SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt (2) Mit Michael Struck-Schloen Sendung: 10. April 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 09. April – 13. April 2018 Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt 2. Die Alten regieren ‒ die Jungen gehen auf die Straße Willkommen zu: „Blumen und Pflastersteine“ ‒ Musik von und um 1968, als sich die Welt verjüngte. Im Studio ist Michael Struck-Schloen. Gestern habe ich überlegt, was eigentlich zur Revolte von 1968 geführt haben könnte ‒ und bin auf Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen in den USA gestoßen, auf Arbeiterproteste in Italien, den weltweiten Aufschrei gegen den Vietnamkrieg und die unbewältigte Vergangenheit. All dies hat die Studentenbewegung in Deutschland geprägt, um die es heute geht. Aber es gab auch in der Musik die eine oder andere Revolution ‒ und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Beatles dabei besonders radikal vorgingen. MUSIK 1 John Lennon/Yoko Ono/George Harrison 2‘20 Revolution 9 Collage (EMI 746443-2, LC 00542) Revolution 9 ‒ eine Klangcollage, die John Lennon, Yoko Ono und George Harrison Ende 1968 im Londoner EMI-Studio zusammengebastelt haben. Es ist das radikalste Stück der Beatles überhaupt, in dem man sich vor den verehrten Kollegen vom Avantgarde-Fach, Karlheinz Stockhausen und Edgard Varèse, verneigte ‒ und zugleich alle Zutaten einrührte, die man damals mit 1968 verband: Revolte, Dynamik, Chaos, Jugend, Sturz des Establishments und ‒ ja natürlich! ‒ neue Romantik. Die Klangcollage findet sich etwas verschämt am Ende des so genannten White Album der Beatles, denn eigentlich war sie nur ein experimentelles Abfallprodukt von John Lennons Song Revolution, der die aufgeheizte Atmosphäre der Zeit aufnahm: 2 „You say you want a revolution / Well, you know / We all want to change the world“ ‒ zu Deutsch etwa: „Ihr sagt, ihr wollt eine Revolution / bitte, ihr wisst ja / wir alle wollen die Welt verändern“. Das klang schon mal ziemlich aufmüpfig und ganz am Pulsschlag der Zeit. Allerdings liest sich die Fortsetzung des Textes dann etwas verhaltener. Ihr wollt Zerstörung? Ohne mich. Ihr wollt meinen Einsatz? Jeder tut doch schon, was er kann. Ihr wollte Geld für Leute, die ihren Hass oder ein Bild des Vorsitzenden Mao vor sich hertragen? Dafür werdet ihr niemanden finden. So etwa der Kern der Aussage von John Lennon im Sommer 1968. Der Maiaufstand in Paris, der Vietnamkrieg und die Ermordung von Martin Luther King hatten Berlin hatten auch die Beatles politisch aufgerüttelt. Allerdings waren sie mit ihren Frauen gerade in Indien beim Guru Maharishi Mahesh Yogi gewesen, um zu meditieren, sexuelles Glück und Friedfertigkeit zu praktizieren. Da war selbst Lennon, der sich später am entschiedensten politisierte, nicht aufgelegt, seinem jungen Publikum Gewalt zu predigen. In der Aussage bleibt Revolution denn auch mäßigend ‒ was ihm manche Fans als Opportunismus, die Linken aber als klaren Verrat an der revolutionären Sache angekreidet haben. Verstehen kann man es vor allem, wenn man die erste Version des Liedes mit seinem gemächlichen Tempo, dem sanften „Schubiduah“ und noch ohne die berühmten verzerrten E-Gitarren hört. Sonderlich aufrührerisch klingt das nicht. MUSIK 2 John Lennon 3‘55 Revolution (erste Version) The Beatles (EMI 746443-2, LC 00542) John Lennons Revolutionslied in der ersten, gemütlichen Version fürs White Album. Später hat Lennon in der Single-Fassung das Tempo gehörig aufgedreht ‒ aber das half auch nichts mehr gegen die Enttäuschung, die das Idol einer ganzen Jugend vor 3 allem den linken unter seinen Fans bereitete. Weil sich Lennon hier klar gegen radikale Veränderung, notfalls mit Gewalt, wandte, wollten die meisten aus der Neue Linken mit den Beatles nichts mehr zu tun haben. Die Zeile „you can count me out ‒ ihr könnt nicht auf mich zählen“ wirkte wie ein böser Dämpfer für den revolutionären Überschwang, der vor allem in Europa auf den Straßen herrschte. Die Debatte über den Song Revolution war typisch für die Situation der Popgruppen in der Zeit der Revolte und der gesellschaftlichen Veränderungen. Man erwartete von ihnen Protest gegen Kapitalismus, Krieg, Unterdrückung in der Dritten Welt und gegen das Establishment. Die wenigsten allerdings waren bereit dazu: Sie waren überfordert, wollten sich nicht für eine bestimmte politische Haltung in Dienst nehmen lassen ‒ oft hatten Sie auch keine eindeutige und waren Teil eines kommerziellen Systems, dessen Grundlagen man nicht ungestraft kritisierte. Ein Rebell der Poesie wie Bob Dylan zog sich da genauso zurück wie ein Rebell der harten Rockklänge à la Mick Jagger, der einmal behauptet hat, er „rebelliere gegen gar nichts“. Mit der roten Fahne traten jedenfalls nur wenige Popstars auf die Bühne. Keine Probleme mit klaren politischen Stellungnahmen hatten die, die nicht in einem globalen Netz der Vermarktung zappelten ‒ zum Beispiel die „Liedermacher“, wie man die typisch deutsche Variante der Singer-Songwriter à la Dylan oder Pete Seeger getauft hatte. Einer von ihnen war Hanns Dieter Hüsch aus Moers ‒ der Barde vom Niederrhein, der mit seinen lakonischen Versen tief ins Fleisch der Gesellschaft schnitt, vor allem der spießigen. In seiner Ballade mit dem Titel Reihenfolge beschrieb Hüsch im Jahr 1968, wie einer zum braven Staatsbürger herangezogen wurde ‒ bis zum bitteren Ende. MUSIK 3 Hanns Dieter Hüsch 3‘25 Reihenfolge Hanns Dieter Hüsch (Gesang & Klavier) (WDR 6072713101) Hanns Dieter Hüsch sang auf seine unterschwellig brodelnde Art sein Lied von der Reihenfolge ‒ gemeint war die stereotype Abfolge der Lebensstationen im 4 Obrigkeitsstaat, die jetzt, im Jahr 1968, keiner mehr wollte. Allerdings hat man Hüsch das künstlerische Engagement für Veränderungen in der Jugendrevolte übel gelohnt: Weil man die eher zurückhaltende Art seiner Poesie und Musik als kleinbürgerlichen Kitsch verdammte, wurde sein Auftritt 1968 beim Liederfestival auf Burg Waldeck von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS gestört und Hüsch gezwungen, sich vor einem Tribunal für seine Texte zu verteidigen ‒ eine herbe Enttäuschung für den Niederrheiner, die zum Bruch mit der 68er-Bewegung führte. Spätestens um die Mitte der sechziger Jahre hatte sich die Jugend in Deutschland politisiert ‒ und der SDS hatte daran entscheidenden Anteil. Ursprünglich war der Studentenbund der SPD angeschlossen, Helmut Schmidt war einmal sein Vorsitzender. Dann aber wurden die Studenten der Mutterpartei zu radikal, und man trennte sich. Während die SPD sich von Marxismus lossagte und sich zur Westbindung bekannte, hielt der SDS die rote Fahne der Marxisten-Leninisten hoch und erklärte sich selbst nach amerikanischem Vorbild zur „Neuen Linken“. Die SDSler wurden dabei durchaus von Sympathien der Künstler und Schriftsteller getragen, die eine Reform der Bundesrepublik forderten, darunter Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser. Philosophisch-soziologisch wurde die Reform inspiriert vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, an dem Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lehrten ‒ zwei charismatische Forscher, die aus ihrer anfänglich radikalen Kritik an Faschismus und Kapitalismus ein kritisches, aber durchaus auch pragmatisches Verhältnis zur bürgerlichen Demokratie entwickelt hatten. Für Horkheimer und Adorno waren die Erfahrungen von Nationalsozialismus, Krieg und Exil zentral; demokratische Handeln war wesentlich mit dem Bewusstsein für die Fehler der Vergangenheit verbunden. Typisch für diese Haltung sind zwei Lieder, die Adorno, der Kompositionsschüler von Alban Berg, 1943 nach Gedichten von Bertolt Brecht komponiert hat. 5 MUSIK 4 Theodor W. Adorno 2‘00 Zwei Propagandagedichte (T: Bertolt Brecht) 1) Brecht 2) Das Lied von der Stange Frieder Lang (Tenor) Christian de Bruyn (Klavier) (WDR 6023383106) Das waren Zwei Propagandagedichte nach Texten von Bertolt Brecht, komponiert 1943 von Theodor W. Adorno. Der Tenor Frieder Lang wurde am Klavier begleitet von Christian de Bruyn. Adorno selbst, der in den späten 1960er Jahren Tausende von Studierenden in seine Vorlesungen zog, dürfte klar gewesen sein, dass die traditionelle Form des politischen Kampfliedes wie im Lied von der Stange damals ziemlich altmodisch wirkte ‒ und dass auch die politischen Veränderungen der Zeit mit moderneren Klängen einhergehen müssten. Dieser Ansicht aber waren keineswegs alle ‒ und so entbrannte um die wahre Art und Weise politischer Musik eine letztlich ungelöste Debatte. Er könne mit Linken nicht über Musik diskutieren, hat etwa Mauricio Kagel damals bekannt ‒ und es dann auch lieber gelassen und seine politische Musik nie unter der Fahne irgendeiner Gruppierung segeln lassen. Luigi Nono redete zwar gern mit Linken in aller Welt über die revolutionäre Musik ‒ allerding kam
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