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Sendung vom 13.09.2004, 20.15 Uhr

Gerhard Bronner Kabarettist und Autor im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu einer neuen Ausgabe von Alpha-Forum. Gastgeber bin ich heute in einem Hotel in München- Bogenhausen und mein Gast, Gerhard Bronner, ist ein Gast, der Hotels auf der ganzen Welt von innen kennt: Er ist weit gereist, halb ein Amerikaner, halb ein Österreicher, ein bisschen beides, dennoch ein Weltbürger. Ich freue mich, dass Sie heute kommen konnten. Schon bei Ihrem Beruf beginnt für mich ein gewisses Problem: Sie hatten nämlich viele Berufe. Bronner: Zu viele. Lindenmeyer: Und Sie haben sie noch: Sie sind Autor, Sie sind Komponist, Sie haben gesungen... Bronner: "Gesungen" ist übertrieben. Lindenmeyer: Sie haben moderiert und Sie waren Fernsehregisseur. Sie haben vor einigen Jahren ein wunderschönes Buch verfasst, das jetzt in einer Neuauflage im Amalthea Verlag herauskommt. Es trägt den Titel "Tränen gelacht" und ist ein Buch über den jüdischen Humor. In diesem Buch schreiben Sie noch vor dem Vorwort einen wunderbaren Satz: "Moses gab uns das Gesetz, Rabbi Jehoshua von Nazareth gab uns die Liebe, Karl Marx gab uns das soziale Gewissen, Freud gab uns die Selbsterkenntnis und Einstein sagte, alles ist relativ." Ist diese Art der Relativitätstheorie vielleicht auch ein Motto für Ihr Leben? Bronner: Ja, wahrscheinlich. Ich bin daraufgekommen, dass man sich auf nichts verlassen kann. Man muss alles relativieren zu dem, was gerade passiert. Das ist nicht immer leicht, das ist nicht immer angenehm, aber ich glaube, es ist notwendig. Man kann das auch primitiver ausdrücken: Man muss sich nach der Decke strecken können. Lindenmeyer: Das haben Sie bereits sehr früh getan, nämlich in Ihrer Jugend. Sie stammen aus einem Elternhaus in Wien-, einem jüdischen Elternhaus... Bronner: Ich glaube, wir sollten hier kurz erklären, was Favoriten ist. Lindenmeyer: Ein Arbeiterviertel in Wien. Bronner: Ja, man kann sagen, ein Proletenviertel. Das war es zumindest in meiner Zeit. Lindenmeyer: Und auch stark geprägt durch Böhmen. Bronner: Ja, die Böhmen waren ein integrierender Bestandteil von Favoriten. Das kam nämlich daher, dass die Böhmen und Mähren als Gastarbeiter nach Wien geschleift worden waren, um dort die Ringstraße zu erbauen. Viele davon sind dabei umgekommen und die Überlebenden haben sich dann eben im Süden Wiens angesiedelt, haben selbstverständlich auch Nachkommen bekommen. Und einige dieser Nachkommen haben sogar Karriere gemacht: Drei davon wurden Bürgermeister, zwei wurden Bundespräsidenten, das ist doch sehr beachtlich. Wenn man das auf heute relativiert, dann kommt man drauf, dass in ungefähr 50 bis 60 Jahren einer der Bürgermeister von Wien einen türkischen Namen haben müsste. Das klingt heute etwas abwegig, aber genauso abwegig war es früher zu behaupten, dass diese Nachkommen der Böhmen eines Tages Bürgermeister bzw. Staatsoberhaupt werden würden. Das nennt man Assimilation. Es gibt Leute, die das hassen, die hier von "Unvolk" und weiteren Blödheiten sprechen. Ich jedoch halte das für eine ganz normale Entwicklung, denn wenn die Wiener immer nur auf sich selbst angewiesen gewesen wären, würde Wien sehr traurig aussehen. Lindenmeyer: Ihre Familie war ja jüdisch, aber nicht sehr religiös. Bronner: Meine Mutter glaubte zwar, religiös zu sein, aber in Wirklichkeit war sie nur abergläubisch. Mein Vater, sofern er überhaupt eine Religion hatte, war es die Sozialdemokratie: An die hat er innig geglaubt – bis an sein Lebensende. Das war aber eine Religion, die ihm selbst auf die Dauer mehr geschadet als genützt hat. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie als Geschichtsfaktor eine ziemlich wichtige Angelegenheit war. Ob sie es heute noch ist, wage ich nicht zu behaupten. Das werden spätere Historiker feststellen können. Lindenmeyer: Sie relativieren schon wieder. Bronner: Ja, ich bin's gewohnt. Wissen Sie, als die Sozialdemokratische Partei gegründet wurde, haben sie sich gewisse Ziele gesteckt. Diese Ziele sind schon längst erreicht worden, z. T. sogar weit über das hinaus, was man sich damals vorgenommen hat. Es sind jedoch bis heute noch keine neuen Ziele gefunden worden. Das ist ja überhaupt das Problem der meisten heutigen Parteien: All ihre Ideologien stammen aus dem 19. Jahrhundert. Die wenigsten politischen Parteien – vielleicht mit der möglichen Ausnahme der Grünen – sind in der Lage gewesen, ihre Ideologien auf die heutigen Notwendigkeiten umzustellen. Warum sind die Grünen eine Ausnahme? Was sie politisch und wirtschaftlich wollen oder können, das kann ich nicht beurteilen, denn so weit habe ich mich mit deren Ideologie nicht auseinander gesetzt. Aber dass die Umwelt geschont bzw. gerettet werden muss, das ist meiner Meinung nach ein Dogma, an das ich viel eher glaube als an die Unbefleckte Empfängnis oder dass die Juden trockenen Fußes durchs Rote Meer geschritten sind und weitere solche Blödheiten. Dazu hat man sich jedoch noch nicht durchgerungen, nämlich eine Ideologie für das 21. Jahrhundert zu finden. Lindenmeyer: Sie sagen, Ihr Vater habe ein Leben lang an die Sozialdemokratie geglaubt. Ihre Familie war überhaupt sehr stark sozialdemokratisch geprägt. Ihr älterer Bruder, der Sie erzogen hat, hat Sie wohl schon relativ früh politisch sozialisiert, überzeugt oder wie auch immer ich das ausdrücken soll. Bronner: Das lag ganz einfach daran, dass sich meine Eltern keinen Kindergarten leisten konnten. Lindenmeyer: Ihr Vater war Tapezierer. Bronner: Ja, und meine Mutter war Näherin. Mein Bruder hat mich dann damals zu den so genannten "Roten Falken" gesteckt: Das war eine sozialistische Ausgabe der Pfadfinder. Weil wir eben keinen Kindergarten bezahlen konnten, war ich halt bei den "Roten Falken". Und bis zum heutigen Tag ist es so, dass, wann immer ich mit einem politischen Problem konfrontiert werde, meine erste spontane Reaktion die sozialdemokratische ist. Erst dann, wenn ich noch einmal darüber nachdenke, kann es passieren, dass ich drauf komme, vielleicht haben die Sozialdemokraten in diesem besonderen Fall doch nicht ganz Recht. Man muss dann eben seine Meinung revidieren können. Das ist etwas, was die wenigsten Sozialdemokraten bereit sind zu tun. Lindenmeyer: Aber Ihr Verhältnis zu den damaligen österreichischen Sozialdemokraten ist heute in der Rückerinnerung nicht mehr von so etwas wie Hassliebe geprägt, sondern von einem gewissen Abstand, von einer Verklärung. Bronner: Ja, absolut. Und das fiel mir umso leichter, da der nachmalige Bundeskanzler Bruno Kreisky ein Freund meines älteren Bruders gewesen ist. Sie sind nämlich miteinander in die Schule gegangen. Er war sehr oft bei uns zu Hause, der Kreisky. Er hat mir damals ein Gedicht beigebracht, das ich hier zitieren möchte: "Ich bin kein Jud, ich bin kein Christ, ich bin ein kleiner Sozialist." Als ich das meiner Mutter aufgesagt habe, war sie entsetzt. Sie hat gemeint: "Versündige dich nicht!" Mein Vater hat es sehr komisch aufgenommen – und ich eigentlich auch. Lindenmeyer: Ihr älterer Bruder hat Sie erzogen, aber er ist dann später genauso wie Ihr Vater in ein Konzentrationslager, nämlich nach Dachau gekommen. Bronner: Richtig. Lindenmeyer: Und Ihr jüngerer Bruder war damals bereits bei Straßenkämpfen in Wien umgekommen. Bronner: Entschuldigung, das war der älteste Bruder. Lindenmeyer: Er kam jedenfalls bei Straßenkämpfen ums Leben. Bronner: Ja, das war 1934. Lindenmeyer: Erinnern Sie sich noch an den Tag, als die Nachricht kam, dass der ältere Bruder tot ist? Bronner: Natürlich erinnere ich mich daran, sogar sehr genau. Das war eine wirkliche Tragik, einerseits. Andererseits wussten wir, dass er ungefähr zwei Wochen lang Höllenqualen unter einer tuberkulösen Hirnhautentzündung litt, die er bekommen hatte. Die Ärzte haben uns gesagt: "Wenn er jemals gesund werden sollte, dann wird sich sein Hirn davon nie wieder erholen." Wir mussten also damit rechnen, dass er dann, wenn er diese Hirnhautentzündung übersteht, geistig gestört bleiben wird. Was tut man in so einem Fall? Will man ein geistig gestörtes Mitglied der Familie haben oder will man ein Ende mit Schrecken haben? Das war eines dieser furchtbaren Dilemmas, die wir damals durchschreiten mussten. Ich war zu der Zeit ein kleiner Bub, ich habe das also noch nicht so richtig begriffe. Ich war erst zwölf Jahre alt. Aber für meine Eltern war das natürlich etwas Furchtbares: Soll man auf eine Genesung hoffen oder soll man hoffen, dass er gnädig sterben darf? Er ist dann gestorben. Lindenmeyer: Würden Sie denn heute sagen, dass Sie damals eine besonders harte Kindheit hatten in Wien? Bronner: Ja, das würde ich heute sagen, aber damals ist mir das natürlich noch nicht bewusst gewesen. Denn ich kannte ja keine anderen Menschen, die eine andere Art von Kindheit gehabt hätten. Es war damals eine Selbstverständlichkeit, dass man Hunger hatte, dass man immer zu wenig Geld hatte, dass man sich all das, was man gerne gehabt hätte, nicht leisten konnte. Andere Menschen kannte ich nicht. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen sehr prägnanten Ausspruch eines Geschäftsfreundes meines Vaters. Ich hörte ihn nämlich eines Tages in seiner Werkstatt sagen: "Die einzigen, die heut noch was zum Fressen haben, sind die Delikatessenhändler, die können wenigstens das auffressen, was sie nicht verkauft haben!" Das war eine Art Lebensmotto damals. Und es hatte natürlich zur Folge, dass ich auch Delikatessenhändler werden wollte – damit ich keinen Hunger mehr leiden musste. Lindenmeyer: Sie haben dann später mit anderen Dingen gehandelt, mit wunderbaren Texten, mit wunderbaren Kompositionen. Aber darauf kommen wir später noch zu sprechen. Ihr Bruder Oskar hat Sie ja irgendwie fast anstelle Ihrer Mutter erzogen: Er hat Sie musikalisch motiviert usw. Bronner: Er hat mich in jeder Beziehung motiviert. Lindenmeyer: Wie kam es, dass Ihre Mutter hierbei nicht die Hauptperson gewesen ist? Bronner: Erst einmal war es so, dass meine Mutter wirklich sehr viel zu tun hatte. Sie hat unseren Haushalt geführt, sie hat gekocht usw. und sie hat dazu noch ihren Beruf als Näherin ausgeübt. Sie hatte ganz einfach keine Zeit für mich. Mein Bruder hat sich aber diese Zeit genommen und mich Gott sei Dank erzogen. Aber "erzogen" ist natürlich ein relativer Begriff, wie so vieles, was ich Ihnen erzähle. Er hat mir z. B. das Schwimmen beigebracht. Das sah so aus: Wir waren an einem See, er band mir eine lange Schnur um den Knöchel und warf mich ins Wasser. Davor hat er mir allerdings noch gesagt, was für Bewegungen ich machen muss, damit ich nicht untergehe. Immer dann, wenn ich trotzdem untergegangen bin, hat er mich an dieser langen Schnur herausgezogen und mich sofort wieder hineingeworfen ins Wasser. Das ging so lange, bis ich schwimmen konnte. Es hat ungefähr eine Stunde gedauert, ich habe weiß Gott wie viel Wasser geschluckt, aber ich konnte dann schwimmen! Das waren die Erziehungsmethoden meines Bruders. Lindenmeyer: Das Schwimmen war später ja letztlich sogar lebensrettend für Sie. Darauf kommen wir gleich noch zu sprechen. Ihr Vater kam dann eines Tages ins Konzentrationslager und auch ihr Bruder. Die Mutter musste dafür sogar noch monatlich bezahlen. Bronner: Ja, es war damals üblich, dass man für die Familienangehörigen, die im KZ saßen, pro Woche zehn Reichsmark bezahlen musste. Meine Mutter musste also, nachdem zwei ihrer Angehörigen im KZ waren, 20 Reichsmark nach Dachau überweisen. Das war natürlich eine Katastrophe, weil sie dieses Geld ganz einfach nicht hatte. Sie hat wie besessen genäht und dann alles, was sie genäht hat, für den halben Preis verkauft, damit sie überhaupt zu Geld kommt. Sie hat, wenn dieses Geld nicht gereicht hat, vom Hausrat verkauft, was einen Käufer fand. Für Nahrung war dann, wenn überhaupt, natürlich nur noch sehr wenig Geld übrig. Ich hatte ganz einfach Hunger. Ich war etwas über 15 Jahre alt und so habe ich eben am Bahnhof Koffer getragen. Ich kam dann mit ein paar Münzen nach Hause, um mir davon eine Semmel mit einem Stückchen Pferdewurst kaufen zu können. Das war aber auf Dauer kein Leben und so beschloss ich zu emigrieren. Ich kam zuerst nach Brünn und von dort aus... Lindenmeyer: Sie waren 15 Jahre alt zu diesem Zeitpunkt. Bronner: Ja, ich war etwas über 15 Jahre alt, fünfzehneinhalb würde ich sagen. Lindenmeyer: Lassen Sie uns noch für einen Augenblick in dieser Situation verweilen. Wenn ein Fünfzehneinhalbjähriger beschließt: "Ich emigriere", wenn in so einer Situation der Vater und der Bruder im KZ sitzen und der andere Bruder bereits verstorben ist, dann muss das doch einen furchtbaren Abschied von der Mutter gegeben haben. Konnten Sie Ihre Mutter nicht davon überzeugen mitzugehen, sie zu begleiten? Bronner: Nein, davon konnte überhaupt keine Rede sein, denn es musste ja irgendjemand wöchentlich 20 Reichsmark nach Dachau schicken. Lindenmeyer: Mitzugehen war demnach keine Perspektive für Ihre Mutter. Bronner: Nein, nie. Lindenmeyer: Sie hat also darauf gehofft, dass der Vater und der Bruder zurückkommen. Bronner: Ja. Mein Vater kam auch wieder zurück, nach einem halben Jahr etwa. Mein Bruder jedoch kam in Dachau um. Angeblich an einem Herzstillstand. Was es wirklich war, werden wir nie erfahren. Ich will das aber gar nicht so genau wissen. Mein Vater kam jedenfalls mit schneeweißen Haaren aus dem KZ zurück. Als ich ihn davor zum letzten Mal live gesehen hatte, hatte er dunkles Haar, das nur an den Schläfen ein wenig grau meliert war. Er hat mir dann ein Foto geschickt, wie er nun aussieht. Er hat mir nicht geschrieben, was sich in Dachau abgespielt hat oder wie er seinen Sohn verloren hat. Er hat mir nur das Foto mit seinen schneeweißen Haaren geschickt. Und den Rest konnte ich mir dann dazudenken. Ich wollte und will es so genau auch gar nicht wissen. Lindenmeyer: Sie gingen also mit fünfzehneinhalb Jahren nach Brünn, mit einem neuen Namen. Bronner: Nein, diesen neuen Namen habe ich erst in Brünn bekommen. Ich war nämlich verhaftet und wieder an die Grenze zu "Großdeutschland" gestellt worden... Lindenmeyer: Sie waren in Brünn Straßenmusiker. Bronner: Ja, das war mein erstes Geld, das ich als Musiker verdient habe. Ich hatte mir bei einem Trödler eine Gitarre gekauft und einige tschechische Lieder gelernt. So habe ich dann auf der Straße gesungen und mich selbst auf der Gitarre begleitet. Es ging mir dabei sogar eine Zeit lang sehr gut. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich hätte nun einen Beruf und eine Zukunft und es würde doch etwas werden aus mir. Lindenmeyer: Haben Sie da dann noch gehungert? Bronner: Nein, da nicht mehr. Lindenmeyer: Es gibt in Ihrem Buch aber auch die Erinnerung, dass Sie dort in Brünn vor allem an einem Kiosk gestanden sind und die Reste bekommen haben. Bronner: Nein, ich habe das nicht bekommen. Ich habe gegessen, was die Leute weggeschmissen haben. Lindenmeyer: Also die Abfälle. Bronner: Ja, das habe ich gegessen. Das war aber erst nachher. Solange ich als Straßenmusikant noch Geld verdient habe, war ich auf das nämlich nicht angewiesen. Ich konnte mir da sogar eine eigene Freundin leisten und mit ihr manchmal ins Kino gehen usw. Das war wirklicher Luxus für mich. Ich habe also geglaubt, es ginge nun aufwärts mit mir. Aber dann wurde ich eines Tages verhaftet, weil ich auf der Straße gesungen hatte, ohne eine Lizenz dafür zu haben. Ich wurde drei Tage lang eingesperrt und dann an die Grenze abgeschoben. Durch die Gutmütigkeit eines Gendarmen habe ich jedoch überlebt: Er hätte mich an die deutsche Grenze bringen sollen, tat das aber nicht. Er hat mich lediglich zur Grenze geführt und zu mir gesagt: "Wenn du da geradeaus weitergehst, kommst du nach Deutschland. Aber ich an deiner Stelle würde dort nicht hingehen." Daraufhin hat er sich umgedreht und ist weggegangen. Und so bin ich auch weggegangen. Ich ging wieder zurück nach Brünn. Dort musste ich natürlich um eine neue Aufenthaltsgenehmigung ersuchen, weil die alte nun ungültig geworden war. Und da habe ich mir dann einen neuen Namen zugelegt. Lindenmeyer: So wurden Sie zu Harry Braun. Und von diesem Zeitpunkt an mussten Sie sich dann mit diesen Resten und Abfällen durchschlagen. Bronner: Ja, weil ich mich natürlich nicht mehr getraut habe, auf der Straße zu singen. Und auch sonst gab es nur sehr wenige Möglichkeiten, irgendeine Arbeit zu finden. Das war diese Zeit, in der ich bei der Würstelbude gestanden bin und darauf gehofft habe, dass die Leute ein Stückl Brot liegen lassen. Lindenmeyer: Sie beschlossen dann allerdings wegzugehen, weit wegzugehen. Bronner: Nein, ich habe nicht beschlossen wegzugehen. Lindenmeyer: Wie kam das dann? Bronner: Ich wurde ausgewiesen. Alle Emigranten – es waren damals über 10000 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in Brünn – wurden angewiesen, binnen 48 Stunden das Land zu verlassen. Das war natürlich absurd für einen Menschen wie mich mit noch nicht einmal 16 Jahren, ohne Geld, ohne ein gültiges Ausweispapier außer einer Aufenthaltsgenehmigung für Brünn auf einen falschen Namen. Wie verlässt so jemand ein Land ohne ein Visum, ohne sonstige Möglichkeiten? Das war natürlich eine Katastrophe und damals sind auch viele Menschen deswegen ums Leben gekommen: Sie haben sich umgebracht. Es haben sich wirklich furchtbare Sachen abgespielt. Ich bin dann mit einem Freund donauabwärts getrampt. Lindenmeyer: Das war Michel. Bronner: Das war der Michel, also Michl ausgesprochen. Lindenmeyer: Also ein ganz deutscher Name. Bronner: Ja, er hieß Michel Feldmann, ein besonders liebenswerter und kluger Mann. Aber was heißt schon "Mann"? Er war 17 Jahre alt und damit nur etwas älter als ich. Wir sind also von einem Donaudampfer als Kohlenschaufler donauabwärts mitgenommen worden. In Bulgarien hatte das Schiff aber einen Motorendefekt und es kam ein Ingenieur runter in den Maschinenraum, fand uns und hat uns nach oben gezerrt. Wir wurden zunächst in eine Kajüte eingesperrt und dann in Rustschuk, einem bulgarischen Donauhafen, an Land gesetzt. Das war wirklich kein Vergnügen. Lindenmeyer: Das war ein KdF-Schiff, also ein "Kraft durch Freude"-Schiff. Bronner: Ja. Lindenmeyer: Also ein ausgerechnet von den Nazis betriebenes Ausflugsschiff. Bronner: Es gab damals nichts in Wien, das nicht von den Nazis betrieben worden wäre. Lindenmeyer: Sie waren dann an Land und es war klar, dass Sie in Rustschuk nicht bleiben konnten. Bronner: Ja, das wäre ein völlig abstruser Gedanke gewesen. Die bulgarische Sprache war für uns etwas völlig Unverständliches und Unerreichbares. Wir kannten auch keinen Menschen in Rustschuk. Ich will es kurz machen: Wir beschlossen dann, über die Donau zu schwimmen, um nach Rumänien zu gelangen. Wir hofften, dass uns dort jemand weiterhelfen könnte. Bei dieser Gelegenheit ist mein Freund Michel Feldmann ertrunken. Ich will das hier nicht in allen Details erzählen. Das ist etwas zu trist, aber in meinem Buch steht das alles ziemlich genau drinnen. Aber das ist auch wohl nicht so wichtig – retrospektiv gesehen. Ich kam jedenfalls ganz alleine in Rumänien an und ging dann weiter donauabwärts, bis ich in das nächste Dorf kam. Dort haben mir dann einige Juden eine Eisenbahnfahrkarte gestiftet, mit der ich nach Constanza fahren konnte. Constanza war und ist ein rumänischer Schwarzmeerhafen. Ich wusste, dass von dort die illegalen Transporte nach Palästina fahren. Und dort wurde ich dann auch Gott sei Dank mitgenommen. Das hat wahrscheinlich mein Leben gerettet. Lindenmeyer: Welche Hoffnungen verbanden Sie denn damals mit dem Begriff oder mit dem Land "Palästina"? Bronner: Gar keine. Lindenmeyer: Es hätte also auch Amerika sein können. Bronner: Es hätte alles sein können, wenn man mich nur hineingelassen hätte. Nur, man hat mich eben nirgends hineingelassen. In Palästina hat man mich freilich auch nicht hineingelassen: Ich musste dort illegal landen. Ich habe also mein Leben zwei illegalen Handlungen zu verdanken: erstens meinem illegalen Marsch über die Grenze in die Tschechoslowakei und zweitens der illegalen Einwanderung nach Palästina. Bei dieser Gelegenheit musste ich feststellen, dass ich ohne diese beiden illegalen Handlungen genauso ums Leben gekommen wäre wie meine ganze restliche Familie – und wie sechs Millionen andere Menschen. Lindenmeyer: Illegalität ist also für Sie in Ausnahmesituationen legitim? Bronner: Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Ich behaupte, dass die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Gesetze geschehen sind und nicht gegen die Gesetze. Das ist eigentlich sehr traurig. Das ist eine Erkenntnis, die ich im Laufe dieses 20. Jahrhunderts gewonnen habe. Lindenmeyer: Welche Konsequenz ziehen Sie daraus? Bronner: Dass mir Gesetzgeber sehr suspekt geworden sind. In den seltensten Fällen – und das hat jetzt nichts mit Faschismus oder Nationalsozialismus zu tun – sind Gesetze nämlich so durchdacht, dass sie wirklich in allen Lebenslagen anwendbar wären. Ich glaube, dass das eine weltweite Tatsache ist. Wenn Sie sich nur mal die Gesetzgeber ansehen, die in den diversen Parlamenten der freien Welt – und Gott sei Dank ist ja jetzt fast ganz Europa mehr oder weniger frei – über die Gesetze zu entscheiden haben: Wer sind die denn? Was haben Sie denn für eine Ahnung davon? Lindenmeyer: Was wäre denn die Alternative? Eine Anarchie kann es ja nicht sein. Bronner: Nein, ich will keine Anarchie. Lindenmeyer: Was bleibt dann noch? Eine höhere Qualifizierung von Politikern in einem ethischen Sinne? Bronner: So ist es! Genau das möchte ich gerne haben. Um ein Politiker zu werden, um sich auch nur als Politiker bewerben zu dürfen, müsste man eine Prüfung ablegen, die mindestens so rigoros sein sollte wie die Führerscheinprüfung. Lindenmeyer: Es gab ja z. B. im alten Vietnam des 11./12. Jahrhunderts für die hohen Staatsbeamten, also für die Mandarine, eine Prüfung. Denen wurde sogar eine Prüfung in Literatur abverlangt. Es gibt heute noch in Hanoi einen Tempel der Literatur. Hanoi ist die einzige Stadt der Welt, die über einen solchen Tempel verfügt. Sie verlangen also im Grunde eine moralische, eine ethische Kompetenz für politisch handelnde Persönlichkeiten. Das wäre Ihr Wunsch, das wäre Ihre Vision. Bronner: Ja, und es wäre wunderschön, wenn Allgemeinbildung – und ich meine hier wirklich die allgemeine Bildung – in die diversen Parlamente einziehen könnte. Wissen Sie, wir leben eigentlich seit längerer Zeit im Zeitalter des Spezialistentums. Mit anderen Worten: die Leute wissen immer weniger. Das hat ganz bestimmte Folgen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Vor 30, 40 Jahren, als ich noch Kabarett gemacht habe, war ich ohne weiteres in der Lage, in mein Programm eine Parodie auf Goethe, auf Schiller, auf Wagner usw. aufzunehmen. Die Leute haben einfach gewusst, was ich meine. Sie haben nämlich das Original gekannt und verstanden. Denn eine Parodie hat ja nur dann einen Sinn, wenn man das Original kennt. Damals konnte ich das noch voraussetzen. Heute würde ich mich so etwas nicht mehr trauen. Warum? Weil das Niveau der Allgemeinbildung auf ein absolutes Minimum gesunken ist. Das tut halt weh. Man kann heutzutage nichts mehr an Wissen voraussetzen beim Publikum. Das Publikum sind natürlich genau dieselben Leute, die auch die Abgeordneten wählen. Lindenmeyer: Sie haben diese Nacht mit Michel, als Sie damals gemeinsam die Donau schwimmend durchqueren wollten und er dies leider nicht überlebt hat, in einem Buch sehr sorgfältig beschrieben. Es trägt den Titel "Spiegel vorm Gesicht" und ist in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen. Wenn Sie sich heute einen Spiegel vors Gesicht halten, was sehen Sie dann für ein Gesicht? Bronner: Na ja, das ist eine dreckige Frage. Lindenmeyer: Der Begriff "dreckig" ist ein Begriff des jüdischen Witzes und bedeutet so viel wie "hinterfotzig". Bronner: Was sehe ich? Ich sehe ein Gesicht, das etliche Enttäuschungen hinter sich hat und das trotz alledem noch immer optimistisch in die Zukunft schaut. Ich zwinge mich zu diesem Optimismus, ich zwinge mich zu dem Gedanken, dass die Menschen nicht so blöd sind, sich ihr eigenes Grab zu graben und sich dann auch womöglich noch selbst zu erschießen und in dieses Grab hineinzufallen. Lindenmeyer: Einige Sätze sollten wir vielleicht doch verlieren über Ihre Zeit in Palästina. Sie waren damals 16, 17 Jahre alt. Sie haben dort eine ganz erstaunliche Karriere gemacht. Bronner: Ja, ich habe dort Musik gelernt. Ich habe nicht Musik studiert, denn dafür hatte ich nie die Zeit oder die Möglichkeit. Ich habe es einfach gelernt, indem ich es getan habe. Ich habe Gott sei Dank sehr gute und liebe Kollegen gehabt, die sich meiner angenommen haben, die das Gefühl hatten: "Das ist ein begabter Kerl, dem man auf die Sprünge helfen muss." Das haben sie sehr schön getan. Ich war aber auch gierig, von erfahrenen Leuten etwas annehmen zu können. Das hatte zur Folge, dass ich nach einigen Jahren in Palästina als Berufsmusiker recht guten Erfolg hatte. Ich muss das vielleicht ein wenig näher erklären: Ich wurde Mitglied einer Unterhaltungsband, die englische Soldaten unterhielt. Lindenmeyer: Dort waren Sie dann Harry Brown. Bronner: Ja. In dieser Zeit habe ich mit wirklich guten Entertainern und mit etlichen sehr guten Musikern zusammengearbeitet. Sie haben mir beigebracht, was das eigentlich für ein Beruf ist. Eigentlich ist das nämlich ein wunderschöner Beruf. Sie müssen sich ja mal Folgendes vor Augen halten: Ein Arzt studiert so und so viele Jahre lang und übt dann seinen Beruf aus. Er hat dabei aber die ganze Zeit über mit "defekten" Menschen zu tun. Oder nehmen Sie einen Rechtsanwalt: Auch er studiert weiß Gott wie lange, um diesen Beruf ausüben zu können. Und dann hat er sein ganzes Berufsleben lang mit streitenden, unzufriedenen oder gar bösen Menschen zu tun. Wenn ich jedoch meinen Beruf ausübe, dann habe ich die ganze Zeit lachende Gesichter vor mir. Lindenmeyer: Ja, aber nur, wenn Sie gut sind. Bronner: Na ja, so viel habe ich dann doch gelernt. Lindenmeyer: Sie waren also Musiker. Was haben Sie denn gespielt? Bronner: Ursprünglich habe ich Jazzmusik gespielt. Lindenmeyer: Als Pianist? Bronner: Ja, natürlich. Das war erstens das Leichteste und zweitens das, womit ich am ehesten Geld verdienen konnte. Lindenmeyer: Aber Sie haben dann auch arrangiert. Bronner: Natürlich. Lindenmeyer: Konnten aber zunächst keine Noten lesen. Bronner: Oh doch, Noten lesen konnte ich schon. Ich hatte früher in der Schule im Gesangsunterricht Noten lesen gelernt. Nur bin ich dann eben darüber hinausgegangen. Ich habe daneben noch den Quart- und den Quintenzirkel gelernt, ich habe mir den Kontrapunkt selbst beigebracht und später auch noch das Instrumentieren. Aber das kam alles erst eins nach dem anderen. Das war wie bei einer Leiter, bei der man ja auch von einer Sprosse zur nächsten steigt. Wenn mal eine Sprosse gefehlt hat, dann bin ich stehen geblieben, wie sich das so gehört, und habe gewartet, bis mir jemand eine Sprosse eingesetzt hat. Ich habe in dieser Zeit z. B. von Schallplatten die Arrangements abgeschrieben, weil ich wissen wollte, wie es dazu kommt, dass eine Nummer so gut klingt. Ich habe mich also hingesetzt – ich habe Gott sei Dank ein sehr gutes Gehör; ich hatte das schon damals und ich habe das dann ein wenig trainiert –, habe die Schallplatte laufen lassen und dabei die Noten mitgeschrieben. Ich habe das so oft gemacht, bis ich von einer Nummer die ganze Orchestration runterschreiben konnte. Man kann sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, dass früher jemand so etwas gemacht hat – noch dazu mit Platten, die in einer Geschwindigkeit von 78 Umdrehungen pro Minute gelaufen sind. Heute wäre das eine Kleinigkeit: Man würde ein Tonband nehmen, bei dem man sekundenweise stehen bleiben kann. Lindenmeyer: Es gibt da aus dieser Zeit eine ganz merkwürdige Geschichte. Sie sollten in Palästina eines Tages abgeholt werden mit einem Jeep. War das in Tel Aviv? Bronner: Nein, in Haifa. Lindenmeyer: Sie sollten also abgeholt werden, aber das kam nicht zustande. Bronner: Das war dann schon nach dem Krieg, als dann innerhalb Palästinas der Bürgerkrieg richtig losging. Man nennt so etwas immer euphemistischerweise Unruhen. In Wirklichkeit war das aber viel, viel ärger als Unruhen, das war katastrophal. Nun, ich habe damals bei den Engländern gearbeitet. Ich war der musikalische Leiter von einem Soldatensender, der von Haifa aus die ganzen Army-Einheiten mit Unterhaltung und Informationen zu versorgen hatte. Einmal im Monat kam aus England eine Ladung mit neuen Schallplatten. Meine Aufgabe war es dabei immer, zum Hafen hinunterzufahren, um diese Ladung entgegenzunehmen, sie hinaufzubringen, zu sortieren und einzuordnen. Einmal hat jedoch an einem Abend vor so einer Lieferung ein Freund von mir geheiratet. Die Feier hat so lange gedauert, dass ich dann den Treff verschlafen habe. Und dann fuhr eben jemand anderer als ich zum Hafen hinunter. Der Jeep, in dem der Chauffeur und der Freund von mir saßen, fuhr dabei auf eine Mine auf. Der Jeep flog in die Luft und beide waren tot. Wenn ich nicht am Abend davor gefeiert hätte, wäre ich in diesem Jeep gesessen. Natürlich glaubten im Sender alle, ich hätte gewusst, dass da ein Anschlag geschehen würde. Lindenmeyer: Es gab das Misstrauen, Sie wären so etwas wie ein Doppelagent und hätten genau gewusst, dass man einen Anschlag vorbereitet hätte. Bronner: Ich habe danach mit Engelszungen auf die Leute eingeredet. Sie haben es mir jedoch zunächst nicht geglaubt. Es kam dann diese idiotische Haltung von mir dazu, dass ich mich danach gesehnt habe, in diesem Jeep drin gewesen zu sein, damit ich das alles nicht erleben muss, als Verräter, als Quisling usw. angesehen zu werden. Einige Zeit später habe ich den Kommandanten dieses Senders – ein lieber Freund von mir namens Bruce Elliot – davon überzeugen können, dass ich wirklich nichts davon gewusst habe. Mehr als das, ich habe dann sogar erreicht, dass alle Fahrzeuge des Senders – er hieß JCLA – diese vier Buchstaben aufgemalt bekamen. Von da an ist diesen Fahrzeugen nie wieder etwas passiert. Lindenmeyer: War das Image dieses Senders so gut? Bronner: Ja. Lindenmeyer: Das heißt, der Sender war im Grunde genommen akzeptiert, nicht nur bei den Briten, sondern auch bei den anderen Zuhörern. Bronner: Es war die so genannte "Stern-Gruppe", die sich da wichtig gemacht und diese scheußlichen Attentate gegen die Engländer unternommen hatte. Es war wirklich eine grässliche Zeit. Ich hasse es daran zu denken. Ich habe wirklich nur sporadisch darüber geschrieben, nur auszugsweise und nur über die allerärgsten Dinge, an die ich mich noch erinnern konnte. Wir hassen ja heute alle den Terror – ich habe ihn damals schon zu hassen gelernt. Lindenmeyer: Das war wirklich eine Terrorzeit: Die britischen Soldaten waren in Palästina, weil Palästina britisches Mandatsgebiet war; gleichzeitig gab es natürlich den Zionismus, der für ein freies und unabhängiges Israel kämpfte; und es gab drittens die Palästinenser. Mitten in diese eigentlich katastrophale Zeit hinein haben Sie geheiratet. Sie sind dann zusammen mit dieser Ihrer ersten Frau nach Wien zurückgegangen, in die Stadt, in der Sie all das erlebt hatten, was Sie uns eingangs geschildert haben. Bronner: Ich selbst wollte nicht nach Wien zurückkommen. Lindenmeyer: Es war Ihre Frau, die das wollte. Bronner: Ja, meine damalige Frau hat darauf bestanden, ihre Eltern wieder zu sehen, die aus Shanghai zurückgekehrt waren, wo sie die Kriegszeit verbracht hatten. Ich hatte damals ein Engagement nach angeboten bekommen, das ich eigentlich auch annehmen wollte. Meine Frau sagte also zu mir: "Dann fahren wir doch bitte über Wien, damit ich meine Eltern wiedersehen kann." Ich meinte dazu nur: "Ja, von mir aus fahren wir über Wien, aber eines sage ich dir gleich, länger als drei bis vier Wochen bleibe ich nicht in dieser Scheißstadt" – wie ich das damals formuliert habe. Lindenmeyer: Sie blieben dann aber doch ein bisschen länger. Bronner: Ja, 40 Jahre. Lindenmeyer: Sie haben in Wien Theater gemacht, Sie haben Kabarett gemacht, Sie hatten eine große Truppe und sind vielen Menschen begegnet: , , Carl Merz, Peter Wehle, ein besonderer Freund von Ihnen. Kommen wir auf Qualtinger zu sprechen, den großen Schauspieler, der Ihr Lied "Der Papa wird’s scho richten" besonders bekannt gemacht hat. Bronner: Nicht nur dieses Lied, er hat alle möglichen Lieder von mir gesungen und berühmt gemacht. Lindenmeyer: Wie z. B. das Lied "Der g'schupfte Ferdl" und viele andere. Qualtinger haben Sie ja in Wien in einer Sauna kennen gelernt. Bronner: Richtig. Das war sehr komisch. Ich traf ihn aber nicht in der Sauna, wo es heiß ist, sondern das war eine "Sauna im Grünen", wie das damals hieß. Es gab einen Garten davor mit einem Swimmingpool. Ich lag also dort auf einem Liegestuhl vor dem Swimmingpool herum. Und auf einmal tauchte dort ein junger Mensch auf mit einer schlecht sitzenden Badehose, der eine prall gefüllte Aktentasche mit sich herumtrug und einen leeren Liegestuhl suchte. Er setzte sich neben mich und hielt dabei die ganze Zeit über diese prall gefüllte Aktentasche auf dem Schoß. Ich fragte ihn daher: "Warum lassen Sie die Tasche nicht in der Garderobe?" Darauf sagte er: "Weil da meine gesammelten Werke drin sind!" Er hat mir dann ein wenig vorgelesen daraus. Der Inhalt seiner Texte war zwar etwas fragwürdig, aber die Art, wie er gelesen hat, hat mich völlig fasziniert. Er war eine ungeheure Begabung: Er konnte unglaublich viele Stimmen nachmachen und las wirklich sehr intelligent vor. So entstand zuerst eine Freundschaft und dann eine Zusammenarbeit, die über zehn Jahre angehalten hat. Dann ist er aber ein bisschen größenwahnsinnig geworden. Der bedeutende Regisseur Oscar Fritz Schuh ist nämlich eines Tages zu uns in die Vorstellung gekommen. Hinterher kam er zu uns in die Garderobe – der Qualtinger und ich hatten eine gemeinsame Garderobe – und sagte zum Qualtinger: "Hören Sie zu, ich übernehme nächstes Jahr das Schauspielhaus in Köln und ich möchte, dass Sie bei mir 'Richard III.' spielen!" Von diesem Moment an war der Qualtinger nicht mehr zum "derbürsten"! Er hat sofort am nächsten Tag in den Zeitungen verlauten lassen, er werde demnächst "Richard III." spielen. Er hat ihn nie gespielt, wie ich vorwegnehmen kann. Aber er hat von da an aufgehört, Kabarett zu machen. Das war sehr schade, denn am Kabarett fand er niemanden, der ihm das Wasser hätte reichen können. Wann immer er jedoch als Schauspieler aufgetreten ist – ich habe viele seiner Vorstellungen gesehen und ich glaube schon, dass ich das sagen darf, weil ich weiß, von was ich spreche –, hätte jeder Berufsschauspieler das, was er gemacht hat, genauso gut oder sogar besser spielen können. Am Kabarett hat es hingegen niemanden gegeben, der das genauso gut oder besser hätte spielen können. Da war er wirklich absolut einzigartig. Auf der Theaterbühne war er das jedoch nicht. Lindenmeyer: Das war Gerhard Bronner über Helmut Qualtinger. Herr Bronner, ich habe bis jetzt noch nicht verraten, warum Sie eigentlich "Gerhard" heißen. Bronner: Mein Vater war, wie gesagt, ein großer Sozialist. Eines Tages hat er eine Theaterkarte geschenkt bekommen: für "Die Weber" von Gerhart Hauptmann. Dieses Stück hat ihn so sehr beeindruckt, dass er beschlossen hat, mich nach Gerhart Hauptmann zu benennen. Beim Ausstellen der Geburtsurkunde ist dann aber irgendjemandem ein Fehler unterlaufen. Aus dem Grund heiße ich halt "Gerhard" mit weichem "d" statt "Gerhart", wie es der Hauptmann beliebte. Aber man gewöhnt sich an alles. Lindenmeyer: Sie haben dann in Wien auf dem Gebiet des Kabaretts sehr, sehr viel auf die Beine gestellt. Sie haben ein eigenes Kabarett geleitet in der "Marietta- Bar". Das war ein berühmtes Haus, an dem z. B. auch Peter Alexander zum ersten Mal aufgetreten ist. Er hieß damals jedoch noch anders. Bronner: Ja, er hieß Neumayer. Lindenmeyer: War Peter Alexander Ihre Entdeckung? Bronner: Ich weiß nicht. Lindenmeyer: Hat er sich selbst entdeckt? Bronner: Ich habe ihn durch einen Zufall kennen gelernt: Er ist mir aufgefallen, weil er großartig parodieren konnte. Er konnte den Al Jolson genauso gut nachmachen wie den Hans Moser usw. Und so habe ich irgendetwas geschrieben für ihn und das hat er dann bei mir in der Bar ausprobiert. Das kam großartig an. Aber schon ein halbes Jahr später wurde er von einem Schallplattenproduzenten entdeckt und nahm das Lied "Das machen nur die Beine von Dolores" auf. Und von dem Augenblick an war er ein gemachter Mann. Lindenmeyer: Evelyn Künneke gehört ebenso dazu. Bronner: Ja, wir haben sehr viel miteinander gearbeitet in der frühen Anfangszeit des Fernsehens. Ich habe damals in Hamburg gelebt. Es gab seinerzeit in ganz Deutschland nur ein Fernsehstudio, nämlich in Hamburg-Lokstedt. Dort habe ich zweieinhalb Jahre gearbeitet und sehr viel gelernt dabei. Das war recht seltsam, denn damals haben wir alle geglaubt, das Fernsehen wäre in der Lage, das Bildungsniveau der Bevölkerung anzuheben. Lindenmeyer: Aber Hamburg ist eine andere Geschichte, die zu einem anderen Zeitpunkt erzählt werden soll. Ich würde gerne noch einmal nach Wien zurückgehen. Bronner: Bitte. Lindenmeyer: In Wien haben Sie beim österreichischen Rundfunk auch die Sendung "Guglhupf" mitgestaltet, eine ganz legendäre Sendung. Bronner: Die habe ich nicht mitgestaltet, die habe ich erfunden. Lindenmeyer: Das war eine Sendung, die es bis vor kurzem noch gegeben hat. Bronner: Nein, es gibt sie immer noch. Diese Sendung gibt es seit 1978 bis heute. Das ist also die längst lebende Sendung, die es im österreichischen Rundfunk gibt. Lindenmeyer: Auf "Ö1" Bronner: Richtig. Als wir das damals neu erfanden, hat noch mein Freund Peter Wehle gelebt. Diese Sendung lebte u. a. auch davon, dass wir in jeder Sendung drei neue Lieder drin hatten. Vor allem aber lebte diese Sendung von unseren Doppelconférencen. Die sind legendär geworden und sie wurden auch von allen möglichen Leute nachgemacht und nachgesprochen. Als dann Peter Wehle gestorben ist, habe ich noch eineinhalb Jahre weiter versucht, diese Sendung zu machen, aber ich habe einfach keinen anderen Partner gefunden. Und so habe ich dann schließlich das Handtuch geworfen. Heute machen das meine ehemaligen Mitarbeiter selbständig ohne mich und das geht auch sehr gut. Es ist nichts dagegen zu sagen, aber diese Popularität, die wir damals hatten, wird wohl nie wieder erreicht werden. Lindenmeyer: Sie haben ja sehr viel Humor in Ihrem Leben bewiesen, obwohl Ihre Biografie nicht gerade von Witz gekennzeichnet war, sondern von sehr viel Leiden und von sehr viel Verlust. Wie kam es denn dazu, dass Sie diesen Mut zum Humor, zum Witz hatten? In Ihrem Buch über jüdische Witze sagen Sie an einer Stelle, jeder Witz wäre irgendwo ein wenig aus der Trauer heraus geboren. Bronner: Nicht jeder, aber die guten Witze sehr wohl. Ich sage sogar mehr als das. Ich sage, wenn ein Jude in einem nichtjüdischen Sprachraum lebt und nicht gerade das Serum gegen die Kinderlähmung erfunden hat oder gegen die Syphilis oder wenn er nicht gerade ein Rothschild ist oder meinetwegen ein großer Gelehrter, dann gibt es keinen Grund der Welt, warum man ihm zuhören soll. Wenn er aber trotzdem glaubt, etwas sagen zu müssen oder sagen zu sollen, das die anderen Leute interessiert, dann gibt es nur eine Möglichkeit, ein Publikum bzw. einen Zuhörerkreis dafür zu finden: Es geht nur dann, wenn er das komisch sagt. Die meisten meiner Nummern, die ich im Laufe der Jahre geschrieben habe, sind in Wirklichkeit todernst gemeint. Aber je ernster ich eine Nummer gemeint habe, desto komischer habe ich sie serviert. Nennen wir es das "Lockvögeli", wie die Schweizer zu sagen pflegen. Ich versuche also die Leute auf dem Umweg über das Lachen zum Nachdenken zu bewegen. Lindenmeyer: Zum Beispiel mit welcher Art von Witzen? Können Sie einen Witz erzählen? Bronner: Einen Witz einfach so zu erzählen, ist natürlich eine heikle Sache. Lindenmeyer: Sie haben ja eine ganze Witzsammlung hier in diesem Buch verewigt: Witze über die jüdische Mutter, Witze über die Stimme aus dem Jenseits, Witze mit dem Rabbi usw. Bronner: Ja, das sind die normalen jüdischen Witze, die man kennt. Lindenmeyer: Nur einen Witz, bitte. Bronner: Gut, ich werde Ihnen einen Witz erzählen, der nicht in diesem Buch steht und den ich ganz besonders mag. Ein alter Jud geht durch einen Park und sieht plötzlich einen Frosch. Er schaut den Frosch an, der Frosch schaut ihn an und auf einmal sagt der Frosch: "Hör zu, ich bin eine verzauberte Prinzessin, nimm mich mit nach Hause! Wir küssen uns und dann werde ich meine wahre Gestalt annehmen und wir erleben eine berauschende Liebesnacht!" Der alte Jud steckt also den Frosch in die Tasche und geht nach Hause. Daheim angekommen fängt der Frosch an zu protestieren: "Also, was ist jetzt mit dem Kuss?" Daraufhin sagt der alte Jud: "Weißt du, ich hab mir das überlegt. In meinem Alter is a sprechender Frosch viel interessanter als a berauschende Liebesnacht!" Lindenmeyer: Wie sind Sie denn an diese Sammlung jüdischer Witze gekommen? Bronner: Nun, z. T. sind das Dinge, die ich mir selbst ausgedacht habe, z. T. sind das Dinge, die ich mein ganzes Leben lang mit mir herumgetragen habe. Ich habe vor vielen, vielen Jahren mit einem jüdischen Conférencier zusammengearbeitet, der sehr gut gewesen ist. Er hat den interessanten Satz geprägt: "Ein guter Conférencier kommt sein ganzes Leben lang mit zehn Witzen aus. Die Kunst ist nur, jeden Abend ein neues Publikum zu finden." Lindenmeyer: Sie haben also diese Witze nicht bei Ihren vielen Begegnungen mit anderen Menschen ganz bewusst gesammelt. Bronner: Nein, das sind alles Witze, die ich im Gedächtnis hatte. Einige davon, und darauf bin ich sehr stolz, habe ich sogar selbst erfunden. Es ist ja sehr, sehr schwer, einen Witz zu erfinden. Ein Chanson zu schreiben mit so und so vielen Pointen drin, ist viel leichter. Unter anderem ist das deshalb leichter, weil einen dabei die Musik trägt, weil einen die Reime zu einer gewissen Form zwingen. Und die Reime zwingen einen auch zum Dichten, also dazu, eine dichte Sprache zu erzeugen. Lindenmeyer: Und zu einer Präzision der Aussage. Bronner: Genau. Lindenmeyer: Und auch zur Philosophie im Witz. Bronner: Vollkommen richtig. Wenn man diese Art von Arbeit gewohnt ist und sie ausgiebig gelernt hat – und ich habe das, wie ich glaube sagen zu können, in vielen Jahren gelernt –, dann ist es nicht mehr ganz so schwer, einen Witz zu erfinden. Es kostet freilich ziemlich viel Nachdenken. Es ist noch nie so gewesen, dass mir ein Witz einfach so eingefallen wäre. Nein, einen Witz muss man mühsam erdenken. Wenn er dann aber da ist, dann freut man sich. Lindenmeyer: Sie haben nun vor, Ihren Wohnsitz in Florida – Sie pendeln bis heute zwischen Florida und Wien – allmählich aufzugeben und ganz nach Wien zu kommen. Glauben Sie, dass Sie in Wien dann in einer Gegend ankommen, die Sie "Heimat" nennen können? Bronner: Ich habe seit meinem 15. Lebensjahr keine Gegend, in der ich gelebt habe, "Heimat" genannt. Und ich habe nicht vor, Wien zu meiner Heimat zu machen. Ich werde Wien zu meinem ständigen Wohnsitz machen. Wenn man seit seinem 15. Lebensjahr ohne Heimat ausgekommen ist, dann braucht man sie eigentlich nicht mehr. Lindenmeyer: In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie seien sehr dankbar für Ihr Leben – Sie sind nun über 80 Jahre alt –, aber Sie wüssten nicht, bei wem Sie sich bedanken können. Bronner: Das liegt daran, dass ich ein orthodoxer Atheist bin. Ich glaube nicht an Wunder, ich glaube nicht an eine allgegenwärtige Macht, ich glaube nicht an ein allwissendes Wesen und solche Blödheiten. Ich glaube eigentlich nur an das, was ich sehe, was ich höre und was ich erlebt habe. Lindenmeyer: Meine Damen und Herren, aber ich darf mich bedanken bei Gerhard Bronner. Das war das Alpha-Forum, heute aufgezeichnet in einem Hotel in München-Bogenhausen, ein Gespräch mit dem großen Kabarettisten, Komponisten, Arrangeur und Regisseur Gerhard Bronner. Herzlichen Dank für dieses Gespräch. Bronner: Ich danke für Ihre Fragen.

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