Christliche Politiker Und Ihre Verantwortung 45/2011
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45/2011 • 10. NOVEMBER • 179. JAHRGANG ISSN 1420-5041 • FACHZEITSCHRIFT UND AMTLICHES ORGAN 713 CHRISTLICHE POLITIKER UND CHRISTLICHE POLITIK IHRE VERANTWORTUNG 0 716 LESEJAHR 000 olitik aus christlicher Verantwortung» ge- an die «grössere Gerechtigkeit» (Mt 5,30), zu der 717 hörte einst zu den ungefragten Vorausset- diejenigen berufen sind, die den Weg der «Vollkom- GOTT IM zungen europäischer Kultur. Die Mächtigen menheit» gehen wollen. Sie endet ja mit der Er- KORAN wussten, dass ihre Macht nur geliehen war mahnung an die Jünger: «Ihr sollt also vollkommen 000 P und sie eines Tages vor dem Schöpfer und Richter sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist» (Mt 721 der Welt Rechenschaft ablegen sollten. Eine Erinne- 5,48). Die Politik ist aber nach einem bekannten KIPAWOCHE rung daran ist in der Präambel der eidgenössischen Diktum Bismarcks die Kunst des Möglichen, nicht 000 Verfassung geblieben. Meisterhaft hat Calderón des Vollkommenen. Das kluge, kompromissbereite 725 de la Barca diese Mentalität in seinem Werk «Das Abwägen angesichts der Kräfteverhältnisse gehört KURZVIDEOS Gros se Welttheater» ausgedrückt. Die allegori- also wesentlich zum Geschäft der Politik. Nun, dass 000 schen Gestalten – der Bettler, der Landmann, der die Grenzen des Möglichen nicht nur durch des- 728 Reiche, der Weise, die Welt, die Schönheit, aber sen Machbarkeit, durch den Willen zur Macht oder AMTLICHER auch der König – hören bei Calderón immer wie- den gegebenen Spielraum markiert sind, sondern TEIL der, wie der Meister und die Chöre mit mächtiger auch durch Moral und Gewissen, das ist das un- 000 Stimme rufen: «Tue recht! – Gott über euch!» Die- terscheidend Christliche. Daher – ich darf erneut ser Ruf ist die Stimme des Gewissens, von dem der die erwähnte Rede des Papstes zitieren – muss die Dichter Reinhold Schneider geschrieben hat: «Was Politik «Mühen um Gerechtigkeit sein und so die ist Gewissen, wenn nicht das Wissen von der Ver- Grundvoraussetzung für Frieden schaff en», wenn antwortung für das Ganze der Schöpfung und vor der Staat, augustinisch gesagt, nicht zu einer gros- dem, der sie geschaff en hat?» sen «Räuberbande» verkommen soll. Die Geschichte des Christentums lässt sich Christentum und Politik in der unter der Berücksichtigung zur Politik in drei Pha- Geschichte sen unterteilen: Wir haben es zunächst mit einer «Im Gegensatz zu anderen grossen Religionen hat kurzen Phase zu tun, in der das Christentum keine das Christentum dem Staat und der Gesellschaft öff entliche Religion war, sondern eher unterdrückt nie ein Off enbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung wurde. Die Christen konnten sich daher mit dem aus Off enbarung gegeben» – betonte Papst Bene- heidnischen Staat nicht identifi zieren. Dann folgt dikt XVI. in seiner Rede im Deutschen Bundestag eine lange Phase der Christianitas mit der Ver- vom 22. September 2011. In der Tat enthält das schmelzung von Kirche und Staat. Und seit der Neue Testament kein konkretes politisches Pro- Französischen Revolution ist eine neue Zeit ange- gramm. Auch die Bergpredigt kann nicht als ein sol- brochen, in der die «Autonomie des weltlichen Be- ches verstanden werden: Sie ist vielmehr ein Appell reichs» (Gaudium et spes Nr. 36) sich durchsetzt. CHRISTLICHE POLITIKER UND IHRE VERANTWORTUNG 45/2011 Das politische und moralische Selbstver- nicht vertreten und ihrem Recht keine Geltung ständnis der ersten Christen wird in einer Schrift verschaff en» konnten, d. h. «aufgrund ihrer Armut aus der Zeit um 200 beschrieben. Darin heisst es: oder Verzagtheit, des Verfalls oder der Erfahrung «Sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen oder Furcht oder sonst welchen Unvermögens», sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen wie Bartolomé de Las Casas im 16. Jahrhundert Vaterland und jedes Vaterland Fremde. Sie heiraten den Richtern Karls V. sagte, um die schutzlosen in- wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber dianischen Völker insgesamt unter diesem Begriff die geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen zu subsumieren. Viele Werte, die in unserer po- CHRISTLICHE Tisch, aber kein gemeinsames Lager (…). Sie gehor- litischen Kultur selbstverständlich geworden sind, POLITIK chen den bestehenden Gesetzen und überbieten in verdanken wir christlicher Theologie sowie deren ihrem Lebenswandel die Gesetze.» Darin kommt Rezeption der griechisch-römischen Antike. Daran das nach Paradigma von Distanz und Präsenz zum hat Benedikt XVI. bei seiner Rede im Deutschen Ausdruck, aber auch die «neue Moral» der «grösse- Bundestag erinnert. ren Gerechtigkeit», die in der heidnischen Welt er- Bekanntlich hat Novalis die Christianitas staunendes Kopfschütteln, aber auch Bewunderung verklärt und ihr nachgetrauert. Bei manchen christ- hervorrief. Nicht zuletzt diese neue Moral war der lichen Foren ist heute noch ein nostalgischer Hauch Grund für den christlichen Erfolg. zu spüren. Aber das Streben nach einer geschlosse- Als das Römische Reich christlich wurde nen christlichen, verkirchlichten Gesellschaft wäre und eine Gleichförmigkeit von Staat und Kirche nicht nur ein Anachronismus, sondern auch eine eintrat, blieb im westlichen Christentum das Be- Verharmlosung deren historischen Schattenseiten. wusstsein der Unterscheidung «zwischen dem, was des Kaisers, und dem, was Gottes ist (vgl. Mt Die Religionsfreiheit 22,21), das heisst die Unterscheidung von Staat Um nur ein Beispiel zu nennen: Das uns heute so und Kirche», vorhanden, die Benedikt XVI. in der teure Prinzip der Religionsfreiheit, unverzichtba- Enzyklika Deus caritas est (Nr. 28) als «Grund- rer Bestandteil des christlichen Menschenbildes, gestalt des Christentums» bezeichnet. Die Enzy- musste, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde betont klika sieht darin sogar die «Autonomie des welt- hat, auf dem «zweiten mühsamen Weg», d. h. nach lichen Bereichs» begründet. der Überwindung der Verschmelzung von Staat Alles in allem kann gesagt werden, dass in und Christentum durch die Französische Revo- der Zeit der Christianitas sich Staat und Kirche als lution, erkämpft werden. Erst danach sind in der für das seelische und leibliche Wohl der Menschen westlichen Welt die Voraussetzungen, auf denen verantwortlich fühlten, auch wenn Kompetenz- das Christentum als öff entliche Polis-Religion ver- streitigkeiten bestanden. Die Kirche war bemüht, standen werden konnte, gefallen – und dies nicht den Vorrang des Geistlichen sowie zumindest ein zuletzt auch als Folge der Religionskriege und der indirektes Einmischungsrecht in die zeitlichen An- damit verbundenen europäischen Erfahrung, dass gelegenheiten zu verteidigen. Der christliche Staat die Religion als das «Wesen des Unterschieds», wie versuchte, nicht nur die Einmischungstendenzen Karl Marx sie nannte, keine tragfähige Grundlage der Kirche abzuwehren, sondern auch diese zu zur Regelung des friedlichen Zusammenlebens in kontrollieren. Der Investiturstreit im Mittelalter so- einem politischen Gemeinwesen darstellt. wie Gallikanismus, Regalismus und Josephinismus in Ein anderes Merkmal der Christianitas, das der frühen Neuzeit stehen paradigmatisch für diese heute nicht anschlussfähig ist, ist die Betrachtung Probleme. Der Protestantismus verzichtete weitge- der einzelnen Laien in der Politik und der christlich- hend auf die klassische katholische Unterscheidung demokratischen Parteien als longa manus oder ver- von Kirche und Staat und übertrug diesem die cura längerten Arm des Klerus. Politisches Prälatentum religionis, was auch die Regelung der inneren Ange- ist heute genauso wenig hinnehmbar wie eine linke legenheiten der Kirche einschloss. politische Theologie, die aus dem Evangelium eine Es waren christliche Theologen und Philoso- revolutionäre Ideologie macht. phen, die in dieser Zeit in Fürstenspiegeln, scholas- Die katholische Kirche betont mit dem Kon- tischen Traktaten und moralphilosophischen Schrif- zil, dass aus ihrer religiösen Sendung «Auftrag, Licht Mariano Delgado ist ten über eine gute Regierung nach dem christlichen und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft ordentlicher Professor Menschenbild nachdachten: über den Vorrang des zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Gemeinwohls, über den Zusammenhang von Ge- behilfl ich zu sein» (Gaudium et spes Nr. 42), fl ies- Universität Freiburg, Dekan rechtigkeit und Recht, Politik und Moral, über Soli- sen. Aber der Weg dazu kann nur die mühsame der Theologischen Fakultät darität und Subsidiarität, über eine Sozialpolitik für Unterscheidung der Geister und der sachbezoge- der Universität Freiburg die Armen und Kranken sowie über die Sorge für ne Diskurs sein. Konnte Francisco de Vitoria, der und Präsident der Vereinigung für Schweizeri- die miserabiles. Als solche wurden jene Personen Begründer der Schule von Salamanca, 1527 seine sche Kirchen geschichte. bezeichnet, «die aufgrund ihres Elends ihre Sachen öff entliche religionspolitologische Vorlesung über 714 CHRISTLICHE POLITIKER UND IHRE VERANTWORTUNG 45/2011 die «staatliche Gewalt» mit den Worten einleiten, christlichen Politikern nicht schaden. Das setzt ge- «Aufgabe und Amt des Theologen reichen so weit, wiss eine intensivere Auseinandersetzung mit der dass off enbar kein Gegenstand, keine Untersuchung, kirchlichen Lehre und der christlichen Ethik voraus, kein Gebiet dem Fach und Vorhaben der Theolo- um das eigene Gewissen zu bilden: «Nein und Ja gie fremd ist» – so würden diese Worte heute im sind schnell gesagt, erfordern aber langes Nachden- Munde eines Theologen oder Prälaten als unzuläs- ken» – so der kluge Moralphilosoph Baltasar Gra- sige