<<

SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt (2)

Mit Michael Struck-Schloen

Sendung: 10. April 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?

Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 09. April – 13. April 2018 Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt 2. Die Alten regieren ‒ die Jungen gehen auf die Straße

Willkommen zu: „Blumen und Pflastersteine“ ‒ Musik von und um 1968, als sich die Welt verjüngte. Im Studio ist Michael Struck-Schloen.

Gestern habe ich überlegt, was eigentlich zur Revolte von 1968 geführt haben könnte ‒ und bin auf Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen in den USA gestoßen, auf Arbeiterproteste in Italien, den weltweiten Aufschrei gegen den Vietnamkrieg und die unbewältigte Vergangenheit.

All dies hat die Studentenbewegung in Deutschland geprägt, um die es heute geht. Aber es gab auch in der Musik die eine oder andere Revolution ‒ und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Beatles dabei besonders radikal vorgingen.

MUSIK 1 //George Harrison 2‘20 Revolution 9 Collage (EMI 746443-2, LC 00542)

Revolution 9 ‒ eine Klangcollage, die John Lennon, Yoko Ono und George Harrison Ende 1968 im Londoner EMI-Studio zusammengebastelt haben. Es ist das radikalste Stück der Beatles überhaupt, in dem man sich vor den verehrten Kollegen vom Avantgarde-Fach, Karlheinz Stockhausen und Edgard Varèse, verneigte ‒ und zugleich alle Zutaten einrührte, die man damals mit 1968 verband: Revolte, Dynamik, Chaos, Jugend, Sturz des Establishments und ‒ ja natürlich! ‒ neue Romantik.

Die Klangcollage findet sich etwas verschämt am Ende des so genannten White Album der Beatles, denn eigentlich war sie nur ein experimentelles Abfallprodukt von John Lennons Song Revolution, der die aufgeheizte Atmosphäre der Zeit aufnahm:

2

„You say you want a revolution / Well, you know / We all want to change the world“ ‒ zu Deutsch etwa: „Ihr sagt, ihr wollt eine Revolution / bitte, ihr wisst ja / wir alle wollen die Welt verändern“.

Das klang schon mal ziemlich aufmüpfig und ganz am Pulsschlag der Zeit. Allerdings liest sich die Fortsetzung des Textes dann etwas verhaltener. Ihr wollt Zerstörung? Ohne mich. Ihr wollt meinen Einsatz? Jeder tut doch schon, was er kann. Ihr wollte Geld für Leute, die ihren Hass oder ein Bild des Vorsitzenden Mao vor sich hertragen? Dafür werdet ihr niemanden finden.

So etwa der Kern der Aussage von John Lennon im Sommer 1968. Der Maiaufstand in Paris, der Vietnamkrieg und die Ermordung von Martin Luther King hatten Berlin hatten auch die Beatles politisch aufgerüttelt. Allerdings waren sie mit ihren Frauen gerade in Indien beim Guru Maharishi Mahesh Yogi gewesen, um zu meditieren, sexuelles Glück und Friedfertigkeit zu praktizieren. Da war selbst Lennon, der sich später am entschiedensten politisierte, nicht aufgelegt, seinem jungen Publikum Gewalt zu predigen.

In der Aussage bleibt Revolution denn auch mäßigend ‒ was ihm manche Fans als Opportunismus, die Linken aber als klaren Verrat an der revolutionären Sache angekreidet haben. Verstehen kann man es vor allem, wenn man die erste Version des Liedes mit seinem gemächlichen Tempo, dem sanften „Schubiduah“ und noch ohne die berühmten verzerrten E-Gitarren hört. Sonderlich aufrührerisch klingt das nicht.

MUSIK 2 John Lennon 3‘55 Revolution (erste Version) The Beatles (EMI 746443-2, LC 00542)

John Lennons Revolutionslied in der ersten, gemütlichen Version fürs White Album. Später hat Lennon in der Single-Fassung das Tempo gehörig aufgedreht ‒ aber das half auch nichts mehr gegen die Enttäuschung, die das Idol einer ganzen Jugend vor

3

allem den linken unter seinen Fans bereitete. Weil sich Lennon hier klar gegen radikale Veränderung, notfalls mit Gewalt, wandte, wollten die meisten aus der Neue Linken mit den Beatles nichts mehr zu tun haben. Die Zeile „you can count me out ‒ ihr könnt nicht auf mich zählen“ wirkte wie ein böser Dämpfer für den revolutionären Überschwang, der vor allem in Europa auf den Straßen herrschte.

Die Debatte über den Song Revolution war typisch für die Situation der Popgruppen in der Zeit der Revolte und der gesellschaftlichen Veränderungen. Man erwartete von ihnen Protest gegen Kapitalismus, Krieg, Unterdrückung in der Dritten Welt und gegen das Establishment. Die wenigsten allerdings waren bereit dazu: Sie waren überfordert, wollten sich nicht für eine bestimmte politische Haltung in Dienst nehmen lassen ‒ oft hatten Sie auch keine eindeutige und waren Teil eines kommerziellen Systems, dessen Grundlagen man nicht ungestraft kritisierte. Ein Rebell der Poesie wie Bob Dylan zog sich da genauso zurück wie ein Rebell der harten Rockklänge à la , der einmal behauptet hat, er „rebelliere gegen gar nichts“. Mit der roten Fahne traten jedenfalls nur wenige Popstars auf die Bühne.

Keine Probleme mit klaren politischen Stellungnahmen hatten die, die nicht in einem globalen Netz der Vermarktung zappelten ‒ zum Beispiel die „Liedermacher“, wie man die typisch deutsche Variante der Singer-Songwriter à la Dylan oder Pete Seeger getauft hatte. Einer von ihnen war Hanns Dieter Hüsch aus Moers ‒ der Barde vom Niederrhein, der mit seinen lakonischen Versen tief ins Fleisch der Gesellschaft schnitt, vor allem der spießigen. In seiner Ballade mit dem Titel Reihenfolge beschrieb Hüsch im Jahr 1968, wie einer zum braven Staatsbürger herangezogen wurde ‒ bis zum bitteren Ende.

MUSIK 3 Hanns Dieter Hüsch 3‘25 Reihenfolge Hanns Dieter Hüsch (Gesang & Klavier) (WDR 6072713101)

Hanns Dieter Hüsch sang auf seine unterschwellig brodelnde Art sein Lied von der Reihenfolge ‒ gemeint war die stereotype Abfolge der Lebensstationen im

4

Obrigkeitsstaat, die jetzt, im Jahr 1968, keiner mehr wollte. Allerdings hat man Hüsch das künstlerische Engagement für Veränderungen in der Jugendrevolte übel gelohnt: Weil man die eher zurückhaltende Art seiner Poesie und Musik als kleinbürgerlichen Kitsch verdammte, wurde sein Auftritt 1968 beim Liederfestival auf Burg Waldeck von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS gestört und Hüsch gezwungen, sich vor einem Tribunal für seine Texte zu verteidigen ‒ eine herbe Enttäuschung für den Niederrheiner, die zum Bruch mit der 68er-Bewegung führte.

Spätestens um die Mitte der sechziger Jahre hatte sich die Jugend in Deutschland politisiert ‒ und der SDS hatte daran entscheidenden Anteil. Ursprünglich war der Studentenbund der SPD angeschlossen, Helmut Schmidt war einmal sein Vorsitzender. Dann aber wurden die Studenten der Mutterpartei zu radikal, und man trennte sich. Während die SPD sich von Marxismus lossagte und sich zur Westbindung bekannte, hielt der SDS die rote Fahne der Marxisten-Leninisten hoch und erklärte sich selbst nach amerikanischem Vorbild zur „Neuen Linken“.

Die SDSler wurden dabei durchaus von Sympathien der Künstler und Schriftsteller getragen, die eine Reform der Bundesrepublik forderten, darunter Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser. Philosophisch-soziologisch wurde die Reform inspiriert vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, an dem Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lehrten ‒ zwei charismatische Forscher, die aus ihrer anfänglich radikalen Kritik an Faschismus und Kapitalismus ein kritisches, aber durchaus auch pragmatisches Verhältnis zur bürgerlichen Demokratie entwickelt hatten.

Für Horkheimer und Adorno waren die Erfahrungen von Nationalsozialismus, Krieg und Exil zentral; demokratische Handeln war wesentlich mit dem Bewusstsein für die Fehler der Vergangenheit verbunden.

Typisch für diese Haltung sind zwei Lieder, die Adorno, der Kompositionsschüler von Alban Berg, 1943 nach Gedichten von Bertolt Brecht komponiert hat.

5

MUSIK 4 Theodor W. Adorno 2‘00 Zwei Propagandagedichte (T: Bertolt Brecht) 1) Brecht 2) Das Lied von der Stange Frieder Lang (Tenor) Christian de Bruyn (Klavier) (WDR 6023383106)

Das waren Zwei Propagandagedichte nach Texten von Bertolt Brecht, komponiert 1943 von Theodor W. Adorno. Der Tenor Frieder Lang wurde am Klavier begleitet von Christian de Bruyn.

Adorno selbst, der in den späten 1960er Jahren Tausende von Studierenden in seine Vorlesungen zog, dürfte klar gewesen sein, dass die traditionelle Form des politischen Kampfliedes wie im Lied von der Stange damals ziemlich altmodisch wirkte ‒ und dass auch die politischen Veränderungen der Zeit mit moderneren Klängen einhergehen müssten. Dieser Ansicht aber waren keineswegs alle ‒ und so entbrannte um die wahre Art und Weise politischer Musik eine letztlich ungelöste Debatte.

Er könne mit Linken nicht über Musik diskutieren, hat etwa Mauricio Kagel damals bekannt ‒ und es dann auch lieber gelassen und seine politische Musik nie unter der Fahne irgendeiner Gruppierung segeln lassen. Luigi Nono redete zwar gern mit Linken in aller Welt über die revolutionäre Musik ‒ allerding kam auch für ihn nur eine avancierte politische Musik mit neuesten musikalischen Techniken in Frage, die er für ehrlicher und wirksamer hielt als die alten Kampflieder.

So dachten freilich nicht alle Kollegen. Der Engländer Cornelius Cardew, hat sich früh aus dem Schatten seines Mentors Karlheinz Stockhausen gelöst, den er öffentlich als Imperialisten brandmarkte, und sich auf die Suche nach einer sozialistischen Musik begeben. Cardew war Mitbegründer von Improvisationsgruppen und wollte durch Stücke wie Das große Lernen nach Texten des Konfuzius das verantwortliche soziale Handeln fördern. Zu Beginn der siebziger

6

Jahre, als er sich ganz in den Dienst der Kommunistischen Partei Englands und der maoistischen „Revolutionären Kommunisten“ stellte, entdeckte Cornelius Cardew aber auch das alte Kampflied der zwanziger und dreißiger Jahre wieder. Das bekannte Thälmann-Lied hat er 1974 für Klavier variiert; Frederic Rzewski spielt den Beginn.

MUSIK 5 Cornelius Cardew 5‘20 Thälmann Variations Frederic Rzewski (Klavier) (WDR 6021857107)

Der Beginn der Variationen über das Thälmann-Lied vom Engländer Cornelius Cardew, ein Werk aus seiner politisierten Phase seit Beginn der siebziger Jahre. Es spielte Frederic Rzewski.

Sie hören die SWR 2 Musikstunde, heute über das Jahr 1968 und seine Folgen für die Musik. Als „Politromantik“ könnte man wohl die eben gehörte Musik wohl beschreiben, die sich an die alten Melodien hängt, um die Weltrevolution durchzusetzen. Allerdings waren die Verhältnisse in den sechziger Jahren schon weitaus komplizierter, als dass man ihr mit alten Massenliedern beigekommen wäre. Im Jahr 1966 war die SPD erstmals in der Nachkriegs-Bundesrepublik an die Macht gekommen ‒ in der Großen Koalition des Kabinetts von Kurt Georg Kiesinger, in dem Willy Brandt die Ämter des Vizekanzlers und Außenministers bekleidete. Dass hier mit Kiesinger ein ehemaliges Mitglied der NSDAP und mit Brandt ein Flüchtling aus Nazi-Deutschland zusammenkamen, machte die politische Kluft deutlich, welche die Vergangenheit zwischen Tätern und Widerstandskämpfern, alten Eliten und jungen Reformern aufriss.

Das Jahr 1966 war die Zeit, in der die Außerparlamentarische Opposition durch den evangelischen Christen und charismatischen Redner Rudi Dutschke ihre wichtigste Stimme und ein in allen Medien verbreitetes Gesicht bekam. Dutschke und die APO protestierten gegen die geplanten Notstandsgesetze, setzten sich für die

7

demokratische Reform der Hochschulen ein und organisierten Protestveranstaltungen gegen den Einsatz der USA im Vietnamkrieg ‒ darunter den so genannten Vietnam-Kongress im Februar 1968, auf dem Dutschke für die direkte Aktion plädierte.

Die Geschwindigkeit, mit der die Bewegung vor allem die Jugend radikalisierte, ließ nicht nur den regierenden Eliten schwindeln, sondern auch die Künstler, die sich entscheiden mussten. Einer, der sich gegen seinen bisherigen Weg und für eine grundlegende Reform der Gesellschaft entschied, lebte schon seit anderthalb Jahrzehnten in Italien, hatte aber die Verhältnisse in Deutschland, vor denen er einst geflohen war, genau beobachtet: Hans Werner Henze. In seiner Autobiografie hat er gut drei Jahrzehnte später beschrieben, was ihn aus dem sonnigen Italien am Ende doch ins graue Westberlin trieb. „Ich bemerkte“ so schrieb Henze, „dass von Seiten der Jugend, der nationalen und internationalen Intelligenz, Fragen gestellt wurden und vieles in Frage gestellt, von den bürgerlichen Auffassungen von Kinderstube und moderner Erziehung bis zur Unfehlbarkeit, zu Unantastbarkeit der Lehrerschaft in den Schulen und Universitäten; von der väterlichen Persilscheinpsychologie bis hin zum Rassismus ebendieser denkfaulen, aber geschäftig fleißigen Väter, von der sexuellen Unterdrückung bis hin zum System der parlamentarischen Demokratie.“

MUSIK 6 Hans Werner Henze 3‘08 Voices 3) Keiner oder alle (T: Bertolt Brecht) Frieder Lang (Tenor) musikFabrik Ltg. Johannes Kalitzke (cpo 999192-2, LC 08492)

„Keiner oder alle“, Bertolt Brechts Aufruf zur Solidarität unter den Geknechteten und Entrechteten dieser Welt aus dem Jahr 1934. Gut vier Jahrzehnte später hat Hans Werner Henze den Text in seinem Liederzyklus Voices vertont ‒ im Songstil der zwanziger und dreißiger Jahre, der zur Zeit der Achtundsechziger-Bewegung durchaus eine Renaissance erfuhr.

8

Am 2. Juni 1967 gab es in Westberlin eine Massendemonstration gegen den Besuch der Schahs von Persien, es kam zu provozierten Ausschreitungen, der schaurige Höhepunkt des Tages war der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der vom Polizisten und Stasi-Mitarbeiter Karl-Heinz Kurras offenbar vorsätzlich erschossen wurde. Bei nächster Gelegenheit kam Hans Werner Henze nach Berlin und informierte sich über die Situation. Er lernte Aktivisten des SDS, darunter Rudi Dutschke kennen, mit dem er sich anfreundete, diskutierte mit Schriftstellern wie Gastón Salvatore oder Hans Magnus Enzensberger, der ihm später Texte zum Vertonen schrieb.

Und er überlegte, wie seine eigene Kunst auf die Veränderungen reagieren könne. „Luigi Nono“, so lesen wir in Henzes Memoiren, „der Gigi fand, es sei an der Zeit, dass statt dieser Slogans, die wir da riefen, egal ob improvisiert oder abgedroschen, neue Lieder aus den Kehlen der Tausenden ertönten, von revolutionären Künstlern erdichtet und vertont. Ja, sagte ich, neue Lieder, schön wär’s, aber wo bleibt dann das Spontane, und wer schreibt diese Noten, wer bringt sie an den Mann? Wer? Wer ist sich nicht zu gut, wer hat die Qualität, die notwendig volksnahen Texte dazu zu schreiben? Warum ist das nicht geschehen? Warum hat die Avantgarde versäumt, sich hier an diesem Schauplatz einzustellen?“

Eine zeitgenössische revolutionäre Musik ohne Sentimentalität, auf dichterisch hochstehende Texte und dennoch volksnah und nicht abgehoben im Elfenbeinturm der Avantgarde ‒ war das eine realistische Forderung? Oder war es nicht ehrlicher, wenn jeder auf seinem Gebiet, in seinem musikalischen Genre die Forderung nach Veränderungen formulierte? Mit diesem Zwiespalt haben sich viele Komponistinnen und Komponisten um und nach 1968 auseinandergesetzt. Eier von ihnen war Nicolaus A. Huber, der Ende der sechziger Jahre ins Ruhrgebiet kam und sich dort für die Arbeiter- und Gewerkschaftskultur stark machte.

Auch in Hubers Stück Banlieue ‒ Schauplätze der Revolution greift er auf das alte Massenlied und den Song zurück, der sofort den Arbeiterkampf der Vorkriegszeit heraufbeschwört. Die politische Stoßrichtung zielt aber auf die Verhältnisse im Entstehungsjahr 1974 ‒ auf den Radikalenerlass und die Beschneidung demokratischer Grundrechte.

9

MUSIK 7 Nicolaus A. Huber 1‘56 Banlieue ‒ Schauplätze der Revolution Ausschnitt: „Ja, wie weiß ist dein Kragen …“ Reinhold Ohngemach (Stimme) Hans Gräf (Gitarre) Pál Keló (Schlagzeug) (WDR 6076834106)

Ein Ausschnitt aus dem Ensemblestück Banlieue ‒ Schauplätze der Revolution von Nicolaus A. Huber, komponiert im Jahr 1974.

Hubers Stück, so plakativ es in seinem Kampfruf „Nur Solidarität macht stark“ auch wirkt, ist der Versuch, Techniken der musikalischen Avantgarde mit linker Agitpropmusik und dem Arbeitertheater der Zeit zu verbinden. Das hat Huber in den siebziger Jahren mehr Gegner als Freunde eingebracht ‒ war aber immerhin der Versuch, eine gemeinsame Kommunikationsebene mit denen herzustellen, die Huber ansprechen wollte. Der Unterschied zur heißen Phase der deutschen Studentenrevolte von 1968 war, dass damals die Arbeiter und kleinen Angestellten zwar im Ruf nach radikalen Reformen mitgemeint waren, aber in den Formen der öffentlichen „Performance“, die sich damals entwickelten, fast keine Rolle spielten ‒ anders als etwa in Italien, wo es eine viel größere Solidarität zwischen Gewerkschaften und Studenten gab.

Hans Werner Henzes Forderung nach einer revolutionären Musik aus den Reihen der Avantgarde, die alle erreichte, blieb also vorerst eine Utopie ‒ was auch daran lag, dass die Jugend wenig Neigung zeigte, sich den dissonanten Werken eines Henze oder Nono hinzugeben, sondern die Pop- und Rockmusik, vor allem die aus den USA bevorzugte. Und die hatte nicht nur durch das Protestlied gegen die Diskriminierung der Schwarzen oder den Vietnamkrieg auch in Europa Auftrieb bekommen. Auch die Hippie- und Flowerpower-Bewegung mit dem magischen Zentrum San Francisco, das damals auch viele Europäer aufsuchten, übte den Reiz der verbotenen Freiheit auf die Bürgersöhne und -töchter in Deutschland aus. Der

10

englische Rocksänger Eric Burdon setzte dem „Summer of Love“ von 1967 und den Nächten von San Francisco ein musikalisches Denkmal.

MUSIK 8 Eric Burdon 3‘20 San Franciscan Nights Eric Burdon & The Animals (CBS 465784-2, LC 00149)

Eric Burdon besingt den neuen amerikanischen Traum, wie er von den Hippies in Haight-Ashbury, einem Stadtteil von San Francisco, vorgelebt wurde. Es ist der Traum vom Ende des Hasses und von der Liebe, die Alt und Jung verbindet, von der Wärme des kalifornischen Klimas und der Sympathie, die alle für alle haben ‒ nicht zuletzt unter dem Einfluss enthemmender Drogen.

Haight-Ashbury stand für den Ausstieg aus verkrusteten bürgerlichen Verhältnissen, in denen Abgrenzung und Karriere die zentralen Themen waren. Dagegen setzten die Hippies neue Lebensformen ohne kapitalistische Zwänge, eine freie Sexualität, ein Aufwachsen der Kinder ohne Zwang, fantasievolle Mode. In den Kommunen von San Francisco wurde das Experiment zur sozialen Praxis ‒ und das Beispiel machte auch in Mitteleuropa Schule.

In der Überzeugung, dass die klassische Kleinfamilie am Ende sei und ein Hort des Faschismus und der Unfreiheit, gründeten Legenden der linken Anarchoszene wie Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und andere die „“. Sie sorgte in ihrer kurzen Existenz mit ihrem Grundsatz „Das Private ist politisch, das Politische privat“ für ständige mediale Unterhaltung in der spießigen Bundesrepublik ‒ vor allem, als neben den hauseigenen Happenings immer mehr Sex und Drogen eine Rolle spielten und mit Rainer Langhans und Uschi Obermaier das „schönste Paar der APO“ für die Kommune warb.

Das Pendant zur „Kommune 1“ im Musikbetrieb war die Rockgruppe „Amon Düül“, die aus einer Münchner Künstlerkommune hervorging und sich bald schon in eine Gruppe mit reinen Laienmusikern und die Formation „Amon Düül II“ mit halbwegs

11

professionellem Spielstandard spaltete. Beide Gruppen zählten zu den ersten Protagonisten des „Krautrock“ ‒ was von den Namensfindern halb mitleidig, halb anerkennend gemeint war. Und tatsächlich bewegt sich die Musik nicht unoriginell zwischen psychedelischen Klängen und Anspielungen auf biblische Katastrophen ‒ hier ein Ausschnitt aus Phallus Dei, der ersten LP von „Amon Düül II“.

MUSIK 9 Amon Düül 4‘00 Freakout Requiem III Amon Düül II (Gammarock Records 83807, LC 04385)

Freakout Requiem, ein Titel aus der Debütplatte der Krautrock-Band „Amon Düül II“ von 1969.

Die Hippies und Bewohner der Kommunen waren für ernsthafte Komponisten der Jahre um 1968 als soziales Modell und Kunstgegenstand vielleicht weniger attraktiv als die Revolutionäre und Steinewerfer. Andererseits hat auch Hans Werner Henze in seinem schon angespielten Zyklus Voices, der sich mit Phänomenen der Achtundsechziger beschäftigt, den Blumenkindern einen Song gewidmet. Es ist die letzte und längste Nummer mit dem Titel Das Blumenfest: Henzes alter Freund Hans Magnus Enzensberger hatte dafür eine altes aztekisches Ritual, das im Codex florentinus aus dem 16. Jahrhunderts überliefert ist, frei ins Deutsche übersetzt. Und Henze hat sich mit friedfertigen Harmonien und süßlichen Farben wie der Lotosflöte nicht zurückgehalten.

Es ist ein etwas ironischer, aber gar nicht lächerlicher, vielleicht sogar ein bisschen utopischer Kommentar zu den Blumenkindern, die sich so naiv und doch nachhaltig gegen die eisernen Nachkriegsaufrüstungen in sozialer Hinsicht zur Wehr gesetzt haben.

12

MUSIK 10 Hans Werner Henze 3‘58 Voices 22) Das Blumenfest (T: Hans Magnus Enzensberg) Gudrun Pelker (Sopran) Frieder Lang (Tenor) musikFabrik Ltg. Johannes Kalitzke (cpo 999192-2, LC 08492)

13