Traumfabrik Nordstad Von Der Realistischen Vision Zum Politischen Stückwerk
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Juli 2008 Gemeinden 31 Charel Schmit Traumfabrik Nordstad Von der realistischen Vision zum politischen Stückwerk Gerade mal zwei Erwähnungen findet der raum darstellt (108 373). Die Planungs- 1. Die Nordstad wird nicht als „Mittel- Landesnorden im CSV-LSAP-Koalitions- region Zentrum-Norden, zu der die zentrum mit Versorgungsschwerpunkt abkommen und Regierungsprogramm Nordstad zählt, verzeichnet in diesem im Norden“ (IVL 2004)5 angesehen, son- vom 4. August 2004: zum einen sollen die Zeitraum insgesamt 12 761 neue Ein- dern als nationalen Wirtschaftsstandort. Industriebrachen in Wiltz ebenso wie in wohner (immerhin 11,78% des nationa- Ries betont an mehreren Stellen die Be- anderen Landesteilen Berücksichtigung len Zuwachses).3 deutung der wirtschaftlichen Aktivitä- finden, zum anderen soll die Nordstad ten, sowohl Industrie als auch andere als eines von sechs IVL-Pilotprojekten Gewerbe; nicht weniger als sieben Indus- im Rahmen der Landesplanung voran- Nordstad 1973: Eine realistische triezonen werden benannt. Im derzei- getrieben werden.1 Das im Januar 2004 Vision vor 35 Jahren tigen Entwicklungsplan ist eine „zone veröffentlichte Integrative Verkehrs- und Somit hat sich die Vision von Adrien d’activité économique“ auf Fridhaff bei Landesplanungskonzept (IVL) sieht die Ries (1933-1991) bislang nicht erfüllt, Diekirch vorgesehen. Nicht allein die öf- Ausarbeitung eines Entwicklungsplanes nachdem die Nordstad innerhalb der fentliche Hand, sondern die Betriebe der für die Nordstad vor; diese soll im Sin- folgenden Jahrzehnte auf eine Bevölke- Region sind die großen „Investitions- ne eines „Tripol“-Modells als dritter rungszahl von 30 000 bis 40 000 Einwoh- träger“ für die Nordstad. Es wundert Entwicklungsraum zur Alternative für nern ansteigen könnte. Vor genau 35 Jah- denn auch nicht, dass sich für Ries die Luxemburg-Stadt und Esch/Alzette wer- ren stellte der Jurist und Ökonom Adrien Nordstad bis Bissen erstrecken muss, den. Demnach knüpft man im politi- um die Industrie- und Gewerbegebiete schen Landesnorden hohe Erwartungen im Bissener Tal und auf Roost mit ein- an die Realisierung einer Idee, die ihren zubeziehen. Ausgang in den frühen siebziger Jahren So wie eine Regierung ohne gefunden hat und seither die Phantasie Mitglied aus der Minettemetropole 2. Ries spricht dezidiert das politische Problem der Nordstad an – elektorales und vieler Regionalpolitiker und Landespla- Esch/Alzette unvorstellbar ist, so ner beflügelt. politisches Leichtgewicht auf nationaler dürfte es auch zukünftig keine Ebene: „Mä Dir kënnt lech ganz gutt eng Zur Nordstad zählen heute die 6 Gemein- geben ohne Mitglied aus der lëtzebuergesch Regéierong virstellen ouni den Bettendorf, Colmar-Berg, Diekirch, Nordstad. ee Minister vun Déikrich, oder vun Ettel- Erpeldingen, Ettelbrück und Schieren. breck, vu Schieren oder vu Colmer-Bierg, Sie verzeichnen derzeit 21 879 Einwoh- well all dës Uertschaften eenzel nët an ner, vergleichbar mit der Stadt Differdin- Ries aus Biwels, damals hoher Beamter d’Wo falen.“ Erst der politisch-adminis- gen (20 443), der Planungsregion Norden in der Europäischen Kommission, das trative Zusammenschluss der Nordstad- (Clervaux-Vianden) (20 615) oder dem Leitbild einer „Nordstad“ vor. Im Rah- Gemeinden wird verhindern, dass eine Kanton Mersch (25 348).2 Im Zeitraum men der Jubiläumsfeierlichkeiten zum Regierung an ihnen vorbei regieren kann. von 1987 bis 2006 haben die 6 Nordstad- 80. Wiegenfest des Diekircher Geschäfts- Derzeit zählt die Nordstad einen Kam- Gemeinden einen Zuwachs von 4 176 verbandes, die am 2. Juni 1973 stattfand merpräsidenten (Lucien Weiler), zwei Einwohnern verzeichnet, was lediglich und lokale wie nationale Prominenz Député-maire (Bim Diederich und Jean- 3,85% des gesamten Bevölkerungszu- anlockte, trug Adrien Ries die Resultate Paul Schaaf), einen Fraktionschef (Charles wachses für Luxemburg in diesem Zeit- einer Umfrage vor, die der Geschäftsver- Goerens), jedoch weder einen Staatsrat band im April 1973 in der Region durch- noch einen „administrateur délégué“ auf geführt hatte.4 höchster Verwaltungsebene. Die Rand- Charel Schmit, u. a. Mitbegründer der Lobby fir de gemeinden stellen derzeit ebenfalls vier Norden, war kommunal- und regionalpolitisch bis Drei Aspekte sind aus heutiger Sicht aus Landespolitiker (Claude Adam, Fernand 2005 engagiert. Seit 2004 ist er enseignant-chercheur an der Universität Luxemburg in der Forschungseinheit dieser programmatischen Rede hervor- Etgen, Aly Kaes, Marco Schank). Zuletzt INSIDE und im Studiengang „Soziale Arbeit“. zuheben: war Charles Goerens als Außen- und 32 Dossier forum 278 Umweltminister Regierungsmitglied von zung waren „plans d’aménagement par- mehr überdurchschnittlich anwachsen 1999 bis 2004 und unterbrach für kurze tiel ou global“ (Art. 11) vorgesehen. Das werde. Mit ihrer Prognose für das Jahr Zeit die „Regierungsabstinenz“ der Nord- aktuelle Landesplanungsgesetz vom 21. 2010 lagen sie mit einer Einwohnerzahl stad. Vor ihm war es René Steichen, der als Mai 1999 sieht hierzu „plans directeurs von 26 021 EW über dem aktuellen Stand ehemaliger Diekircher Député-maire von sectoriels“ und „plans directeurs régio- von 24 520 in der „zone urbaine“. Blieb 1984 bis 1992 Regierungsmitglied war, naux“ vor. Das erste Programme directeur die Nordstad hinter den Erwartungen bevor er als EU-Kommissar nach Brüssel von 1978 spricht von einer „agglomé- der Landesplanungspolitiker zurück? wechselte. Er löste damals den aus Ettel- ration du Nord“, die sich aus den Gemein- Der gleiche Regionalentwicklungsplan brück stammenden Zentrumspolitiker den Ettelbrück, Diekirch und Schieren greift nur teilweise eine Idee auf, die in Ernest Mühlen ab, der von 1979 bis 1984 sowie den Ortschaften Gilsdorf, Colmar, der politischen Öffentlichkeit im Norden Minister war. So wie eine Regierung Berg, Erpeldingen und Ingeldorf zusam- seit den 80er Jahren viel gefordert und ohne Mitglied aus der Minettemetropole mensetzte. In der zweiten Auflage des in jeder Wahlversammlung lautstark ver- Esch/Alzette unvorstellbar ist, so dürfte Programme directeur von 1985 wird eine kündet wird: die „Dezentralisierung“ es auch zukünftig keine geben ohne Mit- großzügiger definierte „zone urbaine“ staatlicher Verwaltungen und öffentli- glied aus der Nordstad. Fraglich bleibt, eingeführt, die das aktuelle Gebiet der cher Einrichtungen. Immerhin werden ob das Einwohnerszenario des IVL, das Nordstad sowie der Gemeinde Bissen die Ansiedlung des Office national du bis 2020 einen Bevölkerungszuwachs umfasst aufgrund deren industriellen remembrement in Wintger, die Dezen- von ca. 8 000 EW vorsieht, eine nennens- Bedeutung. tralisierung der Nationalbibliothek und werte Veränderung mit sich bringen wird, Der erste Entwicklungsplan für die Re- allgemein das Verhindern weiterer Zen- wenn gleichzeitig von einem Zuwachs gion Norden8, zu der damals ebenfalls tralisierungen von Dienststellen im In- von 17 200 EW in der Südregion ausge- Bissen, Nommern und Colmar-Berg hin- vestitionsplan vorgesehen. Die Dezentra- gangen wird. zugenommen wurde, erscheint 1991. lisierungsbilanz fällt jedoch heute sehr 3. Als Kind seiner Zeit vertritt Adrien Geprägt durch die Debatten der Umwelt- mager aus: nicht eine einzige nationale Ries einen festen Glauben in die positiven bewegung in den 70er und 80er Jahren Einrichtung wurde in den vergangenen Wirkungen der Raumplanung, die ein sprechen sich die Autoren für eine vor- 35 Jahren nördlich von Mersch angesie- Jahr später 1974 mit dem Landespla- sichtige Entwicklung aus, keine zusätz- delt. Immerhin richtete das Kulturminis- nungsgesetz eingeführt und mit dem lichen Industrie- und Wirtschaftszonen terium 1992 eine regionale Zweigstelle Programme directeur von 1978 dekliniert im Landesnorden, Agrotourismus und in Diekirch ein; später auch der Service werden wird. Es ist schon erstaunlich, vorsichtiger Umgang mit dem Land- national de la jeunesse. Rezente Versuche wie er, von der Technologie überzeugt, schaftsverbrauch innerhalb der bestehen- scheiterten ebenfalls: das vom ehemaligen anrät, die Detailplanung für die Nord- den Bebauungspläne. Die „zone urbaine“ Innenminister Michel Wolter (1994-2004) stad einem „interdisziplinären Team wird als dynamischste Region im Norden in Aussicht gestellte Wasserwirtschafts- von Spezialisten“ anzuvertrauen, die im angesehen, ohne jedoch auf die Ries’sche amt wird in der Südregion angesiedelt Auftrag der Gemeinden und des Innen- Idee einer wachstumsorientierten „Nord- werden. Sowohl die Dezentralisierung ministeriums diesen „Entwicklungspool“ stad“ einzugehen. Die Autoren gehen von staatlichen Stellen als auch die (Ries) als tatsächlich neue Stadt entwi- auch davon aus, dass der hohe Bevölke- dezentrale Ansiedlung von privatwirt- ckeln und die eine tatsächliche Alterna- rungszuwachs, der im Bipol Ettelbrück- schaftlich geschaffenen Arbeitsplätzen tive zu Luxemburg-Stadt werden soll. Diekirch in den Jahren 1960 bis 1970 bleibt ein bislang nicht eingetretenes Der raumplanerische Optimismus hält stattfand, abgeflaut sei und auch nicht Szenario zur strukturellen Stärkung des bis heute an: « Le descriptif conceptuel et le dispositif législatif nous procurent Kartenlegen in der Nordstad: Dieser Auszug der CSV-Karte aus dem Wahljahr 1979, als die CSV aus der Oppo- aujourd’hui un savoir cohérent et une sition stürmt, zeigt eine großzügige Umgehungsstraße als Straßenbauprojekt, ganz im Sinne der von Adrien Ries vision précise de l’aménagement du ter- 1973 geforderten Verkehrsprojekte. Diese Umgehungstraße verschwindet in den Folgejahren von den CSV-Land- karten