Inhalt | 1

EDITORIAL STRATEGIESCHWERPUNKT ......

3 Was bleibt vom Arabischen Frühling? 83 Joachim Raschke/Ralf Tils Doppelte Asymmetrie und Probleme des AKTUELLE ANALYSE Machtwechsels ...... 88 Gerd Mielke 8 Roland Benedikter Auf der Suche nach Mehrheiten? Anmer- Zur Aktualität der Debatte um den Post- kungen zur Lage der SPD ein Jahr vor der materialismus-Begriff Bundestagswahl 2013

THEMENSCHWERPUNKT 92 Oliver Schmolke ...... Soziale Demokratie und progressive Mehr- 17 Maximilian Felsch heit – Von der Zeitenwende 2009 zum Sozio-ökonomische Hintergründe und Le- Machtwechsel 2013 gitimierung von Herrschaft im arabischen 94 Cem Özdemir Raum Grüne Strategie zwischen Eigenständigkeit 28 Nadine Sika und Bündnispolitik Protestbewegungen in nichtdemokratischen 98 Boris Palmer Regimen am Beispiel der Deutschen De- Die grüne Volkspartei. Wie die Grünen die mokratischen Republik und Ägypten Bundestagswahl gewinnen können 41 Kristian Brakel 101 Richard Hilmer The Great Game 2.0 – veränderte Macht- Piraten und die Bundestagswahl 2013. Der dynamiken im Nahen Osten nach dem Ausbruch aus der Marginalität der Klein- Arabischen Frühling parteien 46 Interview mit Ferhad Ahma, Syrischer 108 Sebastian Nerz Nationalrat Strategieentwicklung in der Piratenpartei Syrien am Vorabend der zweiten Unabhän- gigkeit – Chancen und Perspektiven PULSSCHLAG 54 Interview mit Hiba Wakrim, Maroc Plus ...... Veränderung braucht konstruktive Vor- 111 Thomas Olk schläge: Eine junge Aktivistin aus Marok- 10 Jahre Bundesnetzwerk Bürgerschaftli- ko berichtet ches Engagement

60 Interview mit Laila El-Balouty, Aktivis- 116 Mario Vötsch tin Riskant entwurzelt. Diskursive Verknüpfun- Revolution als Lernprozes: Eine Zwischen- gen von Prekarität und Migration bilanz der ägyptischen Demonstranten 121 Laura Naegler/Rainer Neef/Ute Neumann 65 Felipe Daza Sierra Urbanität und Protest. Neue Herausforde- Die Revolution beginnt im Café Shabandar rungen der Stadt- und Bewegungsforschung

70 Ingrid El Masry 126 Martin Langebach Der „Arabische Frühling“ – Eine transfor- Verbote von rechtsextremen Vereinigungen: mationstheoretisch orientierte Zwischenbi- Reichweite, Grenzen, Erfahrungen lanz der Fälle Ägypten und Tunesien

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 2 | Inhalt

128 Nabila Abbas 147 Martin Burwitz Demokratie zwischen Marktkonformität Rote Flora und Widerstand (Hoffman, Karsten Dustin: Rote Flora. Ziele, Mittel und Wirkungen eines links- 132 Ausschreibung Disserationspreis autonomen Zentrums in Hamburg)

TREIBGUT 148 Jochen Roose ...... Anti-AKW-Protest und Parteipolitik im 133 Materialien, Notizen, Hinweise Vergleich (Hillengras, Christian: Atomkraft und Pro- LITERATUR test. Die politische Wirkung der Anti-AKW- ...... Bewegung in Deutschland, Frankreich und 139 Karin Urich/Gabriele Schmidt/Nadine Schweden) Kreitmeyr 149 Tobias Quednau Schlaglichter des Arabischen Frühlings Bürgergesellschaft zwischen Leidbild und (Sammelbesprechung) Leitbild (Embacher, Serge: Baustelle Demokratie – 145 Thomas Leif Die Bürgergesellschaft revolutioniert un- Lebensmensch (Buro, Andreas: Gewaltlos ser Land) gegen Krieg. Lebenserinnerungen eines streitbaren Pazifisten)

152 ABSTRACTS ......

160 IMPRESSUM ......

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 Editorial | 3

Was bleibt vom Arabischen Konsequenzen die Ereignisse für Israel und die Frühling? Region sowie für Europa und die USA haben, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur schwer Die arabische Staatenwelt wandelt sich gegen- abzuschätzen. Offensichtlich ist allerdings, dass wärtig mit einer ungeheuren Dynamik. Als die Protestbewegungen in den arabischen Län- Ende 2010 die Menschen in Tunesien, einem dern die Karten im regionalen Machtpoker neu kleinen und regional eher unbedeutenden ara- gemischt haben. Die langjährige Zweiteilung bischen Land, auf die Straße gingen, um ge- in das pro-westliche und das pro-iranische La- gen Unterdrückung, Korruption und soziale ger verliert an Bedeutung, und die Eigendyna- Ungerechtigkeit zu protestieren, war kaum miken der Protestwelle bringen alte Allianzen vorherzusehen, dass nur vier Wochen später und stabile Feindschaften ins Wanken. Die das Ende der 23jährigen Herrschaft Ben Alis Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehun- besiegelt sein sollte. Schnell sprang der Zünd- gen zwischen Ägypten und dem Iran, der Ein- funke auf alle anderen arabischen Länder über. marsch Saudi-Arabiens in den Bahrain ohne Das Lauffeuer, das durch den Tod des Gemü- vorherige Absprache mit den USA sowie das sehändlers Mohamed Buazizi losgetreten wur- selbstbewusste Auftreten der Türkei als Regi- de, überraschte nicht nur die autoritären Herr- onalmacht sind hierfür nur einige Beispiele. scher der Region, sondern ebenfalls den Rest Für Israel, das immer mehr in die Isolation der Welt, die die Ereignisse seither mit Erstau- gerät, sind insbesondere die Entwicklungen in nen und Besorgnis verfolgt. Ägypten und Syrien von bedrohlicher Natur – Verwundert reagierten viele darauf, dass ge- ist doch völlig offen, in wessen Hände das rade in den arabischen Diktaturen der Aufstand Waffenarsenal nach einem Sturz des Assad- geprobt wurde, wo doch den Bürgerbewegun- Regimes gerät. Der Arabische Frühling wird gen in diesen Staaten keine allzu hohe Präsenz dort insgesamt mit großer Skepsis bewertet und auch kein Einfluss zugetraut wurde. Seit und die Gefährdung der eigenen Sicherheit Jahrzehnten hatten die despotischen Regime ihre befürchtet. Vor allem die zunehmende Instabi- Gesellschaften fest im Griff und es schien, als lität Ägyptens, welche Israel nicht nur um den befinde sich Arabien im Stillstand einer versie- wichtigsten Bündnispartner im Nahen und gelten Zeit. Und dies, obwohl die sozio-ökono- Mittleren Osten zu berauben droht, sondern mischen Probleme bereits seit langem bekannt auch von gewaltsamen Auseinandersetzungen waren: Alle arabischen Staaten sind sehr junge im Sinai und damit an der Grenze zu Israel Gesellschaften – zwischen 65 und 75 Prozent begleitet wird, ist hier zu nennen. ihrer Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt Trotz der Schnelllebigkeit der Ereignisse (Perthes 2011: 30). Nahezu alle Staaten der war für die Redaktion des Forschungsjournals Region weisen eine extrem ungleiche Einkom- relativ schnell klar, dass sich der Arabische mensverteilung auf, der Abstand zwischen Arm Frühling und seine Folgen in einem Heft wi- und Reich hat trotz des Wirtschaftswachstums derspiegeln sollten. Das Forschungsjournal ver- deutlich zugenommen, und insbesondere die steht sich als Begleiter sozialer Bewegungen jungen, gut Ausgebildeten sehen sich ihrer Zu- und der durch sie ausgelösten Transformatio- kunftsperspektiven beraubt. Fehlende politische nen. Als dieses Heft geplant wurde, ging die Teilhaberechte, eingeschränkte bürgerliche Frei- Redaktion noch davon aus, eineinhalb Jahre heiten sowie Vetternwirtschaft und Korruption nach dem Arabischen Frühling eine erste Bi- haben zu politisch und gesellschaftlich verkrus- lanz der Proteste und ihrer Folgen ziehen zu teten Strukturen geführt, die nun im Domino- können. Doch im Entstehungsprozess des effekt aufbrechen. Heftes wurde immer deutlicher, dass wir uns Welchen Verlauf die Umwälzungsprozesse noch mitten in den Umwälzung befinden und in den jeweiligen Ländern nehmen und welche dass der Ausgang in den meisten Ländern noch

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 4 | Editorial offen ist. So sind viele der Artikel Bestands- len, aber auch signifikante Unterschiede zwi- aufnahmen, die vielleicht sogar bei Druckle- schen den Protestbewegungen ausmacht. gung schon wieder von neuen Geschehnissen Dass die Umbrüche in den jeweiligen arabi- überholt werden. Dennoch haben wir das Un- schen Ländern weit über ihre nationalstaatli- terfangen nicht aufgegeben und liefern aktuel- chen Grenzen hinausreichen, zeigt Kristian le Stimmungsbilder und Analysen aus den ara- Brakel in seinem Beitrag über die Auswirkun- bischen Ländern. Dabei wurde bei der Aus- gen der gegenwärtigen Umbrüche auf die in- wahl der Autoren auf eine Mischung aus Wis- ternationale Politik. Er beobachtet den Beginn senschaftlern und Aktivisten geachtet, um ein einer neuen Ära in der Region, der, so seine möglichst authentisches und fundiertes Bild der Einschätzung, von einem deutlichen Machtver- Entwicklungen in der arabischen Welt zu lie- lust der USA und Europas sowie einer Schwä- fern. chung Irans begleitet werde. Deutlich an Ein- Die Beiträge bieten zum einen tiefere Ein- fluss hinzugewonnen habe hingegen die Tür- blicke in die Entwicklungsprozesse einzelner kei, die innerhalb kürzester Zeit ihre Außen- Länder: so zum Beispiel der Beitrag von Felipe politik den Entwicklungen anpasste und viel- Daza Sierra zur irakischen Zivilgesellschaft und fach als Vorbild für mögliche Modelle eines die Interviews mit Ferhad Ahma zu den Unru- politischen Systems nach dem Arabischen Früh- hen in Syrien, mit Hiba Wakrim zu den Pers- ling betrachtet wird (vgl. Aksoy 2012). pektiven marokkanischer Jugendlicher sowie mit Wie unterschiedlich die Protestbewegungen Laila El Balouty zu den Erfolgen und Fehlern sowohl innerhalb eines Landes als auch inner- der ägyptischen Protestbewegung. Zum ande- halb der Region im Hinblick auf die Mobili- ren nehmen die Beiträge von Kristian Brakel, sierung von Protest, die Forderungen und die Maximilian Felsch, Nadine Sika und Ingrid El Aktivitäten der Protestierenden verlaufen, zei- Masry eine vergleichende Meta-Perspektive ein. gen die Portraits der Oppositionsbewegungen Mit diesem Spagat zwischen „Tiefenboh- in Syrien (Ferhad Ahma), Marokko (Hiba rung“ und „Meta-Vergleich“ will dieses Heft Wakrim), Ägypten (Laila El Balouty) und Irak zum einen Zeitzeugnis sein, zum anderen aber (Felipe Daza Sierra). Syrien steht aufgrund auch einen Beitrag zur Erforschung dieser der brutalen Repressionen des Assad-Regimes Transformationsprozesse leisten. Dabei geht es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nahezu täglich in den Hauptbeiträgen wie auch in der Sam- in den Schlagzeilen und viele Beobachter be- melrezension um die grundlegenden Fragen fürchten einen entlang ethnischer Konfessions- nach den Ursachen und den Trägern der Pro- grenzen verlaufenden Bürgerkrieg. Ferhad testbewegungen, den Gemeinsamkeiten und Ahma, Mitglied des Syrischen Nationalrates, Unterschieden zwischen den unterschiedlichen erklärt die Besonderheiten der Situation in Ländern sowie um die Auswirkungen des Ara- Syrien im Vergleich zu den gewalttätigen Aus- bischen Frühlings auf die Region und die in- schreitungen in Libyen, erörtert die Ziele und ternationalen Beziehungen. Organisationsstrukturen der syrischen Opposi- Zu Beginn geht Maximilan Felsch im An- tionsbewegung und nennt Bedingungen für schluss an Max Weber auf die Legitimierung einen friedlichen Übergang. von Herrschaft ein und zeigt, warum die Herr- Hiba Wakrim, Generalsekretärin der Verei- scher im arabischen Raum ihre Legitimität ver- nigung Maroc Plus, beleuchtet den arabischen loren haben beziehungsweise wie die nachrevo- Frühling aus der Perspektive der marokkani- lutionären Systeme wieder Legitimität gewin- schen Jugendlichen. Sie kritisiert, dass diese nen können. Einen Vergleich zwischen der fried- zu oft auf der Ebene der Kritik verbleiben, lichen Revolution in der DDR und dem Arabi- ohne zugleich konstruktive Vorschläge zu ma- schen Frühling in Ägypten strengt anschließend chen, wie die herrschende Ordnung umgestal- Nadine Sika an, die dabei interessante Paralle- tet werden könne. Auch Laila El Balouty,

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 Editorial | 5

Schauspielerin und Aktivistin, zieht im Hin- des Kapitalismus gelte es nicht zu verabschie- blick auf die Entwicklungen in Ägypten eine den, sondern einen neuen, nachhaltigeren, ge- durchaus kritische Zwischenbilanz: In dem meinnützigeren, an den Menschenrechten ori- Verlust der Einheit innerhalb der Oppositions- entierten Kapitalismus zu entwickeln. Der bewegung sieht sie die zentrale Ursache für Rückhalt für dieses Vorhaben finde sich in der die chaotischen Verhältnisse und die Patt-Situ- emanzipativen Dimension der Bürgergesell- ation zwischen Militärrat auf der einen und schaft, im „Occupy Wall Street Movement“ dem neu gewählten Parlament sowie dem neu oder „99% Movement“. Parallel erscheint onli- gewählten Präsidenten auf der anderen Seite. ne auf der Homepage des Forschungsjournals Felipe Daza Sierra betrachtet die Entwicklung als Supplement zu Heft 3 ein Beitrag von der Zivilgesellschaft im Irak seit der US-ameri- Roland Benedicter und Victor Faessel, Pro- kanischen Besatzung bis zu den jüngsten Um- grammdirektor des Orfalea-Zentrums für Glo- brüchen in den arabischen Nachbarländern. bale und Internationale Studien der Universi- Eine vergleichende Bewertung der Protest- tät von Kalifornien, zu „Mythologie und Poli- bewegungen versucht der abschließende Bei- tik im US Präsidentschaftswahlkampf“ trag von Ingrid El Masry. Die Proteste wur- (www.fjnsb.de/). den seit dem Beginn des Arabischen Frühlings schnell mit den Begriffen „Revolution“ oder Gabriele Schmidt (Berlin), Karin Urich „Demokratisierung“ belegt und der Autorita- (Mannheim), Nadine Kreitmeyr (Tübingen), rismusforschung herausfordernd entgegengehal- Ansgar Klein (Berlin) ten. Rund eineinhalb Jahre nach den ersten Demonstrationen könne, so El Masry in Be- Sonderschwerpunkt: „Auf dem zug auf Tunesien und Ägypten, jedoch nur Weg zum Wahljahr 2013“ begrenzt von deren Erfolg oder dem Beginn eines tiefgreifenden Transformationsprozesses gesprochen werden. Zu begrenzt seien die re- Joachim Raschke, Elmar Wiesendahl und Ralf gionale Verbreitung und der Fortschritt. Im Tils von APOS (Agentur für politische Strate- Großteil der Region fänden kaum Proteste statt gie), der Mitherausgeber des Forschungjour- oder sie würden von den Regimes schnell un- nals Thomas Leif und die Heinrich Böll Stif- terbunden. Während in Tunesien die erste tung luden im Frühjahr 2012 zum 7. Strategie- Transformationsphase erfolgversprechend an- Workshop nach Berlin ein. Zahlreiche Vertre- gelaufen sei, strauchele Ägypten auch nach terinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft mehr als eineinhalb Jahre seit dem Sturz seines und Medien diskutierten über Strategieoptio- Präsidenten. Der Stoßrichtung der Umwäl- nen der fünf im Bundestag vertretenen Partei- zungsprozesse innerhalb der Region sei nach en. Besonderes Interesse fand dabei die Frage wie vor ungewiss. Es bleibe zu hoffen, dass nach der Rolle der Piraten mit ihren Wahler- der hoffnungsvoll begonnene arabische Früh- folgen seit den Berliner Abgeordnetenhauswah- ling nicht in einen tragischen Herbst übergeht. len in 2011. In der „Aktuellen Analyse“ diskutiert Ro- Strategieoptionen und Prognosen mit Blick land Benedicter, Europäischer Stiftungsprofes- auf die Bundestagswahl im Herbst 2013 sind sor für Zeitanalyse und politische Soziologie in aufgeregten Zeiten mit beinahe täglich wech- an der Stanford University, den Begriff des selnden Politikagenden immer schwierig. Wer „Postmaterialismus“ unter veränderten globa- hätte denn etwa nach dem 6. Workshop ge- len Konstellationen. Er plädiert für einen Wan- dacht, dass beim siebten Zusammentreffen die del vom „Postmaterialismus“ zum „Metamate- Piratenpartei überhaupt ein Thema ist? Als rialismus“. Die materiellen Errungenschaften ebenso wenig aussagekräftig müssen die aktu-

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 6 | Editorial ell hohen Popularitätswerte der Bundeskanzle- men Einfluss auf politische Entscheidungen. rin gewertet werden – die im Übrigen keines- Umso dringender muss freilich offen diskutiert wegs mit einer Popularitätssteigerung der ei- werden, wie demokratische Verfahren eben genen Partei oder gar der Regierungskoalition nicht an Gewicht verlieren; warum es eben nicht einhergehen. Nicht minder schwer zu erklären auf eine „marktkonforme“ (Angela Merkel) ist es, dass die SPD partout nicht von der Demokratie hinauslaufen darf. Eine solche schlechten Performance der Regierungskoaliti- Politikagenda, verbunden mit einer selbstbe- on profitiert. Gewiss, die SPD stellt seit ge- wusst formulierten Machtperspektive, wäre von raumer Zeit wieder einige Regierungschefs in einer vitalen Opposition zu erwarten. Die ge- den Bundesländern. Doch wurden nirgendwo sellschaftlichen Rahmenbedingungen sind vor- – Ausnahme: Nordrhein-Westfalen – nennens- handen. Die Union, mit der Bundeskanzlerin werte Stimmenzuwächse erkennbar. Sie profi- als klarer Führungsperson an der Spitze, wird tierte vielmehr vom (noch größeren) Verdruss für 2013 (wie schon 2009 erfolgreich vorge- gegenüber der Union und der FDP. führt) versuchen, keine inhaltlichen Diskussio- Dabei zeigen Untersuchungen immer nen zuzulassen oder sich gar klar zu positio- wieder: Die gesellschaftlichen Bedingungen für nieren. Alles auch im Wissen darum, selbst einen Regierungswechsel sind vorhanden. Folgt immer weiter an Profil zu verlieren und Ent- man der Logik des lagerpolitischen Denkens, täuschungen ehemaliger Stammwähler zu pro- existiert seit 1998 eine linke Mehrheit jenseits vozieren. Frei nach der Devise: Hauptsache des bürgerlichen Lagers. Es ist der SPD seit mehr Stimmen als die SPD, um weiter An- 2005 jedoch nicht gelungen, diese Bedingun- spruch auf das Kanzleramt zu haben. gen mit einer entsprechenden Politik zu nut- Der Sonderschwerpunkt dieser Ausgabe zen und attraktive inhaltliche wie personelle vertieft in diesem skizzierten Kontext strategi- Angebote für die Wahlbevölkerung und po- sche Herausforderungen und Fragen für gro- tentielle Koalitionspartner aufzustellen; schlim- ße wie für kleine Parteien. Joachim Raschke/ mer noch: Es gelang weder 2005 noch 2009, Ralf Tils, Cem Özdemir, Boris Palmer, Gerd das Wählerpotential auszuschöpfen bzw. die Mielke, Oliver Schmolke, Richard Hilmer und eigenen Wähler an die Urne zu bekommen. Sebastian Nerz tun dies auch und vor allem Für 2013 kann dies nur dann gelingen, wenn im Lichte der Erkenntnisse und Diskussionen die Partei sich personell wie inhaltlich so posi- des 7. Strategieworkshops. tioniert, dass eine Alternative zur jetzigen Re- Das Forschungsjournal möchte sich an dieser gierung sichtbar wird. Dies erfordert auch eine Stelle bei den Organisatoren des Workshops und konsequente Oppositionspolitik. Eine – sicher den Autoren für ihre Beteiligung am Sonder- schlechte – alternative Politik wäre, wie eigent- schwerpunkt dieses Heftes herzlich bedanken. lich bisher auch, im Machtmodus der Bundes- kanzlerin mitzumachen. Wohin dies 2009 führ- Peter Kuleßa (Berlin), Thomas Leif (Wies- te, ist klar... baden), Jan Rohwerder (Aachen) Vielleicht ist es ein wenig pathetisch, aber die Menschen warten durchaus auf einen Poli- Literatur tikentwurf, der wieder Begeisterung bei ihnen auslöst; der ihnen aufzeigt, an welcher Stelle Aksoy, Hürcan Asli 2012: Die Türkei im sie in politischen Entscheidungsprozessen di- Nahen Osten: Neujustierung der türkischen rekt teilhaben können; eine Programmatik, die Außenpolitik. In: Bürger im Staat 1/2012, S. keineswegs und immer öfter der undemokrati- 80-87. schen Logik von sogenannter „Alternativlosig- Perthes, Volker 2011: Der Aufstand. Die keit“ folgt. Sicher, die ökonomischen Rahmen- arabische Revolution und ihre Folgen. Bonn: bedingungen haben mehr denn je einen enor- Bundeszentrale für politische Bildung.

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FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 AKTUELLE ANALYSE8 |

Zur Aktualität der Debatte um den „Postmaterialismus“-Begriff

Roland Benedikter

Der „Postmaterialismus“-Begriff wurde in den und Gesellschaftsdebatten der vergangenen 1980er Jahren ausgehend von der amerikani- Jahre fast völlig in den Hintergrund gedrängt, schen Gesellschaftssoziologie als Analysebegriff ja faktisch fast völlig vergessen. Eine Aufar- für Entwicklungen vor allem innerhalb westli- beitung seiner Geschichte und Veränderungen cher Gesellschaften geprägt. In den 1990er zeigt, dass der Begriff des „Postmaterialismus“ Jahren wurde er zum emanzipativen Kampfbe- in der Tat heute für die veränderte globale griff der aufstrebenden Bürgergesellschaften Konstellation neu definiert werden muss. Ich nicht mehr nur im Westen, sondern u.a. auch schlage für diese Neudefinition den zeitgemä- in Asien. In der doppelten Transformation 1. ßeren Begriff des „Matamaterialismus“ vor und von beobachtender (akademischer) Analyse zum versuche dies im Folgenden zu begründen. Engagement für aktive sozio-politische Verän- derung sowie 2. von westlichen zu globalen – 1 | Der „Postmaterialismus“-Begriff meta-zivilisatorischen – Dimensionen und Imp- zwischen Ost und West likationen veränderte sich der Begriff nicht nur selbst, sondern sorgte u.a. auch für eine fol- Im deutschen Sprachraum ist der Begriff des genreiche, bis heute in ihren Effekten und „Postmaterialismus“ bis heute durch die Sinus- Perspektiven weitgehend ungeklärte Spaltung Milieustudie präsent. Trotzdem steht im deut- zwischen linken und bürgerlichen Teilen pro- schen Sprachraum „Postmaterialismus“ heute gressiver sozialer Bürgerbewegungen. nicht mehr an vorderer Stelle der Gesellschafts- Dies zeitigte insbesondere in Asien Auswir- diskussion. Das Verblassen der Debatteninten- kungen, wo der Begriff „Postmaterialismus“ sität im Westen hat seine guten Gründe. Der in den vergangenen Jahrzehnten eine besonde- Begriff lieferte in den 1990er und ersten 2000er re Bedeutung sowohl für die öffentliche politi- Jahren ein angemessenes Analyse- und Darstel- sche Diskussion wie für die Sozialwissenschaf- lungsraster, wirkt heute aber in vielen Aspek- ten erlangt hat. Vor allem durch den Aufstieg ten überholt. Um dies begreiflich zu machen, Chinas, das heute unter Hinweis auf die anhal- müssen wir zunächst folgende Fragen klären: tenden Krisen des Westens seine Nachbarn von Was war und ist unter dem Begriff des „Post- der Nutzlosigkeit von Demokratie und Bür- materialismus“ eigentlich zu verstehen? Wie gerengagement zugunsten eines „weichen“ verhält er sich zum neuen, ihn auf die Gegen- kommunistischen Arrangements zu überzeugen wartsstufe transformierenden Begriff des „Meta- versucht, wird die Diskussion um Aktualität Materialismus“? Und wie zu mutmaßlich an- und Perspektiven des „Postmaterialismus“-Be- grenzenden Begriffen, etwa dem der „kultu- griffs und der mit ihm seit zwei Jahrzehnten rell Kreativen“1? verbundenen Hoffnungen und Ziele basisde- mokratischen Engagements zu einer Aufarbei- 1.1 | Zur Geschichte des Begriffs tung der eigenen gesellschaftlichen Entwick- lung und zu einer Grundsatzdiskussion um die Der Begriff des „Postmaterialismus“ wird in Zukunft. Dagegen wurde der Begriff in den der heutigen Phase globaler Veränderung auf- deutschsprachigen und europäischen Sozial- grund vielfacher Interpretationsvereinnahmun-

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 Zur Aktualität der Debatte um den „Postmaterialismus“-Begriff | 9 gen sowohl von rechts wie links meist in veral- Der „Postmaterialismus“- Begriff konnte sich teten Formen gebraucht; zuweilen auch we- in den 1980er Jahren etablieren. In der akade- gen überholter Gesellschafts-Typologisierungen mischen Welt wurde das Thema immer stärker missverstanden. Um ihn in der heutigen Kon- aktiv rezipiert und nach und nach zum Bestand- stellation zu verstehen, muss man – paradoxer- teil der Erziehung der neuen Generationen seit weise – zunächst seine Geschichte heranziehen. den 1980er/90er Jahren – und zwar nicht nur Der „Postmaterialismus“-Begriff hat im letzten vonseiten Ronald Ingleharts, der der Bewegung Jahrhundert mindestens drei verschiedene Pha- ihren Namen „Postmaterialismus“ (samt den sen durchgemacht. damit bereits behaupteten Signalwerten) gab, Es gab erstens eine Art erste postmaterialis- sondern auch von einer ganzen Reihe anderer tische Strömung bereits zur Jahrhundertwende Denker, die zum Teil „Linke“ waren, zum Teil vor allem in Zentraleuropa. Im Wesentlichen „Liberal-Progressive“. Die entstehende Zivilge- bestand diese aus Künstlern, nach dem 1. Welt- sellschaft seit den 1990er Jahren markierte dann krieg dann aber auch aus anarchistischen Krei- eine weitere Phase der Entwicklung von Begriff sen, welche schon den Begriff „Postmaterialis- und Praxis, die bis heute anhält. Sie brachte mus“ verwendeten. Teile davon sind dann auch eine stärker gemeinwohlorientierte, eher anti- in linke, marxistische Strömungen eingemün- elitäre Haltung und auch ein nicht-marxistisches, det. Das heißt: Es gab schon einen ganz frühen neo-bürgerlich gefärbtes Anti-Establishment-Flair Impuls im 20. Jahrhundert in die Richtung ei- „mit Augenzwinkern“ in den Begriff des „Post- ner nicht mehr rein materialistischen, modernis- materialismus“. tischen Geisteshaltung. Dieser Impuls hatte durchaus den Anspruch, zu einer breiteren Kul- 1.2 | Komplexität des heutigen Begriffs turströmung zu werden. Auch der Nachhaltig- keitsgedanke spielte dabei schon eine gewisse Das Wesentliche im Gesamtüberblick ist, dass Rolle – lange bevor er breiter diskutiert wurde. keiner dieser interpretatorischen Teil-Ansätze Dann kam zweitens die Weimarer Repub- bis heute verschwunden ist. Wir finden all die- lik mit ihrer enormen Polarisierung in nur noch se Strömungen, Ansätze und Verwirklichungs- zwei einander im Kern nicht unähnliche Strö- versuche des Begriffs „Postmaterialismus“ heu- mungen, die beide stark materialistisch ausge- te gleichzeitig neben- und miteinander. Sie alle richtet waren: einerseits Faschismus und koexistieren innerhalb der heutigen, sehr stark andererseits die kommunistisch-sozialistischen in sich ausdifferenzierten „postmaterialisti- Strömungen. Der „Postmaterialismus“-Gedan- schen“ Erscheinungen, Bewegungen und ge- ke spielte außer für die Künstler im inneren sellschaftspolitischen Ansätze, die um diesen und äußeren Exil keine Rolle mehr. Begriff derzeit in sehr verschiedenen Formen Nach dem Ende des 2. Weltkriegs dauerte kreisen. Im Gegensatz zur Meinung vieler „Ver- es in der folgenden kleinbürgerlichen Phase einfacher“, die „Postmaterialismus“ mit einem Zentraleuropas relativ lange, bis dann drittens einzelnen Interpretations-Ansatz identifizieren Anfang der 1970 Jahre, im Gefolge der Ölkri- und diesen für absolut erklären, ist das post- se und aus den Resten der enttäuschten Gene- materialistische Ideengefüge nicht in sich kon- ration der 1960er-Revolution heraus, ein Wie- sistent oder homogen. Es verbindet sehr unter- deraufleben des Gedankens einer nicht mehr schiedliche Dimensionen und Konzepte. Und rein oder jedenfalls „anders“ materialistischen noch wichtiger: Das war immer schon so. Der Gesellschaftsordnung mit progressiven, offenen Begriff des „Postmaterialismus“ hat immer und freiheitlichen Zügen zu konstatieren ist. schon sehr heterogene Strömungen in sich Bis in die 1990er Jahre hinein wurde diese aufgenommen, in sich zu widersprüchlicher Haltung dann nach und nach zu einem etab- Koexistenz gebracht, zum Teil auch in sich lierten Strom in der westlichen Kultur. verbunden.

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 10 | Roland Benedikter

tätskonzepte im Wettbewerb“ gemeint. Damit 1.3 | Eine zum Untergang verurteilte Idee? wird auch der Begriff und die mögliche Praxis Seit dem Aufstieg einer globalen Zivilgesell- von „Postmaterialismus“ aktiv und bewusst trans- schaft mit dem Fall der Berliner Mauer hat nationaler, trans-kultureller, meta-westlich, eine Phase eingesetzt, in der der Postmateria- multi-wertebegründeter. Diese Diskussion wird lismus nicht mehr vorrangig „westlich“ kontu- allerdings weder in den Zivilgesellschaften noch riert bleibt, wie noch in den 1990er Jahren, in der Sozialwissenschaft hionreichend geführt. sondern nun zunehmend konsequent die glo- bale Komponente in sich aufnimmt, und aus 2 | Auswirkungen von „competing ihr heraus lebt. Was sind die zentralen Verän- modernities“ auf den „Postmateria- derungen, mit denen wir es heute im „Postma- lismus“-Begriff terialismus“ zu tun haben? „Postmaterialismus“ war im 20. Jahrhundert Nehmen wir dazu ein Beispiel. Das heutige auf eine bestimmte Entwicklungsphase der China ist in erster Linie eine Zivilisation, die - Moderne im Westen zugeschnitten. Seit Ende weder in ihrer Selbstorganisation noch in ih- der 1990er Jahre findet hier eine entschiedene ren kulturellen Grundlagen – eine Demokratie Erweiterung in einen globalen Horizont hin- ist. China glaubt nicht an Individualität, an ein statt. Zunehmend verlässt die postmateria- Freiheit, an Menschenrechte, an persönliche listische Bewegung die Zentrierung auf eine Selbstverantwortung. Sondern in ihm setzt sich, bestimmte Modernitätsinterpretation durch den zumindest bis auf weiteres, ein kommunisti- Westen. Wir sprechen ja heute mit Martin Jac- sches Modell durch – wenn auch niemand weiß, ques, dem Politikanalytiker der „London School wie lange das angesichts wachsender sozialer of Economics“, von einer Welt der „compe- Ungleichheit noch möglich sein wird. China ting modernities“, das heißt der miteinander hat einen ganz anderen Begriff von einer „gu- in Wettbewerb stehenden Modernitätskonzep- ten Moderne“, einem „guten Leben“ in einer te. Das hat derzeit wohl den größten Einfluss „guten Gesellschaft“ als der demokratische auf das Konzept, die Selbstauffassung und die Westen. Es glaubt an Harmonie, Stabilität, Zukunft des „Postmaterialismus“. Kontinuität, die weit wichtiger sind als Frei- Wir beobachten seit einigen Jahren eine heit und Individualität; und es lehnt Menschen- zunehmend multi-polare Weltordnung unter- rechte ab. Trotzdem ist China modern, ähn- schiedlicher Zivilisationen. Neben der stetigen lich wie der Westen. Weiterentwicklung Europas und Amerikas er- Diese Konstellation, dass sich der Moderni- folgt die Emanzipation anderer großer, geopo- tätsbegriff heute vervielfältigt, dass er aufbricht litischer Räume wie China, Südamerika, das und ganz unterschiedliche Gestalt zwischen den sich zunehmend zusammenschließt, Indien, verschiedenen Mächten in einer globalisierten oder von Teilen Afrikas, aber auch diesbezüg- Welt annimmt, könnte letztlich – und zwar liche Entwicklungsimpulse im Mittleren Os- ironischerweise gegen die Aspirationen der ten mit seinem neuen (wenn auch weiterhin chinesischen Führung selbst! – eher eine Chan- stark von einem neuen „Winter“ wie in Syrien ce denn einen Nachteil für das Konzept des bedrohten) „demokratischen Frühling“. Ver- „Postmaterialismus“ bedeuten. Auch China hat schiedene Zivilisationen, die ganz unterschied- ja „Postmaterialisten“, vor allem in Teilen der liche Vorstellungen haben, was ein gutes Le- Küstenbevölkerung. natürlich mit dem wirt- ben bedeutet, wie menschliche Gesellschaft schaftlichen Wachstum zu tun hat. Der Grund- funktionieren soll, und die alle gleich oder satz: Je mehr der Wohlstand gedeiht, desto ähnlich technologisch und wirtschaftlich ent- mehr „Postmaterialisten“ gibt, gilt auch in wickelt sein werden: Das ist mit dem Begriff China. Aber die chinesischen „Postmaterialis- der „competing modernities“, der „Moderni- ten“ sind nicht in einer christlichen Kultur

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 Zur Aktualität der Debatte um den „Postmaterialismus“-Begriff | 11 beheimatet, sondern in einer konfuzianisch-ta- das darauf reduzieren, dass man sagt: Ich als oistischen. Damit wird der Begriff des „Post- Postmaterialist bin „gegen“ den Materialismus, materialismus“ in der heutigen „multipolaren“ für mich sind andere Werte wichtiger als Geld Konstellation noch vielgestaltiger, findet er und die Annehmlichkeiten eines auf materielle doch mehr Brüche zwischen den dominieren- Errungenschaften ausgerichteten Lebens. Näm- den Gesellschaftsentwürfen weltweit, an denen lich werteorientierte Selbstverwirklichung und er sich reiben, und an denen er in ganz neuen holistisch verstandene Lebensqualität: ein har- Mischformen zwischen Zivilisationsentwürfen monisches Zeitempfinden, eine ausgewogenen gedeihen kann. Seinsweise und ein stressfreier Alltag. Aber der Auf der anderen Seite entsteht heute im Verzicht auf materielle Annehmlichkeiten und Gefolge der wachsenden sozialen Auswirkun- das „Gegen die Materie sein“ kann nicht mehr gen der sechs Jahre Krise gleichzeitig inner- die Essenz eines zukunftsorientierten „Postma- halb des Westens eine konkret reformorientierte terialismus“ sein, wie vielleicht noch in den und zum Teil auch in neuer Weise militante neo-marxistischen Strömungen (mit einigen Generation des „Postmaterialismus“, die unter einflussreichen Theoretikern wie z.B. Calliari dem Eindruck der Wirtschaftskrisen einen enor- und Ruccio) der 1980er und 1990er Jahre. men Aufschwung in der Bevölkerung erlebt. Meines Erachtens war dies eine verkürzte, Damit meine ich nicht nur ein neues „Gegen radikalisierte Sichtweise. Bedenken Sie, dass die Banken und die Macht der Gierigen“ sein, in der Geschichte des Westens im 20. Jahrhun- sondern eine breite Bewusstseinsbildung in der derts „Postmaterialisten“ immer aus der wohl- Bevölkerung im Sinn einer „finanziellen Bil- habenden Mittelschicht kamen – und das ist dung“ und einer grundlegenden Einsicht in bis heute so geblieben. 99% der „Postmateria- gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen listen“ kommen – wie übrigens auch bereits Kapitalismus und Gemeinwohl. Viel mehr Inglehart hervorhob – eben genau aus den Krei- Menschen als noch vor einem Jahrzehnt sind sen, die materiell so gesättigt sind, dass sie aktiv am Verständnis dieser Prozesse interes- sich anderen Dingen zuwenden können, also siert, und zwar nicht theoretisch, sondern ganz aus dem „verwirklichten“ Materialismus. Mit praktisch, aus unmittelbarer Betroffenheit anderen Worten: die „Postmaterialisten“ kom- heraus. Während die chinesischen „Postmateri- men eben gerade nicht aus der Arbeiterklasse alisten“ also weitgehend unpolitisch bleiben, oder den sozial benachteiligten Schichten, sind erlebt der Westen eine neue Politisierung des nicht diejenigen, die ohne Geld und physische „Postmaterialismus“. Und im Spannungsfeld Ausstattung leben. Sondern ganz im Gegen- zwischen diesen Entwicklungen in Ost und teil, sie kommen aus den wohlhabenderen, den West wird das, was „Postmaterialismus“ genannt abgesicherten Schichten. Sie sind diejenigen, wird, insgesamt noch vielfältiger. Die Zunah- die schon etwas erben und die auf einer soli- me an Vielschichtigkeit ist also das prägende den physischen Grundlage einen anderen Le- Merkmal der Entwicklung des „Postmaterialis- bensentwurf entfalten können. mus“ in der Gegenwart. Und insofern wäre es ein großes Missverständ- Der Begriff „Postmaterialismus“ war freilich nis zu glauben, „Postmaterialismus“ sei ein Ab- von Anfang an irreführend. Denn im Grunde lehnen des „Materialismus“. Das genaue Gegen- legt das vom amerikanischen Soziologen Ro- teil ist der Fall: „Postmaterialismus“ bedeutet: nald Inglehart geprägte Wort „Postmaterialis- Ich versuche, das, was an materiellen Errungen- mus“ nahe, dass es sich um eine Strömung schaften bereits da ist – sei es in Gestalt des handelt, die über den Materialismus in ein Kapitals, sei es in Gestalt der Produktionsmittel, „Nach dem Materialismus“ hinaus will. In ei- sei es in Gestalt der Arbeitskraft, sei es in Ge- ner primitivem Sichtweise, mit einer naiv-rea- stalt auch von Lebensstilen – besser, gemeinnüt- listischen Anwendung des Ausdrucks kann sich ziger, nachhaltiger zu nutzen und zu gestalten.

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Das ist vorwärtsgewandter „Postmaterialismus“ men „99% Movement“ und „Occupy Wall – nicht das Zurückweisen des Materialismus, das Street Movement“ manifestiert. Es lebt tau- einen regressiven Impuls in sich trägt. sendfach in der Studentenschaft, in der eman- zipativen Dimension der Bürgergesellschaft, in den Protestbewegungen, die z.T. aus den 3 | Vom „Postmaterialismus“ zum 1960er Jahren übriggeblieben sind und jetzt „Metamaterialismus“ in der Umbruchssituation Amerikas ein „Revi- Wir müssen den Begriff des „Postmaterialismus“ val“ erleben. Diese Menschen in Amerika wol- heute neu und präziser fassen, wenn wir wollen, len keineswegs den Kapitalismus beenden, son- dass er unter stark veränderten Zeitbedingungen dern ihn besser handhaben. Die gleiche Ten- eine Zukunft haben kann. Ein besserer Begriff denz wird sichtbar in den alternativen Wirt- wäre meiner Meinung nach für die heutige Kon- schaftsströmungen, in den neuen, kommunita- stellation und für das, was wir für die kommen- rischen Ansätzen gerade in Nordkalifornien. den Jahre anstreben sollten: „Meta-Materialismus“. Dort sagt man sich: Wir müssen wieder zu Ingleharts Begriff des „Postmaterialismus“ war mehr lokaler Selbstverwaltung und Selbstbe- von Anfang an ein Widerspruch in sich, weil wirtschaftung zurück und eine Balance schaf- Postmaterialismus nur sein kann, wenn ein aus- fen zwischen Globalisierung und Lokalem, reichendes Ausmaß an materialistischer Sättigung zwischen Wert und Profit, zwischen Mensch- bereits da ist. Eigentlich meinte er daher im Grun- lichkeit und materiellem Wohlstand. Es geht de bereits von Anfang an „Meta-Materialismus“: nicht darum, einen dieser beiden Pole zurück- Materialismus ja, denn ich will meinen Wohl- zuweisen; sondern darum, beide in ein vernünf- stand ja behalten und wäre verrückt, ihn aufzu- tiges, produktives, menschlich förderndes Ver- geben. Aber ich will ihn und seine Grundlagen hältnis zueinander zu setzen. Eben deshalb anders gebrauchen, mich anders zu ihnen und sollten wir eher von „Metamaterialismus“ als zur Gemeinschaft stellen. „Meta-Materialismus“ von „Postmaterialismus“ sprechen, wenn wir heißt: Das Ich will nicht vom Materialismus weg, die sinnvoll fortschrittliche Variante meinen, sondern stellt sich ihm. Aber das Ich ist dabei nicht die plump ablehnende und darin der Souverän, dem der Materialismus dient – nicht rückwärtsgewandte, die es, in stark träumeri- umgekehrt. Kurz in einen Begriffswandel gefasst: schen, unrealistischen und abgehobenen For- Nicht Konsum, sondern Gebrauch der Materie men, natürlich auch gibt. für menschliche Ziele, aus einer übergeordneten „Post“- oder besser: „Meta“-materialistische Position heraus. Das ist mit „Metamaterialismus“ Werte stehen im Gegensatz zu der falschen gemeint. Nicht „Postmaterialismus“, weil es nicht Gebrauchsform des Kapitalismus, zu seiner darum geht, den Kapitalismus zu überwinden menschenverachtenden, ja inhumanen Hand- oder hinter uns zu lassen. Sondern es geht um habe, die die letzten Jahrzehnte des „Neolibe- einen umfassenderen Blickwinkel auf ihn. Das ralismus“ gekennzeichnet hat – nicht aber zum ist eine ganz andere Haltung zur Welt. Sie zielt Kapitalismus an sich. Es geht darum, eine ge- nicht auf ein Ende des Kapitalismus hin, sondern sellschaftliche Möglichkeit konkret werden zu auf einen neuen, nachhaltigeren, gemeinnützige- lassen, die das Materielle ausbalanciert mit ren, menschenverstandsgeleiteteren Kapitalismus, anderen Errungenschaften des Humanen wie etwa im Sozialen Bankwesen, wie es etwa die zum Beispiel einem sinnerfüllten Leben. GLS Bank praktiziert. Weitere Beispiele sind heute ebenso zahl- 4 | Emanzipation statt Protest reich. Wer zum Beispiel in Kalifornien am heu- te global „aufsteigenden“ Pazifik lebt, erlebt Postmaterialismus – gerade in der nun nötigen jeden Tag die massive Universalpräsenz eines Ausprägung als Metamaterialismus – ist keine Gedankenguts, das sich heute unter den Na- Protestbewegung, sondern eine Emanzipations-

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 Zur Aktualität der Debatte um den „Postmaterialismus“-Begriff | 13 bewegung. Es ist keine Bewegung der Ableh- Osten. Die Sinus-Milieustudie bezeichnet für nung und Zerstörung, sondern es ist der Ver- die heutige junge Generation im deutschen such, etwas, was besteht, als gut anzuerken- Sprachbereich drei Leitmilieus: Die „Modern nen, aber über den heutigen Stand hinaus zu Performer“, die durch ihre pragmatische und bringen. Und genau an diesem Punkt deckt am Erfolg orientierte Lebenseinstellung ge- sich ein großer Teil der aktuellen „Metamate- kennzeichnet sind – und von dieser Grundten- rialismus-Bewegungen“ zum Beispiel mit den denz her auch mit den weiterlebenden Resten Sichtweisen der Träger des Alternativen No- der neoliberalen Strömung in Verbindung ge- belpreises, des „Right Liveliehood Award“. Die bracht werden können. Dann die „Postmateri- wollen ja auch nicht hinter das Errungene zu- alisten“. Und schließlich drittens die „Experi- rückfallen, sondern es auf ein neues Niveau mentalisten“, welche sich durch Kreativität und heben. Genau so wie etwa der Berater der chi- die ewige Suche nach Neuem, noch nie zuvor nesischen Regierung Ernst Ulrich von Weizsä- Erlebten auszeichnen. Wie erklärt es sich, dass cker oder die emanzipative Globalisierungsbe- in den neueren Erhebungen der Sinus-Milieu- wegung im Nachhaltigkeitsbereich. studie das Milieu der „Postmaterialisten“ mit Mein Freund und Mentor Ernst Ulrich von 10% eher schwach zur Erscheinung kommt, Weizsäcker zum Beispiel hat den zwölften Fünf- wenn wir das bisher Gesagte in Betracht zie- jahresplan der chinesischen Regierung, der im hen? Nicht nur, aber auch, weil man immer März 2011 beschlossen wurde, maßgeblich noch nach „Postmaterialisten“ statt nach „Me- mitbestimmt. Da wirken sich „metamaterialis- tamaterialisten“ sucht. Mit dem Begriff „Post- tische“ Dimensionen stark aus. Etwa in der materialismus“ findet man heute meist die pro- Tatsache, dass China seine Steuergesetzgebung testorientierten Verweigerer; mit dem des und auch seine technologischen Produktivitäts- „Metamaterialismus“ könnte eine viel breitere grundlagen sehr weitgehend auf eine nachhal- und wichtigere Vernunfthaltung in der Gesell- tige und ökologische Grundlage stellen will. schaft festgestellt werden. So möchte China von bisher traditionellen Das vorausgesetzt kann man die Widersprü- Energien auf erneuerbare Energien umsteigen. che besser verstehen, die in neueren Studien Wobei darin ja auch eine Art „Immaterialis- und Erhebungen zur Lage des „Postmaterialis- mus“ liegt, wenn man sich vom Schweröl weg- mus“ unweigerlich auftauchen. Gerade junge bewegt etwa auf Sonnenenergie hin. Hier lie- Leute heute im Westen wachsen – allein schon gen für die Gegenwart neue, trans-kulturelle, durch die Omnipräsenz der Bildmedien – in ei- nicht-ideologische, vielleicht sogar „schleichen- ner materialistischen Kultur auf. Durch diese de“ Entwicklungspotentiale für einen angewand- Gegebenheit ist es aber eben auch viel leichter ten „Metamaterialismus“. Dieser ist pragmati- zu sagen: „Gerade weil dieses rein materielle scher und pro-aktiver, konstruktiver als seine Prinzip schon da ist, richte ich mein Hauptau- Vorgänger-Begriffe und -Praktiken des „Post- genmerk jetzt auf andere Werte.“ D.h. auf „Spi- materialismus“. Und also solche kann die da- ritualität“, auf „Kommunität“, auf „Gemein- mit verbundene Haltung zu einem neuen, ein- schaftsbildung“, auf eine globale Verantwortung flussreichen Faktor der Globalisierung werden. Schauen wir uns dazu die heutigen Studen- tengenerationen an, und vergleichen wir sie zwischen Kontinentaleuropa, England und den 5 | „Metamaterialismus“ und die junge USA. Bei fast durchgängig allen, die heute Generation studieren – und wir müssen ja leider sagen, das Der zentrale Ansatzpunkt, wo dies wirksam sind vielfach nur noch diejenigen, die es sich werden kann, ist – wie immer in der Geschich- leisten können –, ist zunehmend eine „meta- te des „Postmaterialismus“ – vorrangig die jun- materialistische Geisteshaltung“ ausgeprägt, so gen Generationen sowohl im Westen wie im stark wie noch nie. Weil die neuen Generatio-

FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 25. Jg. 3 | 2012 14 | Roland Benedikter nen ein viel umfassenderes und komplexeres dern für einen großen Teil der Jugend ist es Qualitätskonzept, Qualitätsempfinden und wichtig, die Welt kennen z