, von und Weise des Rauswurfes (S. 496). denen sie wissen, dass sie überpartei- Andere Mitglieder verließen aus Pro- lich sind. Das sei durchaus vertret- test den Kulturbund. bar, und in einigen Jahren würde der Buchbesprechungen 217

Verdacht, zu einer bestimmten Partei lichkeit verdeutlichen müsse. Es solle zu gehören, nicht mehr auf den Kul- die Unabhängigkeit von der sowjeti- turbund fallen.“ (185) Er konnte sich schen Besatzungsmacht öffentlich ge- mit diesem Standpunkt nicht durch- zeigt und für Freiheit und Unabhän- setzen, und es fiel einstimmig der gigkeit eingetreten werden. (494 f.) Beschluss, nicht anzutreten. Ob aus Havemann zählte also schon kurz nach politischem Kalkül oder aus Über- dem Krieg nicht zu den Hardlinern, zeugung: Havemann forderte schon auch wenn er sich selbst rückblickend 1946 eine überparteiliche Wahlalter- auf diese Zeit als Stalinisten bezeich- native zur frisch gegründeten SED. nete. Dass sich ein solch eigenwilliger In einer Diskussion über die Lage der Kopf später nicht der Führung Ul- Jugend meinte Havemann, dass diese brichts dauerhaft unterordnen konnte keine Ideologie, sondern lieber Wissen oder wollte, erscheint in der Rück- erwerben wolle. Hier müsse der Kul- schau fast schon unvermeidlich. turbund agieren und eine Demokrati- Die Protokolle zeigen auf, dass die In- sierung unterstützen. Als Problem sah tellektuellen im Präsidialrat bemüht, a- er hierbei die Besatzungsmächte, ge- ber in ihrem Handeln durch externe po- gen die sich „national revolutionäre litische Interessen zunehmend einge- Gedanken“ entwickeln würden. Die schränkt waren. Inwieweit der Kultur- Bekämpfung der NS-Ideologie jedoch, bund anfangs tatsächlich völlig neutral die vielen Jugendlichen in den zwölf und unabhängig war, wird wohl umstrit- Jahren indoktriniert wurde, sah er als ten bleiben. Exemplarisch hierfür sind wichtige Aufgabe. Es müsse alles ge- sicherlich die Überlegungen des Kom- tan werden, „um den Schutt der reakti- munisten Havemann zur strategischen onären Ideologie“ zu beseitigen und Überparteilichkeit der Organisation. Al- über Demokratie zum Sozialismus zu lerdings handelte es sich mit ziemlicher kommen. Dazu sei auch die inhaltliche Sicherheit in den Anfangsjahren beim Abarbeitung an reaktionären Theoreti- Kulturbund nicht um eine von Moskau kern nötig: „Man müsse sich auch mit fremdgesteuerte Institution zur „Rot- solchen Menschen wie Jünger ausei- lichtbestrahlung“ oder politischen In- nandersetzen, öffentlich mit ihnen dis- strumentalisierung von Intellektuellen kutieren und sie nicht totschweigen. – das geht aus den sehr lesenswerten Die wenigen wirklichen Demokraten Protokollen eindeutig hervor. müssten sich ganz klar von der Besat- Alexander Amberger zungsmacht distanzieren, ohne damit natürlich in eine Angriffsstellung zu gehen.“ (203) Unvernunft im Überbau Die öffentliche Abgrenzung von den Detlef Kannapin, Vernunft im Ab- Besatzungsmächten zum Zwecke des seits. Aufsätze zum Studium des Loyalitätsgewinns in der Bevölkerung Klassenkampfs, Aurora Verlag, Ber- hielt Havemann auch zwei Jahre später lin 2015, 350 S., 20 Euro. noch für wichtig. Vor dem Hinter- grund des beginnenden Kalten Krieges Klassenkämpfe gibt es auf der Ebene forderte er am 12. November 1948, der Betriebe wie auch auf der des dass der Kulturbund seine Überpartei- Überbaus. Mit letzteren befasst sich 218 Z - Nr. 105 März 2016 der Berliner Filmhistoriker, Politik- genwärtige Philosophie gibt. Leitbeg- theoretiker und Philosoph Detlef riffe sind hier „Krise und Verfall“; sie Kannapin. Schon der Titel, „Ver- zeigen sich insbesondere in der Philo- nunft im Abseits“, deutet dabei an, sophie der Postmoderne, die keine dass auch im Überbau der Klassen- Wahrheit mehr wissen will und deren kampf zurzeit vor allem von oben Konjunktur Kannapin überzeugend geführt wird. Infolgedessen räumt mit dem Abschied vom fordistischen Kannapin der ideologiekritischen Wohlstandsmodell verbindet. Doch Auseinandersetzung mit Agenten der auch die Systemtheorie wie der ame- Unvernunft breiten Raum ein. rikanische Pragmatismus, mögen sich Dies geschieht auf sehr unterschiedli- deren Vertreter auch fortschrittlich che Weise. Der umfangreichste Text wähnen, blenden ein Anderes jenseits des Bandes ist Hans-Dieter Schütt ge- der bürgerlich-kapitalistischen Gesell- widmet. Vor 1989 Chefredakteur der schaft systematisch aus. Hier ergeben „jungen Welt“, gehörte Schütt zu den- sich Bezüge zu Kannapins Essay „Die jenigen, die die DDR so platt verteidig- Gegenwärtigen“, einer Typologie von ten, dass dies eher einer Rufschädi- Verhaltensweisen in der gegenwärti- gung gleichkam. Danach gelang ihm gen Gesellschaft, in der zynisch, pri- eine öffentlichkeitswirksame Reuebe- vatisierend oder hilflos reparierend kundung, die ihm eine Fortexistenz als die Verhältnisse im Grundsatz akzep- Feuilletonchef des „Neuen Deutsch- tiert werden. land“ sicherte. Andere Leute hätten es In der Einleitung gibt es allerdings damit gut sein lassen und ihre Arbeit auch Denker, denen Kannapin Rele- gemacht. Das Besondere an Schütt ist vanz zubilligt. Das gilt für Giorgio dagegen, dass er gar nicht mehr anders Agamben, wenn dieser in der Konse- kann als jedes neue Buch und jede quenz Carl Schmitts den Ausnahme- neue Theaterinszenierung zum Anlass zustand als Leitbegriff des modernen zu nehmen, den Sozialismus ein weite- Staatswesens erfasst und damit eine res Mal zu verfluchen. Kannapins Tendenz, die mit der zunehmenden Technik besteht nun darin, im An- Einschränkung bürgerlicher Freiheits- schluss an die Sprachkritik von Karl rechte besonders nach 2001 mit dem Kraus die verschwurbelten Formulie- Begriff der Postdemokratie bezeich- rungen Schütts auf ihren gesellschaftli- net wurde. Neben Boris Groys als In- chen Gehalt zurückzuführen und auf terpret des sozialistischen Realismus diese Weise das Ideal eines opportunis- nennt Kannapin hier wie auch sonst tischen Feuilletonisten im Spätimperia- Slawoj Žižek, der Lenin weiterzuden- lismus vorzustellen. ken versucht. Doch findet er auch dort Zur Polemik, die Spaß bereitet, tritt eine postmodern geprägte Anti- bei Kannapin die eingehende philoso- Systematik, die der Überführung des phische Auseinandersetzung. Den ers- Gedachten ins Praktische entgegen- ten Teil des Buches, „philosophische steht, und eine theologische Überhö- Grundlagen“, eröffnet der Essay „Die hung der Philosophie, die letztlich an- Vernunft spielt im Garten“, der auf 35 tipolitisch ist. Andernorts stellt Kan- Seiten einen so substanziellen wie napin heraus, dass sich Žižek auf kein vernichtenden Überblick über die ge- Parteimodell festlegen mag. Buchbesprechungen 219

In mehreren kurzen Beiträgen erledigt einmal erreichten Stand von Vernunft Kannapin kleinere Denker oder Nicht- zurückzugewinnen und das Instru- Denker wie Peter Sloterdijk; das liest mentarium für heute zu nutzen. Dabei man vergnügt. Instruktiv sind die me- gelingt ihm eine originelle Rekon- diengeschichtlichen Aufsätze. In „Zur struktion des heute auch unter Linken politischen Ästhetik des Films“ lernt verpönten sozialistischen Realismus. man, was man irgendwie schon wuss- In dem Artikel „Warum hat André te, aber nicht so genau formulieren Breton Alexander Fadejew nicht ver- konnte: weshalb, wie und mit welchem standen?“ wird die Titelfrage bewusst Ertrag Spielfilme als historische Do- nicht beantwortet (es ist nicht einmal kumente interpretiert werden können. geklärt, ob der französische Surrealist Beiträge zum traurigen Stand von den sowjetischen Vertreter des sozia- Filmkritik und medienwissenschaftli- listischen Realismus jemals gelesen cher Theorie ergänzen diesen Teil des hat). Vielmehr stehen beide für ge- Buches. Wie Kannapin im philosophi- gensätzliche Typen einer sich als re- schen Abschnitt das Uneingelöste der volutionär verstehenden Kunst. Philosophie von Hegel und Marx her- Dabei blieben westliche Künstler – vorhebt und damit einen Wissenstand, auch wenn sie den Anspruch hatten, an den anzuknüpfen die imperialisti- die Grenzen zur Politik und zum All- sche Philosophie sich weigert, so be- tagsleben zu überschreiten – doch nennt er medientheoretisch das in der immer im wesentlichen Künstler. Der DDR Erreichte, von dem man heute sozialistische Realismus dagegen war nichts mehr wissen mag. Dafür stehen untrennbar mit dem staatlich gelenk- wissenschaftlich die Namen Georg ten Aufbau einer neuen Ordnung ver- Klaus, Lothar Bisky und Peter Hoff. bunden, kann also nicht nach bloß äs- Sie unternahmen, wie jetzt Kannapin, thetischen Maßstäben be- und gege- etwas, was aus Sicht der meisten heute benenfalls abgeurteilt werden. gängigen Theoretiker als Inhaltismus abgewertet wird: Den Gehalt von Fil- Damit verbunden ist die Sicht auf die Stalinzeit. Hier wendet sich Kannapin men in ihrem gesellschaftlichen Zu- dagegen, wie die bürgerliche Ge- sammenhang zu begreifen. schichtsschreibung ausschließlich Als Sammlung von zwischen 1995 und „Massenterror, irrationale Gewalt und 2015 entstandenen Beiträgen, von de- politische Hysterisierung“ zu sehen. nen besonders die früheren nur noch Es geht ihm dabei nicht darum, all schwer greifbar sind, überzeugt also dies zu verleugnen oder kleinzureden. das Buch. Die Frage ist aber, ob sich Vielmehr geht es ihm um ein histori- übergreifende Gedanken finden lassen, sches Verständnis, denn nur ein sol- die das Ganze zu einer produktiven ches verhindert die Wiederholung von Einheit machen. Darauf gibt es zwei Fehlern. 1947 entschied Stalin, dass Antworten. Sergej Eisenstein auch einen dritten Zum einen greift Kannapin immer Film zu „Iwan dem Schrecklichen“, wieder auf das zurück, was vor 1989 der unter dem Motto „Nicht reinwa- in sozialistischen Gesellschaften er- schen, sondern erklären“ gestanden reicht war – nicht im Sinne nostalgi- hätte, drehen sollte. Der Tod des Re- scher Verklärung, sondern um einen gisseurs Anfang 1948 verhinderte das 220 Z - Nr. 105 März 2016

Projekt, das Kannapin als Hinweis dar- schreibt“ und der Staat im Sozialismus auf sieht, dass bereits die damalige und möglicherweise darüber hinaus sowjetische Führung die Notwendig- notwendig bleibt, das Verhältnis der keit verstanden hatte, die Ereignisse Einzelner zur Gesellschaft zu regeln. aufzuarbeiten. Dazu aber ist statt mora- Diese Gedanken bleiben, wie Kan- lischen Abscheus Kontextualisierung napin selbst eingesteht, skizzenhaft. notwendig und damit auf die mehrfa- Er verspricht dazu eine Monogra- chen Versuche der sowjetischen Füh- phie, die hoffentlich bald entsteht. rung – hier folgt Kannapin Domenico Kai Köhler Losurdo – innenpolitisch Normalität herzustellen, die mehrfach durch inne- re wie äußere Krisen vereitelt wurden. Was tun gegen den Treib- Der terroristische Eingriff war, so hauseffekt? Kannapin, nicht angemessen, muss al- lerdings vor dem Hintergrund betrach- Hans-Joachim Schellnhuber, Selbst- tet werden, dass die Westmächte lange verbrennung. Die fatale Dreiecksbe- Zeit einem Bündnis mit dem Faschis- ziehung zwischen Klima, Mensch mus zuneigten und die staatliche Sou- und Kohlenstoff. C. Bertelsmann, veränität der Sowjetunion unter diesen München 2015, 784 S., 29,99 Euro. Bedingungen zu sichern war. Schellnhuber ist Physiker, Klimafor- Dies führt zur zweiten Antwort, der scher, Direktor des von ihm gegrün- Rolle des Staats, der bis heute und auf deten -Instituts für Klima- absehbare Zeit unter sozialistischen folgenforschung PIK und des Wis- wie kapitalistischen Bedingungen von senschaftlichen Beirats der Bundes- zentraler Bedeutung ist. Die moder- regierung Globale Umweltverände- nen Massenmedien sind im Buch stets rungen WBGU, Mitwirkender an an den Staat rückgekoppelt, dessen zentraler Stelle bei den jährlichen „wichtigste Ausführungs- und Anru- globalen Klimakonferenzen, Träger fungsorgane“ sie sind. Das vorgestell- einer Vielzahl von Auszeichnungen. te ideologische Personal wird unter „Dieses Buch handelt von der größ- dem Gesichtspunkt beurteilt, für wel- ten Geschichte aller bisherigen Zei- chen Staat es taugt. ten“ (3), der Geschichte der drohen- Relativ unumstritten dürfte in diesem den Katastrophe für die menschliche Zusammenhang sein, dass der beste- Zivilisation durch eine unbeherrsch- hende Staat der der herrschenden Klas- bar werdende Klimaänderung. Das se ist. Daran, dass dieser Staat immer Verbrennen fossiler Energieträger noch handlungsfähig ist, lässt Kanna- vergleicht Schellnhuber mit dem pin in seiner Abfertigung der illusio- Freisetzen eines Flaschengeistes, der nistisch-postmodernen Vorstellungen von den unvorsichtigen Zauberlehr- von Michael Hardt und Antonio Negri lingen, der menschlichen Zivilisati- keinen Zweifel. Kontroverser dürften on, kaum mehr gebannt werden Kannapins Thesen sein, nach denen kann. Durchaus pathetisch („in die- das Verhältnis von Staat und Revoluti- sem Augenblick offenbarte sich mir on immer noch den „Hauptkonflikt der die Erde in einer geradezu beängsti- gesellschaftlichen Entwicklung um- genden Schönheit“; 15) und durch- Buchbesprechungen 221 aus sehr von sich selbst überzeugt fik und Atlantik (Golfstrom), das Ab- („an einem Spätsommervormittag im schmelzen des arktischen Meereises Jahr 1993 schrieb ich – möglicher- und der Eismassen in Grönland und in weise – Weltgeschichte“; 446; „da- der Antarktis, das Auftauen der Per- mit war [durch Schellnhuber] eine mafrostgebiete und der Methanhydra- Begrifflichkeit geboren, die rasch te im Ozean, das Verdorren des Ama- Weltkarriere machte“; 501) verfasst zonas-Regenwaldes, der Zusammen- Schellnhuber auf über 700 Seiten eine bruch der tropischen Korallenwelt. eindringliche Streitschrift gegen die Schellnhuber hält drei Antworten auf weitere Zerstörung des bisher ge- diese Bedrohung der menschlichen wohnten Klimaverhältnisse. Das Entwicklung für prinzipiell denkbar. Buch ist ein episches Werk: Es ist Zum einen Anpassung: Sie scheint die gleichzeitig ein Sachbuch und eine billigste Antwort zu sein. Deiche neu Autobiographie, die Ausbreitung errichten, Dämme höher bauen, ein reichhaltiger Argumente und von paar Tausend Südseeinsulaner umsie- Anekdoten aus der oft bizarren Welt deln. Schellnhuber zeigt, dass Anpas- der Klimadiplomatie, es erzählt die sung auf Dauer extrem teuer ist: Mil- Genese der Klimawissenschaft und liarden Menschen müssen aus Küs- die PIK-Anfangstage in Baracken, die tengebieten umgesiedelt, die Städte Klimaentwicklung der Welt in Jahr- voll klimatisiert, das Nahrungsmittel- millionen und seit der Industrialisie- system komplett umgebaut werden; rung, es schildert die Zusammenar- ein Riesenausmaß an transnationaler beit mit berühmten Forschern und Kooperation und an grenzüberschrei- die Auseinandersetzung mit Autoren, tender Solidarität wäre nötig (Stich- die den Treibhauseffekt leugnen. wort Klimaflüchtlinge, Klimakriege). Schellnhubers Motiv für Klima- Die zweite Antwort ist Geoenginee- schutz ist, „dass es in der +4-Grad- ring, Klimamanipulation. Darunter Zukunft ungemein schwer werden versteht man etwa das Ausbringen würde, 10 oder 11 Milliarden Men- von Schwefelaerosolen in der oberen schen ein lebenswürdiges Dasein zu Atmosphäre, um die Sonneneinstrah- sichern“ (130). Und ohne Klima- lung in den Weltraum zurück zu re- schutz ist sogar ein Anstieg des flektieren, oder ein großflächiges Temperaturniveaus nach 2100 um 6, Düngen der Ozeane, um das Algen- 8 oder sogar 10 Grad möglich. Die wachstum anzureizen und dadurch die Folgen wären verheerend, wie Kohlendioxid-Absorption im Meer zu Schellnhuber ausführlich darstellt: steigern. Für Schellnhuber sind das von den dramatischen Verwerfungen höchst unsichere (und teilweise extrem bei der Bodenfruchtbarkeit und der teure) Methoden hinsichtlich ihrer Wasserverfügbarkeit bis hin zu den Wirkungen und Nebenwirkungen. Kipppunkten: Ereignissen, die durch Womöglich tauscht man nur die Groß- die Erwärmung ausgelöst werden und risiken aus oder verdoppelt sie sogar. die kaum oder gar nicht mehr rück- Bleibt als dritte Antwort die Vermei- gängig gemacht werden können, etwa dung. „Aus physikalischer, techni- der Zusammenbruch der großen oze- scher und ökonomischer Sicht ist es anischen Meeresströmungen im Pazi- durchaus noch möglich, die Erder- 222 Z - Nr. 105 März 2016 wärmung unter 2 Grad zu halten.“ ist, und die seine Klimadringlichkeit (473) Die schlimmsten Auswirkungen mit, aus seiner Sicht, unwissenschaft- könnten so noch vermieden werden. lichen Einwänden belasten. Allerdings ist dazu einiges Glück und An dieser simplen Profitgier und Nut- vor allem ein hohes Maß an Tatkraft zenmaximierung kommt Schellnhuber nötig. Es gibt eine Vielzahl von Maß- nicht vorbei. So bleibt ihm nur der Ap- nahmen, die effizient zur Vermeidung pell an die individuelle Moral: „Ganz beitragen können. Die Umstellung auf normale, aber wertgeleitete Menschen regenerative Energieträger, das Aus- passen nicht in die Vorstellungswelt nutzen der vielfältigen und in der der Kosten-Nutzen-Analysen des Kli- Summe riesigen Energieeinsparmög- mawandels. Das ist meine Hoffnung.“ lichkeiten, ein neues Mobilitätskon- (645) Beginnen müssten die Reichen, zept, das Prinzip der Wiederverwen- die Topmilliarde der Weltbevölkerung. dung und Abstriche beim Luxuskon- Der Kernpunkt und eigentlich das ein- sum stehen im Zentrum dieser An- zige herausgearbeitete Instrument ist strengungen. Vermeidung hat aller- die Divestment-Bewegung: der Aufruf, dings leider den Nachteil, dass sie an- alle Kapitalanlagen aus der Fossilin- fangs teuer ist, dass sie hohe Investiti- dustrie, speziell aus den 200 kapital- onen erfordert in die neuen, alternati- stärksten Konzernen, zurück zu ziehen. ven, klimaschonenden Systeme, dass Schellnhuber konstatiert einen „atem- noch viel Forschung nötig, aber auch beraubenden Erfolg“ (662), bereits viel Wissensgewinn möglich ist für 1000 Investoren hätten sich schon an- einen besseren Übergang zur Nach- geschlossen (Kommunen, reiche US- haltigkeit. Das passt grundsätzlich Universitäten, kirchliche Stellen). Und nicht in ein marktwirtschaftliches diese Kapitalflucht aus der Fossilwirt- System mit seiner individuellen Ge- schaft werde gelingen, weil „inzwi- winn- und Umsatzmaximierung. schen bessere Anlagemöglichkeiten Schellnhuber drückt das als die Dikta- existieren“ (665). tur des Jetzt aus: Aufgrund der jeweils Das ist nun leider ein wirklich winzi- aktuellen Marktzwänge, der internati- ger Sprung nach einem so riesigen und onalen Konkurrenz der Konzerne und langen Anlauf durch die Geschichte Staaten, der Vielzahl von Bedürfnis- der Menschheit und der Klimawissen- sen und Notwendigkeiten könne man schaft. Es gibt keinerlei Diskussion es sich heute nicht leisten – so die Ar- gumente, mit denen er konfrontiert darüber, wie denjenigen Reichen, die der Appell an die Moral kalt lässt, die wird –, in Nachhaltigkeit zu investie- Macht weggenommen werden kann, ren und dadurch die momentanen Regeln zu setzen und ihren Weg zu wirtschaftlichen Belastungen noch gehen zur weiteren Forcierung der weiter zu erhöhen. Aber morgen, Klimazerstörung. Stattdessen kommt morgen wird das findige und pfiffige Marktsystem alle unsere Probleme im die Mahnung, angesichts der Dring- lichkeit des Klimaschutzes bleibe für Selbstlauf lösen. Das ist gut beobach- Klassenkampf derzeit keine Zeit (704). tet, und man kann den Ärger des Phy- sikers gut nachvollziehen über die Schellnhuber diskutiert nicht einmal Ökonomen, mit denen er konfrontiert eine ordentliche Besteuerung von Buchbesprechungen 223

Kohle, Öl und Gas, um mit diesem rationeller Energienutzung und Däm- wohlerprobten marktwirtschaftlichen mung, im Stadtwerkeverbund For- Instrument die Fossilnachfrage zu schung zu fördern und durchzuführen senken. Und er diskutiert auch nicht nicht für Konzernzwecke, sondern für den notwendigen Umbau der Ener- Klimaschutz, und diese Techniken giewirtschaft in Richtung Dezentrali- auch international armen Ländern oh- sierung und Demokratisierung. Mit ne prohibitive Lizenzzahlungen zur den öffentlichen Unternehmen Stadt- Verfügung zu stellen. Schellnhuber werke haben wir prinzipiell die In- sollte sich ein paar kreative Ökono- strumente, um demokratisch gesteu- men jenseits des neoliberalen ert und ohne den unmittelbaren Mainstreamlagers ans PIK holen. Zwang zur Profitmaximierung Pflö Dann könnte sein herausragendes cke zu setzen in die Energiewirt- Werk die dringend notwendige kon- schafts-Landschaft, die Erneuerbaren geniale Ergänzung finden. zu fördern und zu forcieren, Kompe- Franz Garnreiter tenzzentren aufzubauen für alle Arten