Bücher . Zeitschriften 88

Volker Zimmermann: derung des Sudetenlandes ins Reich seit 1918; Die Sudetendeutschen im NS-Staat. die Parallelität von Euphorie und Terror nach Politik und Stimmung der Bevölke- dem Anschluß, die Gleichschaltung des Sude- tengebietes und dessen Umwandlung in einen rung im NS-»Mustergau«; die wirtschaftlichen und (1938-1945), Klartext-Verlag sozialen Folgen des Anschlusses, die politi- Essen 1999, 516 S. (48,00 DM) schen Konflikte zwischen verschiedenen Grup- pierungen der nationalsozialistischen Führer im Sudetenland, die mit einem Sieg der (zu- »Angesichts der Fülle populärer und wissen- vor heftig attackierten) Gruppe um Henlein schaftlicher Literatur, die über die Struktur des endete; die Behandlung der tschechischen Nationalsozialismus, seine gesellschaftlichen, Minderheit; Resistenz, Opposition und Wi- politischen und wirtschaftlichen Konsequen- derstand sowie den Krieg und seine Auswir- zen bisher veröffentlicht wurde, erscheint vor kungen auf die Region. allem das Fehlen einer Gesamtdarstellung der Zimmermanns umfassende Darstellung, seine Geschichte des Sudetenland er- außerordentliche Detailkenntnis, vor allem staunlich«, schreibt der Autor einleitend. Man aber sein (erfolgreiches) Bemühen um ein kann ergänzen: Auch angesichts der relativ ausgewogenes Urteil werden diesen Band für vielen, speziell dem Sudetenland in der Zeit alle, die sich professionell oder aufgrund ihrer der nationalsozialistischen Herrschaft gewid- persönlichen Biographie für das Sudetenland meten Veröffentlichungen. unter der Naziherrschaft interessieren, zu ei- Vielleicht liegt die Ursache darin, daß die nem Erlebnis werden lassen. Davon bin ich Geschichtsschreibung bisher kaum Interesse überzeugt. für das Geschehen in einzelnen NSDAP-- In seinem abschießenden Fazit trifft Zimmer- en aufgebracht hat. Das jedenfalls vermutet mann auch einige auf einen Vergleich zielen- Volker Zimmermann. Nach der Lektüre seines de Aussagen zur Entwicklung im Sudeten- Buches bin ich jedoch anderer Meinung: Eine land, wobei er sich auf zwei vorangegangene Gesamtdarstellung verlangt, das Geschehen nationalsozialistische Anschlußfälle, auf das im Sudetenland auf politischem, wirtschaftli- Saarland (1935) und Österreich (im Frühjahr chem, sozialem, kulturellem und juristischem 1938) bezieht. Der Autor schreibt dazu, bezo- Gebiet zu analysieren und zu synthetisieren. gen auf Österreich: »Die Parallelen zwischen Heutzutage müssen auch die Geschichte der den Reaktionen im Gau Sudetenland und in Widerspiegelung dieser Entwicklungen im den Gebieten der ›Ostmark‹ sind so eklatant, Denken »des Volkes« und dessen Rückwir- daß nur eine Erklärung möglich ist: Das NS- kungen auf das Geschehen berücksichtigt Regime mit seinen übersteigerten Verspre- werden. Kurz und gut: Verlangt wird ein in- chungen und der darauffolgenden Mißach- terdisziplinäres Herangehen. Das liegt nicht tung der Bedürfnisse der Menschen den jedem, das kann auch nicht jeder. Grundstein für die spätere Unzufriedenheit Zimmermann vollbringt diese für einen Nach- selbst gelegt, während die neuen Bevölke- wuchswissenschaftler bravouröse Leistung. rungsteile ungeduldig auf die vermeintlichen Insofern ist der Untertitel, der auf Politik und Segnungen des Nationalsozialismus warteten deren Verarbeitung durch »das Volk« abhebt, und möglichen Härten, die mit der Umstel- sogar ein Understatement. Der Autor arbeitet lung auf die Verhältnisse im Reich zwangs- die besondere Rolle der wirtschaftlichen Fak- läufig entstehen mußten, nur unwillig in Kauf toren ebenso heraus, wie die Besonderheiten nehmen wollten.« (S. 440). Zimmermanns der Preis- und Lohnentwicklung im Sudeten- implizite Schlußfolgerung, daß es sich in land seit 1938 – eine der Hauptquellen für die Österreich wie im Sudetenland um Merkma- soziale Unzufriedenheit, bis der Kriegsverlauf le einer typisch nationalsozialistischen »An- und die Bedrohung als Volksgruppe zum schlußpolitik« handelt, halte ich für zu kurz Hauptgegenstand der Besorgnis der Sudeten- gegriffen. Übersteigerte Versprechungen, das deutschen wurden. Der Autor behandelt in Warten auf die Segnungen der neuen Ord- sechs Kapiteln die Vorgeschichte der Einglie- nung, Mißachtung der Bedürfnisse der Men- 89 Bücher . Zeitschriften schen des Anschlußgebietes, eine spätere Un- Philosoph« bezeichnete und eigentlich Be- zufriedenheit der Angeschlossenen u.a. sind scheid wissen sollte. In wenigen Monaten 1998 Stichworte, die ebenso auf den »Anschluß- fertiggestellt und publiziert, kam das Buch fall« DDR zutreffen und auf manch anderen auch schnell übersetzt auf den deutschen Anschluß in der Weltgeschichte auch, wie der Büchermarkt. Wenn ein Multimilliardär so sehr Leser das unschwer aus Beiträgen in den gegen political correctness aussagt, läßt das Nummern 94 und 95 dieser Zeitschrift ent- aufhorchen, und siehe da, das Buch steckt voll- nehmen kann. er überraschender Gedanken. Unabhängig von JÖRG ROESLER seiner Gliederung lassen sich drei Teile mit un- terschiedlichem Gewicht ausmachen: Im ersten umreißt Soros seine grundlegen- den theoretischen Prämissen. Ausgehend von George Soros: Karl Poppers Konzept von einer offenen Ge- Die Krise des globalen Kapitalismus. sellschaft und im Widerspruch zu den deter- Offene Gesellschaft in Gefahr, ministischen Vorstellungen vom gesellschaft- Alexander Fest Berlin 1998, 300 S. lichen Fortschritt unseres seinerzeitigen »Hist-Mat«, sind für Soros die Ausgangsbe- (39,80 DM) griffe Fehlbarkeit und Reflexivität. Fehlbar- keit setzt an die Stelle einer künftig vollkom- In einer Sitzung eines Bundestagsausschusses menen Gesellschaft eine unvollkommene, aus Anlaß des 50. Jahrestages der UN-Men- »die gleichwohl laufend der Verbesserung schenrechtserklärung sprach Joschka Fischer fähig ist«. (S. 7) Soweit auch Popper, was über die universelle Gültigkeit dieser Rechte Soros ergänzt, ist der Unterschied bei der Er- und mahnte: »Dabei muß verstanden werden, kenntnis sozialer Prozesse zu der von Natur- daß all dies mit einem unabhängigen Banken- gesetzen: Unsere Einsichten und abgeleiteten system und einer freien Marktwirtschaft zu- Handlungen verändern reflexiv die Vorgänge sammengehört und beides getrennt voneinan- selbst. So absolut scheint allerdings der Un- der nicht zu haben ist.« Im Verlaufe des Kal- terschied nicht zu sein, wenn man an die Hei- ten Krieges hat sich die Vorstellung recht all- senbergsche Unschärferelation denkt. Dies gemein durchgesetzt, daß freie Marktwirt- ändert allerdings nichts daran, daß wir es in schaft und freie Demokratie ebenso zusam- der Gesellschaft mit Prozessen zu tun haben, mengehören wie Planwirtschaft und Diktatur. an denen wir unmittelbar teilhaben, in die Neu ist nur, es aus diesem Mund zu hören, wir selbst eingebunden sind. Hier nähert sich noch dazu mit dem extremen Bekenntnis zu die Vorstellung denen der chaostheoretischen unabhängigen Banken. Evolutionsmodelle. An dieser Hürde scheiterte die politische Wie sehr das zutrifft, kann der Finanzier mit Laufbahn von Oskar Lafontaine. Es ist schwer eigenen Erfahrungen im zweiten Teil anschau- einzusehen, wem die Unabhängigkeit von lich belegen. Die Vorstellung des freien Mark- Banken von Nutzen sein könnte, außer für die tes unserer Marktfundamentalisten geht von Bankiers. Schließlich heißt Demokratie einem nicht existenten Denkmodell aus, bei Volkssouveränität, und die sollte gestärkt wer- dem der anonyme Markt automatisch optimale den, wenn man die Banken ihrer Kontrolle Allokationen von Ressourcen gewährleistet. entzieht und die Regierungen des Instruments (Adam Smiths »unsichtbare Hand«). Im Ge- der Geldpolitik beraubt – noch dazu im Na- gensatz dazu kann jemand wie Soros, der über men der Menschenrechte? einen nennenswerten Marktanteil verfügt, Dagegen ist zu lesen: »Der heutige Markt- diesen recht erheblich beeinflussen, wie der fundamentalismus ist eine wesentlich größere Autor das tat, als er gegen das britische Pfund Bedrohung der offenen Gesellschaft als jede spekulierend diese Währung aus dem euro- totalitäre Ideologie.« (S. 21/22) päischen Währungsverbund hinauszwang. Das stammt von niemand anderem als dem Das abstrakte Beispiel der Finanzmärkte läßt weltbekannten Finanzguru George Soros, der am anschaulichsten erkennen, was Norbert sich selbst als »Spekulant, Philanthrop und Wiener1 schon 1948 spieltheoretisch nach- Bücher . Zeitschriften 90 wies: Märkte konvergieren nicht zum Gleich- DDR-Staates insgesamt zu leisten.« (S. VII/VIII) gewicht! Unter dem Schirm des Militärgeschichtli- Im letzten und für mich am wenigsten strin- chen Forschungsamtes haben sie ein volumi- genten Kapitel entwirft Soros einen »Fahrplan nöses Werk vorgelegt. Wohl alle relevanten für eine offene Gesellschaft«. In gewisser Elemente der »sozialistischen Landesverteidi- Hinsicht widerspricht der Anspruch eines gung« werden in insgesamt 14 Übersichtsdar- Fahrplanes, der doch pünktlich eingehalten stellungen mit ihrer historischen Entwicklung, werden sollte, den vorangegangenen Thesen. ihren Grundstrukturen und wesentlichen Indessen bleibt es eine gewichtige Aussage, Kommandeurspersönlichkeiten beschrieben. wenn Soros dem »amoralischen« Diktat der Ergänzt wird dies durch einen Beitrag zu den profitmaximierenden Zweckmäßigkeit des sowjetischen (bzw. russischen) Truppen in Marktes die korrigierende Notwendigkeit kol- Deutschland (1945-1994) (Kurt Arlt) sowie ei- lektiver Entscheidungsfindung nach den Kate- ner Zeittafel. Hervorzuheben sind die Einzel- gorien Richtig und Falsch gegenüberstellt, al- beiträge zur Geschichte der NVA (R. Wenzke), so eines Primates der Politik als unerläßliches zu den Kampfgruppen der Arbeiterklasse (Ar- Instrument sozialer Bindung. »Es gibt eine min Wagner), zur Kasernierten Volkspolizei (T. Differenz zwischen inneren und Marktwer- Diedrich), den Grenztruppen der DDR (Peter ten« (S. 262) Mit seiner Aufforderung, »die Joachim Lapp) und der Hauptverwaltung für Regulierung von Kapitalflüssen als notwendig Ausbildung (H. Ehlert). Selbst die kaum be- anzuerkennen« (S. 242) sind wir wieder bei kannte, ebenso kurze wie bezeichnende Episo- Lafontaine angekommen. Nur zurücktreten de des Dienstes für Deutschland von 1952/53 können wir nicht alle miteinander. findet ihre kritische Würdigung (T. Diedrich). ANDREAS SCHÜLER Die Fülle des dargelegten Materials schließt in einer Rezension die Auseinandersetzung mit 1 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenüber- tragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf u.a. vielen Einzelaspekten aus. Über manches kann 1992, S. 227ff. gestritten werden. So verwundert, daß bei der Analyse der Kampfkraft der Kampfgruppen Übungen taktischer Einheiten zu einer Gene- Handbuch der bewaffneten Organe ralaussage verdichtet werden (S. 84). Nicht al- le Beiträge halten das hohe Niveau einer exak- der DDR. Im Dienste der Partei. ten militärischen Bezeichnung und Zuordnung Torsten Diedrich, Hans Ehlert und durch. Da gibt es 14,5-mm-Flak, die nur ein Rüdiger Wenzke im Auftrag des überschweres MG ist, da wird die 23-mm- Militärgeschichtlichen Forschungs- Zwillingsflak ein wichtiges Mittel zur Panzer- bekämpfung, wo bestenfalls leichtgepanzerte amtes. Reihe: Forschungen zur DDR- Fahrzeuge damit bekämpft werden können, da Gesellschaft, Ch. Links Verlag Berlin gibt es Dislozierungskarten mal mit den takti- 1998, XVI, 719 S. (48,00 DM) schen Zeichen der Warschauer Vertragsarmeen gestaltet, während andere die der NATO ver- Militärhistoriker aus Ost und West haben sich wenden. Hier hätte sicher ein noch besseres der Mühe unterzogen, gemeinsam ein solides, militärisches Lektorat helfen können. Bei man- weitgehend unaufgeregtes Handbuch der be- chen Aufstellungen zu Truppenstärken ist nicht waffneten Organe der DDR zu verfassen. Sie immer klar, warum gerade der gewählte Zeit- verfolgen dabei einen doppelten Ansatz: punkt verwendet wurde, ebenso wie gelegent- »Grundlagenforschung und das Anliegen hi- lich Zahlenbezüge verloren gehen. storisch-politischer Bildung ... Damit ist die In ihrem Überblicksbeitrag zu den »Be- Absicht verbunden, einen militärhistorischen waffneten Organen der DDR im System von Beitrag nicht nur zur Aufhellung eines bis Partei, Staat und Landesverteidigung« unter- heute weithin unscharfen und diffusen Bildes nehmen die Herausgeber eine Gesamtschau, über einen zentralen Bereich des Herrschafts- deren Leitideen sich in den Detailbeiträgen systems, sondern darüber hinaus auch zum wiederfinden. Die spektakuläre, aber der der- besseren Verständnis der Strukturen des zeitigen Sichtweise entsprechende These: 91 Bücher . Zeitschriften

»Die DDR, die sich nach der Interpretation prägende Rolle des Militärischen auf »die So- ihrer politischen Führung zeit ihrer Existenz zialisation und Integration der männlichen als friedliebendes Land und – bezogen auf die Bürger« benannt werden (S. 55), sie ist aber spezifisch deutsch-deutsche Situation im in- eben nur zu einem Teil den bewaffneten Or- ternationalen Kräftespiel – als der ›deutsche ganen zuzuschreiben. Friedensstaat‹ verstanden hat, war im klaren Drittens schließlich bleibt im gesamten Kontrast zu dieser Selbsteinschätzung nicht Handbuch der reaktive Aspekt der hypertro- nur durch eine nahezu alle staatlichen und ge- phierten Sicherheitsambitionen merkwürdig sellschaftlichen Bereiche umfassende Milita- unterbelichtet. Es ist eben nicht wegzudenken, risierung gekennzeichnet. Die hypertrophierte daß die radikale Linke, ausgehend von ihren Aufblähung des Gewaltapparates, der mit ei- Klassenkampferfahrungen, zweierlei glaubte ner ganzen Fülle von ›bewaffneten Organen‹ fest zu wissen: Sie konnte einerseits nach ihrer den Schutz des ›ersten sozialistischen Staates Auffassung die zur Verwirklichung ihrer so- auf deutschem Boden‹ nach außen und die Si- zialen Ziele erforderliche Macht nur im Resul- cherung des politisch-gesellschaftlichen Sy- tat einer letztlich gewaltsamen Auseinander- stems und der Macht der führenden Partei setzung gewinnen. Andererseits hatte sie die nach innen zu gewährleisten hatte, wurde im- teilweise bitter erlittene Erfahrung, daß das mer deutlicher zu einem Charakteristikum der Behaupten dieser Macht ebenso wie ihre Nie- DDR.« (S. IX) derlage für sie ganz persönlich wie für die so- Im weiteren wird dies allerdings mit dem ziale Bewegung verhängnisvolle, im Wortsin- verwendeten Militarisierungsbegriff nach ne tödliche Folgen hatte. Die Revolution von Seubert als »die prozeßhaften Veränderungen 1918/19, die Märzkämpfe, der Blutmai 1929, bzw. empirisch meßbaren Tendenzen des ge- die faschistische Machtergreifung, Spanischer sellschaftlichen Stellenwerts des Militäri- Bürgerkrieg und der deutsche Überfall auf die schen verstanden« (S. 62, Fußnote), in einem Sowjetunion waren für die Funktionäre erleb- ausgewogenen Verhältnis betrachtet. Denn te Erfahrungen. Sie waren zumindest von augenscheinlich gibt es doch einen Unter- der Aufbaugeneration verinnerlicht. Korea- schied zwischen dem Militarismus preu- und Vietnamkrieg, die Invasion in der Schwei- ßisch-deutscher aggressiver Staaten und Ar- nebucht und die Kämpfe nationaler Befrei- meen und dem, was die DDR praktizierte. ungsbewegungen waren ebenfalls offensicht- Offenkundig wird allerdings bei dieser These lich nicht nur Propaganda, sondern belegten und Charakterisierung der DDR zumindest die Notwendigkeit des bewaffneten Schutzes. dreierlei nicht ausreichend berücksichtigt: Die Herausgeber wissen das natürlich und Erstens die tatsächlichen Nachwirkungen verweisen auf die neue Grundkonstellation eben jenes preußischen Militarismus in Den- nach 1945. »Der Kalte Krieg, ein Prozeß der ken und Mentalität der deutschen Kommuni- wechselseitigen Eskalation in einem nach sten. Auch wenn im Handbuch sehr klar der dem Zweiten Weltkrieg bipolar angelegten in- nur begrenzte Stellenwert der Übernahme von ternationalen System, bestimmte in der Folge- Wehrmachtsgeneralen und -offizieren für die zeit die sicherheitspolitischen Grundparame- KVPund frühe NVA gezeigt wird, so ist dieter in Ost und West.« (S. 3) Dies hätte aber si- Wirkung der militärischen Sozialisation und cher in einem Buch zu den bewaffneten Orga- der – oft auch nur mittelbaren – - nen in seiner ganzen Wechselwirkung wohl erfahrung zweifellos vorhanden gewesen und nachdrücklicher untersucht werden müssen. hat weiter gewirkt. Denn augenscheinlich entsprangen ja wichti- Zweitens spielt ein militärischer Grundan- ge sicherheitspolitische Entscheidungen eben satz in der ganzen kommunistischen Bewe- aus den daraus sich ableitenden Bedrohungs- gung ausgehend von Lenins Parteikonzeption ängsten. Daß gleichzeitig selbst Drohpoten- unter den konkreten Bedingungen der Illega- tiale aufgebaut wurden, die von der anderen lität, der Revolutions- und Bürgerkriegserfah- Seite als solche empfunden wurden, gehört rungen und der schließlichen Installierung des zur Logik eines solchen Systems, das eher auf Stalinschen Systems eine außerordentlich Aug um Aug, Zahn um Zahn – oder moderner wichtige Rolle. Insofern kann natürlich die Panzer um Panzer, Rakete um Rakete setzte. Bücher . Zeitschriften 92

Sicherheit wurde hier als zu gewinnende bzw. die »Volksherrschaft« bedrohen könnte, die zu wahrende Überlegenheit interpretiert und Suche nach imperialistischen, äußeren Kon- zu praktizieren versucht. terrevolutionären, insgesamt eine fehlende Berechtigt wurde die strikte Einbindung der Krisen- und Konflikttheorie des Realsozialis- DDR in das sowjetische Machtkalkül heraus- mus, lassen all diese Überlegungen ins Leere gearbeitet. In diesem Bereich war zweifellos laufen. Der Einsatz eigener bewaffneter Kräf- weniger als in allen anderen – und diese zu- te in inneren Krisen des Realsozialismus blieb gleich limitierend – ein eigener Gestaltungs- die – oft bittere und blutige – Ausnahme. Hier spielraum vorhanden. Das sowjetische Si- der NVA oder der DDR-Führung besondere cherheitssystem und die dem entsprechende Schuld zuweisen zu wollen, ginge an den Tat- Politik wurden fast unverändert übernommen sachen – glücklicherweise – vorbei. Die Po- und bis zum Ende der DDR in weiten Berei- tentiale waren gewaltig, aber in dem Moment, chen unter sowjetischem Kommando auch da das eigene Volk agierte, konnten Volksar- umgesetzt. Die DDR war sowieso für die So- mee oder Volkspolizei wenig tun. wjetunion »Auf-, Durchmarsch- und Operati- Und eines wird auch deutlich. Bei aller Her- onsgebiet«, was die DDR mit Truppen, Logi- ausstellung des hohen Grades militärischer stik und Infrastruktur absichern mußte und Bereitschaft, der umfassenden militärischen was in den späten DDR-Jahren auch zur Vorbereitung und der tendenziellen Militari- Angst um das eigene Schicksal in einem be- sierungstendenzen: Der DDR fehlte der waffneten Konflikt führte. Trotzdem »emanzi- Kriegs- und Kampfeswille. Nicht zuletzt des- pierte« sich die DDR mit ihrer NVA zum halb war sie in den achtziger Jahren an der »Vorzeige- und Juniorpartner der sowjeti- Fortsetzung und Wiedergewinnung der Ent- schen Streitkräfte« (S. 30). spannungspolitik so aktiv interessiert. Hat das Deshalb war die DDR der sowjetischen möglicherweise wohl auch etwas mit ihrem Militärdoktrin verpflichtet, die von der Ver- sozialistischen Anspruch zu tun? nichtung des Gegners auf dem eigenen Terri- STEFAN BOLLINGER torium ausging, falls er angreifen würde. Daß einer solchen Doktrin eine offensive Strategie und Taktik entsprechen mußte, ist folgerich- Wolfgang Kraushaar (Hg.): tig, sagt allerdings wenig über die Praxis aus. Die Operationspläne der östlichen Seite lie- Frankfurter Schule und Studentenbe- gen offen, über die des Westens breitet sich wegung. Von der Flaschenpost zum immer noch ein nur gelegentlich gelüfteter Molotowcocktail 1946-1995. Band 1: Schleier des Geheimen. Die jüngsten Debat- Chronik/Band 2: Dokumente/Band 3: ten um die Fortexistenz des Anspruchs auf Kernwaffenersteinsatz zeigen, wie sensibel Aufsätze und Kommentare. Register. solche Fragen sind und wie sehr sie in der Ein Projekt des Hamburger Instituts Bewertung vom jeweiligen Betrachter (und für Sozialforschung, Rogner & Bern- potentiellen Opfer) abhängen. hard bei Zweitausendeins Wiederholt wird im Handbuch auf die inne- re Funktion der NVA hingewiesen. Allerdings 1998, 607/859/348 S. (120,00 DM) wird deutlich, daß diese spätestens nach Mau- erbau und Einführung der Wehrpflicht im Si- Der Herausgeber, das Hamburger Institut und cherheitsdenken eine untergeordnete Rolle die beteiligten Verlage haben der 68er Bewe- spielt. VP, Bereitschaftspolizei, MfS und gung zu ihrem 30. Geburtstag ein formidables Kampfgruppen sollten diese Aufgaben erfül- Geschenk auf den Gabentisch gelegt. In einer len. Generell zeigten nicht erst die Unsicher- Kassette mit drei gediegen gestalteten Bänden heit und die schließliche Gewaltlosigkeit im zieht der Herausgeber Bilanz einer Bewe- Herbst ‘89, daß sich realsozialistische Staaten gung, ihrer Denkweise und ihrer einst spekta- mit dieser inneren Bedrohung schwertaten. kulären Aktionen, erinnert an die geistigen Ein fehlendes Krisenmanagements die Un- Vorläufer Theodor W. Adorno, Max Horkhei- fähigkeit zu begreifen, daß das eigene Volk mer, Herbert Marcuse und feiert mit vielen 93 Bücher . Zeitschriften

Dokumenten, einer wohlsortierten Chronolo- chen Lebens- und Studienfeldes der Studen- gie (mit der ganzen Vor- und Nachgeschichte ten – mangelnde Qualität und Reformstau an nicht kleinlich ausgefallen) und natürlich mit verstaubt-hierarchischen Ordinarienuniversitä- wohl gewogenen wissenschaftlichen Kom- ten, die auch vor sozialwissenschaftlichen Fa- mentaren »das« Ereignis, »das« Vorkommnis kultäten und Vorlesungen selbst der Köpfe der der alten Bundesrepublik – die Revolte ihrer Kritischen Theorie nicht haltmachten. Insofern intellektuellen Jugend gegen den »Muff von ist die von Adorno angeordnete gewaltsame 1000 Jahren unter den Talaren«, gegen Viet- Beendigung einer Institutsbesetzung für viele namkrieg und Notstandsgesetze. Warum nur der damaligen Protagonisten zumindest ein ist der Rezensent irritiert? ebenso tiefer Einschnitt wie der Tod Benno Einst schlecht geheftete Raubkopien – heu- Ohnesorgs oder das Attentat auf Dutschke. te eine gediegene buchkünstlerische Edition Bemerkenswerter nachteilig ist das weitge- zum stolzen Preis, den die damals jungen Auf- hende Ausblenden der internationalen Prozes- müpfigen heute als Studienräte, Professoren se (namentlich in den Kommentaren). Aber oder Anwälte wohl leicht verschmerzen kön- gerade die US-amerikanischen Proteste gegen nen. Und – im 30. Jahr nach der denkwürdi- Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg, die gen Revolte tritt genau diese Generation nach im Vergleich zur Bundesrepublik weitaus »langem Marsch durch die Institutionen« an, spektakuläreren und gesellschaftserschüttern- mit einer rot-grünen Regierung Politik zu ma- den Aktionen der Studenten in Frankreich chen. Offen nur, ob eine wirkliche neue, an oder Italien bleiben unterbelichtet. Der bun- den einstigen Idealen orientierte Politik – oder desrepublikanische Tellerrandblick bestimmt das endlich mögliche Einfordern des eigenen die Sichtweise der Protagonisten, die sich nun Platzes auf den Chefsesseln der Nation. zu Deutern der Ereignisse aufschwingen. Sil- Eine neue Politik zu machen erweist sich au- via Bodenstein hat mit ihrer selbstironischen genscheinlich als schwierig und mag Gründe in Einsicht mehr als recht: »Wir sind vermutlich der eigentümlichen theorie- wie aktionsorien- schlechte Zeugen eines interessanten Ereig- tierten Aktivität der antiautoritären Bewegung nisses. Wir gingen mir, gehörte ich einer an- jener Zeit haben. Kraushaar unterscheidet drei deren Generation an, in unserer Funktion als Generationen im spannungsgeladenen Verhält- Ereignisverweser gewaltig auf die Nerven. nis von Kritischer Theorie und Politik, denen Aber selbstverständlich gehöre ich zu den jeweils spezifische Kritikmodelle entsprachen: 68ern und werde scharf aufpassen, daß da die Lehrer (Horkheimer, Adorno, Alexander nichts falsches aufkommt.« (3/238) Mitscherlich), die älteren Schüler (Ludwig von Aus dem Blick sind nicht zuletzt die Ereig- Friedeburg, Jürgen Habermas, Oskar Negt, Al- nisse in Osteuropa, namentlich in der CSSR, fred Schmidt) und die jüngeren Schüler (Rudi obwohl deren Ende eine entscheidende Rück- Dutschke, Hans-Jürgen Krahl). Zunächst theo- wirkung auch auf das Schicksal der westeu- rie-immanente Haltung, dann wissenschaftlich ropäischen Studentenbewegung hatte. Natür- begründete politische Haltung und schließlich lich stand die Studentenbewegung und noch »Aufklärung durch Aktion« bestimmten die je- mehr die Kritische Theorie unter dem auch in weiligen Kritikmodelle der einzelnen Genera- den Protestdemos gegen die Warschauer-Pakt- tionen (Kraushaar, 3/12f). Invasion in Prag getragenen Losung: »Stalinis- Die 68er-Studenten entstammten mehrheit- mus + Imperialismus = Feinde des Sozialis- lich besseren Elternhäusern, wurden mit er- mus« (1/353). Diese Losung entsprach dem ur- sten Erscheinungen einer Vermassung intel- sprünglichen Ansatz – auch angesichts der ver- lektueller Berufe konfrontiert, suchten sich klärend-romantisierenden Sympathie für die zugleich von ihrer Elterngeneration und einer chinesische Kulturrevolution, für den Befrei- als ebenso muffig wie autoritär empfundenen ungskampf Vietnams und Kubas, für die Re- bundesdeutschen Gesellschaft mit ihrer unbe- volutionsversuche Che Guevaras. Diese dop- wältigten NS-Vergangenheit zu emanzipieren. pelte Frontstellung macht nicht zuletzt die Ak- Vietnamkrieg und Notstandsgesetze waren tualität des intellektuellen Aufbegehrens von die Katalysatoren ihres Aufbegehrens. Deut- Adorno bis Dutschke gegen westliche Gesell- lich wird aber auch der Druck des eigentli- schaft wie gegen stalinistisch-realsozialistische Bücher . Zeitschriften 94

Pervertierung einer emanzipatorischen Idee bewegung stand für eine antiautoritäre Politik. aus. Bernd Rabehl weist auf diesen Reaktions- »›Antiautoritär‹ hatte dabei nicht allein eine charakter nachdrücklich hin, wenn er daran er- sozialpsychologische Bedeutung, wonach die innert, daß die »neue Linke signalisierte, daß StudentInnen jede Form von psychologischer Reformismus und Kommunismus in Europa an Unterwerfung unter Autorität, sei es des Staa- das Ende ihrer Entfaltung gekommen waren tes, der Professoren oder der öffentlichen Mei- und ihr Zustand der Stagnation überging in den nung, bekämpften. Es war damit vor allem ei- offenen Zerfall« (3/36). ne gesellschaftstheoretische Einschätzung der Zentral für Studentenbewegung und die ihr historischen Bedingung sozialistischer Praxis vorhergehenden wie sie begleitenden theoreti- gemeint, die sich gegen jedes Bedürfnis nach schen Anstrengungen war das Demokratie- Ontologie, nach Halt an einer historischen Ge- problem. Weder Diktatur noch autoritäre poli- setzmäßigkeit oder einem vordefinierten kol- tische Strukturen sollten es sein – sondern lektiven Willen, richtete. Das Pathos war also, deren Aufhebung in Antiautoritarismus und einen Begriff von Emanzipation zu ent- eher basisdemokratischer Willensbildung. Die wickeln, der sich in keiner Hinsicht mehr auf Studentenbewegung agitierte und agierte in vorgegebene Maßstäbe des Handelns berufen Zeiten von KPD-Verbot , Erhards »Formierter konnte.« (3/73) Also durchaus kein Orientie- Gesellschaft« und »Konzertierter Aktion« und ren am Bestehenden und seiner Autorität, son- erst »Großer Koalition« gegen das »Schreck- dern die Bereitschaft, gegen das Bestehende gespenst einer Gesellschaft ohne Opposition« als kapitalistisches System wie als etablierte (3/17). Sehr erinnert heute die einheitsdeut- marxistische Theorie zu agieren. Der »Marsch sche Realität mit ihrer faktischen »Großen durch die Institutionen« (ohne sich ihnen un- Koalition« der größten Regierungs- und Op- terzuordnen, eben als Guerilla) als ewiger positionsparteien an diese Starrheit. Damals Weg, allerdings ohne Kompaß (vielleicht doch wollten die Studenten aus diesem »integralen nur als Spaß und »Selbstverwirklichung«), wie Etatismus« ausbrechen (3/19). dies heute die alt gewordenen 68er als Teil Als zentrales Dokument der Studentenbe- der politischen Klasse beweisen? wegung interpretiert Kraushaar das Organisa- Dabei ist wohl für manchen jene vater- tions-Referat auf der 22. Delegiertenkonfe- mörderische Kritik des Kommunarden Fritz renz des SDS im September 1967 von Teufel an den Kritischen-Theorie-Vorläufern Dutschke und Krahl. Beide suchten bei aller nicht unwesentlich: »Was soll uns der alte verbalen Ablehnung des Realsozialismus Ant- Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, worten auf den »integralen Etatismus«. Sie weil sie nicht sagt, wie wir diese Scheiß-Uni bringen sie auf den Punkt in wahrhaft »lenini- am besten anzünden und einige Amerikahäu- stischer« Art: Die revolutionäre Bewußtseins- ser dazu – für jeden Terrorangriff auf Vietnam bildung durch eine im Sinne der »großen Wei- eines.« (zit. in 3/84) Schimmert hier nicht gerung« von Marcuse sich entwickelnde schon jener theorie- und prinzipienlose Prag- Stadtguerilla, die ihre soziale Basis an den matismus hindurch, der uns heute so unange- Universitäten hat und den »Kampf um den nehm berührt? Mensagroschen und um die Macht im Staate Böckelmann konstatiert heute, daß »die organisiert« (zit. in 3/25). So soll sie als Vor- Studentenbewegung ... dort gesiegt (habe), hut wirken, die die Massen revolutioniert. Un- wo sie es eigentlich nicht vorhatte«. Nicht die abhängig davon, ob bereits hier das spätere politische Revolution, sondern bestenfalls RAF-Konzept angelegt ist oder eher metapho- eine Kulturrevolution (die aber auch andere rische Begriffe verwandt wurden – die Anti- Ursache gehabt hätte) sei erreicht worden. autoritären sind sich der Tragweite ihrer neu- (3/216) en Lebens- und Kampfweise in bestimmter STEFAN BOLLINGER Hinsicht bewußt. Insofern war, dies machen die heutigen Kommentare deutlich, die ganze Angelegenheit zutiefst widersprüchlich. Alex Demirovic verweist auf die Orientierung an einer »negativen Dialektik«. Die Studenten-