Sabine MUSENBICHLER BA

BANALITÄT DES BÖSEN

Adolf Eichmann und Franz Murer

MASTERARBEIT

eingereicht an der KATHOLISCH-THEOLOGISCHEN FAKULTÄT der LEOPOLD-FRANZENS-UNIVERSITÄT INNSBRUCK

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts

Betreuer: ao. Univ.- Prof. Dr. Willibald Sandler Institut für Systematische Theologie

Innsbruck, Oktober 2018

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.

Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form nicht als Magister-/ Master-/Diplomarbeit/ Dissertation eingereicht.

Datum Unterschrift

Danksagung

Ein großes Dankeschön geht an erster Stelle an meine Eltern Hartwig und Sonja, welche mir das Studium ermöglicht und mich immer unterstützt haben. Die vielfachen kompetenten Hilfestellungen in Sachen ULB sollen hier auch nicht unterwähnt bleiben. Vielen Dank euch auch für das mehrmalige Korrekturlesen dieser Arbeit.

Ein riesen Danke auch meinem Verlobten Michael. Ohne seine Unterstützung, Motivation und Aufmunterungen, wäre diese Arbeit wohl nie fertig geworden. Sein Verständnis, dass ich diverse Wochenenden, Abende, sowie unseren Urlaub mit der Fertigstellung der Masterarbeit verbracht habe, ist nicht selbstverständlich. Auch dir gebührt ein Danke für die Korrekturen und Anmerkungen. Du warst und bist mir eine große Stütze!

Ich möchte mich bei meiner Schwester Susanne bedanken. Ihre Fröhlichkeit, ihr Tiefsinn, auch die eine oder andere Diskussion mit ihr haben viel zu dieser Arbeit beigetragen. Ebenfalls möchte ich mich bei dir für die Anregungen und Korrekturen der Masterarbeit bedanken.

Auch Prof. Willibald Sandler gebührt mein Dank. Er hat mich bei der Ausarbeitung dieser Arbeit, wo es nötig war, unterstützt und mir auch den nötigen Freiraum, wo ich ihn gebraucht habe, gelassen.

Bedanken möchte ich mich auch bei Prisma Film – und Fernsehproduktion für das unkomplizierte und freundliche zur Verfügung stellen des Drehbuches des Films „Murer- Eine Anatomie des Prozesses“.

Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort ...... 1

2 Einleitung ...... 2

3 Adolf Eichmann - Der gehorsame Bürokrat ...... 5

3.1 Biographischer Abriss ...... 5

3.2 Eichmanns Memoiren ...... 6

3.3 Hannah Arendts Sichtweise auf Eichmann ...... 13

3.4 Gegendarstellung zur Sichtweise Hannah Arendts ...... 15

4 Franz Murer - Der Schlächter von ...... 19

4.1 Biographischer Abriss ...... 19

4.2 „Der Mem is in moken“ ...... 23

4.3 Der Prozess - Österreich gegen Franz Murer ...... 27

5 Resümee zu Eichmann und Murer ...... 32

6 Theologie des Verzeihens nach 1945 ...... 35

6.1 Nicht vergessen, nicht verzeihen - Valdimir Jankélévitch ...... 36

6.2 Das unverzeihbare Verzeihen - Jaques Derrida ...... 44

6.3 Vergeben in der Bibel ...... 51

6.3.1 Das Erste Testament ...... 51

6.3.2 Das Zweite Testament ...... 54

7 Conclusio ...... 60

Abkürzungsverzeichnis ...... 66

Literaturverzeichnis ...... 67

Zeitschriftenartikel ...... 69

Internetquellen ...... 69

Abbildungsverzeichnis: ...... 70

1 Vorwort

Diese Masterarbeit findet ihren Ausgangspunkt in der Seminararbeit zum Dogmatikseminar >>Themenschwerpunkte nach der Fachliteratur: Universale Versöhnung von Opfern und Tätern? - Dramatische Soteriologie nach Auschwitz<<.

Thema des Seminares war das Zusammenspiel zwischen Opfer und Täter, Schuld und Vergebung. Ein großes Diskussionsthema war unter anderem die Frage: „Wer ist Täter und wer ist Opfer?“. In der vorliegenden Arbeit wird versucht zu klären, ob die Täter-Opfer-Frage in einer Generation bleibt oder ob diese Frage in die nachfolgenden Generationen vererbt wird.

Eine weitere, aufzugreifende Frage wurde im Seminar auch angesprochen. Ob solche Verbrechen, wie sie unter dem NS-Regime geschehen sind, überhaupt verzeihbar sind. Im Seminar wurde sehr viel diskutiert, sodass ich mich entschlossen habe, einige dieser Diskussionspunkte in meiner Masterarbeit zu eruieren und zu erweitern.

Zu Beginn dieser Arbeit werden zwei Personen, Adolf Eichmann und Franz Murer vorgestellt, die während des zweiten Weltkrieges höhere Positionen innerhalb der NS-Regimes innehatten. Die Schuldfrage, die sich aus diesen beiden Biographien ergibt, wird im Anschluss mit Ansichten Jankélévitch‘ und Derridas diskutiert.

1

2 Einleitung

Vor 80 Jahren war der viel zitierte „Anschluss“ Österreichs an Hitler- Deutschland. In diesem Gedenkjahr bietet es sich an, eine Masterarbeit im Umfeld dieses Ereignisses, beziehungsweise über die Konsequenzen dessen zu schreiben. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass auch 80 Jahre nach dem Beginn der Naziherrschaft in Österreich die Themen Schuld, Vergebung und die daraus resultierende Verantwortung noch nicht in ausreichenden Maße geklärt und aufgearbeitet sind.

Nach Ende des Krieges verlor Österreich seinen Halt und glitt gewissermaßen in die Opferrolle und in eine Kultur des Verdrängens. Österreich bezeichnete sich – erfolgreich - als „erstes Opfer“ Hitlers. Diese Opferrolle wurde aber nach und nach von Historikern zurückgewiesen.1 Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen und auch neue Blickwinkel und Sichtweisen einzubringen.

Mit dieser Arbeit wird dieser Versuch gewagt. Die Frage nach der persönlichen Schuld eines Menschen, der Teil dieses Systems war, kann nicht so einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Vielmehr müssen verschiedene Dimensionen betrachtet werden.

Im Rahmen dieser Masterarbeit werden zwei Österreicher näher beleuchtet, die in unterschiedlichen Positionen im Regime des Nationalsozialismus tätig waren. Adolf Eichmann und Franz Murer hatten unterschiedliche Aufgabengebiete. Eichmann verbrachte die meiste Zeit hinter seinem Schreibtisch und Murer war im Ghetto von Vilnius aktiv tätig. Eichmann wurde in Israel der Prozess gemacht und zum Tode verurteilt. Murer hingegen wurde in Österreich freigesprochen.

1 Uhl, Heidemarie; Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik; in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1/2001; S. 22. 2

Die vorliegende Masterarbeit versucht die Schuldfrage der beiden Männer zu beleuchten und, soweit dies möglich ist, die subjektive Sichtweise Eichmanns und Murers miteinzubeziehen. Ebenso werden die Prozesse und Urteile und deren Auswirkungen auf die Öffentlichkeit gegenübergestellt. Kann man hier, insbesondere beim Prozess gegen Murer, eine Stilisierung der Täter zu Opfern sehen?

Im ersten Teil der Masterarbeit wird als Literatur „Eichmann in Jerusalem - Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, ein kontrovers diskutiertes Buch von Hannah Arendt verwendet. Es wird versucht anhand der Beobachtungen und Recherchen von Arendt ein Bild des Mannes zu zeichnen, welcher während des 2. Weltkrieges eine tragende Position innehatte. Diese Ausführungen werden durch autobiographische Elemente Eichmanns selbst unterstützt. Es soll aber auch eine Gegenposition dargestellt werden, denn wie bereits erwähnt, wurde das Werk Arendts breit diskutiert. Außerdem steht Franz Murer im Blickpunkt. Als Hauptquelle für diesen Teil dient „Rosen für den Mörder: Die zwei Leben des SA- Mannes Franz Murer“ von Johannes Sachslehner.

Diese beiden Biographien werden nachfolgend im zweiten Teil der Arbeit unter theologischen Gesichtspunkten beleuchtet und zusammengeführt. Hierbei wird darüber hinaus die Schuldfrage zum Brennpunkt. An dieser Stelle kommen hauptsächlich Vladimir Jankélévitch und Jaques Derrida zu Wort.

Allen weiteren Überlegungen geht die grundlegende Frage voraus, wer ist überhaupt ein Täter? Sind die Bürokraten, die hinter ihren Schreibtischen saßen, im selben Ausmaß schuldig, wie ein SS-Soldat, welcher Menschen erschossen hat?

Hier kann man einerseits von einem weitem und andererseits von einem engen Täterkreis sprechen. Unter dem Aspekt des weiten Täterfeldes fallen alle Menschen, welche sich dem Nazi-Regime nicht widersetzt haben. Das umfasst unter anderem SS-Soldaten, Mitglieder der , den einfachen 3

Soldtaten an der Front, den Beamten im Verwaltungsapparat, aber auch jene Bürger, die „weggeschaut“ haben. Dem engen Täterkreis zuzuordnen sind jene, die durch direkte Befehle, Schikanen und Töten Schuld auf sich geladen haben.

Des Weiteren kann auch noch zwischen aktiver und passiver Täterschaft unterschieden werden. Aktive Täterschaft meint das aktive Töten bzw. Morden, aber auch das Erstellen von Listen über Menschen, welche in ein KZ deportiert werden sollten. Unter passiver Täterschaft fallen all jene Menschen, die zwar nicht aktiv das System unterstützt haben, aber dennoch durch ihr Nicht-Eingreifen das Funktionieren dieser Gräuelherrschaft ermöglicht haben.

Es darf bei dieser Klassifizierung aber nicht vergessen werden, dass die Situation vor 80 Jahren nicht so einfach war. Wer sich dem Widerstand anschloss, musste mit Inhaftierung, wenn nicht sogar mit dem Tod rechnen. Diese Tatsache wird durch die Biographien unzähliger Widerstandskämpfer belegt. Stellvertretend sollen hier Pater Franz Reinisch, Franz Jägerstätter und die Bewegung der Weißen Rose erwähnt werden. Diese und viele andere Menschen widersetzten sich zum einem, den Fahneneid zu schwören oder waren im organisierten Widerstand aktiv. Sie alle haben mit dem Leben bezahlt.

Weiterhin wäre es eine fehlerhafte Definition, die Menschen ausschließlich in Täter und Opfer einzuteilen. Man muss hier differenzierter an die Sache herangehen und darf die persönlichen Geschichten der Täter nicht außen vor lassen. Dies soll keineswegs als Entschuldigung oder gar als Befreiung von der Schuld gesehen werden, sondern es soll nur aufgezeigt werden, dass die Menschheit sich nicht nur in gut oder böse einteilen lässt.

Die vorliegende Arbeit zeigt auf, dass unabhängig von Vergebung, Versöhnung und Verjährung, die Nachfolgestaaten und jeder einzelne Bürger dieser in der Verantwortung steht.

4

3 Adolf Eichmann - Der gehorsame Bürokrat

3.1 Biographischer Abriss

Zur Klärung der Person Adolf Eichmanns, sowie auch zum besseren Verständnis, erfolgt hier nun ein kurzer Abriss über dessen Leben, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Adolf Eichmann wurde im März 1906 in Solingen, Nordrhein-Westfalen, geboren. Seine Eltern übersiedelten einige Jahre später nach Linz, Oberösterreich. Nachdem er die „Höhere Bundeslehranstalt für Elektrotechnik, Maschinenbau und Hochbau“ ohne Abschluss verließ, war er bis 1933 unter anderem als Bergarbeiter und als Verkäufer in verschiedenen Firmen, bei denen sein Vater Teilhaber war, tätig. Am 1. April 1932 trat Eichmann der (damals noch) in Österreich verbotenen NDSAP bei und zog nach Deutschland.2 Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Eichmann bei der Vacuum-Oil- Company, wurde aber 1933 entlassen. Eichmann selbst gab als Grund für seine Entlassung die Mitgliedschaft bei der NSDAP an.3

Er kam mehr durch Zufall als durch Streben zur Partei. Er war ein Mensch, der sich besonders in Vereinen und Gruppen wohlfühlte. Eichmann selbst sagte vor Gericht aus: „[…] wider mein Erwarten und auch ohne, dass ich den Vorsatz gefasst hätte. Das ging so schnell und so plötzlich.“4 Er wurde nach einer harten Ausbildung in Bayern in den Sicherheitsdienst (SD) und zum Unteroffizier bestellt.5 In Berlin arbeitete er ab dem Jahr 1935 im SD- Hauptquartier, als >>Sachbearbeiter für die zionistische Weltorganisationen<<. Eichmann beschäftigte sich eingehend mit dem

2 Eckelmann, Susanne; Rüdiger Mark; https://www.dhm.de/lemo/biografie/adolf-eichmann. (eingesehen 12.03.2018). 3 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S.69. 4 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613; S. 106. 5 ebd. S. 70f. 5

>>Judenproblem<<. Er begeisterte sich stark für den Zionismus6 und unterhielt zu diesem Zwecke Kontakte zu Zionisten und auch Synagogenvorstehern. Zeitweise arbeitete er in Wien und errichtete dort die >>Zentralstelle für jüdische Auswanderung<<. Er baute in Wien die jüdische Struktur wieder auf, welche im Vorfeld durch die Nazis bereits zerstört wurde. Eichmann erkannte, dass er bei seiner Arbeit auf die weltweite jüdische Vernetzung angewiesen war.

Ab Oktober 1939 hatte er die Leitung der >>Reichszentrale für jüdische Auswanderung<< in Berlin inne. In Eichmanns Zuständigkeit fielen die Erstellung von Transportlisten über Juden, sowie die Planung der Transportzüge in Konzentrationslager und Ghettos.

Nach dem Ende des Weltkrieges lebte er unter verschiedenen falschen Namen in Deutschland, bis er dann 1950 beschloss nach Argentinien über die sogenannte Rattenlinie zu emigrieren. Dort lebte er mit seiner Frau und seinen vier Kindern bis 1960, als ihn der Mossad aufspürte und nach Israel entführte.7

In Israel wurde Eichmann 1961 der Prozess gemacht, welcher mit dem Todesurteil endete.8

3.2 Eichmanns Memoiren

Eichmanns Werdegang und seine Tätigkeit während des Naziregimes werfen einige Fragen auf. In seiner Jugend und auch als junger Erwachsener war Eichmann kein Antisemit, man kann seine Persönlichkeit eher als Suchender beschreiben. Eichmann suchte seinen Platz in dieser Gesellschaft. Er brach

6 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613. S. 71. 7 Man kann hier durchaus von einer Entführung sprechen, da der Mossad Eichmann ohne rechtliche Grundlage aus Argentinien nach Israel brachte. Es besteht kein Auslieferungsabkommen zwischen den beiden Ländern. Vgl.: Eckelmann, Susanne; Rüdiger Mark; https://www.dhm.de/lemo/biografie/adolf-eichmann. 8 Eckelmann, Susanne; Rüdiger Mark; https://www.dhm.de/lemo/biografie/adolf-eichmann. (eingesehen: 12.03.2018). 6

die Schule ab und bekam seine Anstellungen durch seinen Vater und andere Familienmitglieder. Er selbst sagt über seine Zeit vor dem Eintritt in die NSDAP: „In den letzten zwanziger Jahren war ich Angestellter der österreichischen Niederlassung der Vacuum-Oil-Company, bezog für damalige Verhältnisse ein sehr großes Gehalt und lebte fröhlich und unbekümmert.“9

Eichmann versucht in seinen Aufzeichnungen zu erklären, wie es zu dem Judenhass in der Bevölkerung gekommen war, welcher dann schließlich den Höhepunkt in der Shoah fand: Viele Menschen innerhalb Deutschlands, aber auch in anderen Ländern, waren bestrebt das Judentum von ihren „Wirtsvölkern“ zu befreien.10 Eichmann erklärt dies damit, dass im Jahr 1932 das Judentum in vielen für die Deutschen wichtigen Gebieten „zu einem unerhörten hohen Prozentsatz“ 11 vertreten war. Sie gaben für ihre persönlich schlechte wirtschaftliche Lage den Juden die Schuld. Es erscheint jedoch seltsam, dass Eichmann dieses Argument vorbrachte, immerhin schreibt er doch selbst, dass er in der Vacuum –Oil -Company viel verdiente.

Woher kommt also diese Denkweise? Dabei zu beachten ist, dass Eichmann diese Zeilen nach dem Ende des 2. Weltkrieges in seinem Exil in Argentinien schrieb. Es kann also durchaus der Fall sein, dass Eichmann der Eintritt in die NSDAP und seine Karriere in der SS, seine Einstellung zur Judenfrage prägten und er seine Meinung anpasste, um Erfolg zu haben. Es wirkt aber auch wie ein Versuch der Rechtfertigung seiner Taten, ohne jedoch die Schuld einzugestehen.

Eichmann hatte schon in den Anfängen der NSDAP in Österreich Sympathie für die Partei gehegt. Diese baute jedoch nicht auf der Gesinnung oder des Parteiprogramms auf, sondern war lediglich der „Ordnung und Disziplin und

9 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S. 65. 10 ebd. S. 61. 11 ebd. S. 61. 7

des guten Marschierens“12 geschuldet. Eines Tages las er im >>Völkischen Beobachter<< von einem Überfall auf SA- und SS-Männer, in diesem Artikel stand der Satz „Für etwas Großes starben sie dahin!“. Dieser Artikel traf bei Eichmann auf Anklang, er fühlte sich freundschaftlich verbunden mit den Nationalsozialisten.13

Nach seinem spontanen Eintritt in die SS 1931 wurde er aufgrund dieser Mitgliedschaft zwei Jahre später von der Vaccum -Oil -Company gekündigt.14 Dies kann man als Ausgangspunkt für Eichmanns Karriere innerhalb der SS ansehen. Nach der Kündigung absolvierte er eine Ausbildung zum Unteroffizier in Dachau, welche ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit brachte.15

Eichmann beschrieb den Nationalsozialismus als Zusammenhalt und Kameradschaft.16 Augenscheinlich fehlte ihm dieses Gemeinschaftsgefühl in seinem bisherigen Leben, jetzt bekam er endlich jene Anerkennung, die ihm bisher verwehrt geblieben war, nach der er jedoch strebte. Dieses Streben nach Anerkennung zog sich durch sein Leben. Er wollte nie anecken oder gar bei seinem Vorgesetzten für Unmut sorgen. Eichmann sah sich als braver Beamter, welcher einfach seine Arbeit erledigte.

Seine judenfeindliche Einstellung entwickelte Eichmann als er zum >>Sachbearbeiter für die zionistischen Weltorganisationen<< wurde. Er begann sich mit dem Zionismus, dem Judentum und dem Hebräischen auseinander zu setzen. Eichmann schrieb in seinen Memoiren, dass er begeistert von Adolf Böhms Buch „Der Judenstaat“ war. Es ist aber anzunehmen, dass er damit Theodor Herzls Werk meint. Aber im Grunde tut es nichts zur Sache, welchen Zionisten Eichmann las. Eichmann setzte sich

12 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980;. S. 67. 13 ebd. S. 67. 14 ebd. S. 69. 15 ebd. S. 70. 16 ebd. S. 71. 8

jedenfalls daraufhin für eine zionistische Lösung des >>Judenproblems<< ein. Er wollte die Juden aus dem deutschen Reich aussiedeln und das jüdische Volk in einem anderen Teil der Erde konzentriert ansiedeln. Er beschrieb dies so, als ob die Juden dieses „Angebot“ freiwillig annahmen.

Man weiß jedoch aus der allgemeinen Historie, dass das Leben als Jude in Österreich und Deutschland auch schon in der Anfangszeit des Naziregimes erschwert wurde. Deshalb war es natürlich auch im Interesse der Juden zu emigrieren und sich woanders ein sicheres, neues Leben aufzubauen. Es gab auch Bestrebungen von Zionisten einen eigenen Staat zu errichten, die Juden wollten nach Jahrhunderten der Diaspora ein eigenes Land besitzen, in dem sie ohne Schikanen und Ausgrenzung ein freies Leben führen konnten. Es ist allerdings eine Farce zu sagen, dass die Juden aus diesem Grund freiwillig aus Österreich und Deutschland emigrierten. Die Stimmung war schon vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges judenfeindlich und so erschien es für viele Juden sicherer zu sein auszureisen.

Um die Emigration der Juden organisieren zu können, baute Eichmann in Wien wieder die jüdischen Strukturen auf, welche, wie er selbst schreibt, durch den Übereifer der Nazis demontiert wurden.17 Eichmann griff auf den jüdischen Verwaltungsapparat zurück, um Juden erfassen zu können und deren Ausreise zu organisieren.

Dies ist differenziert zu betrachten: Einerseits kann sich Eichmann so darauf herausreden, dass die Juden das selbst wollten und er sie dabei nur unterstützt hat, indem er die Bürokratie vereinfachte18. Andererseits arbeiteten so die Juden besonders in Wien und in anderen Städten, wo dieses System nach dem Vorbild der Wiener Organisation nachgebaut wurde, aber auch in Übersee mit den Menschen zusammen, die für das unsägliche Leid Millionen

17 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S. 86. 18 ebd. S. 90. 9

Juden verantwortlich waren. Dies wurde, unter anderem auch durch Hannah Arendt, viel kritisiert. Es stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Juden nicht mit Eichmann kooperiert hätten, wären nicht noch mehr Juden umgekommen und wären viel weniger Juden emigriert?

Wurde durch diese Handlungen, die zweifelsohne tausenden Juden das Leben retteten, Eichmanns Schuld minimiert? Es darf nicht vergessen werden, dass nicht alle Juden Zionisten waren. Eichmanns Maßnahmen betrafen auch assimilierten Juden, die ihre Religion nicht ausübten und Österreich beziehungsweise Deutschland als ihre Heimat betrachteten. Aber auch diese Juden wurden durch Schikanen und durch dieses Ausreisesystem zur Emigration gezwungen.

Eichmann hat sich dadurch auch schuldig gemacht. Denn er hat in einem antisemitischen Umfeld Strukturen geschaffen, die die Juden zur Ausreise zwangen. Besonders die Motivation zu seinen Handlungen zeigt auf, dass er schon in diesem frühen Stadium seiner Karriere Schuld auf sich geladen hatte. Zum einen gibt Eichmann an, er war ein glühender Zionist und wollte dem jüdischen Volk zu einem eigenen Land verhelfen, zum anderen, und das war meines Erachtens auch der Hauptgrund für den zionistischen Gedanken, das „Wirtsvolk“ von den Juden zu befreien.19

Eichmann verfolgte die Idee einen Judenstaat zu errichten noch weiter. So wollte er dies 1939 in Polen verwirklichen. Er überzeugte einen seiner Vorgesetzen, Stahlecker, von seiner Idee, in Polen in einem abgegrenzten Gebiet einen Judenstaat zu schaffen. Eichmann rechtfertigt seine Idee dadurch, dass durch die Errichtung des Judenstaates in Polen die favorisierte, politische Lösung der Judenfrage umgesetzt würde. Die Idee dahinter war, dass die Juden sich hier selbst verwalten und auch zuvor beim Aufbau des Staates helfen sollten. Jedoch kam es dann doch nicht zur Errichtung des

19 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S. 61. 10

Staates, die genauen Gründe schrieb Eichmann nicht.20

Eichmann betonte immer wieder, eine politische Lösung angestrebt zu haben. Durch seine Bestrebungen den Juden bei der Emigration zu helfen und einen Judenstaat zu errichten, versucht er sich zu rechtfertigen. Aber als diese Bestrebungen zu wenig nutzten und das Thema der Endlösung immer präsenter und schließlich umgesetzt wurde, agierte Eichmann nicht dagegen. Im Gegenteil, er führte alle Befehle, welche er erhielt, gewissenhaft aus. Eichmann war der Meinung, dass es ihm nicht zustand Befehle oder Weisungen zu hinterfragen:

„Es war nicht unsere Aufgabe zu untersuchen welche Gründe die Reichsregierung dafür hatte, in diesem Feind Bedrohung von Volk und Staat zu sehen. Als Polizei hatten wir lediglich entsprechend zu verfahren."21

Eichmann weist hier jegliche Schuld von sich. Es stellt sich aber die Frage, ob es nicht einen mündigen und verantwortungsbewussten Menschen ausmacht, Dinge zu hinterfragen. Es muss der christliche Grundsatz, welcher auch im Humanismus wesentlich ist, Not leidenden Menschen zu helfen, bedacht werden. Vor diesem Hintergrund widerspricht das Handeln Eichmanns den Wertvorstellungen.

Eichmann hat sich den kategorischen Imperativ Immanuel Kants zurechtgelegt, beziehungsweise folgt er der Formulierung von Hans Frank. Formulierte Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“22, so legte Frank den kategorischen Imperativ folgendermaßen aus: „Handle so, dass der Führer,

20 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S. 118-120. 21 ebd. S. 111. 22 Valentiner, Theodor [Hg.]; Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2008 Stuttgart, S. 53. 11

wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“23 Dadurch war für Eichmann seine Tätigkeit auch moralisch klar: er bekam Befehle und führte diese in dem Wissen aus, Hitler hätte sie gebilligt.

Die Interpretation des kategorischen Imperatives, welcher Eichmann folgte, ist allerdings gegen das, was Kant damit ausdrücken wollte. Kant geht bei seiner Denkweise von einem alltäglichen moralischen Bewusstsein aus. Dadurch wird uns gesagt, was richtig und was falsch ist. Man muss sich also vor jeder Handlung fragen, ob man das, wie man einen anderen Menschen behandelt, auch will, dass es einem selbst so widerfährt.

Kant war der Meinung, und darauf beruht auch der kategorische Imperativ, dass man den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes vereinen muss. Kant meinte mit dem Geist des Gesetzes jedoch die praktische Vernunft, nicht die Gesetze, die ein Mensch erlässt, in diesem Fall Hitler.24 Eichmann bog sich den kategorischen Imperativ so zurecht, dass er eine Legitimation für sein Handeln erhielt und so jegliche Regung seines Gewissens ruhig stellen konnte.

Eichmann hatte sich aber insofern an das Gebot Kants gehalten: Es gibt keine Ausnahmen vom Gesetz, man hat sich an das Gesetz zu halten. Dies impliziert der kategorische Imperativ von Kant, denn er würde nicht funktionieren, wenn sich nicht jeder an die praktische Vernunft halten würde. Wie schon erwähnt ist der Unterschied daran fest zu machen, was das Gesetz ist, woher das Gesetz kommt. Dieses Festhalten am Gesetz und dadurch, dass Eichmann es nicht hinterfragte, lässt ihn grausam dastehen und dies ist auch bei den Richtern in Jerusalem so angekommen. Dadurch wird aber auch ein anderes Bild von Eichmann gezeichnet: er war pflichttreu, er tat dies, was ihm aufgetragen wurde.

23 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613 S.232. 24 ebd. S. 233. 12

Diese Gesetzestreue befreit ihn jedoch nicht von der Schuld, die er auf sich geladen hatte. Arendt zeigt mit dieser Argumentation auf, dass der Grund für seine Taten kein blinder Hass, Fanatismus, oder Antisemitismus war.

3.3 Hannah Arendts Sichtweise auf Eichmann

Arendt wurde 1906 in Deutschland in eine jüdische Familie geboren. Sie studierte Philosophie, Theologie und klassische Philologie in Marburg, Freiburg und Heidelberg. Durch ihre Studien kam sie unter anderem mit Martin, Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers in Kontakt. Sie emigrierte 1933 nach Paris, wo sie sich in der zionistischen Politik engagierte. Mit ihrem zweiten Mann Heinrich Blücher emigrierte sie über Spanien und Portugal in die USA. Sie lebte bis zu ihrem Tod 1975 in New York, veröffentlichte einige Bücher und hielt Vorlesungen.25

Hannah Arendt löste mit ihrem Bericht über den Prozess Eichmanns in Jerusalem, welcher in der Zeitschrift >>New Yorker<< und später auch als Buchform mit dem Titel >>Eichmann in Jerusalem<< publiziert wurde, eine Kontroverse aus.26 Arendt versuchte objektiv zu berichten und sie ließ auch Eichmann selbst zu Wort kommen. Einen solchen Bericht hatte die Gesellschaft nicht erwartet, schon gar nicht von einer Jüdin, die selbst vor der Nazi-Herrschaft geflohen und ausgewandert ist. Arendt ging es jedoch darum die Motivation der NS-Täter zu beleuchten, die ihrer Meinung nach bei den Prozessen in Nürnberg zu kurz gekommen waren.27

Das Interesse Arendts an der NS-Zeit war nicht neu, denn schon in ihrem Werk >>Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft<<, welches 1951 erschien, vertrat

25 http://www.hannaharendt.net/index.php/han/pages/view/vitaArendt (eingesehen: 14.09.2018) 26 ebd. Einleitende Worte: >>Zu diesem Buch<< in: Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613. 27 Mommsen Hans; Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann; in: Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613 S. 17. 13

sie die Auffassung, dass die Massenvernichtung, die unter der Bezeichnung >>Endlösung<< bekannt wurde, bereits in der Kolonialzeit angewandt wurde.28 Sie ging in ihrem Bericht nicht nur auf den Prozess gegen Eichmann an sich ein, sondern Arendt beschrieb auch die (damalige) Situation in Israel. So schrieb sie, dass nur Ehen zwischen zwei Juden in Israel gültig seien und erwähnt, dass es genau darum unter anderem auch in den Nürnberger Prozessen ging.29

Ebenfalls verfasste Arendt ihre Gedanken offen über die Rolle von Judenräten und verschiedenen jüdischen Organisationen im Holocaust. Sie warf, wenn auch in überzeichneter Form den Vertretern vor, „ihren eigenen Untergang zu organisieren“30

Arendt wollte Eichmann nicht von seinen Taten freisprechen oder Rechtfertigung für ihn finden. Ihr ging es darum, aufzuzeigen, wie Eichmann zu dem geworden war, was er war. Sie strich heraus, dass Eichmann kein Einzelfall war, sondern dass er in einem System ein Mittäter war. Deutlich wird dies beispielsweise daran, dass Eichmann in einer Welt lebte, in der viele seiner Mitmenschen sein Tun befürworteten und unterstützten.31 Im Gegensatz zum Staatsanwalt des Prozesses, vorverurteilte Arendt Eichmann nicht als „Ungeheuer“, sondern war versucht ein objektives Bild von ihm zu zeichnen. Arendt war zwar der Überzeugung, dass Eichmann schuldig war, für Diskussionen hat jedoch ihre Begründung der Schuld ausgelöst: „[..] seine Schuld war verursacht durch den sozialen Druck eines totalitaristischen Systems, für das er persönlich nicht verantwortlich war, und durch seinen falschen Idealismus.“32

28 Mommsen Hans; Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann; in: Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613 S. 17. 29 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613. S. 75. 30 Brief an Karl Jaspers; 23.12.1960; zit. nach.: Mommsen Hans; Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann; in: Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613; S. 19. 31 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613; S. 129. 32 Krumbacher Friedrich Arnold [Hg.]; Die Kontroverse Hannah Arendt- Eichmann und die Juden; München 1964; S. 183. 14

Hannah Arendt wurde auch wegen dem Untertitel >>Die Banalität des Bösen<< kritisiert. Sie wollte damit jedoch nicht die Taten und das Verhalten Eichmanns bagatellisieren, sondern festhalten, dass sie Eichmann eine gewisse mindere Intelligenz, „Dummheit“, unterstellte.33 Ihre Intention war es mit diesem Untertitel ebenfalls aufzeigen, dass Eichmann mehr oder weniger austauschbar gewesen sei. Selbst wenn Eichmann sich den Befehlen widersetzt hätte, wäre die >>Endlösung<< dennoch forciert worden. Es wäre schlicht und einfach ein anderer Mann an diese Position gesetzt worden. Eichmann steht stellvertretend für den Durchschnittsdeutschen, wie auch für den Durchschnittsösterreicher, der sich instrumentalisieren ließ.34 Nicht alle Deutschen und Österreicher waren fanatische und überzeugte Nationalsozialisten und Antisemiten. Anhand Eichmann Entwicklung wird deutlich, dass durch ein solches Regime die moralischen Prinzipien und die Urteilsfähigkeit eines Menschen verschwinden können.

Eine solche Diskussion hat es jedoch gebraucht, denn um eine Schuldfrage zu klären, und objektiv von Opfer- und Täterschaft sprechen zu können braucht es verschiedene Standpunkte und Betrachtungsweisen um eine sinnvolle Diskussion führen zu können.

3.4 Gegendarstellung zur Sichtweise Hannah Arendts

Wie bereits erwähnt löste der Bericht Arendts über den Prozess Eichmanns in Jerusalem eine heftige Diskussion aus. In >>Eichmann in Jerusalem<< zeichnet sie ein relativ positives Bild Eichmanns. Sie stellt ihn als einen Beamten dar, der seine Arbeit gemacht hat. Es stellt sich nun aber die Frage, ob dies nicht zu wenig weit gegriffen ist. Arendts Bericht wirkt zwar größtenteils objektiv, jedoch an manchen Stellen auch etwas verharmlosend, etwa, wenn

33 Ludz Ursula, Wild Thomas [Hg.]; Hannah Arendt- Joachim Fest. Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe; München 2011; S. 7. 34 Vila, Dana; Das Gewissen, die Banalität des Bösen und der Gedanke eines repräsentativen Täters; in: Smith Gary[Hg.]; Hannah Arendt Revisited: >> Eichmann in Jerusalem<< und die Folgen; Frankfurt am Main 2000; S. 249. 15

Eichmann als gehorsamer Beamter, welcher nur seine Pflicht getan hat, beschrieben wird. Arendt wurde dafür, besonders von der jüdischen Gemeinde, heftig kritisiert. Es drängt sich die Frage auf, ob Arendts Bild von Eichmann nicht zu beschönigend ist. Eichmann hatte im dritten Reich eine Schlüsselstelle inne, er war nicht nur ein einfacher Sekretär. Es drängt sich die Frage auf, ob ein Mensch in einer derartigen Position, wie Eichmann sie eingenommen hatte, von seinem Wesen und seinem Charakter her bösartig und auch sadistisch gewesen sein muss. Dieses Kapitel soll auf diese ambivalente Darstellung eingehen und versuchen zu klären, was Eichmann zu solchen Taten befähigt hat.

Im Gefängnis in Jerusalem wurde Eichmann mehreren psychologischen Tests unterzogen, welche von Ivar Kulcsar in insgesamt 21 Stunden durchgeführt wurden. Die Auswertung der Tests übernahm seine Frau, Shoshanna Kulcsar, um einer möglichen Beeinflussung vorzubeugen35.

Istavan Kulcsar beschrieb die Welt, so wie Eichmann sie wahrnahm, als eine mechanische. Eichmann war der Ansicht, es gibt nur das Leben, keinen Tod. Wenn der Mensch stirbt, dann ändere sich nur seine Form, aber man lebe in anderen organischen wie anorganischen Formen weiter. Für Eichmann war das gesamte Leben emotionslos, selbst die Ehe definierte er als „Vereinigung zweier Geschlechter zur Fortpflanzung ihrer Art.“36

Die Tests wurden viele Jahre später anonymisiert einigen Psychologen nochmals zur Analyse vorgelegt. Ihnen wurde lediglich das Alter und das Geschlecht genannt, sowie der Fakt, dass der Klient berühmt war. Die Psychologen kamen unabhängig voneinander zu den gleichen oder ähnlichen Schlüssen: er verbarg sich, versuchte seine Rolle kleiner zu machen, als sie eigentlich war. Die Psychologen fanden unter anderem folgende Adjektive für Eichmann: „nervös, mörderisch, kalt, egozentrisch, ohne

35 Hurth, Werner; Glaube, Ideologie und Wahn; München 1984; S.289. 36 Kulcsar, Istvan; Ich habe immer Angst gehabt; in: Der Spiegel 47/1966; S.176. 16

Einfühlungsvermögen, misstrauisch.“37 Psychologisch ist nun natürlich interessant, wo der Grund für diese Eigenschaften liegt. Aus den Testzeichnungen kann herausgelesen werden, dass Eichmann in einem Elternhaus ohne Wärme aufwuchs. Des Weiteren wird durch die Zeichnungen deutlich, dass die Disziplin einen hohen Stellenwert hatte.38

Kulcsar stimmte mit Arendt überein, dass Eichmann kein fanatischer Nationalsozialist oder Antisemit war. Man kann vielmehr sagen, Eichmann lebte mit dem Nazi-Regime in Symbiose.39.Eichmann war dem Regime durch seinen Charakter von großem Nutzen. Die Struktur, die die Nazis geschaffen hatten, befähigte Eichmann seine Charaktereigenschaften ausgelebt haben zu können. Deshalb greift es zu kurz, als Arendt schrieb, Eichmann sei nur ein gehorsamer Beamter gewesen. Für sich gestanden stimmt das natürlich. Er hatte aber nicht nur Befehle ausgeführt, sondern er stellte sie auch nicht in Frage und hatte zum Teil auch eigene Ideen und Vorstellungen in die Tat umgesetzt. Eichmann selbst beschrieb diese Zeit auch sehr kalt und emotionslos, obwohl er für das Leid und auch den Tod tausender Menschen verantwortlich ist. Er war sich keiner Schuld bewusst, er bereute nichts. Durch dieses Verleugnen der Schuld verhöhnte er die Opfer ein zweites Mal.

Eichmann hatte ein Gewissen, durch welches ihm im Gehorchen von Befehlen am dringlichsten und wichtigsten erschien. Dies begründete er, wie schon erwähnt, im kategorischen Imperativ Kants.

Dies rechtfertigt natürlich keineswegs seine Taten und soll auch nicht als Entschuldigung verstanden werden. Es soll dadurch jedoch deutlich gemacht werden, dass man Menschen und ihr Verhalten gerade in so einem totalitären Regime nicht nach herkömmlichen Maßstäben werten und messen kann. Der Holocaust ist ein- zum Glück bisher einmaliges Ereignis, von ungeheuren

37 Selzer, Michael; Ein Angreifer zu nackter Grausamkeit fähig; in: Der Spiegel 2/1978; S. 124. 38 ebd. S. 124. 39 ebd. S.187. 17

menschheitsvernichtenden Ausmaß, dass man dafür neue Bewertungsmaßstäbe benötigt.

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4 Franz Murer - Der Schlächter von Vilnius

4.1 Biographischer Abriss

Franz Murer wurde am 24.Jänner 1912 in St. Lorenzen ob Murau, Steiermark geboren. Er ist das siebte Kind seiner Eltern, den Bauern, Maria und Johann, ihnen gehörte der Pötscherhof. In der bäuerlichen Gesellschaft genoss die Familie ein gewisses Ansehen, da es sich um einen etwas größeren Bauernhof handelte, obwohl noch kein elektrischer Strom oder anderweitige motorisierte Hilfe vorhanden war. Während Murer die Volksschule besuchte, zerfiel das Habsburgerreich und die Republik Deutschösterreich wurde proklamiert. Die bäuerliche Gesellschaft traf diese Zwischenkriegszeit hart: Zum einen waren die Männer erst langsam aus dem Krieg zurückgekommen, welche zum Teil sowohl unter psychischen als auch physischen Folgen des großen Krieges litten. Zum anderen war die Arbeitslosenrate gestiegen und es war auch zu einer zunehmenden Verschuldung der Bauern gekommen.

Dennoch durfte Murer nach Ende der Volksschule die >>Steiermärkische Landes-Bürgerschule<< in Judenburg besuchen. Das ist deshalb bemerkenswert, da Murer in Judenburg eine Unterkunft benötigte, welche die Eltern zusätzlich zum Schulgeld in dieser finanziell schwierigen Zeit zahlen mussten. In dieser Stadt war Franz Murer auch das erste Mal mit Politik und politischen Gruppierungen in Berührung gekommen, da er einige Demonstrationen und Aufmärsche des Heimatschutzes und auch schon Versammlungen von NSDAP-Mitgliedern miterlebt hatte. Murers Zeit in Judenburg wurde von antisemitischen Parolen und Hetzkampagnen gegen Juden begleitet. Murer wollte in die bäuerlichen Fußstapfen seiner Eltern treten und so besuchte er ab 1926 nach dem Abschluss der Schule in Judenburg die landwirtschaftliche Fachschule in Neumarkt. Allerdings hatte

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Murer nach zwei Jahren in die bekannte Ackerbauschule Grottenhof bei Graz gewechselt und schloss diese 1930 mit guten Noten ab.40

Nach Abschluss seiner schulischen Laufbahn arbeitete er zunächst als Knecht bevor er eine Stelle als Verwalter auf dem Gut Marienhof im Burgenland bekam. Hier arbeiteten vor allem ungarische und kroatische Hilfsarbeiter, mit welchen Murer sich gut verstand, allerdings war Politik kein Gesprächsthema und den Arbeitern. Er war am politischen Tagesgeschehen interessiert, las Tageszeitungen und hegte immer mehr Sympathien für die Ideen der Nazis.41

1938, kurz vor dem Anschluss, begann Murer eine neue Arbeit auf einem Gut in Kleinmutschen. Hier bekam er zum einen ein besseres Gehalt als auf Gut Marienhof, zum anderen lag seine neue Arbeitsstelle weniger abgeschieden und Murer suchte Kontakte mit den (noch) illegalen Nationalsozialisten. Als die Nazis schließlich auch in Österreich an die Macht gekommen waren, wurde der Kreisleiter von Oberpullendorf, Paul Kiss, auf Murer aufmerksam. Am 1. Mai 1938 trat er in die NSDAP ein, wobei dieses Datum nicht mit dem Eintrittsdatum übereinstimmt, welches im Archiv in Vilnius zu finden ist. Hier ist nämlich als Eintrittsdatum April 1933 vermerkt. Es lässt sich heute nicht mehr nachprüfen welches Datum nun wirklich stimmt, jedoch ändert es letztlich nichts an der Biographie und an den Taten Murers. Murer beschloss, sich bei der NS-Ordensburg Krössinsee in Pommern, im heutigen Polen, zu bewerben. Hier wurde zukünftiges Führungspersonal ausgebildet.42

Bevor Murer sich auf Weg nach Krössinsee im Dezember 1938 machte, war er aus der Kirche ausgetreten. Das war für ihn ein wichtiges Symbol, er hatte sich ganz dem Führer verschrieben. Er war in seiner Familie nicht der einzige, der der Kirche den Rücken gekehrt hatte. Zwei seiner Geschwister traten ebenfalls aus der Kirche aus. Wobei alle nach dem Ende des Krieges wieder

40 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 13ff. 41 ebd. S. 24. 42 ebd. S. 28f. 20

in die Kirche zurückkehrten.43 Man könnte hier spitzzüngig die Behauptung in den Raum stellen, dass ohne die Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche Murers spätere politische Bauernbund - und ÖVP - Karriere nicht möglich gewesen worden wäre.

Murer wurde schließlich im Mai 1939 in die Wehrmacht eingezogen und absolvierte eine kurze Ausbildung bei der Luftverteidigung. Anschließend war Murer in die Steiermark zurückgekehrt und heiratete dort im März 1940 die Bauerstochter Elisabeth Möslberger. Nach nur ein paar Wochen erhielt Murer wieder einen Einrückungsbefehl, er gehörte nun der 3. Flakabteilung an und wurde so in den Frankreichfeldzug involviert.44

Im Juli 1941 erhielt Murer eine neue Aufgabe: über Berlin hatte ihn sein Weg wieder auf die Ordenburg in Krössinsee geführt, hier wurde er auf seine zukünftige Aufgabe vorbereitet. Murer wurde dem SA-Führer Hans Christian Hingst, dem Gebietsleiter von Vilnius, zugeteilt, dessen Vertreter er in seiner Funktion als Stabsleiter war. In den Zuständigkeitsbereich von Murer fielen >>Abteilung Politik<< sowie auch das Ressort der >>Judenfragen<<. Hingst und Murer trafen im August 1941 in Vilnius ein.45

In Vilnius verbreitete Murer bis Juli 1943 Angst und Schrecken. Er wurde danach unterschiedlichen Flak-Abteilungen zugeteilt, und im November desselben Jahres zum Unteroffizier der Reserve befördert. Er hat jedoch noch weitere Bestrebungen auf der Karriereleiter nach oben zu klettern und so absolvierte Murer noch die Ausbildung zum Offizier. Am 2. Oktober 1945 wurde der nunmehrige Leutnant formal aus der Wehrmacht entlassen, nachdem er in einem britischen Kriegsgefangenenlager bis Ende September 1945 gewesen war.46

43 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017. S.32f. 44 ebd. S.34ff. 45 ebd. S.40ff, 46 ebd. S. 169ff. 21

Im Jahr 1948 ermittelten die Sowjets wegen Verbrechen, die Murer gegen nunmehr sowjetische Staatsbürger in Vilnius begangen hatte. Er wurde dann auch vor ein Kriegsgericht in Litauen gestellt und zu 25 Jahre Straflager verurteilt.47 Nach dem Ende der Besatzung 1955 kam Franz Murer mit anderen Österreichern aus den Straflagern der Sowjets zurück nach Österreich. In seiner Heimatgemeinde wurde Murer mit einem Fest empfangen, an den Krieg und an Kriegsverbrechen hatte niemand mehr gedacht. Die Staatsanwaltschaft in Graz nahm 1957 Untersuchungen aufgrund von Mordanschuldigungen auf. Jedoch wurden keine großen Anstrengungen unternommen, um den Sachverhalt zu klären, nachdem auch von der öffentlichen Seite Druck auf eine Weiterverfolgung ausgeblieben war. So wurde die Untersuchung mit der Begründung, Murer habe seine Strafe bereits in einem Straflager der Sowjetunion abgesessen, eingestellt.48

Im Jahr 1962 kam es zu dem aufsehenerregenden Prozess, welcher 1963 zu Ende ging. Grundlage waren neue Anschuldigungen, beziehungsweise neue Erkenntnisse, die durch an die Öffentlichkeit getragen worden waren. Die genaueren Umstände des Prozesses werden in Kapitel 4.3. näher beleuchtet. Nach seinem Freispruch lebte Murer auf seinem Hof in Gaishorn und hatte politische Ämter als ÖVP-Mitglied inne. Anfang Jänner 1994 starb Murer in Leoben.49

47 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017. S 216ff. 48 ebd. S.223f. 49 ebd. S. 276. 22

4.2 „Der Mem is in moken“50

In Vilnius wurden Anfang September 1941 zwei Ghettos errichtet, in welche insgesamt zirka 40 000 Juden gepfercht wurden. Im sogenannten kleinen Ghetto wurden rund 10 000 - vor allem arbeitsunfähige - Juden untergebracht. Dieses Ghetto wurde aber bereits einen Monat später wieder aufgelöst, denn alle Juden, welche dort gelebt hatten, wurden nach Ponary gebracht und dort erschossen. Ponary ist ein Ort in der Nähe Vilnius, hier starben viele Juden aus dem nahegelegenen Ghetto durch die Exekutionskommandos. Die Juden, welche im größeren Ghetto lebten, mussten meist Zwangsarbeit leisten. Die Verwaltung über das Ghetto oblag der jüdischen Ghettopolizei. Sie hatten vor allem die Tore zu bewachen und sicherstellen, dass niemand ausbrach oder Lebensmittel in das Ghetto schmuggelte. Jakob Gens war ab 1942 Chef der jüdischen Polizei gewesen, er musste zum einem die Befehle der deutschen Besatzer ausführen, zum anderen aber wollte er auch seine Mitbürger

Abb.1: Die zwei Ghettos in Vilnius schützen. Am 23. September 1943 wurde das Ghetto langsam aufgelöst. Von den ursprünglich 30 000 Juden lebten nur noch 24 000, welche auf die

50 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 158. 23

Konzentrationslager aufgeteilt wurden.51

„Der Mem is in moken!“ (dt.: Murer ist im Ghetto!)52, so wurden die jüdischen Arbeiter, die am Abend von ihrer Arbeit wieder ins Ghetto zurückkehrten, von den Bewohner Vilnius gewarnt. Durch diesen Satz, der explizit vor Murer warnte, wird deutlich, welche Angst und Schrecken er im Ghetto von Vilnius, aber auch darüber hinaus, verbreitet hatte. Es war den Bewohnern des Ghettos verboten Lebensmittel in das Ghetto mitzubringen, jedoch war Nahrung im Ghetto sehr knapp bemessen, sodass die Juden gezwungen waren Lebensmittel hinein zu schmuggeln. Am Tor zum Ghetto wurden immer Kontrollen durchgeführt, bei denen Murer besonders gefürchtet war. Überlebende berichteten, dass Murer Menschen, die er beim Schmuggeln ertappt hatte, zum Teil zwang, sich nackt auszuziehen und sie verprügelte53 oder sogar erschoss.54

Diese Unverhältnismäßigkeiten und dieser Hass auf Juden haben ihren Ursprung in der Herkunft Murers. Er war, wie bereits erwähnt, Steirer. Die Steiermark und die Juden hatten seit jeher ein gespanntes Verhältnis, so sei hier die sogenannte „Judensperre“ erwähnt. Juden war es untersagt, sich in der Steiermark niederzulassen. Dieses Verbot wurde erst 1861 aufgehoben, nachdem es 350 Jahre in Kraft gewesen war.55 Der Antisemitismus war in der Steiermark dementsprechend in der Bevölkerung verwurzelt gewesen und ließ sich nicht durch ein neues Gesetz ändern. Die katholische Kirche trug ihren Teil zum Antisemitismus bei: So veröffentlichte Kaplan Johann Seidl 1899 sein Werk >>Der Jude des Neunzehnten Jahrhunderts oder Warum sind wir antisemitisch?<<56. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts besaß die

51 https://www.gedenkorte-europa.eu/de_de/s2-1.html (Stand: 10.06.2018). 52 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 158. 53 ebd. S.158. 54 ebd. S164. 55 Kubinzky, Karl Albrecht; Das jüdische Graz; in: David. Jüdische Kulturzeitschrift; 4/2012 http://davidkultur.at/artikel/das-judische-graz (eingesehen: 10.06.2018). 56 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S.20. 24

katholische Kirche noch enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Viele Steirer hatten sich in diesem Antisemitismus wiedergefunden, denn dadurch wurden scheinbar Erklärungen für die Probleme und ein Sündenbock für die schlechte wirtschaftliche Lage gefunden. Zu dieser Zeit vergrößerte sich die Verschuldung der Bauern. Schuld daran, und auch an der generellen schlechten wirtschaftlichen Lage, gab man den Juden. Die Propaganda gegen Juden hatte immer weiter zugenommen und für Murer war deutlich: „Die Juden sind unsere Feinde und an allem schuld.“57

Für die Bauern war jedoch eine weitere Sache von großer Bedeutung gewesen, die für Hitler sprach: Es hat den Eindruck, dass unter Hitler den Bauern mehr Bedeutung zukäme. Bauern wurden sozusagen glorifiziert, denn sie ernährten das deutsche Volk.58

Murer ist mit diesem Antisemitismus groß geworden, es war für ihn etwas Alltägliches. Doch das rechtfertigt nicht seine Grausamkeit, die er in Vilnius an den Tag legte. Sein Verhalten ging weit über das von ihm Verlangte hinaus. Doch nicht nur das, Murer leugnete seine Taten beim Prozess gegen ihn 1963 in Graz, als Überlebende des Ghettos in Vilnius aus aller Welt angereist waren und ihn mit seinen Taten konfrontierten. Ebenfalls wies er alle Schuld und auch jegliches Wissen über die Auswirkungen des Holocausts in seinen autobiographischen Aufzeichnungen von sich.59

Murer behauptete, er sei in Vilnius für Fragen der Landwirtschaft zuständig gewesen, er soll – nach eigener Aussage - mit der Eintreibung von jüdischen Vermögen und mit Massenmorden nichts zu tun gehabt haben.60 Ein anderes Bild zeichnete allerdings ein jüdisches Kinderlied aus Vilnius:

57 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017.; S. 21. 58 ebd. S. 22f. 59 ebd. S.101. 60 ebd. S. 83. 25

„Iden sogt, wer stejt beim tojer, iden sogt ale un, dorten steijt der schlechte Murer, er nemt alsding doch zu, Getto mein, du geler schejn, on dir geht men on Ponar arajn.“61

In diesem Lied werden gleich mehrere Dinge angesprochen, für die Murer verantwortlich war:

Die erwähnten gelben Scheine, wurden im Ghetto für die Juden zu einer Überlebenssicherheit. Man konnte auf diesen gelben Scheinen Ehepartner und Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr eintragen lassen. Wer keinen solchen „gelen schejn“ erhalten hatte, musste befürchten, bei einer der nächsten Aktionen den Tod in Ponary zu finden.62

Zum anderen wird in dem Lied „Ponary“ erwähnt. Ponary ist ein kleines Dorf in der Nähe von Vilnius, welches von Wäldern umgegeben ist. In diesem Dorf wohnte Kazimierz Sakowicz, Journalist und Herausgeber einer damaligen Wochenzeitung. Er war Zeuge von Massenerschießungen von Juden, welche in den Wäldern Ponarys stattfanden. Sakowicz hatte von seinem Dachboden aus die Erschießungen beobachtet, und machte sich Notizen, die er sorgsam versteckte.63

Dieses Lied, ein Kinderlied, macht deutlich, dass die Bewohner des Ghettos ganz genau gewusst haben, was sie erwartete. Es drückt aber auch die Ausweglosigkeit und die Verzweiflung der Juden aus. Sie wussten wer Murer war, welche Macht er über sie hatte und mit welcher Grausamkeit er diese auch demonstrierte. Auch wenn Murer leugnete, von solchen Gräueltaten gewusst zu haben oder gar daran beteiligt gewesen hätte sein sollen, so wird dennoch deutlich, dass er log. Denn wenn Murer wirklich nichts damit zu tun gehabt hätte, dann hätten die Kinder im Ghetto dieses Lied mit einem anderen

61 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 116. 62 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 109. 63 ebd. S.64f. 26

Namen gesungen und dann hätten die Juden diese Taten nicht mit Murer in Verbindung gebracht. Wenn Murer wirklich, wie er behauptete, nur für landwirtschaftliche Fragen zuständig gewesen wäre, dann hätten die Juden im Ghetto wohl kaum sich noch Jahre danach so genau an Murer erinnern können.

Die bereits erwähnte Aktion der gelben Scheine war keine Einzelerscheinung. Es gab auch die Aktion der rosa Scheine: Alle Juden im Ghetto wurden erneut aufgefordert sich registrieren zu lassen. Es war den Juden bewusst gewesen, dass nun bald wieder eine Säuberungsaktion bevorstand, und so bemühten sich alle um einen rosa Schein. Allerdings war Murer in das Ghetto gekommen, bevor alle mit einem solchen Schein in Sicherheit gewesen waren, und befahl, dass ab dem nächsten Morgen keine Scheine mehr ausgestellt werden durften. Diese rosa Scheine wurden nämlich von der jüdischen Ghettopolizei unter Leitung von Jakob Gens ausgestellt. Am nächsten Tag kamen dann tatsächlich Polizisten und nahmen all jene fest, die den entsprechenden Schein nicht vorweisen hatten können. So wurden am 20. Dezember 1941 ungefähr 400 Menschen nach Ponary gebracht und erschossen.64

4.3 Der Prozess - Österreich gegen Franz Murer

Nach der Rückkehr aus der sowjetischen Gefangenschaft lebte Murer auf seinem Bauernhof in Gaishorn / Steiermark. Er war politisch aktiv und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. So war Murer beispielsweise Bezirksbauernbundobmann von Liezen.65 Ungeklärt bleibt, wieviel die Mitbürger Murers von seiner NS-Vergangenheit wussten. Es erscheint aber wenig plausibel, dass es keine Gerüchte oder Vermutungen gegeben hatte, da Überlebende des Ghettos in Vilnius berichteten, dass die Juden immer wieder Schmuck und andere wertvolle Gegenstände gesammelt hatten, ein

64 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S.125f. 65 ebd. S. 224. 27

Versuch Murer milde zu stimmen. Diese Gegenstände ließ er auf seinen Hof schicken.66 Es erscheint sehr merkwürdig, dass solche Lieferungen in einem kleinen Ort, wie Gaishorn, unbemerkt und unkommentiert blieben. Es lässt sich nur mutmaßen, warum die Menschen damals so reagierten. Es scheint als wollte diese Generation den Krieg mit all seinen Schrecken vergessen und verdrängen. Dazu kommt auch noch, dass Murer in seiner Heimat ein anderes Verhalten an den Tag legte. Murer „gilt als überaus umgänglich und durchsetzungsfähig, als ein Mann, der die Sympathien seiner Standeskollegen genießt […].“67 Es schien unvorstellbar, dass der beliebte Mitbürger zu solchen Taten fähig gewesen sein soll. Dies ist die Ebene der Bürger, die nicht in Vilnius dabei waren, und auch jener, die keine besondere Verantwortung in der Gesellschaft trugen. Der Ausgang des Prozesses kann auch als Spiegel dessen gesehen werden, wie die damalige österreichische Gesellschaft über ehemalige Nationalsozialisten und auch über Kriegsverbrecher dachte. Es setzte ein Mechanismus der Verdrängung ein, man sah sich auch in der Opferrolle. Eine Rolle, die man über die Jahre perfektionierte und erst in den letzten Jahrzehnten langsam begann aufzubrechen. Dieses Denken war nicht nur in der Bevölkerung verbreitet, sondern zog sich bis in die hohen politischen Kreise in Wien.

Der zeitliche Faktor ist ein Punkt, der beachtet werden sollte. Auch wenn man kurz nach dem Krieg von einer Aufarbeitung noch weit entfernt war, so ist es doch auffallend, dass in dem 2007 erschienenen >>Heimatbuch Gaishorn am See<<, dessen Herausgeber der Bürgermeister selbst war, der Name Murer und jenes dunkle Kapitel der Ortshistorie unerwähnt bleibt.68 Der Fall Murer geriet nach dem Prozess in Vergessenheit, erst 2017 durch das Buch von Johannes Sachslehner >>Rosen für den Mörder<< und 2018 durch den Film

66 Wiesenthal, Simon; Doch die Mörder leben. Auf der Jagd nach flüchtigen NS- Verbrechern; in Der Spiegel 33/1967; S. 58. 67 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S.224. 68 ebd. S. 11f. 28

von Christian Frosch >>Murer- Anatomie eines Prozesses<< wird dieser Teil der österreichischen Geschichte wieder thematisiert.

In diesem Film wird eindrucksvoll der Prozess gegen Murer 1961 veranschaulicht. Der Film ist nah an der Historie, so sprechen die Zeugen zum Teil jiddisch. Im Film wird deutlich, dass die Bevölkerung der Steiermark den Prozess gegen Murer nicht unterstützte und versuchte diesen zu verhindern. Durch die historisch belegte Tatsache, dass Murer nach seinem Freispruch mit so vielen Blumensträußen empfangen wurde, sodass die Blumengeschäfte in der Umgebung leergekauft waren, wird die Freude der Bevölkerung über den Freispruch deutlich.69 Es war allerdings nicht nur die einfache Bevölkerung, die an die Unschuld Murers glaubte, beziehungsweise einen Freispruch befürwortete, ebenfalls setzten sich Teile der österreichischen Politiker für den Freispruch Murers ein. Der damalige Bauernbundobmann und Präsident der Landwirtschaftskammer Josef Wallner setzte sich für Murer bei Christian Broda (SPÖ), damaliger Justizminister, ein, ebenso wie der spätere Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic (ÖVP) und der steirische Nationalratsabgeordnete Alfred Haberl (SPÖ).70 Die Tatsache, dass sich Politiker in ein laufendes Verfahren eingemischt haben, lässt wohl zurecht an der Unabhängigkeit des Gerichtes zweifeln. Außerdem zeigt sich dadurch die öffentliche und politische Haltung Österreichs sehr deutlich. Es darf nicht sein, dass sich ein Österreicher in diesem Krieg schuldig gemacht haben soll, ein Schuldspruch musste verhindert werden.

Durch die Interventionen der Politiker wird allerdings der Anschein erweckt, als ob sie an Murers Schuld glaubten oder sogar über seine Taten Bescheid wussten. Andernfalls hätten sie einfach dem Richter und den Geschworenen ihre Arbeit machen lassen, sowie deren Rechtsprechung vertrauen können.

69 Drehbuch: Murer- Anatomie eines Prozesses; S.82. und Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S. 254. 70 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017, S.229. 29

Murer selbst plädierte in allen Anklagepunkten auf nicht schuldig. Er behauptete weiterhin er habe „nie einen Schuss abgegeben, sondern sich als Referent im Gebietskommissariat nur mit Verwaltungsaufgaben befasst.“71 Demgegenüber standen viele jüdische Zeugen, die aus den verschiedenen Teilen der Welt angereist waren, die Murer erkannten und ihn der Taten beschuldigten. Dennoch wurde den Zeugen kein Glaube geschenkt. Im Film wird deutlich gezeigt, wie sehr die Zeugen nach Details, beispielsweise die genaue Uhrzeit einzelner Taten, ob Murer mit einem Auto oder einer Kutsche in das Ghetto gefahren war, befragt wurden. Auch war die Farbe der Uniform oder des Autos ein wichtiges Thema für die Verteidigung.72 Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Überlebenden des Ghettos Traumatisches erlebt haben und diese Dinge Jahre vorher passiert waren. Es ist nachvollziehbar, dass sich Opfer nach einigen Jahren nicht mehr an die genaue Uhrzeit oder die korrekte Farbe der Uniform erinnern konnten. Durch solche Fragen wurden die Zeugen verunsichert und den Geschworenen der Eindruck von Unsicherheit und Unaufrichtigkeit der Zeugen vermittelt. Murers Verteidiger Dr. Karl Böck treibt es in seinem Schlussplädoyer auf die Spitze in dem er sagte:

„Die Tatsache, dass der Vater Opfer war, schließt nicht aus, dass der Sohn gelogen hat. Ich weiß genau, was es bedeutet, wenn ich sage, die Zeugen haben gelogen. Aber ich bin überzeugt, dass sie gelogen haben. Ihnen steht die Lüge in das Gesicht geschrieben. Man kann auch lügen, wenn es um die Ermordung der eigenen Schwester geht. Ich bezweifle nicht, dass diese Menschen ermordet wurden, aber sie wurden nicht von Murer ermordet.“73

Die Geschworenen zogen sich mit diesen Worten im Ohr zurück und sprachen Murer in fast allen Anklagepunkte mit Sicherheit frei, lediglich bei zwei Punkten

71 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S.231. 72 Drehbuch: Murer- Anatomie eines Prozesses; S. 54. 73 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017, S.252f. 30

standen vier Stimmen für Schuldig vier Gegenstimmen gegenüber, aber auch hier wurde Murer, im Zweifel für den Angeklagten, freigesprochen.74

Franz Murer ist ein Einzelfall in dem Sinne, dass es einen zweifelhaften Prozess gab, welcher mit einem Freispruch endete. Murer ist aber kein Einzelfall in dem Sinne, dass Österreich sich mit der Entnazifizierung viel Zeit ließ und ehemalige Nazis und NSDAP-Mitglieder hohe Ämter in der Politik bekleideten und deren Rolle im dritten Reich erst in den letzten Jahren hinterfragt worden waren. Der Prozess gegen Murer ist „bloß eine Station der Kettenreaktion österreichischer Selbstdemaskierung.“75 Man kann natürlich nicht die Tätigkeiten von, um einen prominenten Namen zu nennen, Kurt Waldheim mit denen von Franz Murer vergleichen. Dadurch wird allerdings sehr gut der Umgang Österreichs mit der eigenen Vergangenheit deutlich. Diese Tatsache wurde aber schon in den 1960er Jahren nicht ohne Kritik hingenommen, wie man an Zeitungsberichten anlässlich des Prozesses gegen Murer sehen kann. Als Beispiel sei an dieser Stelle die >>Volksstimme<< zitiert, welche am 22. Juni 1963 schreibt: „Mit dem Grazer Urteil wurde nicht nur Murer freigesprochen. Der Massenmord, begangen in der Uniform der Hitlerzeit, ist straffrei erklärt worden.“76

74 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S 254. 75 Rabinovici, Doron; Jidn, sogt, wer schtejt bajm tojer?- Der Fall Franz Murer- ein österreichsicher Schauprozess gegen die Opfer; in: Freund, Florian [Hg.] Ess firt kejn weg zurik…- Geschichte und Lieder der Ghettos von Wilna 1941-1943; Wien 1992; S.119. 76 Sachslehner, Johannes; Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer; Wien 2017; S.266. 31

5 Resümee zu Eichmann und Murer

Die hier porträtierten Männer stehen stellvertretend für all jene Beteiligten, die sich im Nazi-Regime schuldig gemacht haben. Diese Biographien eignen sich deshalb gut um exemplarisch genannt zu werden, da die Beweggründe für den Eintritt in die NSDAP unterschiedlich waren. Nicht alle Nationalsozialisten waren von Grund auf Antisemiten, Menschen die nur auf das Morden aus waren. Um die Täter mit einem christlichen Blick zu betrachten und die Würde eines jeden Menschen nicht zu vergessen ist es unabdingbar, die unterschiedlichen Biographien zu betrachten. Ein weiterer Grund für die Auswahl dieser beiden Männer war der unterschiedliche Umgang mit den Ereignissen nach dem Krieg. Während Eichmann mehr reflektierte, verleugnete Murer die Geschehnisse. Der Umgang mit der Schuld ist ein wichtiger Punkt, wenn man über Vergebung spricht. Dies wird im nächsten Kapitel durch Vladimir Jankélévitch und Jaques Derrida deutlich.

Adolf Eichmann und Franz Murer hatten beide hohe Positionen während des Nazi-Regimes inne. Ihre Biographien weisen einige Ähnlichkeiten auf, dennoch werden auch starke Unterschiede deutlich. Beiden Männern wurde der Prozess gemacht, beide plädierten auf nicht schuldig. Hier wird aber schon ein erster Unterschied deutlich: Eichmann war der Meinung, er habe sich nicht schuldig gemacht, da er nur Befehle befolgt habe. Er leugnete jedoch nicht, dass er für die Deportation von Juden verantwortlich war. Eichmann war der Ansicht, dass die Anklage auf Mord nicht richtig sei, da er niemals einen Menschen getötet habe.77 Murer hingegen war mitten im Kriegsgeschehen in Vilnius. Er lebte seine sadistische Ader aus, indem er Juden quälte und auch selbst erschoss. Bei seinem Prozess in Graz leugnete er dies, behauptete, er sei nur für landwirtschaftliche Belange in Vilnius zuständig gewesen.

Arendt bezichtigte Eichmann zwar der Dummheit, dies ist jedoch nicht ganz

77 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613.S. 93. 32

korrekt. Er machte sich Gedanken über sein Handeln und stellte philosophische Überlegungen an. So setzte er sich beispielsweise mit dem kategorischen Imperativ Kants auseinander. Die moralische Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen sei dahingestellt, man könnte seine Überlegungen als einfältig und moralisch falsch bezeichnen. Von Murer sind jedoch keine solchen Überlegungen bekannt. Er leugnete trotz der sehr belastenden Zeugenaussagen Überlebender seine Tätigkeit im Ghetto von Vilnius.

Diesen Gegensatz kann man unter anderem in der unterschiedlichen Gesinnung der beiden Männer festmachen. Eichmann war zwar, obwohl er ein SS-Mitglied war, kein Antisemit im geläufigen Sinn des Wortes, es wird auch nicht berichtet, dass er mit antisemitischen Gedankengut in seiner Jugend in Kontakt gekommen wäre. Im Gegenteil, es finden sich in der Familie seiner Mutter Juden, einer von ihnen verhalf ihm sogar zu einer Anstellung.78 Erst in seinen Memoiren, die er nach seiner Flucht in Argentinien schrieb, lassen sich antisemitische Sätze finden.79 Allerdings soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass er sich mit dem Judentum, insbesondere mit dem Zionismus auseinandersetzte. So hat er >>Der Judenstaat<< von Theodor Herzl und >>Geschichte des Zionismus<< von Adolf Böhm gelesen.80 Eichmann versuchte damit seine Bemühungen um die organisierte Emigration der Juden zu rechtfertigen. Es ist offensichtlich, dass dies an der ursprünglichen Idee des Zionismus vorbei ging und diesen gewissermaßen pervertiert. Murer hingegen kam schon in jungen Jahren mit einem zuerst latenten, später dann offenen, Antisemitismus in Kontakt. Dazu kam die schlechte wirtschaftliche Lage und die menschliche Neigung einen Sündenbock zu stilisieren.

Arendt kritisiert die politischen Motive, die zum Prozess gegen Eichmann geführt hatten. Der Freispruch Murers ist, wie die Tatsache, dass er so lange unbehelligt

78 Arendt, Hannah; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 201613 S. 103. 79 Aschenauer, Rudolf [Hg.]; Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht; Augsburg 1980; S. 61. 80 ebd. S. 116. 33

ohne einen Prozess auf seinem Bauernhof leben konnte, ebenso kritisch zu hinterfragen. Die politische Lage in Israel und in Österreich hatte einen großen Einfluss auf die Prozessführungen und zumindest im Fall Murer auch auf den Prozessausgang. In Israel forcierte man eine Verurteilung Eichmanns, indessen gab es in Österreich erfolgreiche Bestrebungen Murer freizusprechen. Schlussendlich ist der wohl entscheidendste Unterschied der Biographien in den Urteilen der Prozesse zu finden: Eichmann, der ohne Zweifel eine hohe Stellung innehatte und verantwortlich war für die Deportationen, allerdings nie einen Menschen eigenhändig erschossen hatte wurde zum Tode verurteilt. Murer, genannt der Schlächter von Vilnius, der Juden schikaniert und selbst mehrere Menschen getötet hatte, wurde freigesprochen.

Murer und Eichmann haben in ihren unterschiedlichen Positionen durch verschiedene Handlungen Schuld auf sich geladen. Können ihre Taten verziehen werden? Welche Rolle spielt in diesen Kontext die Politik und die Gesellschaft? Diesen Fragen wird unter anderem im folgenden Kapitel nachgegangen.

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6 Theologie des Verzeihens nach 1945

Es gibt verschiedene Ansätze und Überlegungen nach 1945, wie mit den Tätern, den Opfern und dem Holocaust als Ganzes umgegangen werden soll. Unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen (familiären) Hintergründen beschäftigten sich mit diesem Fragenkomplex, ob diese menschenverachtenden Taten überhaupt verzeihbar sind. Auch die Theologie war und ist noch immer gefordert, sich nach 1945 neu zu orientieren, Bisheriges in Frage zu stellen und neue Konzeptionen von Schuld und Vergebung aufzustellen, ohne dabei jedoch zu vergessen, dass auch die Täter auf Erlösung hoffen dürfen. Es ist eine Problematik, die, so viel kann man zu Beginn dieses Kapitels schon vorausschicken, mit vielen Graunuancen schattiert ist, denn wie so oft im Leben, ist auch hier ein Schwarz- Weiß – Denken nicht zielführend.

Man kann die Welt nicht in Opfer und Täter einteilen, das wäre zu einfach und zu kurz gedacht. Jeder Mensch ist Opfer und Täter zu gleich. Kein Opfer, das sich nie an einem anderen Menschen schuldig gemacht hat. Jedem Menschen ist die Freiheit gegeben, diese Freiheit inkludiert auch das Abwenden von Gott, welches durch Sünde geschieht.81 Die Freiheit des Menschen zeigt sich in den verschiedenen Karoi, in denen die Menschen im Laufe des Lebens Entscheidungen für oder gegen Gott treffen müssen.82 Die Theologie postuliert eine Freiheit des Menschen, die sich auf die Gesamtheit eines Menschen bezieht. Die Freiheit kann man nicht aufteilen und nur in einzelnen Bereichen des menschlichen Lebens ansiedeln.83 Rahner schreibt weiter: „Freiheit ist Freiheit des Ja oder Nein zu Gott und darin und dadurch Freiheit zu sich

81Kleeberg, Florian; Bleibend unversöhnt- universal erlöst?. Eine Relecture von römisch- katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnungshoffnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen; Münster 2016; S. 42. 82 Sandler, Willibald; Leben von der Vollendung her. Eschatologische Hoffnung für diese Welt; Innsbruck 2018; S. 6; in: Innsbrucker Theologischer Leseraum (eingesehen 25.06.2018). 83 Rahner, Karl; Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums; Freiburg i. Breisgau; 20082; S.95. 35

selbst.“84 Diese Freiheit schließt auch Verantwortung ein.85 Das bedeutet, der Mensch muss mit Konsequenzen rechnen, die seine Entscheidungen mit sich bringen. Verantwortung heißt aber auch, sich bewusst sein, dass Entscheidungen nicht nur den einzelnen Menschen betreffen, sondern Einfluss auf die Umgebung, auf die Mitmenschen hat. Als Christ ist man dazu angehalten, mit der ihm gegebenen Freiheit sorgsam und verantwortungsvoll umzugehen.

Als Christ ist man immer „simul iustus et peccator.“ (dt.: gleichzeitig Gerechter und Sünder)86 Es bleibt dem Christen nur zu hoffen, dass Gott ihm die Schuld vergibt87 (nähere Ausführung zum Vaterunser in Kapitel 6.3.2.). Es stellt sich nun aber die Frage, wie es mit der Hoffnung auf Vergebung im Angesicht der menschenverachtenden Morde im NS-Regime aussieht. Können die Täter im Angesicht dieser Schuld auf Vergebung hoffen?

6.1 Nicht vergessen, nicht verzeihen88 - Valdimir Jankélévitch

Vladimir Jankélévitch war ein Sohn jüdischer Emigranten aus Odessa, Ukraine. Er wurde 1903 in Bourge in eine intellektuelle Familie geboren. Bereits sein Vater, Samuel Jankélévitch, war in der französischen Gelehrtenwelt bekannt, übersetzte er doch die Werke Freuds als erster in das Französische. Auch brachte er Hegel der französischen Bevölkerung näher89. Vladimir Jankélévitch arbeitete einige Jahre in Prag, nachdem er die École Normale Supérieure absolvierte. 1931 veröffentliche er sein erstes Buch,

84 Rahner, Karl; Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums; Freiburg i. Breisgau; 20082; S.101. 85 Raffelt; Albert [bearb.]; Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug; Rahner Karl; Sämtliche Werke Bd. 23; Freiburg i. Breisgau, 2006; S. 6. 86 Rahner, Karl; Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums; Freiburg i. Breisgau; 20082; S.388. 87 ebd. S. 388. 88 Altweg, Jürg; Kein Vergessen, kein Verzeihen- Vladimir Jankélévitch und die Deutschen; in: Konersmann, Ralf [Hg.] Verzeihen? Jankélévitch, Vladimir; Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie; Frankfurt a. Main 2004; S. 9. 89Jankélévitch, Vladimir; Verzeihen? in: Konersmann, Ralf [Hg.] Verzeihen? Jankélévitch, Vladimir; Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie; Frankfurt a. Main 2004.; S.10. 36

bereits ein Jahr später promovierte er über Schelling90. Er unterrichtete an mehreren Universitäten. Allerdings wurde er 1940 aufgrund der Gesetze von Vichy aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es war Juden nicht mehr erlaubt im öffentlichen Dienst zu stehen. Jankélévitch trat daraufhin der Résistance bei.91

In seinem Essay >>Verzeihen<< spricht er zu Beginn die juristische Verjährbarkeit an und stellt fest, dass diese für den Menschen ein seltsames Konstrukt ist und mit den Emotionen nicht viel gemeinsam hat. Jankélévitch geht es dabei aber nicht nur um die Verjährbarkeit von Verbrechen, sondern um das Vergessen. „Und so beginnt das offizielle oder legale Vergessen heute abend [sic!] um Mitternacht.“92 Die Frage, die sich aber in Folge dessen stellt, ist, ob die Opfer ab einem bestimmten Zeitpunkt zu nachtragenden Menschen werden. Jankélévitch schreibt, dass durch diese Rechtsituation die Menschen „in die Kategorie der nachtragenden Menschen“93 gesteckt werden. Dies wird zu Recht kritisiert, denn nur, weil man seinem Täter nicht verzeihen kann, ist das nicht automatisch gleichbedeutend mit nachtragend sein. Dadurch wird dem Verbrechen die schmerzliche Dramatik für das Opfer genommen. Es wird sogar verlangt, dass es die Tat vergisst und nicht in der Vergangenheit lebt. Es wird dabei jedoch nicht bedacht, dass es für Opfer unter Umständen heilsam sein kann, wenn auch Jahre später die Täter noch zur Rechenschaft gezogen werden.

Es muss in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden, dass es sich bei den Verbrechen im dritten Reich um eine besondere Kategorie von Taten, nämlich um „gegen die Menschlichkeit begangenen, wirklich kapitalen

90 Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775–1854) war ein Hauptvertreter des deutschen Idealismus. (http://www.philolex.de/schellin.htm (eingesehen: 09.08.2018)). 91 Jankélévitch, Vladimir; Verzeihen? in: Konersmann, Ralf [Hg.] Verzeihen? Jankélévitch, Vladimir; Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie; Frankfurt a. Main 2004.; S. 10f. 92 ebd. S. 243. 93 ebd. S. 243. 37

Kriegsverbrechen“94 handelt. Diese Verbrechen müssen auch juristisch anders behandelt werden, als andere „alltäglichere“ Verbrechen. Problem hierbei ist allerdings, dass es sich um noch nie dagewesene Verbrechen handelt, ergo gibt es dafür weder eine erprobte Vorgehensweise, noch Gesetze nach denen diese Verbrechen gerichtet werden könnten. In den 1960er Jahren wurde in Frankreich die Fragen nach der juristischen Verjährbarkeit stark diskutiert. Allerdings ist diese Diskussion losgelöst von den Gräueltaten des Holocaust, da diese Verbrechen zum einen internationalen Charakter haben und zum anderen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind.95

Es ist nachvollziehbar, dass nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Menschheit in einer Schockstarre war. Schockiert über das Ausmaß der Verbrechen, zu denen Menschen fähig sind, schockiert über die menschlichen Verluste, wie auch über die materiellen Verluste. Man denke an die zerbombten Städte wie zum Beispiel Köln, wo die Not nach dem Krieg so groß war, dass Kardinal Frings in dieser Situation moralisch erlaubte, dass die Überlebenden Kohle von den Güterzügen stehlen durften. Diese Menschen hatten nur eines im Sinn: Die Nachkriegszeit zu überleben. Auch wenn Jankélévitch alle Deutschen96 unter Generalverdacht stellt und der deutschen Kultur mit seinen Musikern, Dichtern und Philosophen nichts Positives abgewinnen kann, so muss man doch sagen, dass dies nicht der objektiven Wahrheit entspricht. Es gab fanatische Nazis, es gab Mitläufer, es gab Leute die wegschauten, die Zeichen ignorierten und es gab aber auch Menschen die gegen das Regime waren, teilweise im aktiven Widerstand, andere wiederum waren nur im Stillen gegen das Regime. Die einfachen Bürger Deutschlands

94 Raffelt, Albert [bearb.]; Karl Rahner; Das Konzil in der Ortskirche. Schriften zu Struktur und gesellschaftlichen Auftrag der Kirche; Sämtliche Werke Bd. 24/2; Freiburg i. Breisgau, 2006; S. 873. 95 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S.253. 96 Konsequenterweise müssen diese Aussagen auch auf Österreich erweitert werden. Man denke dabei an die im dritten und vierten Kapitel vorstellten Täter Eichmann und Murer, sowie die Rolle des Staates Österreich beim Prozess gegen Murer. 38

und Österreichs waren nach Kriegsende damit beschäftigt ihr Land wiederaufzubauen. Sie wollten das Leid, das sie auch im Krieg erfahren haben vergessen. Kriegsverbrecher finden und zu verurteilen, danach stand den wenigsten der Sinn. Doch kann man ihnen das zum Vorwurf machen? Man könnte sagen, die Politiker, Staatsanwaltschaft der Nachkriegszeit, sowie die Alliierten hätten die Pflicht gehabt zu reagieren und die Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen, und nicht wie der Fall Murer eindrucksvoll zeigt, die Augen davor zu verschließen. Man kann ihnen mangelndes Pflichtbewusstsein oder auch Nazigedankengut vorwerfen. Auf jeden Fall haben sich diese Menschen ebenfalls zu (Mit)Tätern gemacht. Denn durch dieses Schweigen und Verdrängen sind die Opfer nochmals gestorben.97 Genauso wie die Täter während des Krieges, so erwartet auch sie das letzte Gericht. In diesem Gericht stehen auch sie den Opfern gegenüber, hier wird sowohl die Leidens- als auch die Schuldgeschichte aller Menschen neu aufgerollt, im Gericht kann der Vergangenheit nicht ausgewichen werden.98 Wiesel hingegen hat als Überlebender des KZ Buchenwald99 einen differenzierten Blick. Er sagt seinen deutschen Studenten:

„Nein! Ihr seid nicht schuldig. Ihr tragt keinerlei Verantwortung für das, was eure Großeltern oder Eltern getan haben. Ich glaube nicht an die Kollektivschuld.“100

Die Ansicht Jankélévitch‘ scheint verbittert zu sein. Verbittert darüber, dass die Deutschen sich nicht ihrer Verantwortung stellen, sondern lieber verdrängen. Wiesel hingegen tätigte das obengenannte Zitat im Jahr 1995, Jahre nachdem Jankélévitch sein Essay veröffentlichte. Trotz der zeitlichen Differenz wirkt die Haltung Wiesels aufgeklärter, objektiver, um nicht zu sagen milder in Bezug auf die Nachkriegsgenerationen. Jankélévitch‘ Haltung hingegen gegenüber die

97 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S. 249. 98 ebd. S. 249. 99 Semprun Jorge; Wiesel Elie. Schweigen ist unmöglich; Frankfurt a. M. 1997; S. 51. 100 ebd. S. 36. 39

Deutschen während des Krieges, wird durch Eugen Kogon unterstützt:

“Kein Deutscher, der nicht gewusst hätte, dass es Konzentrationslager gab. Kein Deutscher, der sie für Sanatorien gehalten hätte. Wenig Deutsche, die nicht einen Verwandten oder Bekannten im KL gehabt oder zumindest gewusst hätten, dass der oder jener in einem Lager war. Alle Deutschen, die Zeugen der vielfältigen antisemitischen Barbarei geworden, Millionen, die vor brennenden Synagogen und in den Straßenkot gedemütigten jüdischen Männern und Frauen gleichgültig, neugierig, empört oder schadenfroh gestanden haben. […] Viele Geschäftsleute, die mit der Lager- SS in Lieferbeziehungen standen, Industrielle, die vom SS- Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt-KL-Sklaven für ihre Werke anforderten,[…].“101

Kogon hat mit dieser Ansicht, welche er bereits 1946 veröffentlichte, vermutlich nicht Unrecht. Insofern hat die Haltung Jankélévitch keinen deutschen Komponisten zu hören oder deutschen Dichter zu lesen, etwas Nachvollziehbares. Es muss aber dennoch festgehalten werden, dass Jankélévitch einigen Personen durchaus Unrecht tut, genannt sei hier der eben zitierte Eugen Kogon.102 Dieser spricht sich aber andererseits auch gegen eine Kollektivschuld der Deutschen aus. Für ihn ist wichtig, dass sich jeder für sich selbst die Frage stellt, was er getan hat oder eben auch nicht getan hat. Nur so kann „der Reuige, dann auch Gott gegenübertreten, den er zuvor nicht im >>im Geringsten unter seinen Brüdern und Schwestern<< erkannt habe und der nun als Richter vor ihm stehe.“103

101 Kogon, Eugen; zit. nach: Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006; S.195. 102 Eugen Kogon, eigentlich jüdischer Abstammung, wuchs in verschiedenen katholischen Pflegefamilien und Internaten auf. Aufgrund von Nazifeindlichen Texten wurde er dreimal inhaftiert, beim dritten Mal wurde er nach Buuchenwald überstellt, wo er bis zur Befreiung durch die Alliierten 1945 blieb. siehe: Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006; 194. 103 Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006; S. 197. 40

Im Kontext des dritten Reiches und der menschheitsverachtenden Vernichtungsmaschinerie werden allerdings die Fragen aufgeworfen, ob das menschliche Verzeihen begrenzt ist? Kennt das göttliche Verzeihen ein Ende? Wiesel meint diese Frage mit einem klaren Ja beantworten zu können. Es erscheint ihm, und damit ist er vermutlich nicht der Einzige, unvorstellbar, dass Gott solche Taten verzeihen kann und auch will. Zum einen erscheint diese Position etwas anmaßend. Können wir denn Gott vorschreiben, wem er verzeihen soll oder nicht? Des Weiteren zeigen Täter des NS-Regime selten Reue, da sie in ihren Verhalten und Taten kein Unrecht sahen.104 Man denke zum Beispiel an Adolf Eichmann (siehe Kapitel 3), der sich keiner Schuld bewusst war, da er ja, seiner Meinung nach, nur Befehle befolgte. Können diese Täter nun aber erlöst werden, auch wenn sie nicht bereuen? Den Tätern wird durch das Liebesgericht freigestellt, welchen Weg sie wählen. Die Täter können sich auf den Reinigungsprozess einlassen. Dieser ist ein harter Weg. Hier wird der Täter innerlich transformiert und stellt sich seinen Taten. Das ist ein Prozess der Versöhnung in dem Jesus der Mittler ist. Verweigern sich die Täter diesem Prozess, ist dies eine endgültige Ablehnung des Rettungsangebotes Gottes.105

Jankélévitch thematisiert in seinem Essay noch ein weiteres Motiv. Mit der Problematik des Verzeihens geht auch die Frage einher, wer hat in welchem Maße Schuld. Gerade im Blick auf das Naziregime ist das eine berechtigte und wichtige Frage. Damit im Zusammenhang stehen auch folgende Fragen: Kann man nur einzelnen Tätern vergeben? Können die Nachfahren der Opfer im Namen der Opfer verzeihen? Jankélévitch kritisiert an Deutschland (und vermutlich auch Österreich,) nicht zu ihrer Schuld zu stehen und dass sowohl die Deutschen als auch die Österreicher sich zum Teil frei von jeder Schuld sehen. Wäre es also an Entschuldigung beziehungsweise an

104 Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006.; S.232. 105 Sandler, Willibald; Leben von der Vollendung her. Eschatologische Hoffnung für diese Welt; Innsbruck 2018; S. 12; in: Innsbrucker Theologischer Leseraum (eingesehen 25.06.2018) 41

Wiedergutmachung (sofern man in diesem Zusammenhang von Wiedergutmachung sprechen kann), getan, wenn politische Vertreter die Schuld zugeben und an diese Zeit erinnern? Zweifelsohne ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur der erste Schritt. Genauso ist es wichtig, diese geschichtliche Zeit an die neuen Generationen weiterzugeben. Doch auch damit ist es noch lange nicht genug. Jankélévitch schreibt treffend:

„Behaltet eure Entschädigungen, die Verbrechen lassen sich nicht in klingende Münze umsetzen; es gibt keinen Schadensersatz, der uns für sechs Millionen zu Tode Gemarterter entschädigen könnte, es gibt keine Wiedergutmachung für das Nichtwiedergutzumachende.“106

Diese Gedanken würden aber bedeuten, dass in einem Fall von strukturierten Massenmord es nie zu einem Verzeihen, also auch nie zu einem Ende kommen kann, weder für die Opfer noch für die Täter. Man kann diese Taten nicht ungeschehen machen und auch nicht widergutmachen, Mord bleibt Mord, die Toten bleiben tot. Jankélévitch aber maßt es sich an zu entscheiden, ob die Opfer verzeihen dürfen oder nicht. Wenn ein Opfer sich im Stande sieht zu verzeihen, aus welchem Grund auch immer, dann ist dies ein zu tiefst persönlicher Vorgang, eine Entscheidung die nur das Opfer selbst treffen kann. Das muss aber genauso Berechtigung haben wie das Nicht- verzeihen- können.

Eine wichtige Frage ist auch, wen klagt man an und infolgedessen wem verzeiht man? Wer hat sich in diesem ganzen Konstrukt, welches die Nazis erschaffen haben, in welchem Ausmaß schuldig gemacht? Der einfache Soldat der die Befehle ausführte und abdrückte, dem Offizier, der den Befehl weitergeleitet hat, einen Beamten wie Eichmann in Berlin, Hitler? Muss man konsequenterweise allen Beteiligen verzeihen oder kann man auch nur einem

106 Niewiadomski, Josef; Hoffnung im Gericht. Soteriologische Impulse für eine dogmatische Eschatologie, ZKTh. S. 287f. 42

Glied in dieser Kette der Schuldigen verzeihen? Denn „[…] nur dank unzähliger Komplizenschaften und im wohlgefälligen Schweigen aller […]“107 hat diese Vernichtungsmaschinerie funktionieren können. Es kann allerdings nicht allgemein gesagt werden, wem die Opfer verzeihen können beziehungsweise müssen. Denn jeder Mensch hat eine andere Herangehensweise mit solchen Taten umzugehen und individuelle Art und Weise solche Taten zu verarbeiten. Man kann niemanden vorschreiben, er hat zu verzeihen, genauso wenig kann man es zum Vorwurf machen, wenn ein Mensch die Fähigkeit besitzt, zu verzeihen.

Verzeihen ist ein sehr persönlicher Vorgang, der mehr ist, als das bloße Aussprechen von Wörtern. Die Nachfahren können ja gar nicht wissen, ob die Opfer überhaupt bereit wären zu verzeihen? Es stellt sich auch die Frage, wozu die Nachfahren verzeihen wollen, welchen Nutzen ziehen sie daraus? Jankélévitch zitiert Olivier Clément mit den Worten, dass es „das Vorrecht der Opfer sei, zu verzeihen.“108

Ein wichtiger Punkt, den Jankélévitch anspricht ist, dass, um überhaupt vergeben zu können, zuerst ein Schritt von den Tätern kommen muss - nämlich ein Eingeständnis der Schuld, ein Zeichen der Reue. 109 Natürlich ist es wichtig, dass der Täter zuerst um Verzeihung bittet, bevor das Opfer vergibt. Doch stellt sich die Frage, ob dies zwingend notwendig ist. Angenommen, ein Täter sieht seine Schuld nicht ein, ist gestorben, oder kann seine Reue nicht mehr ausdrücken, dann kann das Opfer nicht verzeihen. Murer leugnete standhaft seine Taten im Ghetto Vilnius auch im Beisein seiner Opfer während des Prozesses. Es kann für die Opfer aber dennoch ein wichtiger Schritt sein um mit der Vergangenheit besser abschließen zu können.

107 Jankélévitch, Vladimir; Verzeihen?; in: Konersmann, Ralf [Hg.] Verzeihen? Jankélévitch, Vladimir; Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie; Frankfurt a. Main 2004; S.266. 108 ebd. S 275. 109 ebd. S. 271. 43

Wenn der Vorgang des Verzeihens im Diesseits nicht mehr möglich ist, dann hat sowohl der Täter als auch das Opfer noch die Hoffnung auf das letzte Gericht, dort wo alle wieder aufeinandertreffen, denn „das Gericht aber ist der Ort, wo die komplexe Leidens- und Schuldgeschichte aller offenlegt und der Wahrheit des Vergangenen nicht mehr ausgewichen werden kann.“110 Jankélévitch plädiert dennoch für ein Nichtvergeben der Schuld, sofern vom Täter keine Bitte um Vergebung kommt. Denn dieses Ausbleiben interpretiert er, ein Nicht- eingestehen der Schuld und das Abweisen jeglicher Verantwortung.111 Er befürchtet, dass, wenn die Taten ohne Schuldeingeständnis verziehen werden, die Taten so in Vergessenheit geraten und als nicht so grausam und menschenverachtend angesehen werden. Das will Jankélévitch unter allen Umständen verhindern.

6.2 Das unverzeihbare Verzeihen112 - Jaques Derrida

Als Gegenposition zu Jankélévitch soll nun Derrida zu Wort kommen. Zwischen der Veröffentlichung der beiden Texte liegen gut 30 Jahre.113 Derridas Meinung ist von der beginnenden Aufarbeitung der Zeit des zweiten Weltkrieges geprägt und man bekommt durch einen gewissen zeitlichen Abstand auch einen emotionalen Abstand.

Jaques Derrida, geboren 1930 in Algerien als Sohn einer jüdischen Familie mit französischer Staatsbürgerschaft. Dort wurde er 1942 aufgrund eines Gesetzes der Vichy - Regierung von der Schule verwiesen. Mit 19 Jahren verließ er Algerien, um in Paris an der École Normale Supérieure zu

110 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S. 245. 111 Kleeberg, Florian; Bleibend unversöhnt- universal erlöst?. Eine Relecture von römisch- katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnungshoffnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen; Münster 2016; S. 61f. 112 zit. nach: Kleeberg, Florian; Bleibend unversöhnt- universal erlöst?. Eine Relecture von römisch-katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnungshoffnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen; Münster 2016.; S.258. 113 ebd. S. 258. 44

studieren.114 Seine Philosophie ist geprägt von Heidegger, Nietzsche, Freud und Sausure, wobei er sich auch mit der Phänomenologie Husserls beschäftigte.115 Derridas Philosophie wird in Europa kontrovers diskutiert, richtig aufgenommen wird seine Denkweise erst in den USA.116 Jaques Derrida starb mit 74 Jahren in Paris am 8. 10. 2004.117

Derrida beschäftigte sich in einem Vortrag, welchen er in den Jahren 1997 und 1998 an verschiedenen Universitäten hielt, mit dem Problem des Vergebens und Verzeihens, in welchem er sich kritisch mit Jankélévitch Thesen auseinandersetzte.118 Mit diesem Thema beschäftige sich auch ein Interview im Jahr 2000 zwischen Derrida und Michael Wieviorka, mit dem Titel >> Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht - unbedingt und jenseits der Souveränität<<119

Es ist in der heutigen Zeit „Mode“ geworden, dass politische Vertreter eines Staates andere Staaten für Kriegsverbrechen in der Vergangenheit um Verzeihung bitten, wie Tück bemerkt.120 In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen: Zum einen: Warum bitten Staatsoberhäupter um Verzeihung? Was steckt dahinter? Zum anderen, können Politiker im Namen anderer um Verzeihung bitten?

Zur ersten Frage, schreibt Tück, das hier oft gesellschaftspolitische Ziele verfolgt, oder aber auch wirtschaftliche Interessen vertreten werden. Seit dem 2. Weltkrieg hat das Vergeben einen Umfang angenommen, dass um

114 https://www.zeit.de/2013/16/benoit-peeters-jacques-derrida-biografie/seite-2 (eingesehen: 17.07.2018). 115 Valentin, Joachim; Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jaques Derrida; Mainz 1997; S.21. 116 https://www.zeit.de/2013/16/benoit-peeters-jacques-derrida-biografie/seite-2 (eingesehen: 17.07.2018). 117 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32499212.html (eingesehen: 17.07.2018). 118 Engelmann, Peter [Hg.]; Derrida, Jaques; Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare; Paris 2012; S. 71. 119 Dieses Interview wurde in der Zeitschrift Lettre international im Frühjahr 2000, Heft 48 veröffentlicht. 120 Engelmann, Peter [Hg.]; Derrida, Jaques; Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare; Paris 2012; S. 259. 45

Vergebung bitten fast schon inflationär geworden ist. Es gehört zum guten Ton, „man muss sich der Vergangenheit zuwenden; […]“121 Es ist deshalb fraglich, ob denn dieses um Verzeihung bitten ernst gemeint ist und in tiefster Überzeugung wurzelt oder lediglich ein politisches Kalkül ist.122 Dieses Vergeben ist aber nicht rein123, sondern geschieht unter bestimmten Bedingungen, es geht in erster Linie um den Nutzen, nicht jedoch um das um Vergebung-Bitten als solches. Man könnte auch sagen, es handelt sich hierbei um einen Tauschhandel.124

Ein Grund, weshalb Jankélévitch sich gegen die Möglichkeit der Vergebung der NS-Täter ausspricht, ist, dass hier keine Reue, kein Schuldeingeständnis seitens der Täter vorliegt. Derrida widerspricht diesem Gedanken, es braucht keine Reue, damit vergeben werden kann. Sobald der Täter nämlich sein Verhalten ändert und die Schuld eingesteht, verändert der Mensch sein Wesen und dann würde einem anderen Menschen als dem eigentlichen Täter vergeben werden. Derrida stellt in diesem Zusammenhang die Frage: „Muss man nicht vielmehr, damit es Vergebung gibt, sowohl dem Vergehen als auch dem Schuldigen als solchen vergeben?“ 125 Vergebung hat demzufolge zwei Dimensionen: zum einen die Vergebung der Tat an sich und zum anderen die Vergebung des Täters.126 Durch die Vergebung des Täters als Menschen, betrachtet das Opfer seinen Täter in seiner Ganzheit, hier kommt das Moment zum Vorschein, dass Menschen immer Opfer und Täter zugleich sind.

Um die zweite Frage beantworten zu können, kommt Jankélévitch wieder ins

121 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.10. 122 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S. 259f. 123 zit. nach: ebd.; S. 260. 124 Derrida spricht von einer „Tausch-Logik“; vgl.: Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.11. 125 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S. 12. 126 ebd. S.12. 46

Spiel, er schreibt, dass nur die Opfer verzeihen können127, Derrida stimmt hier mit Jankélévitch überein:

„In jedem Fall scheint, gemäß dem gesunden Menschenverstand selbst, niemand das Recht zu haben, eine Kränkung, ein Verbrechen, ein Unrecht zu vergeben, das an einem anderen begangen wurde. Nie dürfte man im Namen eines Opfers vergeben, vor allem nicht, wenn Letzteres radikal abwesend ist von der Szene der Vergebung, zum Beispiel wenn es tot ist.“128

Im Umkehrschluss sei dann aber auch gesagt, dass nur die Täter um Verzeihung bitten können, niemand kann im Namen eines Täters bereuen. Wenn also Politiker der Nachfolgestaaten des Nazireiches um Vergebung bitten für die Taten, die vor 80 Jahren begangen worden sind, dann ist dies keine wahre Bitte um Vergebung. Die Nachfahren der Täter können lediglich ihre Verantwortung wahrnehmen, Wiedergutmachung leisten und besonders dafür sorgen, dass die Taten nicht vergessen werden. Einen besonderen Stellenwert haben hier Gedenkveranstaltungen anlässlich der Jahrestage der Befreiungen einzelner Konzentrationslager. Der Grund für diese Veranstaltungen, wie auch für Mahnmale, Museen, etc. ist zum einem das Entgegenwirken wider dem Vergessen, welches Jankélévitch so vehement fordert. Zum anderen besitzen diese Veranstaltungen für die jüngeren Generationen, die diese Zeit nicht erlebt haben, symbolischen Charakter.129 Dadurch wird dem Vergessen entgegengewirkt und eine Wiederholung der Gräueltaten zu verhindern versucht.

Im 20. Jahrhundert war das Thema Vergeben-Verzeihen omnipräsent. Das liegt nach Derrida nicht nur daran, dass in diesem Jahrhundert entsetzliche

127 Jankélévitch, Vladimir; Verzeihen?; in: Konersmann, Ralf [Hg.] Verzeihen? Jankélévitch, Vladimir; Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie; Frankfurt a. Main 2004; S.271. 128 Engelmann, Peter [Hg.]; Derrida, Jaques; Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare; Paris 2012; S. 35. 129 Semprun Jorge; Wiesel Elie. Schweigen ist unmöglich; Frankfurt a. M. 1997; S. 23. 47

Verbrechen verübt worden waren, sondern auch an der Aufarbeitung derer.130 In diesem Kontext geht er auch auf die Frage, bezüglich der Unverjährbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Frankreich in den 1960er Jahren sehr stark diskutiert wurde, ein. Derrida unterscheidet, augenscheinlich stärker wie Jankélévitch, zwischen „unverjährbar“ und „unverzeihbar“. Ein Verbrechen kann verzeihbar sein, aber dennoch ist es juristisch unverjährbar.131 Es handelt sich hier um zwei verschiedene Ebenen, zum einen der juristischen und zum anderen der persönlichen, emotionalen Ebene. Das Opfer berührt es an seiner Entscheidung, die an ihm begangene Tat zu verzeihen, ob diese für ihn verzeihbar oder unverzeihbar ist. Nicht jedoch interessiert es das Opfer, ob eben jene Tat juristisch gesehen verjährbar oder unverjährbar ist. Auch heißt es umgekehrt nicht, dass nur, weil eine Tat vergebbar ist, sie deshalb weniger schlimm ist und in Vergessenheit geraten darf. Derrida betont immer wieder, dies sei wichtig in diesem Zusammenhang zu beachten, Vergeben ist nicht gleichbedeutend mit Vergessen.132 Der Akt des Vergebens bedeutet nicht, dass das Opfer die Tat dann vergisst. Auch wird dadurch die Tat auch nicht ungeschehen gemacht. Auch wenn das Opfer die Tat vergeben hat, so hat das weltliche Gericht die Aufgabe objektiv über die Tat des Täters zu richten. Staatsanwälte, Richter und Anwälte haben die Aufgabe so sachlich wie möglich die Tat zu bewerten. Unterstützend und um eine größtmögliche Objektivität gewährleisten zu können, sind bei manchen Prozessen zufällig ausgewählte Geschworene dabei, um über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden. Dies ist aber nicht immer ausreichend, besonders in Fällen, die das dritte Reich betreffen, wie der Fall Murer zeigt. Besonders deutlich wird das im Film >> Murer- Anatomie eines Prozesses<<. Einer der Geschworenen, Julius Kloiber, sieht sich nicht im

130 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S; S.260. 131 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S; S.260..; S. 261. und auch: Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S. 11. 132 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S; S.260; S. 259. 48

Stande über Murer zu urteilen, da er bis Kriegsende ein Werwolf war. In einer eindrucksvollen Szene in einer Kirche erzählt er, dass ihm durchaus bewusst war, wenn er die Feinde tötet ist er ein Mörder. Er kann nicht über die Schuld oder Unschuld Murers richten, deshalb erklärt er sich nach dem Prozess im Beratungszimmer der Geschworenen, vor dem Fall des Urteils als befangen.133 Dies ist nur ein exemplarisches Beispiel, dass die meisten Beteiligten einen emotionalen Bezug zum 2. Weltkrieg haben. Die Objektivität ist schwierig nach nur knapp 20 Jahren nach Ende des Krieges zu gewährleisten. Aber genau diese Objektivität macht den entscheidenden Unterschied zwischen der juristischen Ebene des Verjährbaren beziehungsweise des Unverjährbaren und der Ebene des persönlichen, emotionalen des Vergebbaren beziehungsweise des Unvergebbaren. Jankélévitch und auch Arendt stellen jedoch eine Korrelation zwischen diesen beiden Ebenen her:

„Es gehört zu den elementaren Gegebenheiten im Bereich der menschlichen Angelegenheiten, dass wir außerstande sind zu verzeihen, wo uns nicht die Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten und gegebenenfalls zu bestrafen, und dass umgekehrt diejenigen Vergehen, die sich als unbestrafbar herausstellen, gemeinhin auch diejenigen sind, die wir außerstande sind zu vergeben.“134

Es nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein Zusammenhang zwischen dem objektiv Juristischem und dem subjektiv Emotionalem vorliegt. Die Frage, ob Verbrechen unverjährbar oder wie Arendt schreibt, unbestrafbar sind, ob Verbrechen unvergebbar sind, stellen sich nur bei schwerwiegenden Verbrechen. Die bestehende Verbindung zwischen diesen Ebenen bedeutet

133 Drehbuch Murer- Anatomie eines Prozesses; S.76f. und 129f. 134 Arendt Hannah; Vita acitva oder Vom tätigen Leben; München 201618; zit. nach: Engelmann, Peter [Hg.]; Derrida, Jaques; Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare; Paris 2012; S. 28. 49

allerdings noch nicht, dass deswegen Taten unvergebbar sind. Derrida stellt die Frage, ob der Ursprung von Vergebung im Unvergebbaren liegt, dort wo Jankélévitch postuliert, was man nicht vergeben kann. Derrida geht noch einen Schritt weiter, er trägt vor, dass wahre Vergebung nur dann stattfindet, wenn das Unvergebbare vergeben wird. „Das Vergebbare, das Verzeihliche, das Entschuldbare, das, was man immer vergeben kann, zu vergeben, ist nicht Vergeben.“135 Vergeben ist demzufolge etwas Tiefes, etwas, das Stärke und auch Zeit benötigt. Vergeben kommt dann ins Spiel, wenn man vom menschlichen Verstand her gedacht nicht vergeben kann, wenn die Taten so menschenverachtend sind, denn gerade solche Taten bedürfen des Vergebens. Wenn man nur jene Taten vergeben würde, welche im katholischen Kontext als >>lässliche Sünden<< bekannt sind, dann würde sich das Konstrukt der Vergebung auflösen.136 Derrida verweist hier auf Hegel, der der Ansicht war, „dass alles verzeihbar sei, außer das Verbrechen gegen den Geist, das heißt gegen die versöhnende Kraft des Verzeihens.“137

Derrida unterscheidet zwischen „reinen Vergeben“ und einem Vergeben, welches an Bedingungen geknüpft ist. Unvergebbare Taten sind mit dem reinen Vergeben vergebbar.138 Das Geschehen der Vergebung passiert nur zwischen Opfer und Täter, sobald noch eine dritte Person involviert ist, spricht man nicht mehr von reiner Vergebung.139 Es wird dadurch deutlich, dass die wahre, „reine“ Vergebung ein Vorgang zwischen den direkt Betroffenen ist. Ein Nachfahre des Täters kann deshalb auch nicht um Vergebung bitten, sondern

135 Engelmann, Peter [Hg.]; Derrida, Jaques; Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare; Paris 2012; S. 27. 136 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.11. 137 zit. nach: Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.11. 138 Kleeberg, Florian; Bleibend unversöhnt- universal erlöst?. Eine Relecture von römisch- katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnungshoffnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen; Münster 2016; S.66. 139 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.13. 50

beispielsweise lediglich Wiedergutmachung leisten. Sobald an die die Vergebung Bedingungen genknüpft sind, ist es eine Vergebung aus „niederen Motiven“.140 Vergebung wird dann häufig an der Größe der Reue beziehungsweise an der Bußtätigkeit des Täters gemessen.141

6.3 Vergeben in der Bibel

Derrida verweist im Zusammenhang mit Vergebung auf die abrahamitischen Religionen, wobei er bemerkt, dass sich diese Art des Vergebens auch auf jene Länder ausgebreitet hat, die einen anderen kulturellen und religiösen Hintergrund haben.142 Hier an dieser Stelle, insbesondere, da es sich bei den Opfern und Tätern des Holocausts um Juden und Christen handelt, beschränkt das Thema Vergeben zunächst auf die Tora, denn diese Schriften haben Juden und Christen gemeinsam. Im darauffolgenden Schritt wird das Zweite Testament zu Rate gezogen.

6.3.1 Das Erste Testament

Derrida sieht in den drei Religionen zwei Sichtweisen von Vergebung. Erstens: Die Umkehr, die Reue ist an bestimmte Bedingungen genknüpft. Zweitens: Die reine, bedingungslose Vergebung.143 Im Alten Testament finden sich mehrere Stellen, in denen es um Vergebung geht, hier sollen nur einige exemplarisch genannt werden.

Eine der ersten Stellen im Alten Testament, die unter anderem Vergebung zum

140 Kleeberg, Florian; Bleibend unversöhnt- universal erlöst?. Eine Relecture von römisch- katholischen Konzepten zur Frage der Allversöhnungshoffnung im Gespräch mit psychotraumatologischen Ansätzen; Münster 2016;. S. 71. 141 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S. 11. 142 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000.; S. 10. 143 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016. S. 265. 51

Thema hat, ist Ex 32-34. Diese Kapitel handeln von der bekannten Erzählung um den Bundesschluss JHWH mit den Israeliten und um das goldene Kalb, welches die Israeliten in der Abwesenheit Mose errichten. Selten wird in der Exegese dieser Perikope auf das Thema der Vergebung eingegangen, dennoch spielt Vergebung hier eine große Rolle. Die Israeliten begehen hier eine Sünde, dennoch vergibt Gott ihnen und er gibt Mose die 10 Gebote ein weiteres Mal. Die Erschaffung des goldenen Kalbes stellt eine „grundlegende Störung der Beziehung zwischen JHWH und Israel dar.“144 Eine Besonderheit findet sich in diesem Komplex in der Person Mose. Im Prozess der Vergebung tritt Mose als Vermittler zwischen JHWH und dem Volk auf:

„Und es geschah am folgenden Tag, da sagte Mose zum Volk: Ihr habt eine große Sünde begangen. Doch jetzt will ich zum HERRN hinaufsteigen, vielleicht kann ich Sühnung für eure Sünde erwirken.“ (Ex 32,30)145

Dies ist nur konsequent, da auch in anderen Belangen Mose als Mittler auftritt.146 Diese Stelle zeigt auch, dass das Volk, die Täter, nicht selbst um Vergebung bei Gott, gewissermaßen dem Opfer, suchen. Mose versucht von sich aus Gott gnädig zu stimmen. JHWH vergibt Israel ohne Bedingungen zu stellen. Analog zu Derrida handelt es sich hier um eine >>reine Vergebung<<. JHWH besteht auch nicht auf Reue oder Buße. Es gibt nur eine Handlung, die man als Art der Reue deuten könnte. Das Volk trauert, dass JHWH sich nicht über das goldene Kalb freut.147

Eine weitere Perikope, welche das Vergeben thematisiert, findet sich in Dtn

144 Hrasová Zuzanna; Derridas Darstellung der Vergebung: Eine Anregung zum Verständnis der alttestamentlichen Tradition und zu einer neuen systematisch-theologischen Reflexion; Diss.; Münster 2009; S.166. 145 Alle verwendeten Bibelzitate dieser Arbeit, stammen, falls nicht anders angegeben, aus der revidierten Elberfelder Übersetzung. 146 Eine Mittlertätigkeit Mose zwischen JHWH und den Israeliten findet man beispielsweise in Ex 15,25. 147 Hrasová Zuzanna; Derridas Darstellung der Vergebung: Eine Anregung zum Verständnis der alttestamentlichen Tradition und zu einer neuen systematisch-theologischen Reflexion; Diss.; Münster 2009; S. 190. 52

29,16-28. Hier wird deutlich gemacht, mit welchen Konsequenzen die Israeliten zu rechnen haben, wenn sie den Bund mit JHWH brechen. Dieser Bruch bedeutet die Abwendung von JHWH und die Hinwendung zu anderen Göttern. In dieser Perikope ist die Rede von „Nicht - vergeben wollen“ (v19). JHWH kann dennoch vergeben, das wird nicht ausgeschlossen. Es liegt also in der der Hand JHWHs, ob er verzeiht oder nicht. Es kann nicht mit Sicherheit mit einer Vergebung JHWHs gerechnet werden.148

In den Psalmen hingegen ist häufig von der Vergebungsbereitschaft JHWHs die Rede. Als Beispiele sind an dieser Stelle nur einige wenige exemplarisch genannt: „Um deines Namen willen, HERR, vergib mir meine Schuld, denn sie ist groß.“ (Ps 25,11), „Der da vergibt alle deine Sünde, der da heilt alle deine Krankheiten.“ (Ps 103,3), „Doch bei dir ist Vergebung, damit man dich fürchte.“ (Ps 130,4). Vergebung wird hier einerseits als Berufung auf den Namen JHWH gesehen, es findet eine Rückbesinnung auf Ex 32-34 statt. Die Vergebungsbereitschaft JHWHs hat mit den ihm zugeschriebenen Eigenschaften zu tun. Des Weiteren geht der Betende davon aus, dass es sich bei der Vergebung um eine wiederkehrende Handlung handelt. Im Hintergrund steht ein „Verständnis von JHWH als einem „vergebenden“ Gott.“, es besteht ein Vertrauen an JHWH, die Verfehlungen der Menschen zu vergeben.149

Jer 5 behandelt ebenso das Thema der Vergebung, besonders in den Versen 1, 7, 9 und 11. Wie in v1 deutlich wird vergibt JHWH demjenigen, der „der Recht übt, der Treue sucht." In weiterer Folge werden jedoch Umstände deutlich, die eine Vergebung JHWHs nicht möglich machen. In v9 ist im Gegenteil sogar von Rache die Rede.

Der Alte Bund wurde von Israel gebrochen, aber JHWH schließt in Jer 31,31- 34 einen neuen Bund, JHWH vergibt seinem Volk und wagt einen Neuanfang:

148 Hrasová Zuzanna; Derridas Darstellung der Vergebung: Eine Anregung zum Verständnis der alttestamentlichen Tradition und zu einer neuen systematisch-theologischen Reflexion; Diss.; Münster 2009; S. 206. 149 ebd. S. 215-217. 53

„Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder seinen Bruder lehren und sagen: Erkennt den HERRN! denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht der HERR. Denn ich werde ihnen ihre Schuld vergeben und an ihre Sünde nicht mehr denken.“ (Jer 31,34)

Derrida stellt die Frage, ob Vergebung notwendigerweise an Bedingungen geknüpft ist. Die oben genannten Stellen aus dem Alten Testament machen deutlich, es gibt beide Varianten der Vergebung, die reine Vergebung, wie auch die an Bedingungen geknüpfte Vergebung. Während in Ex 32 -34 JHWH bedingungslos vergibt, ist in Jer 5 eine Vergebung nur einer Änderung des Verhaltens des Volkes möglich. Es wird deutlich, dass Vergebung kein Geschehen ist, welches automatisch passiert, Gott wird dennoch als ein vergebender Gott dargestellt.150

Vergebung zwischen Gott und den Menschen ist vergleichbar mit dem Vergebungsgeschehen zwischen Menschen. In beiden Fällen wird auf eine Störung der Beziehung reagiert. Deutlich wird auch, dass Vergebung etwas Punktuelles ist, der Sünder muss immer wieder um Vergebung ansuchen.151

6.3.2 Das Zweite Testament

Man kann die Problematik des Vergebens auch von der Seite der Täter her betrachten. Derrida verdeutlicht, dass es beim Akt des Verzeihens zu einer Transformation der Machtverhältnisse kommt. Die Person, die verzeiht, hat insofern eine Machtposition inne, dass es von ihr abhängt, ob dem Täter seine Taten vergeben werden können.152 Es kommt zu einer Umkehr des Opfer- Täter-Verhältnisses. Der Täter ist nun abhängig von der Bereitschaft des

150 Hrasová Zuzanna; Derridas Darstellung der Vergebung: Eine Anregung zum Verständnis der alttestamentlichen Tradition und zu einer neuen systematisch-theologischen Reflexion; Diss.; Münster 2009 S. 270. 151 ebd. S.272f. 152 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S. 263. 54

Opfers zu vergeben. „Es steht den Opfern zu, ihre moralische Macht einzusetzen, um Schuld einzutreiben und Wiedergutmachung zu fordern […]“153. Die Täter stehen also in einem Abhängigkeitsverhältnis, aus welchem sie nicht einfach entlassen werden können. Auch das Sakrament der Buße entlässt die Täter nicht in die Freiheit der Schuldlosigkeit. Was ist jedoch, wenn ein Täter bereut und um Vergebung bittet, aber das Opfer nicht vergeben kann oder will, wird dann der Täter nicht erlöst?

Es stellt sich auch die Frage, ob Gott solche Taten, unabhängig von der Vergebung der Opfer, vergeben kann. Wiesel hat hierzu eine klare Haltung: „[…] Ich hoffe, dass ihren Mördern niemals verziehen werden wird. Ich will nicht, dass Gott ihnen verzeiht, was sie den Kindern angetan haben. Niemals.“154 Wiesel verlangt hier von Gott nicht zu verzeihen. Es stellt sich dann jedoch die Frage, ob dies nicht im Widerspruch dazu steht, dass Gott sich mit den Menschen identifiziert und ein, wie wir Christen glauben, ein liebender und verzeihender Gott ist. In der dramatischen Theologie wird dies unter anderem im 4. Akt behandelt155: Der Auferweckte begegnet den Jüngern, die an ihm – wenn man das so sehen will - am meisten schuldig geworden sind. Immerhin waren sie in die Botschaft Jesu eingeweiht und sind Jesus nachgefolgt, haben ihn aber am Ende seines Lebens verleugnet und sind ihm in den schwersten Stunden seines Lebens nicht beigestanden. Nach der Auferweckung überbringt Jesus ihnen dennoch beim ersten Treffen den Friedensgruß „Friede euch!! (Lk 24,37). Dadurch wird deutlich, Jesu hat den Jüngern trotz ihres Versagens vergeben. Das heißt aber wiederum für uns Menschen, dass - wenn sogar die Jünger versagten- auch wir versagen dürfen und auch auf Versöhnung und Verzeihung hoffen dürfen. Der christliche Gott ist ein Gott des Verzeihens, ein Gott der Feindesliebe, wie es beispielsweise

153 Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006; S.271. 154 Semprun Jorge; Wiesel; Elie Schweigen ist unmöglich; Frankfurt a. M. 1997; S. 35. 155 Zur genaueren Einführung in das Heilsdrama siehe: Niewiadomski Jozef [Hg.]; Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge; Raymund Schwager. Gesammelte Schriften Bd. 4; Freiburg i. Breisgau 2015. 55

in der Bergpredigt verkündet wird:

„Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,44).

Diese Stelle aus der bekannten Bergpredigt besteht aus zwei Sätzen, die unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Der erste Satz ruft klassisch zur Feindesliebe auf. Jesus verlangt sogar, dass man für die Feinde beten soll. Das hat im ersten Moment einen faden Beigeschmack, man soll für seine Feinde beten, damit sie das Heil erfahren.

Liest man jedoch den Vers der Bergpredigt weiter, so wird deutlich, dass Gott es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Das heißt nichts anderes, als dass Gott trotz der Feindesliebe richten wird. Die Feindesliebe steht nicht allein, sondern die Täter müssen sich dennoch dem Gericht Gottes stellen und in diesem Gericht werden die Täter ihren Opfern gegenüberstehen.156 Hier wird dann ersichtlich wie die Täter mit ihrer Schuld im Angesicht Gottes und im Angesicht ihrer Opfer mit der Schuld umgehen. Auch wenn viele Täter ihre Schuld verdrängen und sie nicht eingestehen, man denke hier an Franz Murer (siehe Kapitel 4), spätestens im Jüngsten Gericht müssen sie sich alle ihrer Schuld stellen.

Paulus interpretiert den Kreuzestod Jesu „als eine Tat der göttlichen Feindesliebe“157, dies wird unter anderem im Brief an die Römer deutlich:

„Denn wenn wir, als wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, so werden wir viel mehr, da wir

156 vgl.: Niewiadomski, Josef; Hoffnung im Gericht. Soteriologische Impulse für eine dogmatische Eschatologie, ZKTh. 157 Niewiadomski Jozef [Hg.]; Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge; Raymund Schwager. Gesammelte Schriften Band 4; Freiburg i. Breisgau 2015; S. 293. 56

versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden.“ (Röm 5,10)

Paulus ist der Meinung, dass alle Menschen zunächst sündig sind und nur die Gnade Gottes erlöst werden können. Paulus bringt die Versöhnung Gottes mit den Sündern in die Nähe des Feindesgebotes (vgl. Rom 5,10).158

Im Neuen Testament findet sich noch eine weitere Perikope, in welcher Vergebung thematisiert wird, diese Stelle hat auch Einzug in das alltägliche Beten des Christentums gefunden: die Rede ist vom Vaterunser. Wie bekannt, finden wir zwei Versionen in den Evangelien, welche sich geringfügig unterscheiden. An dieser Stelle werden nur die für uns relevanten Verse genannt: „und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben“ (Mt 6, 12) und „und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir selbst vergeben jeden, der uns schuldig ist.“ (Lk 11, 4). In beiden Evangelien gibt Jesus dieses Gebet in dem Kontext weiter, wie rechtes Beten funktioniert.

Obwohl die beiden Versionen sprachliche Unterschiede aufweisen, ähneln sie sich inhaltlich sehr. Wir bitten Gott, uns unsere Sünden zu vergeben, weil wir Menschen unseren Tätern auch vergeben. Es wird also davon ausgegangen, dass wir verzeihen. Eine Verweigerung der Vergebung ist nicht vorgesehen. Ist Vergeben eine christliche Eigenschaft? Diese Stelle im Vaterunser macht aber auch deutlich, dass die Vergebung Gottes keine Selbstverständlichkeit ist, denn es bedarf unserer Reue und unserer Bitte um Vergebung. Hier findet also keine >>reine Vergebung<< statt, um mit Derridas Worten zu sprechen, sondern die Vergebung Bedarf einer Bedingung, nämlich der Bitte um Vergebung.

Beide Perikopen im Neuen Testament stellen also die Vergebung als eine christliche Tugend dar. Christen leben in der Nachfolge Jesu, und um dies in

158 Niewiadomski Jozef [Hg.]; Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge; Raymund Schwager. Gesammelte Schriften Band 4; Freiburg i. Breisgau 2015; S. 293. 57

letzter Konsequenz zu leben, müssen wir Christen auch unseren Feinden vergeben, wie Jesu seinen Feinden, die ihn an Kreuz nagelten, vergeben hat. Wenn man dies jedoch in den Kontext der Taten der NS-Zeit bringt, dann fällt es schwer, Vergebung von den Opfern zu verlangen. Bei solchen unaussprechlichen Verbrechen sind die Menschen auf die Hilfe und Vermittlung Gottes angewiesen. Es braucht hier Jesus als Mittler und Transformator, damit Opfer und Täter vergeben können, dennoch kann man unter der Rücksicht des christlichen Verständnisses sagen:

„In der Identifikation mit Christus als dem Bruder, der die Feindesliebe nicht nur gepredigt, sondern im Fleisch bewährt hat, können die Opfer lernen, in ihren Tätern vergebungsbedürftige Brüder und Schwestern zu sehen. Wenn sie überdies wahrnehmen, dass die Täter mit der verdrängten und geleugneten Wahrheit ihrer Schuldgeschichte konfrontiert werden; wenn sie sehen, dass die Täter nicht mehr ausweichen können, dass alle Formen der Schuldabwälzung als Lüge demaskiert werden; wenn sie sie sehen, dass die Täter vom Schmerz der Wahrheit überwältigt werden und bereuen […], dann können sie, so die Hoffnung mit Blick auf den auferweckten Gekreuzigten einen Blickwechsel vollziehen und ihren Feinden ihrerseits verzeihen.“159

In dem Glauben an die Auferstehung der Toten wird das menschliche Bedürfnis nach einer Begegnung mit jenen Menschen, die mir Gutes getan haben, ermöglicht. Es kommt aber auch zum Treffen mit jenen Menschen, die an mir schuldig geworden sind und mit jenen, an denen ich schuldig geworden bin. In dieser Situation finden zwei Momente statt: Zum einen können die Opfer nun Gerechtigkeit fordern, zum anderen

159 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S, 246. 58

wird man als Täter mit seiner Schuld konfrontiert. Dieser Tag könnte dann zur Hölle werden, da alle Menschen sich gegenseitig verdammen wollen und auf ihrer Opferrolle beharren würden. Das ist aber noch nicht alles was an diesem Tag geschieht: Es kommt auch zur Auseinandersetzung mit der Vergebungsbereitschaft Gottes. Diese Begegnung wird schmerzvoll und schwierig sein, jedoch bleibt die Hoffnung auf Vergebung und Gnade bestehen.160 Das bedeutet, auch wenn Jesus für unsere Sünden am Kreuz gestorben sind, so sind wir nicht einfach von jeglicher Schuld befreit. Aus diesem Grund ist das letzte Gericht dennoch notwendig.

160 Niewiadomski, Josef; Hoffnung im Gericht. Soteriologische Impulse für eine dogmatische Eschatologie, ZKTh; S. 125. 59

7 Conclusio

„Schweigen ist verboten, Sprechen unmöglich“161 Mit diesem einfachen Satz bringt Elie Wiesel die Problematik auf den Punkt. Man darf nicht über den Holocaust, über die menschenverachtenden Taten des Naziregimes schweigen. Schweigt man, so sterben die Opfer gewissermaßen ein zweites Mal.162 Es fehlt den Menschen aber an Begriffen um dieses Unaussprechliche beschreiben zu können. Überlebende der Konzentrationslager konnten teilweise nie, andere erst Jahre später, über diese Zeit sprechen. In den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder Zeitzeugen die von ihren Erlebnissen berichteten. Die Philosophie und Theologie betrachten die Zeit des NS- Regimes unter anderem aus dem Blickwinkel der Schuld und Versöhnung. Es ist wichtig, dass man die bisherigen Konzeptionen überdenkt und versucht an diese noch nie da gewesenen Ereignisse anzupassen. Besonders interessant ist dabei, dass viele der Autoren, so auch jene, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, selbst von den grauenhaften Ereignissen betroffen waren. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht diese Seite mit der der Täter zu verbinden. Wenn man über Schuld und Versöhnung, Täter und Opfer spricht, ist es essentiell, beide Sichtweisen zu beachten. Deswegen wurde in dieser Arbeit die Biographien zweier Täter in den Blickpunkt gestellt und mit der Frage ob und wie Versöhnung möglich ist, in Verbindung gebracht.

Adolf Eichmann und Franz Murer stehen in dieser Arbeit exemplarisch für die Täter des Nazi-Regimes. Die Beweggründe in die NSDAP und die SS beziehungsweise in die SA einzutreten waren unterschiedlich. Ebenso verschieden war der Umgang der beiden mit ihren Taten nach dem Ende des Krieges. Eichmann schrieb seine Erlebnisse auf und, wenn man so will, versuchte sich ein Stück weit zu rechtfertigen, ohne jedoch seine Schuld einzugestehen. Nach dem er begann sich in Argentinien sicher zu fühlen, lebte

161 Semprun Jorge; Wiesel Elie. Schweigen ist unmöglich; Frankfurt a. M. 1997; S.18. 162 Tück, Jan-Heiner; Gottes Augenapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz; Freiburg i. Breisgau; 2016; S. 249. 60

er auch unter seinem richtigen Namen und hatte Kontakt zu anderen geflohenen Nazis. Murer lebte in seiner Heimat so, als wenn es den Krieg und diese Zeit in Vilnius nie gegeben hätte. Der Prozess 1964 war nur eine unliebsame Unterbrechung seines ansonsten beschaulichen Lebens in der Steiermark auf seinen Bauernhof und als Funktionär der ÖVP. Eichmann und Murer hatten unterschiedliche Aufgabengebiete. Eichmann war ein Beamter, er saß an seinem Schreibtisch und organisierte von dort aus die Deportation der Juden in die Konzentrationslager. Murer hingegen war im Ghetto von Vilnius stationiert. Er ermordete eigenhändig Juden und gab auch direkte Befehle zur Ermordung tausender Juden. Eingangs wurde die Frage gestellt, ob es Unterschiede in der Größe der Schuld gibt, ob eine Tat mehr wiegt als die andere. Kann man einem Täter vergeben und einem Anderem jedoch nicht, oder sind diese Taten so grausam, dass sie gar nicht vergeben werden können? Mit dieser Problematik haben sich Vladimir Jankélévitch und Jaques Derrida auseinandergesetzt.

Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess löste eine große Kontroverse aus. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen die Taten Eichmanns zu rechtfertigen, dabei war ihr Anliegen, ein ganzheitliches, objektives Bild über ihn zu zeichnen. Obwohl Arendt selbst vor der NS-Herrschaft in die USA fliehen musste, versuchte sie einen unvoreingenommenen Bericht zu schreiben. Viele Kritiker taten Arendt jedoch Unrecht, wenn sie ihr vorwarfen, sie verteidige Eichmann. Sie hielt ihn nicht für unschuldig, sondern sah den Menschen hinter den Taten. Diese Haltung ist zutiefst geprägt von einer Würde, die jedem Menschen gegeben ist. Es scheint, als wollte sie verstehen, was Eichmann zu seinen Taten bewogen hatte.

Im Unterschied dazu stehen die Positionen Jankélévitch‘ und Derridas. Ihnen geht es nicht um den Menschen, der hinten solchen Taten stehen. Ihnen geht um das große Ganze: Sind solche Taten vergebbar oder unvergebbar? Sie stellten sich die Frage, wie man den Taten jener Zeit und mit den daraus resultierenden Konsequenzen umgehen kann. In einigen Punkten stimmen sie

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miteinander überein, in anderen jedoch haben sie gegensätzliche Ansichten. Es muss bedacht werden, dass zwischen den Veröffentlichungen der beiden Philosophen einige Jahre liegen. Jankélévitch‘ Veröffentlichungen fallen in eine Zeit, in der das Vergessen stark gelebt wurde, die Schrecken des Krieges lagen noch zu frisch über Europa. Derrida veröffentlichte in einer Zeit, als die Gesellschaft Europas bereits einige Schritte weiter war, ein Prozess der Aufarbeitung und des verantwortungsvollen Erinnerns hatte begonnen.

Jankélévitch plädierte stark gegen ein Vergeben und vor allem gegen ein Vergessen der menschenverachtenden Taten des 2. Weltkrieges. Die

Betonung liegt hier auf VERGESSEN, und hier stimmt auch Derrida zu, diese Taten dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Es ist aber hier zu beachten, dass

VERGEBEN nicht gleichbedeutend mit VERGESSEN oder mit VERSÖHNEN ist. Wenn ein Opfer seinem Täter vergibt, bedeutet das nicht, dass das Opfer die Tat vergisst, oder die Tat ungeschehen ist. Vergeben ist besonders für die Opfer ein wichtiger Schritt um abschließen zu können, um nicht vor Rachegedanken zerfressen zu werden. Vergeben heißt auch nicht, dass es zu einer Versöhnung zwischen Opfer und Täter kommt.

Versöhnung geht noch einen Schritt weiter: Opfer und Täter führen ihre Beziehung so weiter, wie dies vor der Sünde der Fall war. Vergeben bedeutet nicht, dass Opfer und Täter ihre Beziehung so fortführen, wie vor der Sünde. Vergebung hat eine Wirkung in die Vergangenheit, das Ereignis wird wiederholt und reinigt es.163 Dadurch gerät es aber nicht in Vergessenheit, ebenso wenig ist der Täter frei von Schuld, weder in jenseitiger, noch in diesseitiger Welt. Umgekehrt soll jedoch auch deutlich werden, dass ein juristischer Freispruch nicht unbedingt mit Schuldlosigkeit einhergehen muss, man denke hier an den Fall Murer. Genauso wenig wie ein Schuldspruch bedeutet, dass der Täter seine Schuld einsieht und seine Taten bereut. Eichmann hat obwohl er zum Tode verurteilt wurde, dennoch an seiner

163 Lévinas Emmanuel; Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriotität; Freiburg i Breisgau, München 20023; S. 413. 62

Unschuld festgehalten.

Jankélévitch ist der Ansicht, man kann Genozid nicht vergeben. Diese Ansicht ist nicht von der Hand zu weisen. Wie kann auch etwas vergebbar sein, wenn man noch nicht einmal darüber sprechen kann? Derrida hingegen postuliert einige Jahre später, dass das Vergeben im Unvergebbaren wurzelt. Beide stimmen überein, dass Vergeben etwas sehr persönliches ist, nur das Opfer kann vergeben, denn es gibt keine stellvertretende Vergebung.

Die Frage nach Schuld und Vergebung endet nicht mit dem Tod. Wir werden so wie wir sind, zugleich Opfer und Täter, im jüngsten Gericht denjenigen gegenüberstehen, an denen wir schuldig geworden sind und auch denjenigen, die an uns schuldig geworden sind. Erst dort wird sich alles klären.

In den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit wurden zwei Männer vorgestellt, welche unterschiedliche Positionen im Naziregime innehatten. Eichmann saß hinter seinem Schreibtisch, erstellte Liste für die Deportationen, erschoss nie einen Menschen. Murer hingegen, war ein gut ausgebildeter Soldat, der in Vilnius in vorderster Reihe stand und, wie es durch viele Augenzeugenberichte belegt ist, auch wenn die österreichische Justiz einen Freispruch fällte, Juden erschoss. Wie die Auseinandersetzung mit Jankélévitch und Derrida zeigte, sind Eichmann und Murer gleich schuldig. Es wird nicht unterschieden, welche Positionen die Kriegsverbrecher innehatten. Jedes Rädchen in dem Gefüge des Naziregimes hat zu dem unaussprechlichen menschenverachtenden Regime geführt.

Schuld ist nicht übertragbar, die heutigen Generationen haben keine Schuld an dem, was vor 80 Jahren geschehen ist. Allerdings sind wir „Erben zumindest von Personen oder Ereignissen, die auf wesentliche, innerliche und unauslöschliche Weise durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit

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gezeichnet sind.“164 Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen. Diese Verantwortung besteht aus zwei Dingen: Erstens: Wir haben den Auftrag zu verhindern, dass die grauenhaften Dinge in Vergessenheit geraten. Dazu tragen viele Dinge bei, unter anderem ein kritischer Geschichtsunterricht an den Schulen, Mahnmäler, Gedenkstätten, Museen und Gedenkveranstaltungen. Zweitens: Daraus resultiert auch, wachsam sein und eine Wiederholung dieser rassistischen, menschenverachtenden Taten verhindern. Es ist nämlich festzuhalten, dass die Verurteilung der Täter des NS-Regime nicht alles ist, vielmehr muss auch in den Blick genommen werden, wie es überhaupt zu einem solchen Regime hatte kommen können und wie dieses Regime so lange funktionieren konnte.165

Ob ein Opfer seinem Täter vergeben kann, ist schlussendlich eine persönliche Entscheidung, die verschiedene Dimensionen theologischer, philosophischer und auch psychologischer Denkweisen beinhaltet. Es ist auch wichtig zu beachten, dass Vergebung ein Prozess ist, der Zeit braucht. Im Leben trifft der Mensch immer wieder auf Karoi, in denen er Entscheidungen treffen muss. Diese Entscheidungen beeinflussen das weitere Leben, sie sind genauso Entscheidungen für oder gegen Gott. So wie die Täter in einem solchen Kairos die Freiheit hatten sich gegen Gott zu entscheiden, so haben auch die Opfer in einem solchen Kairos die Freiheit, sich für oder gegen eine Vergebung auszusprechen.166

Die beiden Männer Eichmann und Murer haben in ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen Entscheidungen getroffen, diese Entscheidungen haben ihr

164 Derrida, Jaques; Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht- unbedingt und jenseits der ‚Souveränität. Interview mit Michel Wieviorka in: Lettre international 48/2000; S.10. 165 Krondorfer, Björn u.a.; Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945; Gütersloh 2006; S. 14. 166 Anlehnung an: Sandler, Willibald; Leben von der Vollendung her. Eschatologische Hoffnung für diese Welt; Innsbruck 2018; S. 6; in: Innsbrucker Theologischer Leseraum (eingesehen 25.06.2018). 64

Leben geprägt. Eichmann war in seiner Entscheidung konsequenter, er leugnete seine Mittäterschaft im dritten Reich nicht, auch wenn er sich in seiner Denkweise nicht für schuldig hielt. Murer hingegen traf eine weitere Lebensentscheidung, als er später vor Gericht seine Taten selbst im Angesicht seiner Opfer leugnete. Dieser Prozess war aber nicht das letzte Mal, das Murer und seine Opfer aufeinandertrafen, ein weiteres Mal wird dies im jüngsten Gericht passieren.

Der Prozess gegen Murer zeigt, wie Österreich mit seiner Geschichte umgegangen ist. Die Bevölkerung verdrängte, sah Kriegsüberlebenden als Helden an, wies alle Schuld von sich. Das offizielle Österreich setzte dem nichts entgegen, im Gegenteil die Opferrolle wurde gekonnt gespielt, man entschlug sich jeglicher Verantwortung. In den letzten Jahren hat sich dies gewandelt, Österreich ist sich nun bewusst, dass auch Österreicher im Nazireich große Macht innehatten, Kriegsverbrechen begingen und der daraus resultierenden Verantwortung.

So schließt die vorliegende Arbeit mit einem Zitat der im Juli 2018 verstorbenen österreichischen Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger:

„Frei von Schuld zu sein heißt aber nicht, frei von Verantwortung zu sein"167

167 Zitat von Christine Nöstlinger am 05.05.2015 im österreichischen Parlament anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 70 jährigen Befreien des KZ Mauthausen. https://derstandard.at/2000015305828/Noestlinger-erinnert-im-Parlament-an-NS-Opfer (eingesehen: 21.07.2018). 65

Abkürzungsverzeichnis

GESATAPO: Geheime Staatspolizei

KZ: Konzentrationslager

NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NS-Regime: nationalistisches Regime (hier immer das Regime des dritten Reiches gemeint)

SA: Sturmabteilung; Kampforganisation der NSDAP

SPÖ: Sozialdemokratische Partei Österreichs

SS: ; zuständig für Verwaltung von KZs; zuerst zum Schutz Hitlers gegründet

ÖVP: Österreichische Volkspartei

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Abbildungsverzeichnis:

Abb.1: Die zwei Ghettos von Vilnius: https://www.lzb.lt/en/2018/02/06/sixth- graders-ask-passers-by-about-vilnius-ghetto/ (eingesehen: 10.06.2018).

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