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Jörg Osterloh. Nationalsozialistische Judenverfolgung im 1938-1945. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2006. 721 S. EUR 59.80, cloth, ISBN 978-3-486-57980-2.

Reviewed by Thomas Köhler

Published on H-Soz-u-Kult (October, 2006)

Verfolgung und Vertreibung im Sudetenland: mehr als 30 deutschen und internationalen Archi‐ Dabei denken die meisten Leser vornehmlich an ven wird auf diese Weise eine regionale Geschich‐ das Schicksal der sog. Sudetendeutschen nach te rekonstruiert, die zugleich einen weiteren Mo‐ 1945, das von den Vertriebenenverbänden bis saikstein zur Strukturgeschichte der nationalsozi‐ heute in der Öfentlichkeit ebenso geschickt wie alistischen Judenverfolgung liefert. ofensiv wach gehalten wird. Bevor sie aber selbst Die Arbeit ist zwar chronologisch gegliedert, zu „Opfern der Geschichte“ wurden, reagierten setzt dabei aber immer wieder thematisch-struk‐ im „“ viele der dort leben‐ turelle Schwerpunkte. Zunächst werden in einer den Deutschen auf die Verfolgung, Vertreibung Art Vorlauf die antisemitischen Tendenzen und und Ermordung der jüdischen Bevölkerungsteile Traditionen in der sudetendeutschen Gesellschaft während der NS-Herrschaft oft teilnahmslos oder bis 1938 skizziert, als deren Ergebnis „der Jude“ waren nicht selten sogar auf ihren eigenen Vorteil zum difusen, aber doch zentralen Feindbild bedacht. avancierte. Einen Schwerpunkt bildet hierbei die Genau diesem bisher in der Forschung ver‐ Erörterung der Nationalitätenkonfikte in der nachlässigten Themenkomplex widmet sich Jörg Tschechoslowakischen Republik nach 1918. Eine Osterlohs 2004 an der Philosophischen Fakultät Schlüsselposition hatte der spätere Kon‐ der TU Dresden angenommene Dissertation zur rad Henlein inne, indem er sein völkisches und nationalsozialistischen Judenverfolgung im antisemitisches Gedankengut als Parteivorsitzen‐ Reichsgau Sudetenland zwischen 1938 bis 1945. der der Sudetendeutschen Partei (SdP) in breite Der Autor führt dieses Manko unter anderem auf deutschstämmige Bevölkerungskreise transpor‐ die deutsche Vertriebenenperspektive zurück. Ein tierte. Als besonders aufschlussreich erweist sich weiterer Grund liegt in der schwierigen Quellen‐ der Abschnitt zum studentischen Milieu an der lage, der sich Osterloh jedoch mit Akribie stellte Deutschen Universität Prag. Osterloh weist mit und dabei viel an Übersetzungsarbeit leistete. Aus sehr anschaulichen Beispielen die zunehmende H-Net Reviews

Radikalisierung und extrem antisemitische Aus‐ Banken nicht selten selbst zu fnanziellen Nutz‐ prägung größerer Teile der in Korporationen or‐ nießern. Für ein breiteres Lesepublikum beson‐ ganisierten Studentenschaft schon ab den 1920er ders interessant ist der Abschnitt zur „Entjudung“ Jahren nach. Dies ist zwar bezogen auf das und „Arisierung“ der „Weltkurorte“, also vor al‐ Reichsgebiet kein neuer Befund, verdeutlicht aber lem Karlsbad und Marienbad. Osterloh skizziert noch einmal den fatalen Nährboden, aus dem sich die Kurlandschaft zu Beginn der Sudetenkrise als die spätere akademische Führungselite in den su‐ wirtschaftlich weitestgehend daniederliegend detendeutschen Gebieten formierte. und überschuldet. Erhofte man sich von der „Ari‐ Einen zweiten Schwerpunkt setzt die Arbeit sierung“ großer Kurhotels und Anlagen sowohl auf das Jahr 1938, das als „Schicksalsjahr“ für die einen allgemeinen wirtschaftlich-touristischen Sudetenfrage gekennzeichnet wird. Ausgrenzung Aufschwung als auch persönlichen Proft, so er‐ und Terror verstärkten sich bereits nach dem wiesen sich die Zwangsmaßnahmen in der Reali‐ „“ Österreichs an das Altreich. Die tät häufg als unproftabel. Das Geschäft mit der Reichsparteitagsreden Hitlers in Nürnberg und „arischen“ Kundschaft wurde so oftmals zur Sei‐ schließlich das Münchener Abkommen vom 30. fenblase. September mit dem darauf folgenden Einmarsch Das Ende der Darstellung konzentriert sich deutscher Truppen ab dem 10. Oktober 1938 auf die Deportation und Ermordung der verblie‐ machten einerseits den Weg nazideutscher Pläne benen Juden ab Ende 1941. Bis zu diesem Zeit‐ zum „Anschluss“ des Sudetenlandes frei. Anderer‐ punkt war der jüdische Bevölkerungsanteil im seits begannen nun noch systematischere und Reichsgau Sudetenland durch Flucht und Vertrei‐ brutalere Maßnahmen gegen die jüdische Bevöl‐ bung bereits von ehemals 30.000 auf 2.500 Perso‐ kerung. Dieser „Judenpolitik“ ab 1938/39 widmet nen geschrumpft. Osterloh folgt dabei aktuellen sich Osterloh in den folgenden zwei Kapiteln. Vie‐ Linien der Holocaust-Forschung. Sein Verdienst le der Juden fohen zunächst in die so genannte ist es, nicht nur den Nachweis der Verfolgungs-, Rest-Tschechei. Die verbliebenen Juden erlebten Deportations- und Vernichtungsmaschinerie zu eine Radikalisierung, die sich im nach hinein und erbringen, die von lokalen Sammelstellen über verglichen mit den Maßnahmen im Reichsgebiet das Ghetto Theresienstadt bis in die Gaskammern wie im Zeitrafer vollzogen: Difamierung, Ent‐ der Vernichtungslager ausgingen. Darüber hinaus rechtung, Pogrome sowie Kennzeichnungspficht. legt er ein besonderes Augenmerk auf die (aus‐ Einen intensiven Eindruck hinterlassen Os‐ bleibenden) Reaktionen der einheimischen Bevöl‐ terlohs Forschungsergebnisse zur „Arisierung“ kerung und vermittelt dem Leser auf diese Weise des jüdischen Besitzes im Reichsgau Sudetenland. nicht nur die allgemeine Gleichgültigkeit gegen‐ Auch mit Hilfe von Quellenbeständen aus For‐ über der Judenverfolgung, sondern auch die häu‐ schungen zur Rolle der Dresdner Bank während fge Fixierung auf persönliche Vorteile. Im Reichs‐ des Dritten Reichs gelingt es dem Autor, die Me‐ Sudetenland vollzog sich der Weg von der chanismen, den Ablauf und die Profteure der Ausgrenzung bis zur Vernichtung in rapidem Enteignung jüdischen Besitzes sehr dicht nachzu‐ Tempo, ohne dass im Ablauf des Völkermordes zeichnen. In der Studie wird dabei ein Span‐ den handelnden NS-Institutionen, allen voran der nungsfeld zwischen reichsdeutscher Großindus‐ SS, der Polizei und der Verwaltung, nennenswerte trie und Ministerien auf der einen, „arisch“-sude‐ Schwierigkeiten oder gar Widerstände erwachsen tendeutscher Protektionspolitik und lokalen Prof‐ wären. teuren auf der anderen Seite entworfen. In ihrer Zwei über das Buch hinausreichende Denkan‐ Rolle als „Vermittler“ wurden Sparkassen und stöße Jörg Osterlohs seien als weitere Forschungs‐

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überlegungen mitgeteilt. Auch wenn 1938 noch gut 30.000 Juden in den Sudetengebieten lebten, so war der größere Teil von ihnen doch in die in‐ nerböhmischen Gebiete gefohen. Eine Rettung bedeutete dies aber nicht: Nach der Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ gerieten auch sie in den mör‐ derischen Apparat der Nationalsozialisten. Ihr tragischer Weg vom Sudetenland über Innerböh‐ men in die Vernichtungslager im Osten wäre eine weitere lohnende Einzelbetrachtung wert. Zwei‐ tens ist wirtschafts- und gesellschaftshistorisch nach der bundesdeutschen Wiedergutmachungs‐ praxis an den vertriebenen Sudetendeutschen nach 1945 zu fragen. In welchem Maße, so wäre etwa zu erkunden, proftierten Teile von ihnen zum zweiten Mal von den „Arisierungen“ nach 1938? Erhielten sie für diesen räuberischen Besitz später Entschädigungsleitungen der BRD? Jörg Osterlohs Werk hinterlässt so in mehrfa‐ cher Hinsicht einen nachhaltigen Eindruck: Mit mehr als 700 Textseiten inklusive eines umfang‐ reichen Tabellenanhangs ist die Arbeit nicht gera‐ de ein Leichtgewicht. Aufgrund einer sehr hohen empirischen Dichte, der Schließung einer For‐ schungslücke und aufgrund des exemplarischen Charakters der Arbeit ist der hohe Leseaufwand aber vollauf gerechtfertigt.

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Citation: Thomas Köhler. Review of Osterloh, Jörg. Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October, 2006.

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