MURER Anatomie eines Prozesses

von Christian Frosch

Dramaturg Olaf Winkler Juristische Fachberatung Dr. Gabriele Pöschl Übersetzung Jiddisch/Hebräisch Tirza Lemberger

Fassung 7.1 26.03.2017

© Prisma Film- und Fernsehproduktion GmbH © Paul Thiltges Distributions Rathausstrasse 3/18 27, zone industrielle A-1010 Wien L-8287 Kehlen (Luxembourg) Tel. +43 1 406 37 70 Tel. +352 250393 [email protected] [email protected] www.prismafilm.at www.ptd.lu 1. BÜRO WIESENTHAL INNEN/TAG

Detail - man sieht, wie Frauenhände geschickt ein Tonband in ein tragbares Gerät einlegen. Im Hintergrund Off das Stimmen von Streichinstrumenten.

SIMON WIESENTHAL (OFF) Sie schreiben für eine amerikanische Zeitung und sprechen Deutsch?

ROSA SEGEV (OFF) Meine Familie ist 33 aus Deutschland emigriert. Zuerst London und dann in die Staaten. Bitte, Herr Wiesenthal…

SIMON WIESENTHAL (OFF) 1,2,3,4,5. Sprechprobe

Das Band spannt sich. Die Räder beginnen sich zu drehen. Es erklingen Streicher.

2. HOFBURG INNEN/TAG

Ein Streichquartett spielt ein Potpourri aus Johann Strauß Walzern. Im Festsaal sitzt eine kleine Gruppe erlauchter Gäste. Auf dem Ehrenplatz das dänische Königspaar Frederik und Inge. Die Kamera streift über die Gäste hinaus in den Flur.

2A. HOFBURG – TOILETTENVORRAUM INNEN/TAG

Eine Klofrau wippt zu der Melodie und blickt zum Toiletteneingang. Im Waschraum vor der Toilette steht MINISTER BRODA (48) und kontrolliert den Windsorknoten seiner Krawatte. Da sieht er im Spiegel ROBERT WALLNER (61). Im Gegensatz zum urbanen Broda trägt Wallner eine Festtracht. Wallner wäscht sich die Hände.

WALLNER Herr Minister…

Broda nimmt den Ball auf und antwortet grinsend, jede Silbe überdeutlich artikulierend.

BRODA (IRONISCH) Herr Bauernbundpräsident...

2 Wallner grinst.

WALLNER Darf ich Sie kurz sprechen? Oder sind Sie Musikliebhaber?

BRODA Mein Straußwalzerbedarf ist mit einem Konzert zu Neujahr gedeckt.

WALLNER Königliche Hoheit soll ja unheimlich musikalisch sein.

BRODA Angeblich quält Frederik der Neunte die dänischen Untertanen, indem er selbst auch als Dirigent auftritt....

Wallner beantwortet Brodas auffordernden Blick.

WALLNER Es geht um die Angelegenheit „Murer“.

Broda verzieht kurz angewidert das Gesicht und nickt dann.

SCHNITT ZU BILD 2 Detail der 1. Violine, die zu der Fledermausmelodie „Glücklich ist, wer vergisst“ übergeht (Musik geht im Hintergrund leise weiter).

SIMON WIESENTHAL (OFF) Nun, das war ein Zufall und hat mit Yom Kippur zu tun. Sie wissen ja, dass es zu dem Festtag so ein Ritual bei den Orthodoxen gibt.

3. BÜRO WIESENTHAL INNEN/TAG

SIMON WIESENTHAL (55) sitzt beim Tisch. ROSA SEGEV (47), eine intelligent und intellektuell, etwas unnahbar wirkende Frau, sitzt ihm gegenüber und begutachtet das laufende Tonband, das am Tisch steht.

ROSA SEGEV Ist es das seltsame Ding, wo für jeden Mann ein Hahn und jede Frau eine Henne geopfert wird, Mr. Wiesenthal? 3 SIMON WIESENTHAL (ON/OFF) Genau! Und 1947 waren einige Juden als „displaced persons“ in Admont in der Steiermark untergebracht. Aber Hühner nach dem Krieg waren alle registriert. Keiner der Bauern wollte Schokolade oder Konserven eintauschen, weil sie Angst hatten. Aber dann hat man den Frommen gesagt: Dort oben ist ein Großbauer, der hat zweitausend Hühner, da fällt es sicher nicht auf. Aber es kann sein, dass der sie gleich rauswirft, denn der Mann ist einmal ein ganz großer Nazi gewesen. Ich hab diese Geschichte gehört und ich hab nur gedacht: Eichmann!

ROSA SEGEV (BEILÄUFIG) Na dann waren die Orthodoxen mal zu etwas gut.

Wiesenthal blickt Rosa mißbilligend an - ohne seinen Redefluß zu unterbrechen.

SIMON WIESENTHAL (ON/OFF) ...ich bin also sofort hingefahren, und siehe da: nicht der Eichmann, sondern der Franz Murer, der Schlächter von Wilna. Der hat da ganz offen unter seinem Namen gelebt.

ROSA SEGEV Und er ist dann verhaftet worden...?

SIMON WIESENTHAL Ja, bis 1955 unter der Besatzung, da gab es Volksgerichte und vor allem die Russen waren dahinter, dass die Nazis auch verfolgt wurden.

ROSA SEGEV Und wurde er verurteilt?

SIMON WIESENTHAL Die Voruntersuchung ist abgebrochen worden, weil die UDSSR einen Auslieferungsantrag gestellt hat.

JACOB KAGAN (37) kommt herein, als er Rosa sieht, ist er kurz irritiert.

JACOB (HEBRÄISCH) Oh entschuldigen Sie, ich wußte nicht...

4 SIMON WIESENTHAL (ENGLISH) Jacob Kagan from Israel. Rosa Segev, New York City. She´ll write about the trial.

Die beiden schütteln sich die Hände.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) Sehr gut, wir können jeden brauchen...

ROSA SEGEV (ENGLISH) Sorry my hebrew is very, very basic. Beside: I am here as a journalist not as a helping hand.

Jacob und Rosa blitzen sich kurz an. Jacob wendet sich an Wiesenthal.

JACOB (HEBRÄISCH) Ich wollte Dir nur sagen, dass Leon Schmigel bereits in Graz im Hotel ist.

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) Warum in Graz? Sowas Dummes. Dann muß ich jetzt doch nach Graz. Genau das wollte ich nicht. Suchst du mir nachher einen Zug raus?

Jacob nickt. Simon blickt Rosa an.

SIMON WIESENTHAL (DEUTSCH) Stört es Sie, wenn Jacob hier bleibt? Er hilft mir beim Murerfall. Und er ist auch einer der wichtigsten Zeugen im Prozeß.

Rosa Segev nickt und schaltet das Tonband wieder ein.

ROSA SEGEV (DEUTSCH) Also... Murer wurde an die UDSSR ausgeliefert. Aber warum hat man ihn dort nicht hingerichtet?

SIMON WIESENTHAL Bei seinem Prozess in Wilna hat er fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit bekommen. Das war die Höchststrafe. Todesurteile gab es zu dieser Zeit in Litauen nicht. Leider, muss ich in dem Fall sagen. 5 Rosa liest zitierend ab. ROSA SEGEV „We find that no one, that is, no member of the human race, can be expected to want to share the earth with you. This is the reason, and the only reason, you must hang.“

Simon Wiesenthal nickt zustimmend. Auch Jacob nickt.

ROSA SEGEV (OFF) Das hat Hannah Arendt als Urteilsbegründung für Eichmann vorgeschlagen.

Als Wiesenthal „Arendt“ hört, ändert sich sein Gesichtsausdruck von Zustimmung auf Distanz. Er blickt Jacob Kagan an, der nun Rosa skeptisch mustert.

SIMON WIESENTHAL (OFF) Diese Dame schätze ich nicht besonders.

Rosa lächelt Wiesenthal leicht provokant an.

4. HOFBURG INNEN/TAG

SCHNITT Detail auf die Streicher. Musik geht im Hintergrund leise weiter. Schnitt Toilettenvorraum, wo Broda sich eine Zigarre ansteckt.

BRODA Glauben Sie, dass wir über den Prozess glücklich sind?

WALLNER Wäre der Murer ein Sozialist, dann...

BRODA ...hätte das auch nichts geändert. Nachdem der Eichmann den Murer im Prozess genannt hat, konnte die Justiz den Fall nicht ignorieren. Und nebenbei: der Wiesenthal ist Ihrer Partei verbunden...

WALLNER ...an wen der Wiesenthal gebunden ist, weiß man. Stimmt es eigentlich, dass er vom Mossad bezahlt wird? 6 BRODA Sagen wir von Israel... Aber vor allem ist er auch in Amerika gut vernetzt.

Wallner blickt Broda zustimmend an.

5. BÜRO WIESENTHAL INNEN/TAG

Schwenk vom laufenden Tonband weg zu Rosa Segev, die sich eine Zigarette anzündet - hin zum Mikro und zu Wiesenthal.

SIMON WIESENTHAL (OFF/ON) Der Herr Murer hat in den sechs Jahren nach seiner Rückkehr richtig Karriere gemacht. Mitglied der österreichischen Volkspartei und im Vorstand der Bezirkslandwirtschaftskammer. Er ist sogar im Beisein der Regierung für seine Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet worden.

ROSA SEGEV Moment! Wie kam es eigentlich, dass die Russen ihn nach 6 Jahren frei gelassen haben?

SIMON WIESENTHAL Hat mit dem Staatsvertrag von 1955 zu tun.

Rosa sieht Wiesenthal fragend an.

Rosa nickt und macht sich eine Notiz.

SIMON WIESENTHAL Und da wurde auch die Rückgabe der österreichischen Kriegsgefangenen vereinbart. Seltsamerweise betraf das auch die verurteilten Kriegsverbrecher. Beim Murer haben die Russen allerdings die Auflage gemacht, dass ihm in Österreich endlich der Prozeß gemacht wird..

ROSA SEGEV Und warum ist das nicht geschehen?

7 SIMON WIESENTHAL Nun, da gibt es so einen Paragraphen - 34, glaube ich, der besagt, wenn jemand einen Großteil der Strafe in einem ausländischen Gefängnis verbüßt, wird sein Verfahren nicht mehr neu eröffnet.

ROSA SEGEV Aber sechs Jahre von fünfundzwanzig?

SIMON WIESENTHAL Tja, da hat man mir von offizieller Seite erklärt, dass ein Jahr sowjetisches Gefängnis wie fünf in einem österreichischen zählt.

Rosa Segev muß kurz auflachen und schüttelt ungläubig den Kopf. Jacob lacht auch.

ROSA SEGEV Zuerst abgebrochen, dann Strafe ausgesetzt. Alle guten Dinge sind drei.

JACOB KAGAN „Hangmen also die“.

Rosa und Jacob werfen sich nun einen sympathisierenden Blick zu.

6. HOFBURG: TOILETTENVORRAUM INNEN/TAG

Broda dämpft die Zigarre aus und sieht Wallner skeptisch an…

WALLNER Ich steh auf dem Standpunkt, dass Menschen sich ändern können. Und Murer ist heute überzeugter Demokrat und praktizierender Katholik.

Broda nickt, bleibt aber skeptisch.

WALLNER Wenn wir diejenigen, die sich gebessert haben verurteilen, was tun wir dann mit den Unverbesserlichen?

8 Broda lächelt.

BRODA (IRONISCH) Bevor Sie jetzt noch die Schaufel auspacken um die Gräben von 34 zuzuschütten… Ich versichere Ihnen… In dieser Sache haben wir keinen Dissens.

Wallner blickt gespannt zu Broda.

BRODA Soweit es in meiner Macht steht, werde ich verhindern, dass es ein Eichmannschauprozess wird.

Die Streicher setzen ab. Applaus. Wallner will etwas nachsetzen, doch Broda blockt gestisch ab. Die beiden gehen in verschiedene Richtungen. Broda dreht sich um und blickt Wallner skeptisch und leicht verächtlich nach.

MURER ANATOMIE EINES PROZESSES

7. G EFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

FRANZ MURER (51), ein stattlicher Mann mit Halbglatze von hinten. Langsam dreht er sich um. Er blickt versonnen in sich gekehrt. Im Hintergrund sitzt der WÄRTER.

Da reißt ihn die Stimme von VERTEIDIGER BÖCK (45) aus den Gedanken. Dieser hat ein sehr gepflegtes Wiener Oberschichtsidiom. Er hat keine Brillantine im Haar, sondern trägt einen mordernen 60er Jahre Schnitt. Murer trägt Hemd und Anzughose. Das dazu passende Sakko hängt über der Stuhllehne.

VERTEIDIGER BÖCK (OFF) Herr Murer, Sie erinnern sich an nichts. Verstanden?!

Franz Murer blickt seinen Verteidiger tadelnd an.

VERTEIDIGER BÖCK (ON) …ob Sie mich verstanden haben?

9 FRANZ MURER Taub bin ich nicht.

VERTEIDIGER BÖCK Lassen Sie sich auf nichts ein. Und vor allem: Keine Emotionen, Herr Murer!

FRANZ MURER Ja!! Wie oft noch?

Er schlägt mit der Faust in die offene Hand.

VERTEIDIGER BÖCK Sie müssen vor allem ruhig bleiben, Herr Murer...

FRANZ MURER Da schüttet man Jauche auf dich und du sollst brav still halten...

Franz Murer seufzt tief. Er blickt seinen Verteidiger tief an. Schweigen. Böck blickt eisig und undurchschaubar.

FRANZ MURER Wir werden es schaffen, oder?

Böck richtet sich den Kragen zurecht. Er schwitzt.

VERTEIDIGER BÖCK Gürtler ist die führende Kanzlei in Österreich und ich bin der beste Strafverteidiger bei Gürtler. Also wenn ICH Sie nicht rauskriege Herr Murer, wer sonst?

FRANZ MURER Bescheidenheit ist eine Zier.

Verteidiger Böck übergeht die letzte Bemerkung und wird nun ernst und eindringlich.

VERTEIDIGER BÖCK Sie dürfen nur eines nicht: aus der Rolle fallen...

FRANZ MURER Und die Geschworenen?

10 VERTEIDIGER BÖCK Auslosung ist immer ein bisschen Glücksspiel…

FRANZ MURER Ein bisschen Glücksspiel… Sie haben gut reden, Herr Doktor.

VERTEIDIGER BÖCK Suchen Sie Blickkontakt mit den Geschworenen. Jemandem tief in die Augen schauen, heißt: nichts verbergen...

8. HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/TAG

LEON SCHMIGEL (63), ein sonnengegerbter großer hagerer Mann, blickt ernst sein Gegenüber an.

LEON SCHMIGEL (US-Englisch mit Akzent) Sie wollen also, dass ich lüge, Herr Wiesenthal!?

Simon Wiesenthal schlägt die Hände zusammen.

SIMON WIESENTHAL (ENGLISCH) Lügen!? Sie sollen nicht lügen. Aber binden Sie es denen nicht auf die Nase, dass ICH Sie gefunden habe. Sagen Sie, Sie haben einen Aufruf in einer jüdischen Zeitung gelesen...

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Warum lügen? Genügt es nicht, dass der Murer ein Massenmörder ist?

SIMON WIESENTHAL (ENGLISCH) Nein, das genügt nicht. Alles, was in Ponary geschah, wird hier nicht verhandelt.

Leon blickt Wiesenthal erstaunt an.

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Man kann nicht über Wilna sprechen und Ponary

11 weglassen! Dort fand das eigentliche Massaker statt.

Wiesenthal kippt automatisch vom Englischen ins Jiddische.

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (Ich weiß, aber Ponary ist nicht Gegenstand des Verfahrens). Ich wejß, ober Ponary is nit der injen in dem mischpet.

9. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

Nahe des Justizbeamten, der gerührt auf Herrn und FRAU MURER (48) blickt. Elisabeth Murer hat eine aufwendige Steckfrisur, die ihr fast etwas Aristokratisches verleiht. Sie wirkt sehr selbstbewusst und voller Tatkraft. Elisabeth Murer drückt die Hand ihres Mannes. Der Justizwachebeamte zwinkert Murer zu und dreht sich bewusst weg, und so pressen sich die Eheleute innig aneinander. Murer ist es der Zärtlichkeit bald zuviel. Sein Blick fällt auf den Anwalt Böck, der diskret weggehend sich eine Zigarette in den Mund steckt. Er klopft seine Taschen ab – der Justizbeamte zückt ein Feuerzeug und gibt dem Anwalt mit devoter Geste Feuer.

10. HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/TAG

Leon Schmigel zieht den Rauch seiner Zigarette tief ein. Er ist schon fast am Filter.

SIMON WIESENTHAL OFF/ON (JIDDISCH, BITTER IRONISCH) (Es gibt keine Nazis in Österreich - innerlich waren alle im Widerstand und haben nur äußerlich ihre Pflicht erfüllt. Dies allerdings oft gründlicher als die Reichsdeutschen). Es sejnen do nit kejn nazis in Estreich. Im harzen sejnen sej alz gewen in untergrunt, nor oißerlich hoben sei oisgefirt sejer flicht. Nor dos hoben sej geton mit a greßer grintlichkejt we dieDejtschen.

Leon Schmigel sieht Wiesenthal unverständig an.

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (Das heißt, für den Massenmord in Ponary wird Murer nicht belangt?) Dos hejßt as far die schechite in Ponary wird Murer nit gemischpet wern.

12 SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (Nur neue, unbekannte Fakten und Zeugen zählen, alles andere ist so, als sei es nie geschehen...) Nor neje nit bakante faktn un edim wern gerechnet. Alz andersch is asoj wi kejnmol nit gewen.

Leon Schmigel sieht Wiesenthal leicht abfällig an.

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (Als ob es nicht geschehen wäre!) Asoj wi kejnmol nit gewen.

Leon Schmigel wendet sich wieder dem Fenster zu.

10A. POV LEON: HOTEL: STRASSE DAVOR AUSSEN/TAG

Die Kinder auf der Straße laufen johlend die Gasse hinunter.

Weiter Bild 10

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (OFF/ON) (Ich brauche Zeugen, die einen Mord persönlich, mit den eigenen Augen, gesehen haben. Einen Mord, der noch nicht verhandelt wurde. Weder beim ersten Verfahren noch bei dem Prozess in Wilna. Deshalb bist du mein wichtigster Zeuge, Leon.) Ich darf hoben edim wos hobn mit sejere ejgene ojgen gesen ejn mord wos is noch nit farhandelt geworn in gericht. Nit in erschten mischpet un nit in jenem in Vilne. Far dem bistu, Leon, mejn wichtikster ed.

Leon Schmigel dreht sich langsam zu Wiesenthal um.

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (Vermassle es nicht. Das ist alles, worum ich dich bitte. Graz ist nicht Jerusalem. Hier hätten sie sogar den Eichmann freigesprochen. Unser Volk muss jetzt...) Vermassel es nit. Dos is alz wos ich bejt fon dir. Graz is nit Jeruschalaim. Do wollt men afilu Eichmenen mesake gewen. Undser folk darf izt…

Leon Schmigel blickt Wiesenthal ernst an. 13 LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (...ich hab‘ kein Volk! Wissen Sie, wie man uns Überlebende in Eretz Israel genannt hat? „Seifen“!) Ich hob nit kejn folk. Ir wejst wi asoj men hot zi ins, di wos sejnen ibergebliben noch der milchome (schoa) gesogt? „Sejfen“!

11. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

Herr Murer steht sich in einem dunklen Anzug präsentierend vor dem Verteidiger Böck.

ELISABETH MURER Als Zeugin darf ich nicht im Saal sein, oder?

Verteidiger Böck schüttelt den Kopf

ELISABETH MURER Also sollen wenigstens die Kinder bei dir sein.

FRANZ MURER Ich möchte das aber nicht.

ELISABETH MURER Die können ruhig sehen, was ihr Vater alles an Schlechtigkeit aushalten muß.

VERTEIDIGER BÖCK Kinder machen immer Eindruck auf Geschworene. Je jünger desto besser.

Elisabeth Murer nickt. Franz Murer blickt finster, unterdrückt aber dann eine Erwiderung.

VERTEIDIGER BÖCK Das wollen Sie doch nicht morgen anziehen?

FRANZ MURER Warum nicht? Den hab ich mir zur Hochzeit von unserem Buben machen lassen. Von einem Wiener Schneider aus dem Ersten.

14 Am Revers sind diverse Abzeichen angebracht. ÖVP-Nadel, Bauernbund, Kameradschaftsbund.

VERTEIDIGER BÖCK … Zu feierlich, zu städtisch. Und vor allem keine Abzeichen. Was ist, wenn unter den Geschworenen Sozis sind?

Elisabeth Murer greift sich verstehend an den Kopf und nimmt sofort die Abzeichen ab.

VERTEIDIGER BÖCK Haben Sie den alten Janker mirgebracht, gnädige Frau?

Frau Murers Gesicht ist gequält. Sie begutachtet den alten steirischen Trachtenjanker.

ELISABETH MURER Aber der ist doch schon so abgetragen...

VERTEIDIGER BÖCK Perfekt!

ELISABETH MURER Auf mich fällt es zurück, dass ich den Mann so gehen lass. Wir sind Großbauern und keine...

FRANZ MURER ...deine Sorgen möchte‘ ich haben ....

Frau Murer ist noch immer nicht überzeugt.

VERTEIDIGER BÖCK Glauben Sie mir, Frau Murer, eine abgewetzte Tracht: das ist Arbeit. Das ist Heimat.

12. HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/NACHT

Leon Schmigel sitzt erschöpft am Bett und blickt auf einen Apfel, der auf einem Deckchen liegt, in das „Herzlich Willkommen“ eingestickt ist. Leon blickt hinunter auf die Straße.

15 12A. POV LEON: HOTEL: STRASSE DAVOR AUSSEN/NACHT

Ein paar Menschen mit Koffern treffen auf Simon Wiesenthal, der gerade das Hotel verlässt. HOTEL DAVOR AUSSEN/NACHT Simon Wiesenthal wird von PERL AKIN (65), die mit anderen mit Koffern vorm Hotel steht umarmt.

PERL AKIN (Jiddisch) (Danke, Herr Doktor. Danke, dass Sie den Eichmann gefunden haben und nun den Murer. Danke!!!) A dank, doktor, a dank as ir hobt Eichmenen gefunen un Murern ojchet. A dank!!!

Simon Wiesenthal ist sichtlich gerührt. EPHRAIM SCHUSTER (51) nimmt Wiesenthals Hand und schüttelt sie kräftig mit beiden Händen.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Bleiben Sie gar nicht?) Ir blejbt nit?

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (Es wäre nicht gut für den Prozess, wissen Sie. Ich bin kein beliebter Mann in Österreich und die Geschworenen...) Dos wird nit sejn git far dem prozess. Ir wejst. Kejner hot mich nit lib do in Estrejch. Un di geschwojrene…

PERL AKIN (JIDDISCH) (Warum leben Sie nicht bei uns in Israel?) Far wos wojnt ir nit bej ins in Jisroel?

SIMON WIESENTHAL (JIDDISCH) (Aber da wär‘ ich ja arbeitslos. In Israel gibt es keine Nazis). Wenn ich wollt leben in Jisroel, wos wollt ich ton dorten. In Jisroel sejnen do nit kejn nazis.

16 13. HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/NACHT

Leon wischt den Apfel ab und beißt hinein. Doch er stockt. Verärgert nimmt er das Gebiss aus dem Mund und legt es auf das Deckchen. Er lässt die Klinge aus einem großen Klappmesser fahren und beginnt, den Apfel minutiös in kleine Stücke zu zerteilen.

14. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

MONTAGESEQUENZ

Der Gerichtssaal wird vorbereitet. Die Mikros werden getestet. Die 9 leeren Stühle der Geschworenenbank. Das Kreuz wird von einer Putzfrau abgestaubt. Die Position der Bibel wird genau auf Linie korrigiert. Der Fliegenfänger wird abgenommen verklebt sich in den Fingern. (Detail vom Apfelschneiden Leons. Rosa beschriftet ihre Tonbänder. – mitdrehen bei Bild 5) Die GERICHTSDIENER legen die Akten bereit.

15A. GERICHT : RICHTERZIMMER INNEN/TAG

Der straff und würdevoll wirkende VORSITZENENDE RICHTER PEYER (60) zieht sich wie ein Priester seinen Talar an.

15B. GERICHT : TOILETTENVORRAUM INNEN/TAG

STAATSANWALT SCHUHMANN (43) überprüft vor dem Spiegel in der Toilette, ob alles richtig sitzt. Verteidiger Böck kämmt sich. Angeekelt entscheidet sich FÜR Brillantine und schmeißt eine Aufputschtablette ein.

15C. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

Murer schlüpft in den abgetragenen Janker und atmet tief durch.

16. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

17 Die Saaltür wird geöffnet. Das Publikum strömt hinein. Toncollage des sich einstimmenden Streichquartetts vermischt sich mit der Stimme des Vorsitzenden Richters Peyer.

JOURNALIST KRONE (35) und JOURNALIST TAGESPOST (52) legen ihren Notizblock bereit. Rosa Segev nimmt neben dem etwas schlampig aussehenden Kollegen KARL NOWAK (48) Platz. Rosa blickt nach vorn. 12 Stühle füllen sich mit den 8 Geschworenen und dem Ersatzgeschworenen, die aus dem Beratungszimmer kommen. SCHULDIREKTOR FRIEDRICH (67), schlank, streng, groß, straffe Haltung, voran, hinter ihm GESCHÄFTSFRAU Hertha (50). Eine selbstbewusste, konservativ-bürgerlich wirkende Frau. Dahinter MESNER KARL (55), der nur einen Arm hat. Ein Rockärmel steckt in der Seitentasche. Am Revers ein Kreuz. Betont lässig folgt ihm GEWERKSCHAFTER HUBERT (45), ein stämmiger Typ, Hinter ihm der KUNSTMALER FRANZ (60) gefolgt von der BÄUERIN MARIA (45), die sich unsicher umblickt. Dahinter der unscheinbar harmlos aussehende BÜROANGESTELLTE NORBERT (39) - er blickt hilfesuchend zu dem ERSATZGESCHWORENEN (55), einem glatzköpfigen und überaus korrekt gekleideten technischen Angestellten. Zum Schluss betritt JULIUS KLOIBER (42). ein dünner, blasser Mann die Geschworenenbank. Auffallend ein extrem hoch geschlossenes Hemd, das seinen Hals einschnürt.

Eine Toncollage verfremdet die Verteidigungsformel und lässt sie passagenweise im Gemurmel untergehen.

16A. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER RICHTER PEYER (OFF) Sie schwören und geloben vor Gott, die Beweise, die gegen und für den Angeklagten vorgebracht werden, mit der gewissenhaftesten Aufmerksamkeit zu prüfen, nichts unerwogen zu lassen, was zum Vorteil oder zum Nachteil des Angeklagten gereichen kann, das Gesetz, dem Sie Geltung verschaffen sollen, treu zu beobachten, vor Ihrem Ausspruch über den Gegenstand der Verhandlung mit niemand außer mit den Mitgliedern des Schwurgerichtshofes und Ihren Mitgeschworenen Rücksprache zu nehmen, der Stimme der Zu- oder Abneigung, der Furcht oder der Schadenfreude kein Gehör zu geben, sondern sich mit Unparteilichkeit und Festigkeit nur nach den für und wider den Angeklagten vorgeführten Beweismitteln und Ihrer darauf gegründeten Überzeugung so zu entscheiden, wie Sie es vor Gott und Ihrem Gewissen verantworten können.

18 Franz Murer wird, von zwei Justizbeamten flankiert, herein gebracht. Zum Schluss kommen die RICHTER aus den hinter dem Richtertisch liegenden Räumen. Vorsitzender Richter Peyer, sowie RICHTER I (51), streng gescheitelt, mit einem Schmiss und RICHTER II (45), der intellektuell wirkt.

IM OFF überlagert sich Vereidigungsformel mit der Anklageschrift, die verlesen wird. Rosa blickt sich um: während der Vorsitzende die Verhandlung eröffnet, ordnet der Staatsanwalt Schuhmann angespannt seine Papiere. Der Verteidiger Böck hingegen konzentriert sich selbstsicher auf die Geschworenen.

VORSITZENDER RICHTER PEYER …..wird der Angeklagte, Franz Murer, beschuldigt, in seiner Funktion als Adjutant des Gebietskommissariats in Wilna in den Jahren 1941- 1943 Verbrechen begangen zu haben, für die er sich hier zu verantworten hat.

Schnitt - Collage Überblendungen.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Faktum 1: Erschießung einer jüdischen Handschuhnäherin, die sich im Haus Spitalstraße Nr. 7 verbergen wollte. Faktum 2: Erschießung eines jüdischen Polizisten, der Juden aus dem Versteck gelockt hatte.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Faktum 3: Erschießung einer 22 Jahre alten Jüdin unbekannten Namens, die in der Bahnstation Porabeny Brot erworben hatte. Faktum 4: Tötung eines jüdischen Mädchens von ungefähr 16 Jahren, bei dem Brot gefunden wurde. Faktum 5: Erschießung eines unbekannten ungefähr 25- jährigen Judens, der nachts dem Angeklagten auf der Straße begegnet ist. Faktum 6: Erschießung eines unbekannten Juden im Jahre 1942, der sich zwei Häuserblocks hinter dem Haupttor auf dem Gehsteig befand. Faktum 7: Erschießung eines etwa 10-jährigen Jungen und seiner Mutter im Jahr 42. Faktum 8: Die Erschießung des Vaters von Jakob Kagan im Septemper 1942. Faktum 9: Erschießung eines Juden, der hohe polnische Stiefel trug.

Rosa betrachtet die Murerkinder, die ohne sichtbare Regung zuhören und kerzengerade wie der Vater in der Bank sitzen. Verteidiger Böck blickt zu den zwei weiblichen

19 Geschworenen und dann zu den Kindern. Über sein Gesicht huscht kurz ein befriedigtes Lächeln bevor er wird ernst nach vorn schaut. Rosa blickt zu Staatsanwalt Schuhmann.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Faktum 10: Erschießung eines unbekannten Juden im Jahr 1942 vor dem Geschäft Glezer. Faktum 11: Ermordung einer jüdischen Frau mittleren Alters im Winter 1942, die sich der Kontrolle am Ghettotor entziehen wollte. Faktum 12: Erschießung von Chaja Pilowska, Chaja Brujda, Eva Lauer, sowie einem unbekannten Juden. Faktum 13: Erschießung einer unbekannten jüdischen Mutter eines Kindes unbekannten Namens. Faktum 14: Erschießung eines etwa 16-jährigen Jungen, der mit einer Gruppe von Arbeitern in das Ghetto gelangen wollte. Faktum 15: Erschießung des jüdischen Ordnungspolizisten Shimon Gordon.

SCHNITT Franz Murer auf der Anklagebank, aufrecht, selbstbewusst, blickt er zuerst zu den Richtern und dann zu den Geschworenen.

FRANZ MURER ...nicht schuldig. In allen Anklagepunkten.

17. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

SCHNITT DR. MOSES FEIGENBERG betritt den Zeugenstand. Er spricht ein sehr gewähltes altes Deutsch mit leichtem Akzent.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Was war Ihre Funktion im Ghetto?

DR. FEIGENBERG Ich war Chef der urologisch-gynäkologischen Abteilung im jüdischen Krankenhaus. Und ich war auch Mitglied im ersten Judenrat.

STAATSANWALT SCHUHMANN War Ihnen der Angeklagte Franz Murer zu dieser Zeit bekannt?

20 DR. FEIGENBERG Selbstverständlich. Jeder kannte ihn. Man nannte ihn „den Schlächter von Wilna“ und er hat den Judenrat aufgefordert, fünf Millionen Rubel innerhalb von zwei Wochen an Kontribution zu zahlen. Als wir nur zwei Millionen abliefern konnten, wurde der gesamte Judenrat in Ponary liquidiert. Ich hab nur durch einen Zufall überlebt.

STAATSANWALT SCHUHMANN Wo liegt dieses Ponary?

DR. FEIGENBERG Sieben Kilometer vor Wilna. War ein beliebtes Ausflugsziel vor dem Krieg. 100.000 wurden dort ermordet...

VORSITZENDER RICHTER PEYER Wann sind Sie dem Angeklagten persönlich begegnet?

DR. FEIGENBERG Ich glaube bei Kontrollen am Ghettotor. Ich habe selbst gesehen, wie sich Frauen nackig vor ihm ausziehen mussten und da hat er gesagt „Ihr Jüdinnen seid noch viel zu dick…“

VORSITZENDER RICHTER PEYER Herr Doktor Schuhman… bitte.

STAATSANWALT SCHUHMANN Der Angeklagte hat Sie persönlich aufgesucht?

DR. FEIGENBERG Ja, er kam zu mir in die Abteilung.

STAATSANWALT SCHUHMANN Und was wollte der Angeklagte von Ihnen?

DR. FEIGENBERG Er erklärte mir, dass jeder Arzt, der eine Entbindung vornimmt, liquidiert wird. Die Juden dürfen keine Kinder mehr bekommen. Schwangere müssten abtreiben. Hochschwangere werden auf der Stelle erschossen. Ich selbst habe in den Jahren über 1000 Abtreibungen vollzogen. 21 Die Geschworene, die Bäuerin Maria, reißt entsetzt die Augen auf. Murers Miene ist ohne Regung.

STAATSANWALT SCHUHMANN Wie würden Sie die Beziehung des Angeklagten zu den Bewohnern des Ghettos bezeichnen?

DR. FEIGENBERG Beziehung? Wenn er in seinem weißen Fiaker durchs Ghetto fuhr, da sagte man: da fährt der Tod in seiner Kutsche - das war die Beziehung.

SCHNITT

Der Verteidiger Böck geht in Position und hat ein freundliches Lächeln im Gesicht. Rosa studiert Böcks Auftreten und macht sich Notizen.

VERTEIDIGER BÖCK Herr Dr. Feigenberg, man kann Sie doch als Mann mit literarischen Ambitionen bezeichnen...?

DR. FEIGENBERG Ich bin Arzt, kein Schriftsteller.

VERTEIDIGER BÖCK Trotzdem haben Sie ein Buch veröffentlicht.

DR. FEIGENBERG ...ein Tatsachenbericht.

Der Verteidiger hält das Büchlein hoch und zeigt es in Richtung Geschworene.

VERTEIDIGER BÖCK Ich habe es hier in der Hand. „Wilna unter dem Nazi-Joch“

DR. FEIGENBERG Ja, das habe ich 46 in Landsberg verfaßt.

Böcks Ton schlägt um. Er wird nun spitz und scharf.

22 VERTEIDIGER BÖCK Sie haben hier ein sehr literarisch gefärbtes Bild des Angeklagten präsentiert. Der Tod in einem angeblich weißen Fiaker durchs Ghetto fährt...

DR. FEIGENBERG Murers Fiaker war weiß...

Rosa setzt ihren Stift ab. Ihr Blick bleibt bei der Geschworenen Hertha hängen, die voll Empathie die Murerkinder anblickt. Staatsanwalt Schuhmann mustert unangenehm berührt die zuhörenden Murerkinder und sieht abfällig auf Verteidiger Böck.

VERTEIDIGER BÖCK (OFF/ON) Ferner behaupten Sie, dass der Angeklagte die meist gefürchtete Person im Ghetto war, Herr über Leben und Tod...

DR. FEIGENBERG ...so war es auch.

VERTEIDIGER BÖCK Dann frage ich Sie, verehrter Herr Doktor. Wie oft wird der Name des Angeklagten in Ihrem Buch erwähnt?

DR. FEIGENBERG Das kann ich nicht sagen...

VERTEIDIGER BÖCK So? Das können Sie nicht sagen? Aber ich kann es Ihnen sagen. KEIN EINZIGES MAL!

Raunen im Publikum. Die Geschworene Hertha blickt hämisch zu Dr. Feigenberg.

DR. FEIGENBERG Und Herr Anwalt, haben Sie auch gezählt, wie oft ich das Wort Gebietskommissariat verwendet habe? Damit war niemand anders als Murer gemeint. Das war ein- und dasselbe.

VERTEIDIGER BÖCK Hier geht es nicht um das Kommissariat, sondern um einen einzelnen Menschen, der hier scheußlichster

23 Verbrechen beschuldigt wird...

DR. FEIGENBERG ...die er begangen hat...

VERTEIDIGER BÖCK Niemand stellt in Abrede, dass in einem Krieg furchtbare Dinge geschehen. Die Frage ist aber, ist dieser eine, der Mensch Franz Murer, derjenige, mit dem Sie meinen gesprochen zu haben?

DR. FEIGENBERG Natürlich habe ich mit Murer gesprochen...

Franz Murer erhebt sich.

FRANZ MURER Ich kann dazu gar nichts sagen. Ich bin dem Herrn Doktor noch nie vorher begegnet.

VERTEIDIGER BÖCK Wie erklären Sie sich, dass der Herr Doktor Feigenberg sich angeblich an Sie erinnert...

FRANZ MURER Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich bin in Wilna mit ganz anderen Aufgaben betreut gewesen. Für die Versorgung und landwirtschaftliche Fragen war ich zuständig. Wissen Sie, ich bin ein Bauer… Deshalb hat man gedacht, ich könnte in dem Posten hilfreich sein.

Rosa schüttelt ungläubig den Kopf und erhält solidarische Blicke von Nowak, was Journalist Krone und Journalist Tagespost mißbilligend registrieren. Staatsanwalt Schuhmann macht sich eifrig Notizen und tut so, als höre er Böck nicht zu. Kurz blickt er auf die Geschworenenbank, um Böcks Wirkung zu überprüfen.

24 18. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

SCHNITT

VORSITZENDER RICHTER PEYER Da die Zeugin Miriam Werbin aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Graz kommen konnte, wird ihre beglaubigte Aussage verlesen. Ich, Miriam Werbin, geboren am 25.01.1911 in Wilna, wohnhaft in

Tonüberblendung, man hört das Tippen einer Schreibmaschine, dann überblendet die Stimme von Peyer mit der von Miriam Werbin.

MIRIAM WERBIN (OFF- HEBRÄISCH) (wohnhaft in Ester Hamalka 23, Tel Aviv)

Überblendung

18A. SCHREIBSTUBE TEL AVIV INNEN/TAG

Man befindet sich in einem kleinen Office in Tel Aviv. MIRIAM WERBIN (52), die Frau wirkt älter, ausgemergelt, gequält, jedes Wort fällt ihr schwer. Ihr Hebräisch ist stockend und limitiert. Ihr gegenüber zwei Beamte mit dicken Schweißflecken unter den Achseln, eingekeilt von Ventilatoren.

MIRIAM WERBIN (HEBRÄISCH) (Ja, ja… Die Aktion der Gelben Scheine? Ja, das hat geheißen jeder, der keinen Arbeitsschein hat, wird festgenommen und erschossen. Ich hab auch keinen Schein gehabt. Also muss ich mich verstecken. Nach drei Tagen höre ich plötzlich einen jiddisch auf die Gasse rufen. „Aktion beendet - ihr könnt alle raus kommen“)

(SIE SPRICHT JIDDISCH WEITER)

25 (Es war ein jüdischer Ghettopolizist, der Schlomo mit Vornamen geheißen hat. Aber von gegenüber sind sie aus dem Keller gekommen. Zusammengepfercht waren sie tagelang. Fünfzig Leut‘. Ich bin aber in meinem Verschlag geblieben. Hab‘ der Sache nicht getraut. Da sehe ich durch einen Spalt die grüne Uniform vom Murer. Alle Juden werden zusammengetrieben und verladen. Alle sind sie in die Falle gegangen und sind nach Ponary zum Erschießen gebracht worden. Und da geht der Murer zu dem jüdischen Polizisten und er denkt, der Murer will ihm was sagen. Da zückt der Murer die Pistole und sagt „Du hast deine Arbeit getan“ und erschießt ihn.) Is gewen a jiddischer ghettopoliziant. Hot gehejßen Schloime ojf dem erschten nomen. Ober fon kegeniber sejnen sej fon dem keller arojsgekummen- Ungepakt sejnen sej dorten gewen a por teg. Fufzig lejt. Ober ich bin in mejn farschtek farbliben. Ich hob dem nit kejn zutroj gehat. Dan hob ich gesehn durch a schpalt die grine mondur fon Murern. Alle Jiden wern zusamengenumen un ongeloden. Alle sejnen in nez gefalen. Men hot sej gebrengt kejn Ponary zum derschießen. Un dan gejt der Murer zum jiddischen polzianten un jener denkt sich as Murer well im epes sogen. Nor Murer nemt aroijs dem revolver un sogt: “Di host dejn arbet geton“ un derschießt ihm.

Der junge israelische Beamte wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht Miriam an, die ganz in ihren Gedanken ist.

18B. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER PEYER (OFF) „Du hast deine Arbeit getan“ und erschießt ihn.

Der Vorsitzende Richter Peyer legt die Aussage zu den Akten. Verteidiger Böck nimmt eine Aufputschtablette. Der Staatsanwalt blickt ihn erwartungsvoll an.

VERTEIDIGER BÖCK Die Aussage klingt für mich... nun... etwas abenteuerlich. Aber selbst, wenn sich das so zugetragen hat, dann möchte ich hier auf einen ganz konkreten Punkt eingehen, der ganz klar auf eine Verwechslung hinweist. Frau 26 Werbin spricht von einer grünen Uniform. Wie wir wissen, war die Uniform von Herrn Murer in Wahrheit aber hellbraun. Ich würde ja die Zeugin gern über diese Ungereimtheit befragen, aber sie ist wohl anderweitig beschäftigt...

Rosa empört sich gestisch über diese Bemerkung.

SCHNITT

19. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Perl Akin im Zeugenstand. Perl versucht, sich während ihrer Aussage zusammenzureißen, doch immer, wenn ihr Blick auf Franz Murer fällt, bekommt ihre Stimme eine schneidende Anspannung.

Rosas Blick bleibt bei der Zuschauerbank kleben, an der die drei MURERKINDER aufgereiht sitzen. Während die Anklage verlesen wird, dreht sich Franz Murer um und sieht jeden von ihnen einzelnen an - ein milder und stolzer Blick voll gespielter Zuversicht. Rosa schnappt eine Bemerkung auf.

JOURNALIST KRONE (FLÜSTERND) Das sind die Murerkinder.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Wenn du den weißen Fiaker vom Murer gesehen hast, dann wusstest du, heute wird jemand sterben. Ich hab nur überlebt, weil ich bei einem deutschen Fräulein gearbeitet habe, die die Freundin vom Murer war.) Wann du host gesen dem wejssen fiaker fon Murern, host du bald gewisst, as hejnt wird emezer schtarben. Ich hob sich geratewet far dem wos ich hob gearbet bej a dejtsch frolejn wos is gewen di frejndin fon Murern.

Geschäftsfrau Hertha blickt Murer interessiert an. Groß auf Murer, der plötzlich aus seiner Versteinerung erwacht und sich besorgt in Publikum umblickt. Im Gesicht der Murertochter (18) blitzt so etwas wie Empörung im Blick auf - sie sieht 27 ihren Bruder (22) an, der ihr einen disziplinierenden Blick zuwirft. Sie greift dem Jüngsten (12) neben ihm aufs Knie, damit er zu zappeln aufhört. Verteidiger Böck wirft Franz Murer einen strafenden Blick zu. Staatsanwalt Schuhmann registriert dies mit Wohlwollen.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Die hat mich gern gehabt, das Fräulein Freese. Sie hat mir einen Passierschein besorgt, den der Murer ihr unterschrieben hat. Ich schäm‘ mich, einem Mörder mein Leben zu verdanken. Denn der Murer ist einer, dem das Töten Spaß gemacht. Es gibt Geschichten über ihn..). Di hot mich gehat lib, dos frolejn Freese. Si hot mir basorgt a passierschein wos Murer hot untergeschriben. Es is a busche far mejnetwegn as ich muss danken mejn leben a merder. Wejl der Murer is emezer wos hot hano’e gehat fon hergenen. Men derzejlt sich fon ihm…

VORSITZENDER RICHTER PEYER ...ich möchte Sie bitten, Frau Akin, keine Geschichten zu erzählen, sondern nur Tatbestände die Sie bezeugen können.

DIE ÜBERSETZERIN (40) setzt in Jiddisch an, aber Perl winkt ab, deutet, dass sie verstanden habe.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Ich hab essbare Abfälle bei einem Restaurant gesammelt und wollt‘ sie in einer Dose ins Ghetto schmuggeln. Beim Tor steht der Murer: „Durchsucht sie!“ befiehlt er. Das nächste was ich weiß, dass ich seine Faust im Gesicht hab‘ und zu Boden fall‘ und zuerst Blut spucke und dann die Zähne. Dann tritt er noch auf mich mit seinen Stiefeln. Aber das hab ich nicht mehr g‘spürt. Und dann steht der neben mir im Krankenhaus und sagt zu mir: „Mensch Mädel, hör‘ auf zu weinen, du hast so ein Glück gehabt, dass du noch lebst und er nicht gleich geschossen hat.“) Ich hob geklojbt essbar opfall bej a restorant un hob gewolt dos it a puschkele arejnschmugglen in getto. In tojr schtejt der Murer. „Kontrolliert ihr“, hejsst er. Dos nekste wos ich wejss - as ich hob sejn fojst in mejn ponim un ich fall ojf di erd. Erscht schpej ich blut un nochdem die zehn. Dernoch zetret er mich mit sejn schtivlen. Ober dos hob ich nit mer derfilt. noch dem schtejt der Jakob Gens leben mir im Schpitol in sogt mir: „Du meidl, her ojf zi wejnen. Du host asoj a Masel as du lebst noch un er dich nit bald hot derschossen .

28 Rosa blickt auf die Murerkinder. Keinerlei Regung. Keinerlei sichtbare Emotion.

VERTEIDIGER BÖCK Sie haben in Ihrer Aussage einen gewissen Jacob Gens erwähnt. Wer war das?

PERL AKIN (JIDDISCH) (Der Jacob Gens war der Chef der Polizei). Der Jakob Gens is gewen der rosch fon der polizej.

VERTEIDIGER BÖCK Und der war doch einer von Ihnen, ein Jude.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Natürlich war er Jude. Die Polizisten im Ghetto waren alles Juden). Awade war er a Jid. Die polizianten in getto sejnen alle gewen Jiden. VERTEIDIGER BÖCK Und so waren es also Juden selbst, die für Kontrollen und die Ordnung im Ghetto zuständig waren?

Geschworener Mesner Karl beugt sich interessiert nach vorn. Desgleichen Schuldirektor Friedrich. Perl ringt nach Worten.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Aber weil sie keine Wahl hatten! Das war alles doch befohlen von den Deutschen…) Ober dos, far dem wos sej hobn nit gehat kejn brejre nit. Dos is alz bafoilen gewen fon di dejtschen.

SCHNITT Franz Murer registriert befriedigt die skeptischen Blicke auf der Geschworenenbank.

FRANZ MURER Zuerst muss ich noch betonen, dass wir einen Fuhrpark von Autos hatten. Ein Opel, einen Mercedes und einen Hanomag - aber keinen Fiaker. Ich habe der Zeugin selbstverständlich nicht die Zähne ausgeschlagen. Ich betone nochmals: an Kontrollen am Ghettotor habe ich nie teilgenommen. Das war Aufgabe der Polizei, und die oblag der jüdischen Selbstverwaltung. Was von dieser Seite gegen die eigenen Leute gemacht wurde, geht mich nichts an und ich bin auch nicht verantwortlich dafür. 29 Die Zeugin muss mich schon allein deshalb verwechseln, weil ich nie eine Geliebte hatte in Wilna.

SCHNITT

In Perl kochen die Emotionen hoch. Die Murersöhne sehen übertrieben ernst und gespannt zu ihrem Vater. Franz Murer seufzt und wirft einen hilfesuchenden Blick zu den Richtern. Nun kann sich Perl nicht mehr halten.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Wie ein Dieb nicht zugibt den Diebstahl, so tut der Mörder nicht zugeben den Mord. Und du bist beides Murer! Mörder und Dieb!) Asoj wi a ganev is nit mojde a genejve, asoj is a merder nit mojde a mord. Un du, Murer, bist bejdes! A merder un a ganev!

Sie will sich auf Franz Murer stürzen. Man hält sie zurück.

SCHNITT

20. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

EPHRAIM SCHUSTER (51) singt die Strophe eines jiddischen Ghettoliedes (Du geto majn), in dem die Zeile über Franz Murer vorkommt.

EPHRAIM SCHUSTER(SINGEND) Jidn, sogt, wer schteijt baijm tojer? Jidn, sogt, woss tut men hajnt? Mir ducht sich as ess schteijt do Murer, undser besster guter fraijnt.

Das Lied zieht sich noch eine Weile im Hintergrund im Off weiter.

SCHNITT

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Dreitausend Menschen hat die erste „Aktion der gelben Scheine“ das Leben gekostet. Danach hab ich gewusst: sie werden uns alle töten. Uns haben sie glauben lassen, 30 wir wären unentbehrlich für die Versorgung der Wehrmacht, um uns am Ende doch alle...) Di erschte akzie fon di gele schejne hot gekost drej tojsent mentschen dos leben. demolt hob ich verschtanen as sej wern unds ale hargenen. Unds hoben sej gemacht glojbn, as mir sejnen nojtik wi liferanten far di Wehrmacht. Nor kdej zum ssojf alle…

Zuschauerbank. Der älteste Murersohn schaut zu seinem Vater. Murers Blick verfinstert sich, als er sieht, wie die beiden Jüngeren die ausladenden Gesten des Zeugen imitieren. Der jüngste Murer muss fast zu lachen beginnen.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich fordere den Herrn Staatsanwalt nochmals auf, die Zeugen zu den konkreten Tatvorwürfen zu befragen…

ZWISCHENRUFER Genau!

Alle drehen sich nach dem ZWISCHENRUFER (55) um und nicken ihm zustimmend zu. Staatsanwalt Schuhmann registriert dies aufmerksam und blickt zu den Geschworenen. Schuldirektor Friedrich flüstert dem Mesner etwas ins Ohr.

SCHNITT

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Da ich keinen Schein hatte, hab‘ ich mich während der Aktion drei Tage auf einem Dachboden versteckt. Da hört ich einen Schrei, so einen Schrei, wie nur jemand schreit, wenn es um Leben und Tod geht. Ich seh‘ vom Haus vis- à-vis, wie jemand herausgezerrt wird. Auf der Straße steht Murer und schießt. Eine Frau in einem grünen Mantel fällt aufs Pflaster. Tot!) Asoj wi ich hob nit gehat a schejn, hob ich sich bahalten in di drej teg fon di akzie in a bojdem. Dann her ich a geschrej, asons a geschrej wos nur a mentsch schrejt wann es gejt ojf leben un tojt. Ich se wi men schlept emezen arojss fon hois kegeniber. Oif der gass schtejt Murer un schiesst. A froj mit a grin mantel fallt oif di erd. Tojt.

ZWISCHENRUFER Gräuelpropaganda!

31 SCHNITT Der Zwischenrufer wird aus dem Saal geführt. Richter Peyer ist verärgert über den Zwischenfall.

SCHNITT FRANZ MURER Ich kann nur wiederholen, dass die „Aktionen“ ausschließlich von der litauischen Polizei durchgeführt wurden. Deren Uniform ähnelt oberflächlich der unseren. Wen der Herr da immer auch gesehen haben mag - ICH war es jedenfalls nicht.

SCHNITT

VORSTITZENDER RICHTER PEYER Ich möchte ferner den Zeugen Schuster auf einen weiteren Widerspruch zu einer früheren Aussage, bezogen auf das Datum, hinweisen. Ich möchte Sie also fragen, ob Sie wirklich bei Ihrer Aussage bleiben, dass sich das erwähnte Ereignis im Jahr 41 abspielte und nicht 42.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (41, ich sage die Wahrheit. Ich hab das alles gesehen mit meinen eigenen Augen. ) Ejnunferzig, ich sog dem emess, ich hob dos alz gesen mit mejne ejgene ojgen.

VERTEIDIGER BÖCK Sie bleiben also dabei. Gut. Können Sie mir sagen, welche Farbe die Uniform Herrn Murers hatte.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Hmm. Das kann ich nicht sagen. Das ist über zwanzig Jahre her. Und bevor ich was Falsches sag… aber… nein… ich weiß es nicht mehr.) Hmm. Dos ken ich nit sogn. Dos is mehr wi zwanzig jor zurick. Un ejder ich sog epes nit richtig… ober nejn… ich weiss doss nit mer.

VERTEIDIGER BÖCK Aber an all die anderen Details wollen Sie sich lebhaft erinnern? Seltsam. Was ich mich aber frage, welche Motivation hätte Herr Murer haben können, so eine Tat zu begehen, die 32 erwiesenermaßen nicht in sein Ressort fällt?

Ephraim Schuster rastet aus. Ein Wachebeamter versucht, ihn zu beruhigen. Doch Schuster wehrt sich gegen den Griff.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Der Murer, der hätte auch seine Eltern getötet. Das ist ja kein Mensch, sondern eine Bestie.) Der Murer, der wollt ojch geharget sejn tate mame. Dos is nit kejn mentsch, dos is a bestje.

Schuster wird hinausgeführt. Unruhe im Saal. Das Publikum ist über Ephraims Ausbruch pikiert. Rosa blickt zum Journalist Krone und Journalist Tagespost. Sie merkt, dass die beiden abfällig auf Ephraim reagieren. Kollege Nowak blickt abfällig auf Journalist Tagespost, der in seinen Notizen eine Stürmer-artige Karikatur von Ephraim angefertigt hat. Journalist Tagespost fühlt sich ertappt und blättert verschämt weiter. Abblende.

21. WOHNUNG SCHUHMANN INNEN/NACHT

FRAU SCHUHMANN(45) und Staatsanwalt Schuhmann am Fenster ihrer Wohnung. Herr Schuhmann ist angespannt, hält ein Glas in seiner Hand. Frau Schuhmann küßt ihren Mann. Der reagiert nur halbherzig und seufzt.

FRAU SCHUHMANN Und was denkst du, wie es ausgehen wird?

STAATSANWALT SCHUHMANN Du kennst unsere Abmachung. Dienst ist Dienst und privat…

Frau Schuhmann nickt und schenkt sich auch einen ein und blickt auf die Schuhe ihres Mannes, die im Zimmer verteilt liegen. Schuhmann seufzt und sammelt, vorwurfsvolle Blicke an seine Frau sendend, die Schuhe ein.

FRAU SCHUHMANN Ich kenn das. Mein Vater war auch bei schwierigen Fällen kaum ansprechbar. Als er damals den Kindermörder verteidigt hat, da wurde er privat bedroht...

33 STAATSANWALT SCHUHMANN (STICHELND IRONISCH) Ja, ja ich weiß dein Papa war der aller größte Anwalt von der ganzen weiten Welt...Wie hat er gesagt: Ik moet de beker tot ...

STAATSANWALT SCHUHMANN und FRAU SCHUMANN ...op de boden leeg.

Sie müssen beide lachen. Als die Situation sich in einem Kuß aufzulösen scheint.

LAUTER KNALL Glasbruch. Scherben.

Die beiden wissen gar nicht wie Ihnen geschieht. Frau Schuhmann bückt sich und hebt einen Stein auf.

FRAU SCHUHMANN Sind wir gegen Glasbruch versichert?

Herr Schuhmann nickt.

FRAU SCHUHMANN Hoffentlich auch gegen Nazis...

SCHNITT

22. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Der Vorsitzende Peyer und die zwei beisitzenden Richter betreten über das Beratungszimmer den Saal.

Schuldirektor Friedrich, fast schon etwas lächerlich vor lauter Würde, und die anderen 7 Geschworenen und der Ersatzgeschworene richten sich ein. Julius ist in sich versunken und wirkt abwesend. RICHTER 1 Sind die acht Geschworenen und der Ersatzgeschworene anwesend?

Schuldirektor Friedrich blickt sich um. 34 SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Ja, Euer Ehren. Wir sind vollständig.

SCHNITT

22A. GERICHTSSAAL

MONTAGESEQUENZ

Die fragmentierten Zeugenaussagen werden mit den Gesichtern der Geschworenen und deren unmittelbaren mimischen Reaktionen geschnitten.

SHIMON TRABSKI (JIDDISCH) (ON/OFF) ….wenn der Murer mit seinem weißen Fiaker durchs Ghetto gefahren ist, dann haben wir alle die Mütze vor ihm ziehen müssen und uns verbeugen. Es war der Murer, der die zweite Aktion geleitet hat, die fünftausend von uns das Leben gekostet hat...

Der Geschworene, Schuldirektor Friedrich, hört der Aussage zu. Seine starre, maskenhafte Mimik verrät weder Empathie noch Ablehnung. Julius Kloiber beginnt sich leicht manisch zu kratzen. Der Schuldirektor wirft Julius einen strafenden Blick zu, worauf dieser das Kratzen kurz einstellt.

SHIMON TRABSKI (JIDDISCH) (ON/OFF) (...der Murer war deshalb so gefürchtet, weil man nicht wusste, woran man war. Der konnte einen, ohne mit der Wimper zu zucken, erschießen, nur weil ihm deine Visage nicht gepasst hat. Einmal hat er bei einer Kontrolle einen Mann erschossen, weil der hohe polnische Stiefel angehabt hat.) (DEUTSCH:) „Juden dürfen keine solchen Stiefel tragen…“ …der Murer, far dem hot men asoj grojss mojre gehat, wejl men hot nit gewisst wos er wird ton. Er hot derkent sstam asoj a mentsch derschiessen, nor far dem wos im hot nit gefollen sejn ponim. A mol, is gewen kontroll, hot er a mann derschossen far dem wos er hot ongetin hojche pojlische schtivel. „Juden dürfen keine solchen Stiefel tragen …“

Die Kamera schwenkt weg von Schuldirektor Friedrich zu der Geschworenen neben ihm, Geschäftsfrau Hertha. Sie hat ein ironisches, ungläubiges, etwas verächtlich wirkendes Lächeln im Gesicht, während sie Shimons Aussage zuhört.

35 22B. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

SIMA KINBRENNER (JIDDISCH) (ON/OFF) (Mein Mann hat keinen Schein gehabt und ist. bei der zweiten „Aktion“ erschossen worden. Da hab ich die Kinder allein durchbringen müssen. Ich bin ja nicht die Kräftigste, war ja vorher Lehrerin, und nun hab ich Steine schleppen müssen und dann von dem bisschen Geld habe ich Brot gekauft von den Bauern, sonst wären die mir ja verhungert.) Mejn mann hot nit gehat kejn gelen schejn. Bej der zwejten akzie hot men ihn derschossen. Do bin ich do gewen alejn mit die kinderlech. Ich hob gedarft sej allejn farsorgen, un ich bin nit asoj schtark. Far dem bin ich gewen a lehrerin. Izt darf ich schleppen stejner. Fon dem bissele gelt hob ich gekojft brojt fon di pojern, ojb nit wollten sej mir starben farhungerte.

Die Bäuerin Maria hat etwas Waches, Warmherziges im Blick. Sie seufzt mehrmals schwer. Geschäftsfrau Hertha quittiert dies mit einem abfälligen Blick. Als Maria den strengen Blick Herthas bemerkt, schiebt sie ihre Emotionen weg.

SIMA KINBRENNER (JIDDISCH) (ON/OFF) (... und dann haben sie meine Kinder abgeholt...) Un dann hobn sej mejne kinderlech genumen…

Simas Augen füllen sich mit Tränen. Sie schluckt, zwingt sich zum Weiterreden, doch die Stimme ist nun brüchig...

SIMA KINBRENNER (JIDDISCH) (ON/OFF) (Man hat sie nach Ponary gebracht, und dort hat man sie erschossen...) Men hot sej noch Ponary gebrengt un dorten hot men sej derschossen.

Maria reagiert für einen Moment entsetzt, beherrscht sich aber dann wieder schnell. Sitznachbarin Hertha bleibt abfällig und ungläubig. Nervös sucht Hertha nach einem Verbündeten unter den Geschworenen und findet ihn in Schuldirektor Friedrich, der ihr verschwörerisch zulächelt. Ein Moment von Stille im Raum.

VORSITZENDER RICHTER PEYER (OFF) Herr Staatsanwalt, auch wenn es mir schwer fällt, möchte ich Sie doch ersuchen, die Zeugin nur zu den Anklagepunkten zu befragen.

Rosa blickt böse zum Richter und notiert etwas.

36 SIMA KINBRENNER JIDDISCH (ON/OFF) (...da war der Shimon Gorden, der hat bei der Ghettopolizei arbeiten müssen. Und der hat ein Mädchen, das keinen gelben Schein gehabt hat, laufen lassen. Daraufhin hat ihn der Murer verhaften lassen. Und am nächsten Tag hat man seiner Mutter, die eine Nachbarin von mir war, die Kleider von ihrem Sohn gebracht...) …do is gewen der Schimen Gorden, der hot gemisst arbeten bej der gettopolizej. Er hot a mol gelosst lojfen a mejdl woss hot nit gehat kejn gelen schejn. Deriber hot Murer gehejssn ihn arrestiren. Dem neksten tog hot meh sejn mame – woss is gewen mejns a schochente – gebrengt di malbuschim finem son…

Auf der Geschworenenbank sieht man den einarmigen Mesner, der nervös den lockeren Rockärmel in die Seitentasche steckt. Mesner Karl hat einen kleinen Tick: ein mechanisches leichtes Nicken mit dem Oberkörper. Das verleiht ihm einen devot zustimmenden Ausdruck.

Der Gewerkschafter Hubert, der neben ihm sitzt, der oberflächlich grob und breit wirkt, kann nicht verbergen, dass ihm die Erzählungen zu Herzen gehen. Der neben ihm sitzende Kunstmaler Franz, ein Mann mit fein geschnittenen Zügen, wirkt hingegen nervös und unkonzentriert.

22C. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

ISRAEL SZELUBSKI JIDDISCH (ON) (Bei meinem Sohn haben sie Kartoffeln gefunden. Und da hat der Murer befohlen, dass man ihn auspeitscht - zur Strafe. Er ist zurückgekommen und war nicht mehr er selbst. Heute ist er ein Pflegefall. Die Schläge haben bei ihm eine Schizophrenie ausgelöst, und es gibt keine Chance auf Heilung…) Bej mejn son hoben sej gefunen bulbess. Da hot Murer sej gehejssen ihn zu schmejssen, soll sejn schtrof. Er is zurikgekummen an anderer. Hejnt is er a Pflegefall. Doss schlogen hot ihm gemacht schizophren. Un es is nit do kejn schans fon a fefu’e.

SCHNITT Rosa schlägt ein neues Blatt auf.

37 22D. GERICHTSSAAL GESTRICHEN

23. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Vorsitzender Peyer blickt auf seine Nägel bevor er sich nach dem kurzen privaten Moment wieder dem Zeugen wendet.

SELIG SHMILEWITZ (HEBRÄISCH) (ON/OFF) („Jerusalem… ja das ist richtig. Von Beruf bin ich Taschenmacher. Ich bin dem Angeklagten mehrmals begegnet. Wenn er bei den Kontrollen war, gab es immer was Schreckliches. Ich glaube, er wollte die Leute abschrecken und war deshalb ganz bewusst grausam...“)

VORSITZEDER RICHTER PEYER Würden Sie bitte beim Konkreten bleiben, Herr Shmilewitz. Pardon.

SELIG SHMILEWITZ (HEBRÄISCH) (ON/OFF) (Aber Sie wollten doch hören, aus welchem Grund Murer so was getan hat...)

Rosa und ihr Kollege Nowak blicken sich an. Sie wundern sich über Peyer.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Uns interessieren hier nur konkrete Ereignisse, nicht Meinungen, Herr Selig Shmilewitz.

Nowak flüstert Rosa ins Ohr.

Rosa nickt, doch ihre Aufmerksamkeit bleibt bei der Aussage von Selig.

SELIG SHMILEWITZ (HEBRÄISCH) (ON/OFF) (... das Mädchen war 16 oder 17, und es hat ein Stück Brot versteckt. Sie hat so gezittert, so... vor Angst, und der Murer hat sie gleich wegbringen lassen. Man hat sie zur Polizeistube gebracht, und man hat dann gleich einen Schuss gehört...)

38 Schnitt auf den kleinen Murerbuben, der eine Grimasse schneidet. Sein Bruder, der mittlere Murerbub (16) muss einen Lachanfall unterdrücken. Als er merkt, dass der Schuldirektor Friedrich sie beobachtet, werden sie auf der Stelle wieder ernst.

SELIG SHMILEWITZ (HEBRÄISCH) (ON/OFF) (Natürlich habe ich es nicht gesehen, aber gehört.)

Staatsanwalt Schuhmann blickt auf seine Uhr. Unruhe steigt in ihm auf.

HERMANN RUBINOFF (JIDDISCH) (ON/OFF) (… wir laufen, was wir können, wir haben ja beide keinen gelben Schein. Da fällt ein Schuss, ich sehe wie der andere, der nicht so schnell war wie ich, hinfällt. Ich stürze um die Ecke in einen Hauseingang, verstecke mich auf dem Dachboden. Am nächsten Tag hat man mir erzählt, dass der andere, ein junger Schuster von 25 Jahr‘, vom Murer in den Kopf getroffen worden war und gleich tot war. ) …mir lojfen, asoj gich wi mir kenen. Mir hobn bejde nit kejn gelen schejn. Do is a schoss. Ich se wi jener , er hot nit kenen asoj gich lojfen, fallt arup. Ich lojf iber di ek in a hojs un bahalte sich in bojdem. Zumorgens hot men mir derzejlt as jener, a junger schuster fon finef un zwanzig jor, is geschossen fon Murer ich kop un is bald tojt gewen.

Der Kunstmaler Franz ist der erste, der gähnen muss. Müdigkeit, Überforderung. Ihm ist diese Reaktion sichtlich peinlich.

STAATSANWALT SCHUHMANN Angesichts der fortgeschrittenen Stunde möchte ich den Antrag stellen, die nächsten Zeugen nach der Pause zu vernehmen.

VORSITZENDER PEYER Angesichts der fortschreitenden Verzögerungen sollten wir die nächsten Zeugen noch anhören.

Rosa blickt Nowak an. Schuhmann ist sichtlich erstaunt.

39 SELIG SHMILEWITZ (HEBÄISCH) (ON/OFF) (… am Ghettotor im Winter 1942... Eine Frau, die wahrscheinlich was versteckt hat, versuchte an der Kontrolle vorbei zu kommen. Doch der Murer sagt: „Halt“. Die Frau bekommt Panik und läuft weg. Der Murer erschießt sie in den Kopf, ohne mit der Wimper zu zucken, dreht er sich um und sagt zur Polizei: Wegschaffen!...) …leben tojr fon getto in winter nanzehn-zwejunferzig… a froj wos misstame hot bahalten epes, hot gepruvt durchgejen di kontrol. Ober Murer sogt: Halt! Di froj lojft awek in panik. Der Murer derschiest si sstam asoj in kop, drejt sich arum un sogt der polizej: „Awekschaffen“!

Die Übersetzerin weint. Sie ärgert sich über ihre Unprofessionalität.

VORSITZENDER PEYER wirft ihr einen strafenden Blick zu. Schuhmann blickt auffordernd zu Peyer, der bleibt eisern.

VORSITZENDER PEYER Den nächsten Zeugen bitte.

Böck lehnt sich demonstrativ gemütlich genießend zurück.

23A. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Der Gähnvirus breitet sich unter den Geschworenen aus. Sogar Rosas Augen werden schwer, doch sie schüttelt sich kurz und ist wieder präsent. Ihr Blick fällt auf den es sich bequem machenden Böck und auf Schuhmann, der immer nervöser wird.

TOVA RAJZMAN (JIDDISCH) (ON/OFF) (… und dann sehen wir, wie ein Auto auf uns zukommt. Wir sehen, dass der Murer persönlich am Steuer sitzt. Der Murer springt aus dem Wagen und schlägt im Zorn auf den Kolonnenführer ein: „Schweinerei!“ Der schaut ihn verwundert an. Da stellt sich heraus, dass der Murer eine Jüdin beobachtet hat, die eine Polin am Weg angesprochen hat. ) Der Kolonnenführer sagt: “Die Frau hat doch nur um Brot für ihre Kinder gebettelt”. Murer kriegt einen hochroten Kopf und die Frau muss heraustreten und sich hinstellen vor ihn.)

… un dann sehen mir, wi a wugen kummt. Mir sehen as der Murer sitzt am volant. Der Murer springt arojs fun dem wugen un schmejsst zorndik dem kolonnenfirer : „Schweinerei“! jener kukt stojnent. Es kummt arois, as

40 der Murer hot gesehn a Jiddene wus hot sich gewendt zi a polische oifn weg. (JIDDISCH _muß übersetzt werden!)

Journalist Krone und Journalist Tagespost sehen sich verwundert an. Richter Peyer sitzt unberührt wie ein Fels da. Auch die beiden anderen Richter werden langsam nervös.

TOVA RAJZMAN (JIDDISCH) (ON/OFF) (Murer schreit den Gruppenführer an, „Ihr Juden seid alles Spekulanten und wollt nicht arbeiten, nur handeln.“) (… und wenn das nochmals vorkommt, werde ich die ganze Kolonne mit dieser Pistole hier erschießen.)

Murer schrejt oif dem kolonnenfirer. „Ihr Jiden sejt alle spekulanten un willt nit arbeiten, nor handlen“.

(JIDDISCH MUSS NOCH BERSETZT WERDEN)) (ON/OFF)

Julius starrt auf die Zeugen, blickt ablehnend auf Franz Murer, der etwas gelangweilt vor sich hinstarrt und so tut, als würde ihn die Sache nicht betreffen. Er wirkt ein wenig rüpelhaft. Böck registriert dies und fordert Murer mit Blicken auf, sich nicht gehen zu lassen, worauf sich dieser zusammenreißt und zur Geschworenenbank blickt. Er trifft auf den Blick der Geschäftsfrau Hertha, die ihm ein Lächeln schenkt.

TOVA RAJZMAN (JIDDISCH) (ON/OFF) (Dann dreht er sich zu der Frau und sagt: „Ich werde dir schon dein Brot geben!“ Und da er erschießt er sie. Einfach so. Panik bricht aus. Da wird er noch wütender und schießt auf uns. Einfach wahllos in die Menge. Vier Tote hat es gegeben. Eine hieß Eva Luna. Die anderen hatten beide den Vornamen Chaja. Die eine hieß Pilowka, die andere war meine kleine Schwester.... Ihr Blut ist über meine Füße geronnen...) Dann drejt er sich zu der froj un sogt: „Ich werd dir schojn geben dejn brojt!“ un er derschiesst sie glat asoj. Panik brecht ojss. Er werd noch mer witent un schiesst sstam asoj oif di mentschen. Sejen gewen fier tojte. Ejne mit dem nomen Eva Luna. Die anderen hoben bejde den erschten nomen Chaja. Eine hot dem zwejten nomen Pilowka, die andere is gewen mejn klejn schwester… ihr 41 blit is geronnen ojf mejn fiess.

23C. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Rosa Segev ist sichtlich erschüttert über die Aussagen und hat Tränen in den Augen. Und da fällt ihr Blick auf die schon etwas weggedämmerte Geschworenenbank. Bei dem hohlwangigen Julius Kloiber bleibt ihr Blick hängen. Hat er tatsächlich Tränen in den Augen? VORSITZENDER PEYER Den nächsten Zeugen bitte...

Kurzes Raunen im Saal. Rosa blickt Peyer erstaunt an. Doch an Peyer prallt dies alles ab. Einige Zuseher schleichen sich aus dem Saal. Schuhmann wird nervös.

Der Gewerkschafter Hubert betrachtet den Zeugen Ariel Koslowski mit empathischem Interesse. Mit einem Mal ist seine Müdigkeit verflogen. Die beiden sind ein ganz ähnlicher Typ.

23D. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

ARIEL KOSLOWSKI (DEUTSCH MIT POLNISCHEM AKZENT) (ON/OFF) (Ich hatte einen Schein als Holzarbeiter. Eines Tags trifft der Murer ein, und ich denke mir, das heißt nichts Gutes. Und dann fangen sie an, die Wilnaer Juden von den anderen zu trennen, und da wusste ich, was es geschlagen hat. Ich habe mich versteckt und konnte alles mitansehen. Man treibt die Wilnaer Juden in eine Baracke.) Ich hob an schejn wi a holzarbeter. A mol kummt der Murer un ich denk sich, dos kenn nit guts sejn. Dann hojben si on zu trennen die Wilner Jiden fon die andere, un demolt hob ich verschtannen wos dos badejt. Ich hob sich bahalten un hob kennen alz sehen. Men trejbt die Wilner Jiden in a barak.

Rosa blickt zu den Geschworenen. Der Kunstmaler Franz ist nun auch von der Geschichte gepackt.

ARIEL KOSLOWSKI (DEUTSCH MIT POLNISCHEM AKZENT) (ON/OFF) (Das Küchenmädchen Rachel Levy, das ich näher kannte, hat versucht, zu entkommen. Der Murer selbst ist ihr nachgelaufen und hat die Rachel an den Haaren gepackt und dann mit einem Genickschuss getötet. Die Leiche haben sie dann in den alten Ziehbrunnen geworfen...) 42 Der Mesner Karl auf der Geschworenenbank kann seinen knurrenden Magen nicht unterdrücken. Schuldbewusst blickt er die anderen an.

ARIEL KOSLOWSKI (DEUTSCH MIT POLNISCHEM AKZENT) (ON/OFF)… DANN HABEN DER MURER UND DIE LITAUISCHEN HELFER HANDGRANATEN IN DIE BARACKEN GEWORFEN. SOWEIT ICH WEISS, HAT NIEMAND ÜBERLEBT. ALLE, DIE WIE ICH NOCH DA SIND, HABEN MEHR ALS EIN WUNDER GEBRAUCHT, UM NOCH AUF DER WELT ZU SEIN. DASS WIR LEBEN IST REINER ZUFALL.

24. GERICHT: KANTINE - FLUR INNEN/TAG

Die Geschworenen auf dem Weg zum Mittagessen in die Kantine. Man will das Gehörte abschütteln und übt sich in Konversation.

KLEINE ANGESTELLTE Ah Sie sind Mesner? Sie sehen gar nicht so aus.

MESNER So? Und wie schaut ein Mesner denn aus?

Der kleine Angestellte ist ratlos. Mesner läßt den kleinen Angestellten stehen.

GEWERKSCHAFTER HUBERT(IRONISCH) Und wer wird unser Spencer Tracy sein?

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Spencer Tracy?

GEWERKSCHAFTER HUBERT Na, die „Die zwölf Geschworenen“.

Der Kunstmaler Franz mischt sich ein...

KUNSTMALER FRANZ Henry Fonda!

43 GEWERKSCHAFTER HUBERT Ah stimmt, die zwei verwechsle ich immer.

KUNSTMALER FRANZ Dabei sehen sich die gar nicht ähnlich....

GEWERKSCHAFTER HUBERT Der eine spielt gerne Pfarrer und der andere Western. Nur welcher, das weiß ich immer nie.

Kamera schwenkt zu einem Gespräch der Geschäftsfrau mit der Bäuerin Maria.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA Wie müssen die Kinder sich fühlen, wenn der eigene Vater so vorgeführt wird...?

Die Bäuerin Maria überlegt kurz, etwas zu erwidern, doch dann nickt sie...

BÄUERIN MARIA Ja, das wird nicht leicht sein...

Geschäftsfrau Hertha sieht Bäuerin Maria spitz an.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA Die eigentliche Frage ist für mich, was soll denn der Herr Murer für einen Grund gehabt haben, sowas zu tun?

Julius Kloiber blickt Hertha böse an. Diese nimmt ihn wahr, aber ignoriert ihn.

BÄUERIN MARIA Glauben Sie, dass da etwas dran ist, dass er so viele wertvolle Sachen und Gold nach Hause geschickt hat, die den Juden gehört haben?

Julius hört den beiden zu.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA (GRIMMIG) Alles nur Neid, weil es die Murers zu etwas gebracht haben. Bei meinem Geschäft hat man auch gesagt. Aber alles mit Vertrag - wir mussten alles bezahlen, damit der Herr Mandelbaum nach Amerika auswandern hat können. Geschenkt hat uns niemand was, oder?

Bäuerin nickt eifrig, doch irgendwie ist sie nicht restlos überzeugt. 44 24A. GERICHT: KANTINE INNEN/TAG

Das Essen wird aufgetragen. Maria ist froh Hertha zu entkommen.

BÄUERIN MARIA Was gibt es denn?

SERVIERHILFE Schweinsbraten mit Knödel.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA (GRINSEND) Na, was würden unsere Mitmenschen mosaischen Glaubens dazu sagen...?

SCHNITT Die Geschworenen sind bereits mitten im Essen - die Atmosphäre hat sich gelockert

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH In Amerika müssen die 12 Geschworenen zu einem einstimmigen Urteil kommen. Und was die dann urteilen - das gilt dann unwiderruflich. Bei uns genügt die einfache Mehrheit.

KUNSTMALER FRANZ Aber wir sind acht! Was ist, wenn es unentschieden ist?

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Stimmgleichheit gilt als Freispruch. Außer die Richter sind nicht einverstanden, dann werden die Geschworenen belehrt, um nochmals zu beraten.

BÜROANGESTELLTER NORBERT Moniturverfahren nennt man das.

KUNSTMALER FRANZ Aber was, wenn wir trotzdem auf das Urteil bestehen?

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Dann können die Richter den Spruch aussetzen und an ein anderes Geschworenengericht übergeben.

KUNSTMALER FRANZ Aha verstehe. Volksurteil mit staatlicher Notbremse.

45 Währenddessen überlagert die kräftige Stimme des Gewerkschafters Hubert dieses Fachgespräch, der den anderen einen Witz erzählt.

GEWERKSCHAFTER HUBERT Sagt der Rabbi zum Pfarrer: „Also, Ihnen kann ich es ja sagen. Einmal hab‘ ich gegen unser Gebot verstoßen und einen Schinken gekostet. Der Pfarrer: Und? Schon gut, gell? Der Rabbi nickt. Da sagt der Pfarrer zum Rabbi. Nun jetzt kann ich es Ihnen auch beichten. Einmal hab‘ ich gegen unser Gebot verstoßen und mit einer Frau geschlafen. Sagt der Rabbi: Und? Is‘ besser als Schinken, gell?

Die Bäuerin und die Geschäftsfrau lachen pikiert, um sich dann über die Zote zu entrüsten. Der Mesner Karl unterdrückt seinen Impuls zu lachen und räuspert sich demonstrativ. Julius Kloiber, der seinen Schweinsbraten nicht anrührt, bleibt ernst und abwesend.

BÄUERIN MARIA Hast leicht keinen Hunger?

JULIUS KLOIBER Doch. doch... Aber Schweinernes vertrage ich nicht. Hab’s mit dem Magen.

Er zerteilt die Knödel und zwingt sich einen Bissen zu nehmen.

JULIUS KLOIBER Wenn Sie wollen....?

BÄUERIN MARIA Servus. Ich bin die Maria. Na, wär‘ ja schad‘, es wegzuwerfen.

JULIUS KLOIBER Julius.

BÄUERIN MARIA Ja, ich kenn deine Oma. Über drei Ecken sind wir sogar verwandt. Irgendwie. Mein Großcousin ist..na ich krieg es nimmer zusammen...

Sie nimmt das Fleisch auf ihren Teller und lächelt Julius an. Dieser reagiert nicht.

46 25. HOTEL: ZIMMER PERL AKIN INNEN/ABEND

Perl Akin sitzt lethargisch am Bett. Sie zittert. Dr. Feigenberg gibt ihr eine Tablette und ein Glas Wasser. Perl reagiert erst verzögert. Frau Feigenberg steht daneben und leidet sichtlich mit.

DR. FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Das wird Sie beruhigen.)

Perl blickt Feigenberg fragend an und begutachtet die Tablette. Man sieht auf ihrem Handgelenk die tätowierte KZ Nummer.

DR. FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Die sind stark. Die nehme ich auch, wenn ich nicht schlafen kann).

Perl schluckt die Tablette apathisch. Frau Feigenberg legt ihren Arm um sie.

FRAU FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Und seit er hier ist schreit er nachts und schlägt er im Schlaf aus.)

Frau Feigenberg zeigt Perl ihren blauen Fleck am Arm. Dr. Feigenberg ist leicht verlegen. Perl zögert kurz bevor sie sich an Frau Feigenberg lehnt. Sie riecht etwas. Im Off dumpfer Baulärm. Es wird gehämmert.

PERL (HEBRÄISCH) (Was ist das?)

FRAU FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Ach, das ist nur Chanel Nummer 5).

Perl denkt bereits wieder an etwas anderes und wiederholt mechanisch

PERL (HEBRÄISCH) (Chanel Nummer 5).

47 26. HOTEL: SPEISESAAL INNEN/ABEND

Schuster und Leon am Tisch, er beginnt sich langsam fürs Abendessen zu füllen. Die Kellnerin kommt an den Tisch. KELLNERIN Was darf ich bringen?

LEON SCHMIGEL Wasser.

KELLNERIN Ein Soda?

LEON SCHMIGEL Nein. Not with gas. Tabwater… Wasser.

Die Kellnerin verzieht tadelnd das Gesicht

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (Sogar beim Wasser kommen die Deutschen nicht ohne Gas aus). Afilu mit wasser kennen die deitschen nit on gas ojskummen.

Ephraim grinst über den Scherz.

27. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/ABEND

Angewidert schiebt Franz Murer ein Päckchen mit Kuchen von sich weg.

ELISABETH MURER Aber Schoko-Nuss-Kuchen von deiner Schwester, den magst du doch. Und der nette Herr Arnold hat auch wieder beide Augen zugedrückt.

Der angesprochene Justizwachbeamte verliert kurz seinen förmlichen Ausdruck und lächelt Frau Murer an.

FRANZ MURER Ich komm‘ mir schon wie Hänsel vor, der gemästet wird, 48 bevor man ihn schlachtet.

ELISABETH MURER Und ich bin dann wohl die Hex‘. Dankeschön!

Doch sie ist nicht ernstlich wütend, sondern nimmt versöhnlich seine Hand. Die Heiterkeit und Leichtigkeit ist gespielt. In Elisabeth Murer brodelt es.

28. HOTEL: SPEISESAAL INNEN/ABEND

Das Essen wird aufgetragen.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Schon komisch, wenn ich auf der Straße gehe und alle reden Deutsch. Da kommt bei mir alles hoch von früher). Schojn umgewejntlech, wenn ich gej ojf der gass un alle reden dejtsch. Do kummt hojch alz fun friher.

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (Im Ghetto hast du doch einen Deutschen kaum zu Gesicht gekriegt). In getto hostu kojm a dejtschen gesehn.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Aber wenn, dann, dann war es meist das Letzte, was du vor deiner Nase gehabt hast). Ober wenn, dann, dann is dos kim’at tomid dos letzte wos du far dejn ponim gesehn host.

Ephraim lächelt Leon versöhnlich an, aber Leon bleibt abweisend. Plötzlich verfinstert sich Leons Blick. Er blickt feindselig zu Dr. Feigenberg.

EPHRAIM SCHUSTER (HEBRÄISCH) (Und wie geht es ihr, Herr Doktor?)

DR. FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Ich habe ihr ein Mittel gegeben. Sie beruhigt sich langsam).

49 EPHRAIM SCHUSTER (HEBRÄISCH) (Sie sprechen kein Jiddisch, Herr Doktor?)

DR. FEIGENBERG (HEBRÄISCH) (Bedaure, bei uns zu Hause sprach man Russisch und Deutsch).

Leon Schmigel steht demonstrativ auf. Ephraim Schuster sieht erstaunt zu Leon und nimmt ihn freundschaftlich am Ärmel. Leon beantwortet Ephraims fragenden Blick.

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) … und ich spreche kein Hebräisch.

DR. FEIGENBERG (ENGLISCH, IRONISCH TADELND) Was ein Fehler ist!

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Gerade Sie sollten nicht von Fehlern sprechen.

Dr. Feigenberg blickt Leon irritiert an. Ephraim versucht Leon zu besänftigen, doch Leon zieht die Hand weg.

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Sie haben meiner Frau ihr Kind abgetrieben.

Dr. Feigenberg wird wütend.

DR. FEIGENBERG (ENGLISCH) Hab‘ ich eine Wahl gehabt? Sag!

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Ihr habt alle nie eine Wahl gehabt! Sie nicht und Jacob Gens auch nicht. Alle habt Ihr uns in den Tod geschickt, weil Ihr keine Wahl gehabt habt. Nur Ihr und Eure Familien, die standen nie auf den Listen!

DR. FEIGENBERG (ENGLISCH) Ich hab mit dem Gens nichts zu tun gehabt. Und zum Schluss haben sie alle abgeholt. Am Ende waren alle 50 gleich…

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Ihr wart „Elite“. Ihr seid nicht zuvor im Ghetto an Hunger krepiert.

EPHRAIM (JIDDISCH ZU LEON) (Und eines sage ich dir schon auch, ich wäre ohne den Jacob Gens nicht da und du auch nicht. Hätte er nicht mit den Deutschen…) Un ejns sog ich dir ojchet, ohn den Jakob Gens bin ich nittu un du ojch nit. Wann er wollt nit mit die dejtschen…

LEON SCHMIGEL (JIDDDISCH) (Ich verdanke denen nur eines, dass sie meine Frau auf die Liste gesetzt haben, weil sie von der Abtreibung krank geworden ist und danach nicht mehr zum Arbeiten getaugt hat.) Ferflichtet bin ich jenen nur ejns, wos sie hoben mejn wejb ojf die liste geton - fardem wos sie is krank geworn fon der abort un hot nit gekennt mer arbeiten.

Leon steht auf und rammt beinahe die Kellnerin mit den Getränken am Tablett. Die österreichischen Gäste tuscheln über „die Fremden“ am Nebentisch. Dr. Feigenberg blickt Leon nach und wirft Ephraim einen Unterstützung suchenden Blick zu, der blickt aber Leon nach.

29. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Julius Kloiber auf der Geschworenenbank sieht aus, als hätte er nicht geschlafen. Er starrt auf Murer, der wiederum so aussieht, als würde ihm das alles nichts ausmachen.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Als nächstes möchte ich die beglaubigte Zeugenaussage von Franz Engelmann verlesen.

SCHNITT

Schuhmann beugt sich nach vorn, um die Wichtigkeit dieser Aussage körperlich zu betonen, während es nun Böck ist, der herumkritzelt und so tut, als sei er anderweitig beschäftigt. Peyer liest eintönig vor.

51 VORSITZENDER RICHTER PEYER In meiner Funktion als Offizier der Wehrmacht…

29A. GERICHTSRAUM BRD INNEN/TAG

Neutrale Große von FRANZ ENGELMANN (60)

FRANZ ENGELMANN … forderte ich im Herbst ‘42 Arbeitskräfte aus Wilna an. Als mir die Arbeiter überstellt wurden, erschrak ich derart über deren körperliche Verfassung, dass ich mich unverzüglich an den Zuständigen wendete. Dies war Franz Murer. Ich forderte ihn auf, höhere Lebensmittellieferungen zu veranlassen. Herr Murer lehnte dies kategorisch ab und erwiderte barsch: „Für Juden habe ich keine Kartoffeln. Wenn einer nicht mehr arbeiten kann, so schießen sie ihn nieder.“

29B. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER RICHTER PEYER (MONOTON LESEND) … so schießen sie ihn nieder.

Franz Murer auf der Anklagebank. Er wirkt nun nervöser, als bei seinen Aussagen zuvor. Er versucht, den Unschuldigen zu mimen, doch man spürt auch die Wut über Engelmanns Aussage.

FRANZ MURER Ich hatte mit Herrn Engelmann nie persönlich zu tun, und ich kann mir gar nicht erklären, wie er so was behaupten kann. Ich kann mir das nur als Verwechslung erklären. Ansonsten müsste ich an eine böswillige Unterstellung glauben. Aus welchen Gründen auch immer. Ich bin jedenfalls auch kein Antisemit.

Rosa lacht lautlos auf und blickt auf die Geschworenenbank, dann auf die drei Richter, dann auf die Journalistenkollegen von Krone und Tagespost. Rosas Körper strafft sich und signalisiert Angriff.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Darf ich dem Hohen Gericht eine Passage aus einem Dokument vorlesen, welches die Aussage von Herrn Engelmann unterstützt. 52 VORSITZENDER RICHTER PEYER Bitte...

STAATSANWALT SCHUHMANN Es handelt sich um ein Merkblatt vom 7.4.1942, betreffend den Einsatz der jüdischen Arbeitskräfte. Ich zitiere: „Der Jude ist unser Feind und der Alleinschuldige am Kriege. Es gibt daher auch keinen Unterschied zwischen Juden und Juden, sie sind alle gleich.“

Rosa blickt interessiert zu Murer, der leicht nervös wird.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Kommt Ihnen diese Aussage bekannt vor?

FRANZ MURER Nein.

STAATSANWALT SCHUHMANN Ist das Ihre Unterschrift?

Verteidiger Böck blickt gespannt hoch, als Franz Murer den Zettel an sich nimmt.

FRANZ MURER Ich habe das Schreiben sicher nicht verfasst. Es ist vom Gebietskommissariat entworfen worden - wahrscheinlich von Hingst persönlich - und ich als Adjutant musste es weisungsgemäß unterzeichnen.

Verteidiger Böck nickt leicht und anerkennend in Murers Richtung und blickt gespannt zum Staatsanwalt. Schuhmann genießt den Moment sichtlich.

STAATSANWALT SCHUHMANN Und wie beurteilen Sie den Inhalt?

FRANZ MURER Das ist nicht meine persönliche Ansicht. Das war die Zeit, damals war Krieg, und wir mussten gehorchen. Alle, die gedient haben, wissen, wovon ich spreche.

Murer blickt Verständnis suchend zur Geschworenenbank. Der einarmige Mesner nickt. Staatsanwalt Schuhmann fixiert Murer angriffslustig.

53 STAATSANWALT SCHUHMANN Und wie denken Sie privat darüber?

FRANZ MURER Es ist sehr bedauerlich, dass man in jener Zeit so über die Dinge dachte.

Staatsanwalt Schuhmann überlegt nachzuhaken, doch dann schweigt er. Rosa ist erstaunt darüber. Der angespannt wirkende Verteidiger Böck lehnt sich breit zurück.

Rosa flüstert aufgebracht Nowak zu.

ROSA SEGEV Unterschreibt er ungesehen alles was man ihm vorlegt. Warum fragt der Schuhmann...

JOURNALIST KRONE Psssst.

Nowak wirft dem Kollegen einen giftigen Blick zu.

SCHNITT

30. GERICHTSSAAL innen/tag

Böck geht in Angriffspose

VERTEIDIGER BÖCK Herr Zeuge Trabski, können Sie mir sagen, welche Farbe die Uniform des Mannes hatte, den Sie als Herrn Murer identifiziert zu haben meinen?

30A. GERICHTSSAAL innen/tag

MONTAGESQUENZ – JUMPCUTS

SHIMON TRABSKI (DEUTSCH MIT AKZENT) Die Farbe? Ich weiß nicht mehr, welche Farbe seine Uniform hatte...

54 VERTEIDIGER BÖCK Ach, das wissen Sie nicht mehr...

SHIMON TRABSKI (JIDDISCH) (Dunkel war sie, dunkelbraun glaube ich…) Tinkel is si gewen, ich mejn tinkelbrojn

VERTEIDIGER BÖCK Dunkelbraun! Die Uniform meines Mandanten war aber hellbraun!

SIMA KINBRENNER (JIDDISCH) (Er hatte eine hellbraune Uniform....) Er hot gehat a hellbrojner mondur.

VERTEIDIGER BÖCK Hellbraun? Und warum, verehrte Frau Kinbrenner, haben Sie in der dem Gericht vorliegenden Aussage vom 15.12.62 von einer grünen Uniform gesprochen?

SCHNITT MURER In Wilna habe ich meist die Uniform der Ordenburg getragen. Diese war braun mit einer roten Hakenkreuzbinde, sowie einen Ärmelstreifen mit der Aufschrift „Krössinsee“.

SCHNITT ISRAEL SZELUBSKI (ON) Warum ist die Frage der Uniform denn von Bedeutung?

VERTEIDIGER BÖCK Das werde ich Ihnen sagen. Wir wollen sicher gehen, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelt, etwa mit der litauischen Polizei, die ganz ähnliche Uniformen hatte. Also welche Farbe?

SCHNITT

Man sieht die drei Richter. Dann den Staatsanwalt, der aufrecht zuhört. Die Wachbeamten, die Murer flankieren. Die Geschworenenbank und die Journalistenbank.

55 ISRAEL SZELUBSKI (OFF/ON) Ich bitte Sie, Herr Anwalt. Das ist über 20 Jahre her. Wer kann sich da noch an solche Details erinnern? Ich weiß ja nicht einmal, welche Farbe mein Anzug hatte, den ich gestern angehabt habe. AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

VERTEIDIGER BÖCK Machen Sie sich über uns lustig? Eine Uniform hat die Eigenschaft, immer dieselbe zu sein und nicht mal braun, grün oder schwarz zu sein. Und ich frage Sie, Herr Zeuge, wenn man sich an Details vor 20 Jahren nicht mehr erinnern kann, wie kann man dann sicher sein, dass es sich um keine Verwechslung in der Person handelt.

Böcks Ton ist gegen Ende schneidend und fordernd geworden, und er blickt Rubinoff schulmeisterlich an. Rubinoff stresst Böcks Verhalten und seine Aussage klingt unsicher.

HERMANN RUBINOFF (JIDDISCH) (… grünlich war sie. Ja da bin ich mir sicher...) Grienlich is gewen. Jo, ich bin sich sicher.

ISRAEL SZELUBSKI (ON) (JIDDISCH) (Schwarz. Wie die von allen SS-lern war sie. Schwarz!) AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

SELIG SHMILEWITZ (JIDDISCH) (Hellbraun, dunkelbraun, was spielt denn das für eine Rolle? Ich weiß nicht mehr... Nach so langer Zeit.) Hellbrojn, tinkelbrojn, wos is do a nafke mine. Ich gedenk nit mer, noch asoj langer zejt.

TOVA RAJZMAN (JIDDISCH) (Hellbraun! Gemäß seinem Dienstgrad, das kann man ja überall nachlesen...) AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

Die Journalisten machen sich Notizen. Die drei Richter beobachten Böcks Performance ungerührt. Der Staatsanwalt verliert kurz seine Maske und man sieht ihm an, wie gespannt er an Böcks Lippen hängt. Rosa blickt zur Geschworenenbank. Böck hat sie in seinem Bann.

VERTEIDIGER BÖCK Wenn man sich an etwas nicht erinnert, kann man es 56 nachlesen. Wieviel kommt vom Hören/Sagen und was ist WIRKLICH erlebt. Das ist die Frage.

Er blickt zuerst zu den Geschorenen, dann fixiert er die Zeugin. Nahe von Tova Rajzman

VERTEIDIGER BÖCK (OFF) Sie haben uns recht eindrücklich von einem Ereignis im Sommer 1943 erzählt. Was sagen Sie, dass mein Mandant im Sommer 1943 gar nicht mehr in Wilna war, dass man ihn längst abberufen hat.

O-Ton wird gekappt. Man arbeitet das Gestische heraus: Die Verzweiflung und Empörung von Perl. Ihr Schreien. Die Hände, die sie zurückhalten. Der Richter, der für Ruhe sorgt. Perl, die unter Tränen der Verzweiflung zusammenbricht. Rosa sieht zu Schuhmann, der nicht reagiert. Seine Zeugin alleine läßt. Stattdessen macht er sachlich seine Notizen. Schließlich ist es die Dolmetscherin, die es nicht mehr aushält und Perl hilft. Kloiber und Rosa.

31. HOTEL: LOBBY INNEN/TAG

Im Speisesaal des Hotels herrscht unter den Zeugen eine bleierne Stimmung. Es gibt einen großen Tisch, an dem die meisten sitzen. Dr. Feigenberg sitzt mit seiner eleganten Ehefrau an einem eigenen kleinen Tisch. Am großen Tisch kommt hingegen kein Gespräch in Gang. Sima Kinnbrenner ist völlig fertig und wird von ihrer Sitznachbarin, Perl, tröstend im Arm gehalten.

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Sag mir, wo sitzt der Murer im Saal.

ISRAEL SZELUBSKI (JIDDISCH) Was willst du das wissen? AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

LEON SCHMIGEL (ENGLISCH) Nur so. Will es wissen, wenn ich aussage.

Er reicht Israel Szelubski einen Stift und eine Serviette. 57 ISRAEL SZELUBSKI (JIDDISCH) Also hier sitzen die Richter. Hier die Geschworenen. Da sind die Zuschauer. AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

Dann macht er ein Kreuz.

ISRAEL SZELUBSKI (JIDDISCH) Und hier sitzt der advocatus diaboli. Und hier in der Mitte, da hockt der Murer. AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

Leon nickt befriedigt und steckt die Serviette sorgfältig gefaltet ein.

32. PARLAMENT INNEN/TAG

Justizminister Broda sieht Bauernbundpräsidenten Wallner in einer Gruppe stehen, will noch die Biege machen. Zu spät. Wallner kommt auf ihn zu.

WALLNER Grüß Gott.

BRODA Guten Tag, Herr Doktor.

WALLNER Haben Sie den Artikel heute in der Arbeiterzeitung gelesen?

Broda nickt. Wallner packt ganz aufgeregt den Artikel aus.

WALLNER Also wenn Ihr Journalist da noch länger auf der ÖVP Mitgliedschaft vom Murer herumreitet, dann müssen wir uns mal über die braune Vergangenheit von eurem Staatssekretär Rösch äußern... Wir waren uns doch einig, aus diesem Fall kein politisches Kapital zu schlagen.

58 Wallner will Broda die Zeitung reichen, doch Broda hält die Hand zurück. Man sieht die Headline: „Massenmörder ist „lieber Freund“ des ÖVP Führers“

BRODA Die Redaktion der AZ ist unabhängig.

Wallner sieht Broda an, als ob der ihn wohl für einen vollkommenen Idiot halten würde. Broda antwortet ohne emotionale Regung.

BRODA Das einzige was ich tun kann, ist mit dem betreffenden Journalisten das Gespräch suchen...

Wallner triumphiert kurz und setzt nach.

WALLNER Gewisse Dinge aus der Vergangenheit lässt man besser dort, nicht wahr Herr Minister? Wer im Glashaus sitzt... Gell?

Brodas Miene wird finster, unter seiner distinguierten Maske funkelt kurz Wut auf.

33. HOTEL: SPEISESAAL INNEN/ABEND

Die Suppe wird ausgeschenkt.

EPHRAIM SCHUSTER Ist die Suppe koscher?

Die junge Kellnerin lächelt stolz.

KELLNERIN Da ist kein Schweinefleisch drinnen. Da haben wir darauf geschaut.

EPHRAIM SCHUSTER Aber ob sie koscher ist...?

Die Kellnerin sieht Ephraim fragend an.

59 HERMANN RUBINOFF (JIDDISCH) (...wo sollen die einen Schojchet zum Schächten herhaben? Graz ist doch die erste judenfreie Stadt in Österreich gewesen...) … fon wannen sollen sej hoben a schojchet far schachten? Graz is gewen die ershte stot wos is gewen Judenrein in Estreich.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Eine Frechheit, dass man nicht einmal koscheres Essen bereitstellt. Und dann legen sie in den Zimmern Bibeln auf. Aber nur das Neue Testament.) AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

SELIG SHMILEWITZ (JIDDISCH) (Ach weißt du. Soll dir was Schlimmeres passieren. Iss‘ einfach.) AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Dass euch Säkularen das egal ist, weiß ich). AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

34. HOTEL: LOBBY INNEN/ABEND

Nowak korrigiert seinen Artikel, neben ihm Rosa, die auf ihrer Schreibmaschine tippt. Als sie das Geschriebene durchliest, wird sie auf einen sich im Off anhebenden Gesang aufmerksam. Sie folgt dem Lied zum Speisesaal und blickt unauffällig hinein.

35. HOTEL: SPEISESAAL INNEN/ABEND

Tova Rajzman und einige andere singen ein jiddisches Lied. Um ihn herum hört man zu. Am unteren Ende des Tisches nicht. Die Suppenteller sind geleert. Einige sind dabei, mit Brot die Teller leer zu machen. Als Ephraim bemerkt, dass sein Sitznachbar Selig Shmilewitz Brot in seine Tasche verschwinden lässt, muss er lachen.

60 EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Hast du das noch nicht abgelegt?) Host du mit dem noch nit ojfgehert?

Der ertappte Selig muss auflachen.

SELIG SHMILEWITZ (Ganz schlimm. Unter meinem Bett habe ich Brot versteckt. Nachts, wenn ich aufwache, dann muss ich darunter greifen und schauen, ob was zum Essen da ist. Sonst kann ich nicht weiterschlafen.) Noch schreklecher. Unter mejn bett hob ich brojt farschteckt. Bej nacht, wann ich ojfwach, muss ich untapen un kiken ojb es ist du epes zum essen. Andersch kenn ich nit wieder schlufen.

Perl, die bis jetzt ganz lethargisch daneben saß, muss auflachen.

PERL AKIN (JIDDISCH) (Ja, das habe ich auch gehabt. Aber meine Tochter hat es verboten, weil es die Mäuse angelockt hat). Jo, dos is bej mir ojch asoj gewen. Ober mejn mischpoche hot dos nit zigelosst, far dem as dos zieht arejn die mojs.

SIMA KINBRENNER (JIDDISCH) (Ich kann auch kein Essen wegwerfen. Egal wie verdorben es ist. Mir zittern die Hände, wenn ich es wegschmeißen muss). Ich kenn ojch nit kejn essen arojswarfen, afilu es is schojn fardorben. Mejne hend zittern, as ich muss es awekwerfen.

Sie macht das gestisch nach. Und plötzlich kommt am Tisch eine heitere, gelöste Stimmung auf.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Und ich rauch jede Zigarette bis mir die Glut auf den Fingern brennt. Und wenn ich einen Stummel auf der Straße liegen seh‘, hab ich immer den Impuls ihn aufzuheben. Aber zum Glück, dem kann ich widerstehen, mittlerweile). Un ich muss rojchen jeder zigarett bis dos esch brennt ojf die finger. Un as ich seh auf der gass an ek fun a zigarett 61 spir ich immer an impuls ihm ojfzuhejben. Ober, mejn masel, derwejl kenn ich dos ojshalten.

36. HOTEL: LOBBY

INNEN/ABENDRosa hört den Singenden zu. Das Lied berührt sie. Zwei Männer drängen sich an Rosa vorbei. Der eine eher schmächtig und unsicher, HEINZ LACKNER (50), der andere ist RICHARD HOCHREINER.

Er drängt sich an Rosa vorbei.

37. HOTEL: SPEISESAAL INNEN/ABEND

Tova hört zu singen auf, als er Lackner sieht. Tova wird blass und beugt sich zu der sie fragend anblickenden Sima.

TOVA RAJZMAN (HEBRÄISCH) (Das ist der Heinz Lackner, der Assistent vom Murer).

Sima wirft das Besteck hin. Sie kocht innerlich. Ephraim und Israel Szelubski gehen auf Heinz Lackner und Richard Hochreiner zu, die am Tisch Platz nehmen wollen

ISRAEL SZELUBSKI (DEUTSCH MIT AKZENT) Sie werden sich hier nicht hinsetzen!

HEINZ LACKNER Erlauben Sie bitte!

Israel Szelubski ist hin- und hergerissen - will zuerst auf sein Recht pochen, doch als er die aufgebrachten Blicke vom Nebentisch sieht, blickt er hilfesuchend zur Kellnerin, die auch gleich herbeieilt.

KELLNERIN Aber meine Herrschaften.

ISRAEL SZELUBSKI (DEUTSCH MIT AKZENT) Wir werden nicht mit diesem Herren, dem Assistenten vom Massenmörder Murer, in einem Raum essen. 62 KELLNERIN Aber der Herr ist genau wie Sie vom Gericht als Zeuge hier einquartiert worden

Lackner ist verunsichert, fast ängstlich. Die anderen Hotelgäste beobachten das Geschehen argwöhnisch. Ein älterer Mann will aufstehen und Lackner beistehen, doch seine Frau, die den Skandal fürchtet, hält ihn zurück.

LACKNER Schon gut. Wir werde woanders essen.

38. HOTEL: LOBBY INNEN/ABEND

Hinter Rosa steht Nowak.

NOWAK (FLÜSTERND) Und der neben dem Lackner das ist der „Werwolf“ Hochreiner. Der saubere Herr hat noch nach Kriegsende ungarische Juden erschossen. Der ist auch gerade in einem Verfahren freigesprochen worden.

Rosa Segev heftet sich an Heinz Lackner.

ROSA SEGEV Rosa Segev New York Times. Herr Lackner, was sagen Sie zum Prozeß gegen Ihren ehemaligen Vorgesetzen?

38.A VOR DEM HOTEL AUSSEN/ABEND

Hochreiner und Lackner gehen schnellen Schritts.

HEINZ LACKNER Kein Kommentar.

ROSA SEGEV Aber bitte...Fürchten Sie selbst angeklagt zu werden?

Heinz Lackner flüchtet.

63 ROSA SEGEV Herr Hochreiner is Herr Murer...gulity..äh schudlig...?

RICHARD HOCHREINER Mit der amerikanischen Lügenpresse spreche ich nicht.

Er stößt Rosa wegt. Sie gibt auf und dreht sich um.

Sie sieht einen jungen Mann mit Koffer das Hotel betreten. Er blickt nicht in ihre Richtung, doch sie erkennt ihn : Es ist Jacob Kagan (Rosa hat ihn am Filmbeginn bei Wiesenthal getroffen).

38 C) HOTEL LOBBY INNEN/ABEND

Jacob erkennt Ephraim Schuster, der aus dem Speisesaal in die Lobby kommt.

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Na wenn das nicht der Ephraim Schuster ist. Der Schuster, der ein Schneider ist). Na, is dos nit der Ephraim Schuster. Der Schuster wos is a schnader.

Ephraim Schuster muss grinsen, doch er blickt Jacob fragend an.

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Ich bin’s, der Jacob, der Sohn vom Schlomo Kagan). Ich bin es, der Jakob, der sun fun Schlojme Kagan.

Ephraim Schuster überlegt kurz, dann strahlt er übers ganze Gesicht.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Der Jacob, der frechste Lauser mit der größten Gosch‘n von der ganzen Gasse..). Der Jakob, der chuzpediker wilder jingel, wos hot dem gressten pisk in der gass.

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Ja und der Schneider Schuster, der immer zu langsam ist, um mir eine zu schmieren). 64 Jo, un der schnajder-schuster wos ist gewen kesejder zi langsam mir geben a patsch.

Ephraim holt aus, doch Jacob duckt sich und hebt stattdessen Ephraim hoch.

EPHRAIM SCHUSTER (JIDDISCH) (Und ich dacht‘, du bist tot). Un ich hob gedenkt as du bist tojt.

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Danke gleichfalls). A dank, dir ojch.

Sie umarmen sich herzlich, da fällt ihr Blick auf Leon, der die beiden schon eine Weile beobachtet.

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (Darf ich fragen, wie alt du bist?) Meg ich fregen, wie alt du bist?

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Siebenunddreißig...Warum?) Siebenundrassig. Farwos?

Als Leon dies hört, da verändert sich seine Miene.

LEON SCHMIGEL (JIDDISCH) (37? Wie mein Sohn. Den Avi Schmigel, der muss doch mit dir in die Schule gegangen sein, wenn du da bei uns gewohnt hast...) Siebenundrassig? Asoj wie mejn son, der Avi Schmigel. Hot gedarft mit dir in schul gewen, wi du bei ins host gewojnt.

Jacob durchforstet sein Gedächtnis - doch es kommt keine Erinnerung.

JACOB KAGAN (JIDDISCH) (Leider. Ich kann mich an zwei Avis erinnern, aber an keinen Schmigel Avi. Leider.) Badojere. Ich gedenk zwej Avis, nor nit kein Avi Schmigel. Badejere.

65 Da fällt den beiden Rosa auf, die wohl schon eine Weile unbemerkt zugehört hat. Jacob lacht Rosa an.

JACOB (JIDDISCH) Hab ihren Artikel gelesen im Zug. Da hab ich gedacht. Junge, die kann aber schreiben. AUF JIDDISCH ZU ÜBERSETZEN

ROSA (ENGLISCH) Ich bereue es so, dass mein Vater mir kein Jiddisch beigebracht hat.

LEON (ENGLISCH) You are a journalist?

JACOB (ENGLISH) Not a journalist. The journalist of the New York Times.

Das macht sichtlich auch Eindruck auf Leon. Rosa versucht das Kompliment möglichst cool entgegen zu nehmen.

LEON I have a great story! Exclusively for you. Real spectacular. Believe me. Interested?

ROSA That´s my job. Tomorrow after Dinner?

Leon nickt.

39. BAR INNEN/NACHT

Rosa hat einen Stapel österreichischer und deutscher Zeitungen und macht sich Notizen. Zuoberst liegt der Originalartikel der AZ aufgeschlagen. „Massenmörder ist „lieber Freund“ des ÖVP Führers“ Rosa Segev legt die Zeitungen weg und während sie auf ihrem Zettel eine Notiz macht, stürzt sie ein Glas Whiskey hinunter. Man merkt an ihrem verzogenen Gesicht den ungewohnten Vorgang. Nowak betrachtet Rosa amüsiert.

NOWAK Dafür, dass Sie sonst nie trinken...

66 Rosa etwas arrogant ignoriert Nowak und wendet sich dem BARKEEPER zu.

ROSA Noch so einen!

JACOB (OFF) A good jew doesn´t drink.

ROSA Who the fuck says that I am a good jew?

Jacob grinst.

JACOB I do! (zum Barkeeper) A double whiskey for me.

Rosa grinst.

ROSA This is Mr. Nowak, reporter of the „Arbeiterzeitung“. Relax. He is one of the good guys.

NOWAK (GRINSEND) Who the fuck says that I am a good guy?

ROSA I do! (zu Jacob) His father was killed in Mauthausen.

JACOB Jewish?

NOWAK Communist.

Einen Moment huscht Skepsis über Jacobs Gesicht. Nowak und Jacob schütteln sich die Hände.

Nowak nimmt aus seiner Tasche einen Zettel und reicht ihn Rosa.

JOURNALIST NOWAK Damit euch richtig schlecht wird. Hier die aktuelle APA

67 Meldung.

Nowak stürzt seinen Schnaps hinunter und blickt in Rosas entsetztes Gesicht.

ROSA SEGEV Angebliche Gräueltaten …. mosaische Zeugen? Das ist die offizielle Agenturmeldung?

JOURNALIST NOWAK Die APA hat unseren Kollegen vom „Südost Tagespost“ beauftragt. Das ist der eine, der immer Stürmerkarikaturen zeichnet. Ein tief schwarzes Blatt.

ROSA Tief schwarz?

JACOB Rechts, sehr rechts.

Rosa und Nowak blicken Jacob überrascht an.

ROSA Du sprichst Deutsch?

JACOB I could speak German. But I don´t do it.

Rosa unterdrückt einen Kommentar und wendet sich wieder Nowak zu.

NOWAK Ich hab recherchiert, der werte Kollege war ein Illegaler, NSDAP Mitglied seit 35. Gründungsmitglied der VDU.

ROSA Aha! Und was ist mit dem Richter? Hast Du was über diesen Peyer heraus bekommen...

Nowak schüttelt enttäuscht den Kopf.

JACOB Na, vielleicht kann ich da mal meine Kanäle aktivieren?

Rosa und Nowak sehen Jacob erstaunt an. 68 Jacob grinst und prostet den beiden zu.

40. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Rosa wendet ihren Blick zu Jacob Kagan im Zeugenstand. Rosa blickt auf die drei Richter. Die Sonne blendet. Nowak reicht ihr selbstverständlich seine verspiegelte Sonnenbrille. Als Rosa sie aufsetzt, sieht man den sich spiegelnden Gerichtssaal. Die Übersetzerin am Richtertisch, die vom Hebräischen ins Deutsche, übersetzt. Sie ist nicht nur fachlich gut, sondern in dem sich entspinnenden „Dialog“ aus Hebräisch und Deutsch merkt man, dass die Übersetzerin emotional Anteil nimmt.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) (Am schlimmsten waren die Winter. Und 1942 war er bitterkalt. Mit 125 Gramm Brot am Tag kannst Du nicht überleben. Du hast ständig Hunger. Alles dreht sich nur um einen Gedanken: woher bekommst Du etwas zu essen. Jeder harmlose Schnupfen wird zur Lungenentzündung… Aber systematisch töten war ja die Absicht der „Herrenmenschen“.)

Die Übersetzerin stockt kurz bei dem deutschen Wort „Herrenmenschen“.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte Herrn Kagan konkrete Angaben zum Sachverhalt, den Angeklagten betreffend, zu machen und nicht abzuschweifen.

Die Übersetzerin setzt an.

JACOB KAGAN (DEUTSCH) Ich habe verstanden. (Ich schweife nicht ab, aber man muss verstehen, dass man schmuggeln musste, um zu überleben.)

VORSITZENDER RICHTER PEYER Fahren Sie bitte fort.

69 Staatsanwalt Schuhmann blickt zuversichtlich, denn Jacob vertritt die Sache überzeugend. Während es nun Böck ist, der „beiläufig“ Papiere ordnet.

JACOB KAGAN (DEUTSCH) (BITTER IRONISCH) Danke, Herr Richter. (ER SETZT IM HEBRÄISCHEN FORT) (Ich komme also mit meinem Vater zum Tor, und da sehe ich ihn stehen).

Jacob deutet auf den Angeklagten. Hält die Hand so lange erhoben, bis die Übersetzerin fertig ist.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) Wenn Murer oder Weiss im Ghetto auftauchten, dann herrschte Todesangst. Unter den „Herrenmenschen“ gab es solche und solche. Und Murer gehörte zu denen, die Spaß hatten am Töten.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte Herrn Kagan erneut, allgemeine Aussagen zu unterlassen.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) (Ich sehe also Murer und werfe sofort das Brennholz weg. Ich sag‘ zu meinen Vater: „Lass‘ das Fleisch liegen, dort ist der Murer und der bringt uns um, wenn er es findet.“ Darauf er: „Es wird schon alles gut gehen, Jacob“).

Jacob stockt. Jacobs Augen füllen sich mit Tränen.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) (Die vor uns kommen ohne Kontrolle durchs Tor. Da höre ich Murers Stimme: „Heraustreten!“)

70 SCHNITT.

40A. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

ZEITSPRUNG Im Zeugenstand steht nun BARRY BASS (40)

BARRY BASS (Englisch) („Heraustreten“ Ich bin gerade durch die Kontrolle und gehe weiter. Erst nach einer Weile wage ich mich umzudrehen, damit man nicht auf mich aufmerksam wird. Ich sehe, wie der alte Kagan aus der Reihe tritt und dann plötzlich losläuft. Ich habe noch nie jemanden so schnell laufen sehen. Ich sehe, wie Murer seine Pistole zückt.) „Heraustreten“. I just passed the check point and am going on. Only after a while I dare to look back, so as not to call anyone’s attention. I see old Kagan stepping out of the column and then suddenly start running. I haven’t ever seen anybody running as fast as him. I see Murer pull out his revolver.

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) Mein Vater läuft so schnell wie er kann, doch er kommt nicht weit. Murer schießt ohne Vorwarnung. Mein Vater stürzt.

SCHNITT. ZEITSPRUNG

BARRY BASS (ENGLISCH) (Ich werfe mich zu Boden, denn ich habe Angst. Und dann sehe ich, wie Kagans Sohn zu seinem Vater hinlaufen will. Zum Glück hält ihn jemand fest. Sonst hätte Murer ihn auch erschossen). I throw myself on the floor. I am afraid. And then I see that Kagan’s son wants to run to his father. Fortunately someone held him back. Otherwise Murer would have shot him also.

71 JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) (Ich will zu ihm hin, aber man hält mich. Ich sehe meinen Vater daliegen im Schnee. Blut. Mein Vater zuckt noch, aber ich kann nicht zu ihm. Murer sagt: Wegbringen!“)

SCHNITT

BARRY BASS (ENGLISCH) (Am nächsten Tag hörte ich, dass der alte Kagan verstorben ist.) On the next day I heard that old Kagan died.

SCHNITT

JACOB KAGAN (HEBRÄISCH) (Murers Kugel hat sein Herz gestreift. Zwei Stunden später war er tot.)

Jacob kämpft gegen die Tränen an. Schuhmann blickt siegesgewiss zu Böck, der sein Unbehagen nicht verbergen kann. Die drei Richter lassen sich nichts anmerken, wirken steinern und emotionslos. Da schlägt Jacobs Trauer in Wut um. Er streckt die Hand zu Murer aus und schreit.

JACOB KAGAN (DEUTSCH) Ich fordere die Todesstrafe für diesen Mann! Für den Mörder meines Vaters!

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte Sie, sich zu beruhigen und nebenbei: die Todesstrafe ist in Österreich abgeschafft.

RICHTER 1 Im Standesrecht gibt es sie schon noch...

Vorsitzender Peyer sieht genervt zu seinem Kollegen.

72 Richter Peyer genießt sein ironisches „Bonmont“. Richter 1 schmunzelt Richter zwei zu. Rosa wirft Peyer einen wütenden Blick zu, dann sieht sie das versteinerte Gesicht Murers, der sich voll unter Kontrolle hat. Den Murerkindern ist das Scherzen vergangen.

SCHNITT Der eloquente Verteidiger Böck wirkt nervös und fahrig.

JACOB KAGAN (DEUTSCH) (OFF)MURERS UNIFORM WAR HELLBRAUN. MIT EINER HAKENKREUZBINDE.

Böck gefällt diese richtige Antwort gar nicht. Um sich eine Pause zu verschaffen, kramt er in seinen Akten.

VERTEIDIGER BÖCK Dem Gericht liegen Unterlagen zu einem Fall vor, nachdem der verurteilte Martin Weiss…

JACOB KAGAN (DEUTSCH)„ICH KENNE DEN WEISS…”

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich möchte Herrn Kagan bitten, nicht zu unterbrechen.

VERTEIDIGER BÖCK Danke. Martin Weiss, der eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, wurde wegen eines Delikts verurteilt, das sich 1942 am Ghettotor abspielte. Da wurde ein Mann bei der Flucht erschossen.

JACOB KAGAN (DEUTSCH) (Ich bin sowohl Murer als auch dem Weiss begegnet. Sie sehen sich ja nicht mal ähnlich. Glauben Sie, Herr Anwalt, ein Sohn kann das Gesicht des Mannes vergessen, der den Vater vor seinen Augen tötet? Aus Hunderttausenden würde ich den da erkennen.)

Jacob blickt zu Murer. Böck versucht, seine Ratlosigkeit mit einem Lächeln zu verdecken. Murers Maske beginnt zu bröckeln. Nowak macht Rosa auf einen Mann aufmerksam, der zur Tür hereinschleicht. 73 NOWAK (FLÜSTERND) Da schau an: unser „Werwolf“ Hochreiner.

Die Kamera isoliert Richard Hochreiner, der sich abseits hinsetzt.. Murer dreht sich um. Die Blicke der beiden treffen sich. Die beiden erkennen sich. Da bemerkt Hochreiner, dass er auch von dem Geschworenen Julius Kloiber angestarrt wird. Auch die beiden scheinen sich zu kennen. Hochreiner lächelt Kloiber an, dieser schlägt die Augen nieder und wirkt nun, als habe er ein Gespenst gesehen. Kloiber fängt zu zittern an. Äußerste Anspannung. Das bemerkt auch die Bäuerin Maria, die ihn verwundert und besorgt anblickt.

FRANZ MURER (OFF) Wie ich schon mehrfach betont habe, ist die Kontrolle am Tor nicht in mein Ressort gefallen. SCHNITT

40B GERICHTSSAAL GESTRICHEN

40C. GERICHTSSAAL

Franz Murer im Zeugenstand

Franz Murer (ON) Ich habe nie jemanden erschossen oder geschlagen. Ich habe mit Polizeiaufgaben nichts zu tun gehabt. Nie!

VORSITZENDER RICHTER PEYER Also, Sie bleiben dabei, dass es sich bei dem Bericht um eine Verwechslung handeln muss?

FRANZ MURER Ja. Dabei bleibe ich. Weil es die Wahrheit ist.

Der Gewerkschafter Karl und der Kunstmaler Franz schauen sich auf der Geschworenenbank an. Ihr Blick verrät, dass sie Murer nicht glauben.

74 Verteidiger Böck tritt nun mit besonders großem Elan auf.

VERTEIDIGER BÖCK Wir haben hier in den letzten Tagen mehrfach von Übergriffen von Deutschen auf die Bevölkerung gehört. Gab es auch umgekehrte Fälle?

FRANZ MURER Die gab es. Also im Jänner 42 gab es sogar einen bewaffneten Aufstand im Ghetto. Kommunistische Partisanen. Aber sie fanden keine große Unterstützung. Es gab zahlreiche Verhaftungen. Die jüdischen Partisanen haben sich dann der Roten Armee angeschlossen.

VERTEIDIGER BÖCK Man kann also nicht alle Wilnaer als harmlos und friedfertig bezeichnen.

Mesner Karl richtet sich auf und nickt Böck unbewusst zustimmend zu.

FRANZ MURER Nein. Schon 1941 hat es vor dem Pankino in Wilna einen Angriff von Juden auf Deutsche gegeben. Aus dem Hinterhalt wurde da geschossen.

PUBLIKUMZWISCHENRUFER Darauf habt ihr fünftausend von uns in Ponary erschossen. FÜNFTAUSEND! IHR SCHWEINE!

Die Übersetzerin will übersetzen. Peyer stoppt sie.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Bitte entfernen Sie diesen Mann.

Der Polizist steht auf und sucht den Zwischenrufer. Das Publikum hilft ihm den Zwischenrufer ausfindig zu machen. Der Zwischenrufer geht widerstandslos mit.

VERTEIDIGER BÖCK Also, Herr Murer. Kann man sagen, dass die Kontrollen auch für die Sicherheit im Ghetto notwendig waren?

Staatsanwalt Schuhmann blickt gespannt zu Verteidiger Böck.

75 FRANZ MURER Ja. Wenn jemand wegläuft, dann hat er was zu verbergen. Ob Fleisch oder eine Waffe. Das kann so ein Wachhabender doch nicht wissen. Und da kann man schon mal im… wie sagt man… Reflex… handeln.

STAATSANTWALT SCHUHMANN Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass die Erschießungen am Ghettotor Akte der Notwehr waren!?

Böck sieht Schuhmann erstaunt und nicht ohne Bewunderung an. Böck blickt zu Murer. Murer ist kurz davor die Fassung zu verlieren, aber Böcks strenger Blick ruft ihn zur Räson.

FRANZ MURER (NERVÖS RÄUSPERND) Wie gesagt. Polizeiaufgaben waren nicht mein Ressort… Ich…

ROSA (FLÜSTERND ZU NOWAK) Warum setzt er nicht nach? So eine Flasche!

Schuhmann sitzt stoisch über seine Akten gebeugt da.

41. BAR INNEN/TAG

Rosa und Nowak trinken Cafe und Nowak ißt noch schnell ein Sandwich. Plötzlich knallt ein Kuvert auf den Bartisch. Die beiden blicken erstaunt in das Gesicht von Jacob.

JACOB Richter Peyer war NSDAP Mitglied. Hatte im letzten Kriegsjahr noch Todesurteile an Deserteure verhängt. Nach 45 erst mal Berufsverbot. Wie das getrickst wurde, dass er wieder eingestellt wurde, ist ein Krimi für sich...

Nowak und Rosa stürzen sich auf die Dokumente.

ROSA It seems your German came back. 76 Rosa und er sehen sich ironisch an. Rosa umarmt Jacob und blickt ihn tief an.

ROSA You were great in court. Really!

JACOB (BEILÄUFIG) I just told my story. It was my duty to tell it.

42. KIRCHE INNEN/TAG

Die dunkle Kirche ist fast leer. Warmes Sonnenuntergangslicht. Bäuerin Maria beim Rosenkranz betend. Sie ist innig versunken. Da fällt ihr Blick auf einen Mann in der Bank neben sich. Sie muß zweimal hingucken, denn zu ihrer Verwunderung sieht sie Julius Kloiber, der völlig fertig aussieht. Sie grüßt ihn mit einem Nicken, doch er reagiert nicht. Als sie gehen will sieht er sie an. Dieser Ausdruck erschreckt sie. Sie überlegt kurz bevor sie sich neben ihn setzt.

BÄUERIN MARIA Gell, manchmal, da hilft nur mehr beten!

JULIUS KLOIBER Wenn ich noch beten könnt´.

BÄURIN MARIA Beten hilft immer. Der Hergott kann alles verstehen, alles verzeihen.

JULIUS KLOIBER Auch einem Mörder…?

Bäuerin Maria blickt Julius entsetzt an. Dieser sieht nun wiederum Maria an und hat tiefe Verzweiflung im Blick. Julius beantwortet nach einer Weile ihren fragenden Blick.

JULIUS KLOIBER ... bei Kriegsende. Ich bin ein Werwolf gewesen.

Die Bäuerin Maria blickt erschrocken hoch.

77 JULIUS KLOIBER 17 war ich, und ein deutscher Held wollt ich sein…

BÄUERIN MARIA Ich verstehe...

JULIUS KLOIBER (BESTIMMT) Nein, ich glaube nicht, dass du mich verstehst. Denn man hat mich abkommandiert, um Leute zu erschießen.

BÄUERIN MARIA … Ja…

JULIUS KLOIBER Und zuerst habe ich gedacht, das sind nur Feinde. Aber als sie da gestanden sind, da...

Julius Kloiber stockt. Er zittert...

JULIUS KLOIBER Da hab ich gewusst, Julius, wenn du das tust, dann bist du ein Mörder...

BÄUERIN MARIA Nun, wenn du dich geweigert hättest, dann wärst du dran gewesen.

JULIUS KLOIBER Der Ferstl Pauli, der hat gesagt: ich kann das nicht. Feigling, Verräter haben wir ihn beschimpft, gedroht hat man ihm. Nichts ist ihm passiert.

BÄUERIN MARIA Aber sogar der heilige Petrus hat Jesus Christus dreimal verleugnet.

JULIUS KLOIBER Aber der Petrus hat nicht dreimal geschossen, oder? Wenn ich wenigstens bewusst daneben gezielt hätte. Aber ich hab‘ Angst gehabt, dass man mir drauf kommt. So feig war ich!

78 BÄUERIN MARIA (RESERVIERT) Siebzehn warst und im Krieg. Schau, mein Bruder ist in Rußland g´fallen...

Sie nimmt seine Hand. Er zieht sie zurück.

JULIUS KLOIBER ... das hilft mir nichts. Ich weiß, was ich getan hab‘. Und jetzt sitze ich im Gericht und soll entscheiden…

BÄUERIN MARIA (IRRITIERT, ABWEHREND) Wir müssen alle unsere Pflicht erfüllen. Aus! Basta!

Sie geht aufgebracht. Als sie geht, sieht Julius den Mesner, der gerade dabei ist den Altar vorzubereiten. Die Blicke der beiden treffen sich. Julius Miene verfinstert sich.

43. MINISTERBÜRO INNEN/TAG

Einblendung Wien, Büro des Justizministers Christian Broda

Gegenlicht, die Silhouette von Christian Broda. Er raucht Pfeife und liest in einem Aktenordner. Eine schwere, düstere, etwas museale Stimmung. Man sieht einen Mann von hinten, kann nicht erkennen wer es ist.

NOWAK … und dann ist auch noch der frisch freigesprochene Werwolf Hochreiner im Saal aufgetaucht.

Broda grinst BRODA Naja, das Pack hält zusammen…

Nowak nickt. BRODA Sag mal Nowak, wie lang kennen wir uns eigentlich?

NOWAK Seit 31, wie Du bei einer KJV Sitzung aufgetaucht bist. So ein richtiger 1. Bezirk Schnösel, der uns Favoritnern 79 erklären wollte, wie wir die Revolution zu machen haben.

Broda lächelt.

BRODA Jaja, und du warst die authentische Stimme der Arbeiter von Wien…

NOWAK … Ich bin mir treu geblieben, Broda!

Broda behält sein ironisches Lächeln.

BRODA Nur wer sich ändert, kann sich selbst treu bleiben.

NOWAK … sagte das Chamäleon und schaltete von braun auf rot/ weiß/rot. Apropos, wusstest du, dass der Vorsitzende Richter Peyer seit 38 - NSDAP Mitglied war?

BRODA Na immerhin war er nicht schon 33 ein Illegaler.

NOWAK Auch einer, der sich durch Veränderung treu geblieben ist?

Der Schlag hat bei Broda kurz gesessen, bevor dieser wieder die ironisch überlegene Maske aufsetzt und sich eine Zigarre anzündet.

NOWAK Dazu ein Staatsanwalt, der sich pausenlos von der Verteidigung vorführen lässt.

BRODA Ich kenn Schuhmann. Er ist ein tadelloser Jurist. Der wird es noch zu was bringen.

NOWAK Bei den Geschworenen aber wird er es derzeit nur zu einem Freispruch bringen. Das nächste Fiasko nach dem

80 Werwolf Hochreiner. Warum schafft ihr die Schwurgerichte nicht ab...?

BRODA (ABFÄLLIG) Und belastete Richter urteilen die etwa besser? Außerdem bin ich grundsätzlich für Schwurgerichte. Die Rechtsprechung soll auch formal das Volk widerspiegeln.

NOWAK Du nimmst also bewußt in Kauf, dass ein Massenmörder frei herum läuft!

Anstatt des erwarteten Widerspruchs blickt Broda Nowak eindringlich an. Nun ist Broda ernst und ohne Ironie. BRODA Der Brandt in Deutschland und dann gemeinsam mit Schweden und Dänemark ein sozialistisches Österreich als Drehscheibe. Das ist die Zukunft! Das ist die historische Chance.

NOWAK Von historischer Chance und Revolution hast du schon mal geredet und stattdessen sind die Nazis gekommen.

BRODA Erstmals hat die Sozialdemokratie die Möglichkeit mittels Wahlen europaweit an die Macht zu kommen. Glaubst du, ich lass mir das durch einen Murer oder einen Wiesenthal kaputt machen?!

NOWAK Schreiten in die neuen Zeiten – Hand in Hand mit alten Nazis.

Broda bekommt nun etwas Dozierendes.

BRODA Wollen wir Österreich verändern, müssen wir die Wahl gewinnen. Und das heißt leider: möglichst viele der Ex- Nazis müssen ihr Kreuzchen bei uns machen!

Nowak will etwas erwidern, doch Broda lässt ihn nicht zu Wort kommen.

81 BRODA Wer sich nicht dreckig machen will, hat in der Politik nichts zu suchen. Ein modernes Straf- und Familienrecht ist mir wichtiger, als.... NOWAK … Und den Fredl Rabowsky und all die anderen...? Die hast du vergessen?

BRODA Nix hab ich vergessen. Ich war im Widerstand, ich hab‘ die Schlinge schon fast um den Hals gehabt. Ich sag‘ das nicht einfach so. Dein Vater ist sicher nicht in Mauthausen…

NOWAK (AGGRESSIV) … Lass du ihn aus dem Spiel, bitte! (ER VERSUCHT, WIEDER COOL ZU SEIN) Dein Pakt mit dem Teufel wird sich noch einmal rächen.

BRODA Möglich Mephistopheles, wer sich der Realität des Volkes verweigert und NUR moralisiert, bleibt politisch steril. Nebenbei, das Naziproblem löst sich irgendwann biologisch. Die Zukunft… NOWAK … Paß‘ nur auf, dass Du nicht am Strick der neuen Nazis hängst. Moralisieren ist nicht ihr Problem.

Nowak blickt Broda böse an. Borda lächelt überlegen.

BRODA Und du Nowak solltest dir überlegen, ob die Lösung wirklich deine gut gemeinten Artikel sind. Das Bravo der linksliberalen Intellektuellen hilft uns im Gemeindebau keinen Millimeter weiter. Und da werden die Wahlen entschieden und nicht im Café Museum.

Nowak bleibt die Spucke weg.

44. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

Verteidiger Böck lässt sich vom Wachebeamten ARNOLD Feuer geben und blickt auf 82 das Ehepaar Murer.

FRAU MURER Es gibt gute Neuigkeiten. Ich war ja gestern beim Bauernbundempfang, beim Wallner, der dich ganz herzlich grüßen lässt

Franz Murer nickt missmutig

FRAU MURER Ich habe ihm eine Malakofftorte mitgebracht. Weil ich weiß, die hat er letztens, als er bei uns war, verschlungen...

FRANZ MURER Du gehst mir mit deinen Torten am Wecker, weißt du das?

FRAU MURER (UNGERÜHRT) Nicht nur Liebe geht durch den Magen... Also, der Wallner hat sich mit dem Bundeskanzler Gorbach getroffen, und dieser ist ganz auf unserer Seiten.

FRANZ MURER Um die unseren mach ich mir ja keine Sorgen, aber um den Justizminister, der ist ja tiefrot.

Ein breites Grinsen kommt über Frau Murers Gesicht.

ELISABETH MURER Ach, der rote Kettenhund ist im Kern ein rosa Pudel.

Murer blickt seine Frau erwartungsvoll an.

ELISABETH MURER Der Wallner hat mir das mehrfach bestätigt.

Franz Murer wirkt etwas entspannter.

ELISABETH MURER Und gestern hat mich der APO-Korrespondent...

FRANZ MURER (BELEHREND) APA! Press Agentur. 83 ELISABETH MURER (UNBEIRRT) Ein Patriot! Ein reizender Mensch!

Böck, der sich bis jetzt diskret im Hintergrund gehalten hat, mischt sich ins Gespräch ein.

VERTEIDIGER BÖCK Es ist wohl so, dass der Herr Minister ziemlich unter Druck steht wegen seiner kommunistischen Vergangenheit.

Franz Murer erwidert kurz Böcks aufmunterndes Lächeln, bevor er wieder ernst und nachdenklich wird.

ELISABETH MURER Der „Herr“ Minister Bolschewik wird sicher keine Manderln machen.

45. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

MONTAGESEQUENZ Die Aussagen werden in sich mit Jumpcuts verkürzt.

VORSITZENDER PEYER Herr Eberdorfer...

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Dr. Eberdorfer bitte.

VORSITZENDER PEYER Pardon. Herr Dr. Eberdorfer. Können Sie dem hohen Gericht sagen seit wann Sie den Angeklagten kennen?

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Den Herrn Murer kenne ich seit fünf Jahren. Seit er Obmann der Bezirksbauernkammer Liezen ist.

VORSITZENDER PEYER Welche Funktion bekleiden Sie dort?

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Ich bin dort als Betriebsberater tätig. 84 VORSITZENDER PEYER Und wie ist der Angeklagte dort beleumundet?

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Der Herr Murer ist ein Mann von tadellosem Ruf. Allseits beliebt.

Ich möchte zum Beispiel erinnern, dass es Demonstrationen von Bürgern gegeben hat, als man ihn verhaftet hat. Die Murers, das sind eine hochanständige Familie…

STAATSANWALT SCHUHMANN (ON) Sind sie Mitglied der NSDAP gewesen, Herr Eberdorfer?

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Nein, dazu bin ich zu jung.

STAATSANWALT SCHUHMANN Stimmt es aber, dass Sie 1944 mit 16 als Parteianwärter geführt wurden?

DR. SIEGFRIED EBERDORFER Schon möglich…

Vorsitzender Peyer sichtbar genervt.

VORSITZENDER PEYER Ich verstehe nicht, was das zur Sache beiträgt, Herr Staatsanwalt.

STAATSANTWALT SCHUHMANN Herr Vorsitzender. Bei Zeugen, die eigentlich nichts zum Sachverhalt beitragen, außer zu erzählen, wie vorbildlich sich Herr Murer damals verhalten hat, ist es wohl legitim sich zu fragen, ob ihre Aussage Wert hat.

Vorsitzender Peyer sieht Schuhmann böse an. Rosa blickt Nowak an und beide zollen dem Staatsanwalt Respekt. Frau Schuhmann lächelt ihrem Mann zu. 85 SCHNITT

45A. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER PEYER Herr Pascher können Sie und Ihre ganz persönliche Einschätzung über den Angeklagten mitteilen?

OTTO PASCHER Ich halte Herrn Murer wie auch fachlich für eine Ausnahmeerscheinung. Nach meinem Vater gibt es keinen Menschen, den ich menschlich höher schätze.

VORSITZENDER PEYER Ich lese in meinen Unterlagen, daß Sie auch der Lehrer des Angeklagten waren....

Er ist mir schon als mein Schüler aufgefallen, als besonders aufgeweckt und strebsam.

VORSITZENDER PEYER Können Sie uns etwas über das Elternhaus des Angeklagten erzählen?

Und er kam aus sehr einfachen Verhältnissen, dreizehn Kinder...

STAATSANWALT SCHUHMANN Stimmt es, dass der junge Herr Murer auch durch ihre Empfehlung in der Ordensburg Krössinsee aufgenommen wurde?

OTTO PASCHER Das hat er sich wohl selbst verdient.

86 Schuhmann wendet sich an die Geschworenen.

STAATSANWALT SCHUHMANN Für alle, die es nicht wissen, Krössinsee war eine der drei Eliteschmieden der NSDAP, in der zukünftige Führungskräfte ausgebildet wurden.

SCHNITT

OTTO PASCHER Die österreichische Justiz hat sich dem Druck gebeugt und ihn an die Sowjetunion ausgeliefert, wo der Franz Zwangsarbeit verrichten musste, fünfundzwanzig Jahre!

STAATSANWALT SCHUHMANN Moment. Nach sechs war er bereits zurück in Österreich.

OTTO PASCHER … Aber seither wird er denunziert und verfolgt. Es gibt unglaubliche Gerüchte von Goldschätzen, die er aus Wilna mitgenommen haben soll. Alles Lügen. Franz Murer ist ein Idealist, der sich nie persönlich bereichern würde.

Rosa schmunzelt und blickt zu den Geschworenen, die ernst zuhören. Wieder fällt ihr Julius auf.

VERTEIDIGER BÖCK Haben Sie Vermutungen, wer solche Geschichten in Umlauf bringt?

OTTO PASCHER Ja, das habe ich. Es ist bekannt, dass der Menschenjäger Wiesenthal hinter dieser ganzen Hetzkampagne steckt.

45B. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Schnitt auf Rosa, die nur mühsam ihre Wut verbergen kann. Sie blickt zum Staatsanwalt Schuhmann, dann zum Vorsitzenden. Erregt beugt sie sich zu Nowak und flüstert ihm ins Ohr.

87 ROSA SEGEV Einspruch! Ehrenbeleidung-Rüge. Ist das ein Gericht oder ein… JOURNALIST TAGESPOST … PSST!

Rosa wirft dem Kollegen eine wütende Grimasse zu. Nowak muss sie zurückhalten. Frau Schuhmann blickt ihren Mann erstaunt an. Der weicht ihrem Blick aus.

45C. = REAKTIONEN GESTRICHEN

45D. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

ANTON WATZKA (52) tritt in der Gendarmiekommandantenuniform auf. ANTON WATZKA Seine Wirtschaft ist immer in tadelloser Ordnung. Sie können alle fragen. Niemand wird etwas Schlechtes über die Familie Murer sagen. Niemand.

VORSITZENDER PEYER Sie haben Herrn Murer beruflich zu tun gehabt....

Ich habe auch nach dem Krieg mit den Ermittlungen, die aus meiner Sicht haltlos waren, zu tun gehabt.

STAATSANWALT SCHUHMANN Das war aber nicht der erste Kontakt mit Herrn Murer, oder?

Der Gendarm sieht Schuhmann erstaunt an.

STAATSANWALT SCHUHMANN Sie waren doch auch in Wilna stationiert, oder?

ANTON WATZKA Das ist korrekt. Aber in Wilna hatte ich keinen direkten 88 beruflichen Kontakt zu Herrn Murer.

STAATSANWALT SCHUHMANN Aber man kannte sich...

ANTON WATZKA ...zwei Steirer im Ausland...

STAATSANWALT SCHUHMANN Verstehe… Was hatte Herr Murer für einen Ruf unter den Ghettobewohnern?

ANTON WATZKA Ruf? Nun bei mir hat sich niemand über ihn beschwert.

Rosa schüttelt wieder einmal ungläubig den Kopf.

STAATSANWALT SCHUHMANN Waren Sie an den Aktionen der gelben Scheine persönlich beteiligt, Herr Watzka?

ANTON WATZKA Nein... Davon habe ich erst nach dem Krieg erfahren.

STAATSANWALT SCHUHMANN Und Ponary?

ANTON WATZKA Ponary?... Ah. Sie meinen Ponar.

STAATSANWALT SCHUHMANN Ja, die Massenerschießungen in Ponary!

ANTON WATZKA Davon habe ich auch erst nach dem Krieg erfahren. Diese Sachen war streng geheim, als einfacher Soldat...

Der Gewerkschafter Karl verzieht ungläubig das Gesicht.

STAATSANWALT SCHUHMANN Nun ja, warum so bescheiden? Immerhin waren Sie Oberleutnant der Schutzpolizei! Und da wussten Sie von rein gar nichts?! 89 Schnitt auf Heinz Lackner

45 E. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

HEINZ LACKNER Eines muss ich schon sagen, von Misshandlungen und Morden im Ghetto ist mir nichts bekannt.

Frau Schuhmann blickt auffordernd zu ihrem Mann. Dieser wirkt angriffslustig.

STAATSANWALT SCHUHMANN Was war Ihre Funktion in Wilna?

HEINZ LACKNER Stabsleiter und Abteilungsleiter für Politik.

STAATSANWALT SCHUHMANN Und sie waren „Ordnungsjunker“ in Krössinsee, wie Herr Murer?

HEINZ LACKNER Ja, wir kennen uns von dort.

STAATSANWALT SCHUHMANN Sie haben in Wilna mit dem Angeklagten die Wohnung geteilt...

HEINZ LACKNER Das ist richtig. Ich hab mit Herrn Murer in einer Wohnung gelebt. Jeder ein eigenes Schlafzimmer und einen gemeinsamen Wohnraum. Im selben Haus war auch Gebietskommissar Hingst untergebracht.

STAATSANWALT SCHUHMANN Was dachten Sie persönlich über die Massenerschießungen in Ponary?

Heinz Lackner wird unruhig, hüstelt, dann antwortet er mit gepresster Stimme.

HEINZ LACKNER ... Davon hab‘ ich erst nach dem Krieg aus der Zeitung erfahren. 90 Rosa lacht ironisch im Publikum auf. Frau Schuhmanns und Rosas Blicke treffen sich. Ein Moment von Sympathie.

SCHNITT

HEINZ LACKNER Ja, wir hatten einen Fiaker, der weiß war. Das ist richtig…

Schnitt auf Murers leicht entsetztes Gesicht.

HEINZ LACKNER Aber der kam, glaube ich, erst am Ende der Ghettozeit zum Einsatz, um Benzin zu sparen....

VERTEIDIGER BÖCK Erinnern Sie sich bitte genau, wann dieser ominöse weiße Fiaker zum Einsatz kam.

HEINZ LACKNER Jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir sicher, dass dies erst geschehen ist, nachdem der Bruno Kittel die Leitung übernommen hat.

VERTEIDIGER Sie sind sich da sicher? Also nicht vor Herbst 1943?

HEINZ LACKNER Ja, da bin ich ganz sicher. Todsicher.

VERTEIDIGER BÖCK Das heißt also, nachdem mein Mandant schon gar nicht mehr in Wilna war.

HEINZ LACKNER Das ist richtig.

VERTEIDIGER BÖCK Wenn also hier mehrere Personen bezeugen, dass sie gesehen haben, wie Herr Murer in dem weißen Fiaker durchs Ghetto gefahren sei...

91 HEINZ LACKNER Dann muss es sich um eine Verwechslung gehandelt haben!

Schnitt auf Franz Murer, der sich entspannt.

STAATSANWALT SCHUHMANN Sieht ja fast so aus, als ob Sie der Mann im weißen Fiaker waren, von dem die Zeugen berichten.

Rosa grinst über Schuhmanns ungewöhnliche Schnippigkeit. Murers verliert für einen Moment die Contenance. Frau Schuhmann lächelt.

VORSITZENDER PEYER Ich bitte den Herrn Staatsanwalt, solche Polemiken zu unterlassen.

Schuhmann überlegt kurz etwas zu erwidern, doch dann gibt er klein bei. Frau Schuhmann ist aufgebracht, dass ihr Mann nicht nachsetzt.

SCHNITT

45F. GERICHTSSAAL INNEN/TAG ALFRED KOSSEG Ich kenne Herrn Murer sehr gut aus der Haft in der Sowjetunion. Wir waren beide zu Unrecht zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden. Ich hab von ihm nie ein abfälliges Wort über Juden, Russen oder die Justiz gehört.

VERTEIDIGER BÖCK Haben sie auch über Herrn Murers Zeit in Wilna geredet?

ALFRED KOSSEG Natürlich. Sehr oft sogar. Wie gesagt - wir sind uns sehr nahe gekommen in der Haft. Wir haben über alles geredet, auch die schlimmen Dinge, die einem im Leben so zustoßen.

VERTEIDIGER BÖCK Und hat er über Erschießungen von Juden im Ghetto erzählt?

92 ALFRED KOSSEG Niemals! Wenn da etwas dran wäre, dann hätte er mir das sicher nicht verschwiegen. Darf ich noch eine Sache erzählen...

VORSITZENDER RICHTER PEYER Bitte, Herr Kosseg.

ALFRED KOSSEG Durch einen Zufall konnte ich die Akten einsehen, und da habe ich gesehen, weswegen der Franz überhaupt verurteilt worden war. Da stand nichts drinnen von Erschießungen. Er ist verurteilt worden, weil er Lebensmittel, Maschinen und Heu für die Deutsche Wehrmacht requiriert hat.

Schuhmann schüttelt fassungslos den Kopf. Und ein, zwei Zuhörer murren im Publikum. Rosa Segev legt wütend den Stift weg.

VORSITZENDER RICHTER PEYER (VERÄRGERT) Ich darf den Zeugen darauf hinweisen, dass er zur Wahrheit verpflichtet ist.

ALFRED KOSSEG Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Wir haben mehrere in allem übereinstimmende Augenzeugenberichte, dass Herr Murer wegen Mordes an sowjetischen Bürgern verurteilt wurde.

KATHARINA RITZINGER Ja das ist richtig, ich bin die Schwester des zu Unrecht Angeklagten.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte Sie gnädige Frau...

SCHNITT KATHARINA RITZINGER 1950 wird es gewesen sein. Mein Mann war damals Gefängniswärter. In Murau sind zwei Flüchtlinge von einem Zugtransport abgesprungen, um sich der

93 Abschiebung nach Israel zu entziehen.

Rosa Segev fasst sich an den Kopf und muss grinsen über diese absurde Bemerkung.

KATHARINA RITZINGER Der eine hat mich um eine Waschschüssel gebeten, wobei er immer wieder bemerkt hat, dass er ein Jude ist. Da hab ich ihm gesagt: „Das brauchen Sie gar nicht so oft wiederholen, das sieht man Ihnen auch so an.“ Als er dann meinen Mädchenname erfährt, sagt der Jude „Murer?“ Ich kannte einen Murer, einen Franz Murer aus Litauen. Er hat uns von einem großen Schauprozess gegen ihn erzählt. Der Jude war der Überzeugung, dass der Franz Murer ein anständiger Mann sei. Beim Prozess wußte man nichts Negatives über ihn zu berichten.

Schnitt auf den Vorsitzenden Peyer, der eine missmutige Miene aufsetzt, aber nicht protestiert. Schuhmann blickt Peyer an. Die Blicke treffen sich. Schuhmann macht sich eine Notiz.

SCHNITT

KATHARINA RITZINGER Nur zwei Zeugen haben ihm was Schlechtes nachgesagt. Da soll einmal mein Bruder einem Mann den Hut vom Kopf geschlagen haben. Und das andere mal, da hat mein Bruder den Leuten, denen kalt war, in barschem Ton befohlen, sich zu bewegen. Mehr hat man nicht vorbringen können. „So ein anständiger Mann“, das hat der Jude immer wieder gesagt.

Vorsitzender Richter verzieht genervt die Miene, greift aber nicht ein. Rosa blickt auffordernd erwartungsvoll zu Schuhmann, doch dieser erhebt keinen Einspruch. Rosa sitzt kopfschüttelnd da.

46. WOHNUNG SCHUHMANN INNEN/NACHT

TELEFONSTIMME MÄNNLICH (OFF) Wenn der Herr Murer wegen ihm verurteilt wird, dann: Standrecht! Kurzer Prozess! Der Werwolf lebt! 94 Frau Schuhmann wirft den Hörer auf die Gabel. Sie ist außer sich. Als sie das Arbeitszimmer ihres Mannes betritt, versucht sie, sich nichts anmerken zu lassen. Schuhmann sitzt beim Fenster.

STAATSANWALT SCHUHMANN War es wieder einer dieser scheußlichen Anrufe?

FRAU SCHUHMANN Du musst es anzeigen. Das kann man sich nicht bieten lassen.

STAATSANWALT SCHUHMANN Sowas muß man aushalten. Je mehr Wind man deswegen macht...

Er will Frau Schuhmann an sich ziehen, doch sie ist nicht mehr in Stimmung.

STAATSANWALT SCHUHMANN Du weißt, das ist mir gar nicht recht, wenn du in der Verhandlung bist.

FRAU SCHUHMANN Ich habe dich noch nie so angespannt gesehen bei einem Prozess.

STAATSANWALT SCHUHMANN Ist auch kein normaler Prozess.

Frau Schuhmann nippt an ihrem Glas.

FRAU SCHUHMANN Seltsam dieser Vorsitzende Peyer. Die Entlastungszeugen lügen so offensichtlich und er schweigt und bei deinen Zeugen...

STAATSANTWALT SCHUHMANN … streicht er jeden Widerspruch heraus. Ich weiß.

FRAU SCHUHMANN Aber im Grunde kann der Murer mit diesen Zeugen nicht gewinnen. Warum hast du nicht mehr nachgehakt?

95 STAATSANTWALT SCHUHMANN Ich hab meine Strategie...

FRAU SCHUHMANN Ich weiß, ist riskant sich mit dem Vorsitzenden anzulegen, aber in einem Schwurgericht...

STAATSANTWALT SCHUHMANN (belehrend) Bei einem Schwurgericht...

FRAU SCHUHMANN ….muß man auf Konfrontation gehen...!

Herr Schuhmann wirft aggressiv die Schuhe auf den Boden. Er sieht seine Frau verärgert an.

STAATSANTWALT SCHUHMANN Darf ich auch was sagen...

FRAU SCHUHMANN (LÄCHELT VERSÖHNLICH) Entschuldige...

47. GEFÄNGNIS: BESUCHERRAUM INNEN/TAG

Franz Murer sitzt Richard Hochreiner am Tisch gegenüber. Beide essen Heidelbeerkuchen.

HOCHREINER Nach meinen Freispruch hab ich mir gedacht: gönn dir was: Afrika. Herrlich! In Deutsch Südwest kriegst du eine Farm für einen Pappenstiel. Ich war beim Ritter Pauli, der hat dich auch eingeladen...

FRANZ MURER ...na schaun wir, ob ich wo hin kann. In nächster Zeit....

HOCHREINER Ach, mit dem Böck als Verteidiger hast du eine sichere Bank.

FRANZ MURER Bei diesem Jacob Kagan, da hat auch der Böck nicht mehr weiter gewusst, da sind wir gestrauchelt. 96 Hochreiner legt ihm die Zeitungen auf den Tisch. Murer sieht sich einen rot angestrichenen Artikel an.

HOCHREINER Die Presse sieht es anders.

Hochreiner zeigt ihm die Original-Headline der Südosttagespost ZWEI JUDEN ALS ZEUGEN FÜR MURER. FRANZ MURER Außer den Roten...

HOCHREINER Wer liest denn die Arbeiterzeitung? Von den Grazer Geschworenen sicher keiner.

FRANZ MURER Aber beim Kagan, da hab ich gesehen, dass die Geschworenen dem geglaubt haben...

HOCHREINER Bei meinem Prozess hab ich auch einen glatten Freispruch bekommen. Und da sah es schlechter aus als bei dir.

Murer will widersprechen, doch Hochreiner lässt ihn nicht.

HOCHREINER Doch, Franz! Mein Vorfall war nach Kriegsende. Da war Hitler schon drei Monate tot. Das war nichts mit Befehlsnotstand. Ich schwör´ dir, du kommst als freier Mann hier raus. Sonst fress‘ ich einen Besenstiel.

Franz Murer seufzt.

Murer blickt Hochreiner erstaunt an.

RICHARD HOCHREINER Der Martin Weiss wird aussagen!

FRANZ MURER Ach, was redest du denn? Dem haben sie doch in

97 Deutschland lebenslänglich verpasst.

Hochreiner wird nun leise und konspirativ. Er blickt sich zu dem Wachbeamten Arnold um - Murer deutet an, dass sich Hochreiner keine Sorgen machen muss.

RICHARD HOCHREINER Er ist schon in Graz. Und der Böck hat ihn bestens präpariert.

Franz Murer wird einen Moment heiter.

RICHARD HOCHREINER Ohne uns können sie nämlich zusperren. Ab jetzt geht’s wieder seinen normalen Gang. Wirst sehen, in ein paar Tagen ist das alles hier Geschichte. Unsere beste Zeit kommt noch, Franz.

Murer lächelt mechanisch, doch an ihm nagt der Zweifel.

48.GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Die Tür zum Gericht öffnet sich, herein tritt MARTIN WEISS (60) eingekeilt von zwei Wachbeamten. Rosa Segev blickt gespannt zu Weiss, der soldatischen Schritts zum Zeugenstand geht. Sein Blick streift kurz Murers und dann den von Richard Hochreiner, der im Publikum sitzt.

VORSITZENDER RICHTER PEYER (OFF) Sie verbüßen zurzeit eine lebenslängliche Strafe in der Justizvollzugsanstalt Straubing?

MARTIN WEISS Ja, das ist richtig. Könnten Sie vielleicht etwas lauter sprechen ich bin leider kriegsbedingt hörgeschädigt.

VERTEIDIGER BÖCK Sie sind unter anderem wegen der Massenerschießung in Ponary rechtskräftig verurteilt worden...

VORSITZENDER RICHTER PEYER (ETWAS GENERVT) Darf ich auch den werten Herrn Verteidiger darauf hinweisen, dass die Vorfälle von Ponary nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist...

98 VERTEIDIGER BÖCK Ja, Euer Ehren. Herr Weiss, halten Sie es für möglich, dass Herr Murer, der ja doch in exponierter Stellung in Wilna war, nichts von den Liquidierungen wusste?

MARTIN WEISS Die Sache war unter strikter Geheimhaltung. Und sagen wir so, in jenen Zeiten, wenn man das Glück hatte, nicht in diese Sachen hineingezogen zu werden, dann wollte man auch vieles nicht genau wissen.

VERTEIDIGER BÖCK Was meinen Sie mit Glück?

Weiss hat anscheinend nicht verstanden, weshalb Böck übertrieben laut wiederholt.

VERTEIDIGER BÖCK Was meinen Sie mit Glück?

MARTIN WEISS Wenn man für Fragen der Sicherheit zuständig war, so wie ich. Da hat man großes Pech gehabt. Gerissen hat sich um diese Arbeit niemand.

VERTEIDIGER BÖCK Herr Wulff Zawadzki beschuldigt Herrn Murer, die Aktion der gelben Scheine geleitet zu haben und somit für den Tod von fünftausend Juden verantwortlich zu sein.

MARTIN WEISS Das ist unrichtig. Kompetenzen waren strikt aufgeteilt. Man muss sich das Ghetto als Staat im Staate vorstellen. Es gab eine eigene Polizei, eigene Gerichtsbarkeit, Geheimpolizei. Gesundheitssystem etc. Alles in jüdischer Hand. Auch die jüdische Polizei trug Uniformen. Herr Murer war für das Ghetto ungefähr so was, wie ein Bürgermeister bei uns wäre. Er hatte reine Verwaltungsaufgaben. Ich selbst hatte auch zu Herrn Murer wenig Kontakt. Ich war ja nur im Soldatenstand und der eingegliedert und er war im Offiziersrang.

Staatsanwalt Schuhmann hebt den Kopf - überlegt kurz - macht eine Notiz

99 VERTEIDIGER BÖCK Shimon Trabski berichtet von einer Kontrolle am Ghettotor, bei dem er angeblich einen Juden erschoss, weil er hohe polnische Stiefel trug.

MARTIN WEISS Ich bin sicher, dass dies Ereignis auf einer Verwechslung beruht. Die Uniformen der litauischen Polizei waren oberflächlich ähnlich.

VERTEIDIGER BÖCK Frau Sima Kinbrenner berichtet von der Erschießung am Ghettotor des jüdischen Polizisten Shimon Gorden, weil er eine Frau decken wollte.

MARTIN WEISS Von dem Fall hab‘ ich gehört. Da gab es sogar eine Eingabe des Ältesten Rates der Juden. Aber dies hatte nichts mit Herrn Murer zu tun. Wie gesagt, Kontrollen...

VERTEIDIGER BÖCK … Herr Israel Szelubski berichtete von einer Auspeitschung seines Sohnes…

MARTIN WEISS Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Herr Murer einer solchen Maßnahme beigewohnt hat. Fest steht, dass er sie mit Sicherheit nicht angeordnet haben kann.

VERTEIDIGER BÖCK Der Zeuge, ein Zeuge, ein gewisser Selig Shmilewitz berichtet von einem Mädchen...

MARTIN WEISS Ich wiederhole, Kontrollen...

VERTEIDIGER BÖCK Dieser Zeuge stellt die Behauptung auf, dass Herr Murer die Erschießung eines jungen Mädchens angeordnet hat…

MARTIN WEISS … da kann es sich nur um eine Verwechslung handeln, aus den genannten Gründen.

100 Der O-Ton wird langsam ausgeblendet. Eine Toncollage aus Wortfetzen der Namen und Musik reduziert den Blick auf den gestisch rituellen Vorgang. Verteidiger Böck trägt einen Fall vor. Martin Weiss leugnet. Franz Murer entspannt sich. Schuhmann macht sich nervös Notizen. Der Vorsitzende Peyer sieht sich den Vorgang wohlwollend an. Hart setzt der O-Ton wieder ein.

VERTEIDIGER BÖCK Nun möchte ich Sie zu dem Fall Kagan befragen.

Rosa lehnt sich nach vorn, als könne sie dadurch besser hören.

VERTEIDIGER BÖCK Der Zeuge hat uns sehr plastisch geschildert, wie sein Vater vor seinen Augen am Ghettotor erschossen worden war, weil er verbotenerweise Fleisch ins Ghetto schmuggeln wollte.

MARTIN WEISS Wann soll sich dieses Ereignis zugetragen haben?

VERTEIDIGER BÖCK Winter 1942.

MARTIN WEISS Dieses Ereignis kommt mir bekannt vor. Aber darin war Herr Murer nicht verwickelt.

VERTEIDIGER BÖCK Wie können Sie da so sicher sein?

MARTIN WEISS Weil für diese Tat schon jemand verurteilt wurde.

VERTEIDIGER BÖCK Warum können Sie da sicher sein...

MARTIN WEISS Weil ich für diese Tat verurteilt wurde.

Ein Raunen geht durchs Publikum. Rosa lacht fassungslos auf. Der Vorsitzende Peyer 101 schlägt wütend mit der Hand auf den Tisch. Staatsanwalt Schuhmanns Körper spannt sich. Böck genießt den Moment sichtlich.

VERTEIDIGER BÖCK Könnte es also sein, dass der Zeuge Sie mit Herrn Murer verwechselt?

MARTIN WEISS Davon gehe ich aus, ja.

SCHNITT

Staatsanwalt Schuhmann versucht betont sachlich zu bleiben.

STAATSANWALT SCHUHMANN Waren Sie an solchen Erschießungen am Ghettotor beteiligt?

MARTIN WEISS Ja, wir hatten strikte Order. Befehl ist Befehl und mein Fahneneid als Soldat...

Schuhmann verliert seine Zurückhaltung und ist ungewohnt angriffslustig.

STAATSANWALT SCHUHMANN ...ja diesen Satz haben wir öfters gehört. Wenn Sie also den Vater von Jacob Kagan ermordet haben, wie kommt es, dass der Name des Opfers in Ihrer Verurteilung nicht auftaucht? Ich möchte den Zeugen Weiss belehren, dass er unter Eid stehe und eine falsche Zeugenaussage zu einer zusätzlichen Haftstrafe führen kann. Also?

Der Mesner Karl beugt sich gespannt nach vorn, um Weiss besser sehen zu können.

MARTIN WEISS Das kann ich nicht beantworten, aber es war ein sehr ähnlicher Fall...

Böck ärgert sich kurz. Er checkt die Geschworenen ab. Sie hören gebannt und ohne eindeutige Reaktionen zu. Schuhmann hat Oberwasser.

STAATSANWALT SCHUHMANN Ähnlich, aber wohl nicht identisch. Sagen Sie einmal, wie häufig kam es zu Übergriffen und Erschießungen im Ghetto? 102 MARTIN WEISS Wenn jemand aus reiner Mordlust einen Juden ermordet hat, dann wurde das mir über Gens mitgeteilt und so jemand wurde auch bestraft. Und auch die angeblichen Bereicherungen am Eigentum, die Herrn Murer zur Last gelegt werden, hätten bei Entdeckung eine standesrechtliche Erschießung zur Folge gehabt. Bei Eigentumsdelikten gab es kein Pardon.

Der einarmige Mesner Karl nickt zustimmend. Sein Blick trifft Richard Hochreiner im Publikum. Sie sehen sich kurz an.

MARTIN WEISS (OFF) Es darf nicht gedacht werden, dass im Ghetto keine Regeln und keine Ordnung geherrscht haben.

Der Schuldirektor Friedrich richtet sich auf, und unbewusst nickt auch er zustimmend.

STAATSANWALT SCHUHMANN Nichtsdestotrotz sind solche Dinge vorgekommen, oder...?

Martin Weiss nickt widerwillig.

MARTIN WEISS Schwarze Schafe gibt es überall, Herr Staatsanwalt. Trotzdem muss ich betonen, dass in der Wehrmacht soldatische Tugend und Anstand geherrscht haben. Da gibt es rein gar nichts, wofür wir uns schämen müssen.

Der Satz hat gesessen. Spontanes Zustimmungsgeraune im Publikum. Mesner Karl, der Schuldirektor aber auch Gewerkschafter Karl und der Kunstmaler fühlen sich sichtlich verstanden. Rosa sich umblickend - extremes Unbehagen unter diesen Leuten hier im Saal. Schuhmann überlegt.

STAATSANWALT SCHUHMANN Nein, ich habe keine weiter Fragen an den Zeugen.

Nowak und Rosa blicken sich erstaunt an. Murer lächelt etwas erleichtert.

103 49.HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/NACHT

Nahe des sich drehenden Tonbands. Rosa schaltet es aus. Sie hat Tränen in den Augen. Leon hat auch glasige Augen, aber um sich abzulenken beginnt er akribisch einen Apfel zu schälen.

ROSA (ENGLISCH) Wenn Sie Ihre Geschichte im Prozess so erzählen, dann wird der Murer verurteilt. Lassen Sie nur den Hinweis auf Wiesenthal weg. Wir dürfen den Prozess nicht verlieren.

LEON (ENGLISCH) Wir? Sie waren nicht im Ghetto und in keinem KZ.

Er schiebt den Ärmel hoch und zeigt Rosa seine KZ Tätowierung am Unterarm.

ROSA SEGEV (ENGLISCH) Mein Vater stammt ursprünglich aus Litauen. Und niemand von seiner Familie hat überlebt. Deshalb sage ich: WIR!

Leon zeigt keinerlei Emotion.

LEON (ENGLISCH) Ich bin ein einfacher Mann, und ich weiß nur, dass der Murer den Tod hundertfach verdient hat.

ROSA Klar, aber juristisch...

LEON Dass Gericht das Gegenteil von Gerechtigkeit ist, ist mir bekannt. Und selbst wenn sie ihn verurteilen. Gefängnis ist für diesen Massenmörder eine viel zu milde Strafe. ROSA Besser er ist verurteilt, als er sitzt glücklich und zufrieden auf seinem Bauernhof.

LEON Das wird er nicht…!

Leon blickt Rosa so eindringlich an, dass es wie ein Schreck in sie einfährt. Sie sieht das Klappmesser auf dem Tisch neben dem halb geschälten Apfel und die Skizze. 104 Er beantwortet ihren fragenden Blick und hat dabei eine Portion Irrsinn im Blick

LEON … Auge um Auge. Zahn um Zahn.

Rosa versucht, sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen und sachlich zu bleiben.

ROSA Selbst wenn Sie es schaffen. Was wäre erreicht?

LEON Gerechtigkeit...

ROSA Sie würden statt dem Murer im Gefängnis sitzen, und man würde über Juden als Täter reden.

LEON Besser Täter sein als Opfer!

ROSA Murer ist doch in Wahrheit unwichtig. Wir müssen das Verbrechen für immer fest schreiben. Überall. Und gerade hier im Land der Täter...

LEON … Ihnen ist Murer vielleicht unwichtig. Mir ist Murer alles!

ROSA Das verstehe ich, aber…

LEON Ich glaube nicht, dass Sie verstehen können.

ROSA Das ist Irrsinn, kontraproduktiv…

LEON Sie haben Ihre Geschichte! Exklusiv…

Leon öffnet die Tür und drückt Rosa ihr Tonband in die Hand.

105 50.HOTEL: LOBBY-FLUR INNEN/NACHT

Rosa läuft aufgelöst den Flur entlang. Da sieht sie Jakob Kagan. Sie nimmt den Überraschten am Arm und blickt ihn eindringlich an.

ROSA Sie müssen mit ihm reden! Sonst passiert ein Unglück.

Jacob sieht Rosa entgeistert an.

51. HOTEL: ZIMMER LEON SCHMIGEL INNEN/NACHT

Leon liegt angezogen auf dem Bett und raucht. Es klopft.

LEON (JIDDISCH) Heut bin ich aber begehrt.

Als er Jacob eintreten sieht, huscht ein Moment der Erleichterung über sein Gesicht, als er Rosa im Hintergrund sieht, setzt er wieder die coole Maske auf. (DIALOG WIRD IN JIDDISCH GEFÜHRT)

LEON (JIDDISCH) (Hat sie dich geschickt?) Hot sie dich opgeschickt?

JACOB (JIDDISCH) (Ich bin nicht einer, der sich von irgendjemandem schicken lässt). Ich bin nit ejner wos sich lasst opschicken fon emezern.

Leon setzt sich neben Jacob. Rosa bleibt am anderen Ende des Zimmers stehen.

JACOB (JIDDISCH) (Denkst du nicht - ich hab’ den Murer nicht nachts schon hundertmal umgebracht). Denkstu nit – ich hob Murern in der nacht nit schojn hundert mol umgebrengt.

LEON (JIDDISCH) (Auge um Auge...) Ojg um ojg.

106 JACOB (JIDDISCH) (Der Murer hat aber nicht achtzigtausend Augen. Egal, was du ihm antust. Gerechtigkeit gibt es nicht). Der Murer hot ober nit kejn achzig tojsent ojgen. Nit kejn chilek wos men ihm tut. Es git do nit kejn gerechtikejt.

LEON (JIDDISCH) (Aber seine Kinder sitzen im Saal. Und man hat mir gesagt, sie unterhalten sich gut bei den Zeugenaussagen. Ihnen wird das Lachen vergehen, wenn ich den Vater vor ihren Augen absteche...) Ober sejne Kinder sitzen im saal. Un men hot mir gesogt, sej witzeln sich git von dem ejdes. Sej weren ojfheren zu lachen, wann ich wird schechten den foter far sejer ojgen.

JACOB (JIDDISCH) (Die Kinder haben nichts verbrochen). Die Kinder hoben gornisht bagejt a farbrechen..

LEON (JIDDISCH) (Mein Sohn hat auch nichts verbrochen, leider...) Mejn son hot ojch gornisht schlechts geton. Lejder…

Jacob nimmt Leons Hand. Leon will sie zurückziehen, doch Jacob hält sie fest. Bei Leon löst dies eine innere Explosion aus.

LEON (JIDDISCH) (Ich hab‘ gedacht, wenn wir arbeiten, dann werden sie uns leben lassen.) Es hot mir gedacht, as wann mir arbeten, wollten sej uns lossen leben.

JACOB (JIDDISCH) (Es ist nicht deine Schuld). Du bist nit schuldig.

LEON (JIDDISCH) (Doch. Ich war feige. Ich habe ihm verboten, zu den Partisanen zu gehen.) Fondeswegen, jo. Ich bin gewen a klejnmutiker. Ich hob ihm farboten zu gejen zu die partisaner.

Jakob blickt Leon tief und voll Empathie an.

JACOB (JIDDISCH) (Dann wär‘ er auch tot…) 107 Ojb asoij, wollt er ojch gewen tojt.

LEON (JIDDISCH) (Besser im Kampf gestorben, als dass ihn der Murer wie einen Hund erschlägt). Alz besser starben in kamf, wie fon Murern wie a hunt geharget weren.

Sie blicken sich an - eine Nähe ist entstanden. Wie Vater und Sohn wirken sie.

JACOB (JIDDISCH) (Du kannst nichts rückgängig machen, aber du kannst jetzt das Richtige tun). Du kennst nit mevatel sejn wos is gewen, ober du kennst izt ton dos richtige.

LEON (JIDDISCH) (Und du weißt, was das Richtige ist, ja?) Un du wejsst, wos is dos richtige?

JACOB (JIDDISCH) (Ja, aussagen! Und dafür sorgen, dass der Murer verurteilt wird. Wir können nicht alle Eichmänner entführen. Ihre Kinder müssen hier sehen...) Ja, ejdes sogen! Un far dem sorgen, as der Murer wird farmischpet. Men kenn nit ojs’chappen alle Eichmannens. Sejer kinder darfen do sehen…

LEON (JIDDISCH) (Ihre Kinder sind mir egal… Mein Kind…) Sejer kinder, wos gejt es mich on. Mein kind…

JACOB (JIDDISCH) (Wirst du als Jude angegriffen, musst du als Jude zurückschlagen. Und was du hier tust, fällt auf alle zurück. Das ist nicht deine Privatsache, Leon!) As du werst attakiert far dem wos du bist a jid, darfst du als jid zurikschlugen. Un dos, wos du tust hir hot ojf alz an effekt. Dos is nit kejn privater injen. Leon!

SCHNITT Rosa blickt in Hochspannung zu Leon. Er geht auf sie zu. Plötzlich spürt sie etwas in ihrer Hand. Es ist Leons Klappmesser. Rosa lässt es ohne mit der Wimper zu zucken in ihrer Handtasche verschwinden.

108 LEON (JIDDISCH) Du hast dir gerade selbst eine tolle Story vermasselt, Mädchen. Du host farschpielt a geschicht, Mejdel.

Rosa lächelt erleichtert.

52.GERICHTSSSAAL INNEN/TAG

Im Raum herrscht zu Beginn eine geschäftige Unruhe, die langsam abnimmt, als Leon zu erzählen beginnt.

Leon blickt auf die Zuschauerreihen zu Murers Kindern.

SCHNITT

LEON (JIDDISCH) (Es war am 15. September 1942. Mein Sohn und ich hatten Leintücher und Deckenüberzüge bei den Bauern draußen eingetauscht. Ein Kilo Fleisch, etwas Butter und 5 Kilo Kartoffeln. Als wir zum Eingang kommen, sehe ich, wie da neue Wachen eintreffen. Zum Umkehren ist es zu spät. Das wäre aufgefallen. Ich schick ein Stoßgebet zum Himmel. Ich komme gut vorbei, doch bei meinem Sohn sagt der Wächter: Halt. Der Bub verzieht keine Miene. Er war so ein mutiger Junge. Er hat alles gut versteckt. Und als ich schon aufatme, fallen die Kartoffeln raus. „Los mitkommen“! Wir werden zum Kommissariat gebracht - zu Herrn Murer persönlich. Er beschimpft mich als diebisches Judenschwein und schlägt zu, bis mir die Zähne rausfallen.) Dos is gewen 15. September 1942. Mejn son un ich hoben geget a pojer lalechs un zichels, ojstoisch far a kilo fleisch, a bissl pitter un 5 kilo kartoffel . As mir kummen zum tojr seh ich, wi do kummen neje wechter. Is gewen zu spet sich umkeren. Dos wollt men gesehen. Ich hob a tefile zum himmel geton. Ich bin git adorch gekummen. Ober mein son sogt der wechter: Halt! Dos jingl is ruhik. Is asoj a gewagter. Er hot alz gut bahalten. Ober as mir schojn dacht alz is git, fallen ihm arojs kartoffeln. „Los mitkommen“! mir wern zum kommissariat gebrengt – zu Murern persenlich. Er schalt mich a ganev un Judenschwejn un schlugt mich, bis mir di zehn arojsfallen. 109 Rosa blickt zu Murers Sohn, der gelangweilt zuhört.

LEON (JIDDISCH) („Kannst du deinem Sohn nicht beibringen, sich an die Vorschriften zu halten?“ Ich entschuldige mich, doch dieser Herr da, hat was anderes vor. Er sagt: Ich werde dir eine Lektion erteilen, die du niemals vergessen wirst! Da muss mein Sohn sich niederknien vor meinen Augen und die Hände in den Nacken halten. So.) „Kennst di nit ojslernen dejn son di gesetzen zu halten?“ ich antschuldik sich, oder der Herr do tracht epes andersch. Er sogt: „ ich wer dich ojslernen a lektie wos du werst kejn mol nit vergessen. Mejn son muss gejen in die knie un die hend halten in nacken. Asoj. Un dos alz far mejn oigen.

Leon tut dies. Der jüngste Murersohn betrachtet Leon mit wachsendem Unbehagen.

LEON (JIDDISCH) (Mein Sohn zeigt aber keine Angst, sondern sieht dem Murer direkt in die Augen. Dann zieht der seine Pistole und ich denke noch, das ist nur, um ihn einzuschüchtern, doch dann drückt er wirklich ab. Er hat ihn erschossen vor meinen Augen. Sie tragen ihn raus. Und dann wirft mir der Murer einen Fetzen hin und sagt: „Aufwischen!“) Mejn son wejst ojs nit kejn mojre, er kukt Murern gerod in die ojgen. Murer nemt arojs sejn pistol un mir dacht, as er well ihn derschrecken, ober der tacke schiesst. Er hot ihn geharget far mejne oigen. Sej trugen ihn arojs un dann warft er mir, der Murer a schmate un sogt: „Aufwischen!“

Bleierne Stille im Raum. Diesmal hat die Wirkung der Erzählung fast alle erreicht. Die Bäuerin Maria kämpft mit den Tränen. Auch der Gewerkschafter Karl hat glasige Augen. Sogar das Publikum ist ergriffen. Der älteste Murersohn zupft nervös an seiner Krawatte. Der Schuldirektor macht sich betont sachlich Notizen. Verteidiger Böck fixiert Leon. Er bereitet sich innerlich für den nächsten Schlag vor.

SCHNITT

110 52A. GERICHTSSSAAL INNEN/TAG

VERTEIDIGER BÖCK Können Sie uns die Farbe der Uniform nennen, die jener Mann trug?

LEON (JIDDISCH) (Murers Uniform war ocker - hellbraun. Ich seh‘ ihn noch vor mir stehen. Genau wie er hier vor mir sitzt.) Die mondur fon Murern is gewen hellbrojn. Ich seh ihn noch wie er stejt far mir. Pinkt asoj wie er do far mir sitzt.

VERTEIDIGER BÖCK Es gibt eine Verurteilung eines Falles, der sehr ähnlich klingt. Herr Weiss...

LEON (JIDDISCH) (Ich kenne Herrn Weiss genau. Er hatte den Befehl gegeben, dass meine kranke Frau nach Ponary gebracht wurde. Sie wurde dort erschossen. Der eine hat braune, der andere blaue Augen. Die kann man nicht verwechseln, außerdem ist der Weiss einen Kopf größer als der Murer.) Ich derkenn Herr Weiss genoj er hot dem bafel geget, as mejn krank froj soll men brengen kejn Ponary. Men hot si dorten derschossen. Der eine hot brojne oigen, der andere bloje. Die kenn men nit farwechslen. Chutz dem is Weiss hecher mit a kop wie Murer.

Böck kommt ins Schwitzen.

VERTEIDIGER BÖCK Eines frage ich mich schon, Herr Schmiegl. Warum haben sie sich erst jetzt gemeldet? Nach all den Jahren? Warum nicht gleich nach dem Krieg?

LEON (JIDDISCH) (Nach dem Krieg wollte ich nur weg. Zuerst war ich in Israel, aber da wollte ich nicht bleiben und dann bin ich in die Staaten gegangen. Ein Cousin hat da eine Farm in Midwest…) Noch der milchome wollte ich nur awek. Kojdem bin ich in Jisroel gewen, nur dorten wollt ich nit blejben. Dann bin ich kejn Amerike gefuren. A schwesterkind hot gehat a farm in Midwest. 111 VERTEIDIGER BÖCK Das war Ihnen also damals wichtiger als die Aufklärung des angeblichen Mordes an Ihrem Sohn?

LEON (JIDDISCH) (Angeblich?! Murer hat meinen Sohn ermordet - Punkt. Damals habe ich das Gerücht gehört, dass man Murer nach Russland geschickt hat - und er dort hingerichtet wurde.) Klomperscht? Murer hot geharget mejn son. Pinkt asoj. Demolt hob ich gehört gered, as men hot Murern opgeschickt kejn Russland – un er is gewen dorten zum tojt farmischpet.

VERTEIDIGER BÖCK Es gab also Gerüchte.

Böck grinst süffisant und irritiert Leon dadurch.

VERTEIDIGER BÖCK Könnte es sein, dass Sie dann von gewissen Kreisen aufgefordert wurden, sich als Zeuge zu melden?

Leon ist irritiert, und zum ersten Mal wirkt er unsicher. Rosa ruckt nervös hin und her.

LEON (JIDDISCH) (Ich habe in einer jüdischen Zeitung gelesen, dass Murer jetzt verhaftet wurde, da habe ich mich sofort als Zeuge gemeldet). Ich hob gelejnt in a jidischer zejtung, as men hot izt Murern arestiert . Ich hob sich gleich far an ed gemolden.

VERTEIDIGER BÖCK Wie hieß diese ominöse jüdische Zeitung?

Leon wird nervös. Rosa würde am liebsten auf Leon einreden. Sie kann sich nur schwer beherrschen.

LEON (JIDDISCH) ( Weiß ich nicht mehr...) Dos weiß ich nit mehr.

112 VERTEIDIGER BÖCK Lesen Sie öfters Zeitungen, von denen Sie nicht wissen, wie sie heißen?

Leon wird wütend und faucht Böck an.

LEON (JIDDISCH) (Ich lese keine Zeitungen, aber meine Nachbarin, die wusste, dass ich aus Wilna stamme, hat sie mir gebracht, und da sehe ich das Foto von diesem Herren da.) Ich lejn nit kejn zejtungen, ober mejne schochente wos hot gewisst, as ich bin fun Wilne, hot dos mir gebrengt un asoj seh ich dos foto fun dem herrn do.

VERTEIDIGER BÖCK Und an wen haben Sie sich dann gewendet?

Leon stockt.

LEON (JIDDISCH) (… Da stand eine Nummer drin und da habe ich angerufen...) …so is gewen a numero un ich hob ongerufen.

VERTEIDIGER BÖCK Und die Nummer gehörte zu wem?

LEON (JIDDISCH) (Keine Ahnung. Ich nehme an zu einer Organisation.) Ich wejss nit. Efscher fun a orgenisazie.

VERTEIDIGER BÖCK Einer Organisation? Könnte es der Jüdische Weltkongress sein?

Geschäftsfrau Hertha lächelt hämisch wissend. Durchs Publikum geht ein Raunen. Leon registriert diese Reaktion mit Staunen.

LEON (JIDDISCH) (Schon möglich. Das hat mich nicht interessiert.) Efscher. Dos hot mich nit interessiert.

Nun wird es unruhig im Publikum. Man tuschelt. Vorsitzender Peyer will schon für Ruhe sorgen, doch dann ebbt die Unruhe ab. 113 SCHNITT STAATSANWALT SCHUHMANN Was hat der Jüdische Weltkongress mit dem Wahrheitsgehalt der Aussage von Herrn Schmiegl zu tun?

ZWISCHENRUFER (OFF) Stehst wohl auch auf der Gehaltsliste!

Der Vorsitzende Peyer schlägt mit der Hand auf den Tisch. Er kann aber den Zwischenrufer nicht lokalisieren.

VERTEIDIGER BÖCK Ich finde es sehr wohl relevant und wichtig, unter welchen Umständen Zeugen so plötzlich nach Jahrzehnten aus dem Nichts auftauchen und sich an Dinge erinnern können, die sie Jahrzehnte lang verschwiegen haben.

Nowak schüttelt ungläubig den Kopf, er blickt zu Rosa, die Böck am liebsten mit ihren Blicken töten würde.

53.GERICHT: KANTINE INNEN/TAG

MESNER KARL (OFF/ON) Da wir eben gehört haben, dass unser heiliger Vater, Johannes der XXIII entschlafen ist, bitte ich um ein gemeinsames Vaterunser.

Der Mesner Karl, Geschäftsfrau Hertha, sowie der Schuldirektor Friedrich als auch die Bäuerin Maria sprechen das Vaterunser.

Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name; zu uns komme Dein Reich; Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden! Unser tägliches Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern;

114 und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.

Der Gewerkschaftler Hubert betet nicht mit, faltet aber ein bißchen die Hände. Der Angestellte Norbert ist nervös und flüstert dem Kunstmaler neben ihm zu, der nicht mitbetet.

BÜROANGESTELLTER NORBERT Sind Sie auch evangelisch?

KUNSTMALER FRANZ (SÜFFISANT) Heide!

Vorm Eingang steht Julius Kloiber, der einen Moment tief Luft holt und mit sich kämpft. Der Kunstmaler Franz Z. würzt seine Suppe und ignoriert die Betenden und zieht deren strafende Blicke auf sich. Am Tisch ist ein Platz frei. Der Mesner blickt zur Tür. Julius kommt herein. Er ist noch blasser als sonst.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA Kein Wort habe ich dem geglaubt. Wenn ihr mich fragt. Eine Show ist das...

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Das ist kein Thema für den Tisch.

Mesner Karl blickt zu Julius, in dem Herthas Bemerkung arbeitet.

JULIUS KLOIBER Ach halten Sie doch...

HERTHA Na, ich darf doch noch meine Meinung…

JULIUS KLOIBER Und meine Meinung ist, dass Sie den Mund halten sollen.

HERTHA Also so was!

Sie blickt hilfesuchend zu Maria, die nicht weiß, für wen sie Partei ergreifen soll.

115 SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Nicht diesen Ton, bitte!

JULIUS KLOIBER (HÄMISCH) Man darf Leut‘ umbringen, gut - aber Hauptsache der Ton stimmt...

Man merkt, dass er kurz davor ist, einen cholerischen Anfall zu bekommen, doch stattdessen wirft er seine Serviette weg und läuft aus dem Raum. Die Geschworenen blicken Julius erstaunt nach. Nahe des Mesners Karl, der nicht überrascht, sondern böse auf Julius schaut. Geschäftsfrau Hertha echauffiert sich etwas künstlich und nimmt Marias Hand. Maria blickt Julius besorgt nach und versucht sich dezent aus Herthas Griff zu befreien.

54.GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER RICHTER PEYER (OFF) Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie als Ehefrau des Angeklagten nicht aussagen müssen, wenn Sie es nicht wollen.

Elisabeth Murer im Aussagestand. Sie wirkt wie eine uneinnehmbare Festung.

ELISABETH MURER Ich will aussagen, Herr Rat.

Während der Aussagen wird vorwiegend auf die Reaktionen der Geschworenen geschnitten.

ELISABETH MURER (OFF/ON) … Ja, ich habe meinen Mann drei Wochen in Wilna besucht, aber im Ghetto war ich nicht. Ich konnte mich überzeugen, dass mein Mann in Wilna allgemein sehr beliebt war. Weil er immer sehr pflichtbewusst war. Deshalb ärgert es mich auch, wenn da irgendwelche Leute Gerüchte in die Welt setzen, dass er Koffer mit Gold nach Hause geschickt hat. Diese Lügen haben bewirkt, dass man meinen Mann nach dem Krieg verhaftet hat. Der Major Ramsey hat damals zu mir gesagt, dass mein Mann am

116 nächsten Tag an die Sowjetunion ausgeliefert wird. Ich habe es dem Franz aber nicht erzählt, weil der Franz ja auf keinen Fall flüchten wollte. Ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht ihm den Schlaf zu rauben in der letzten Nacht. Ich bin dann nochmals zum Major Ramsey und der hat mir gesagt, wenn er in der Nacht flüchtet, dann wird er persönlich dafür sorgen, dass niemand schießt. Aber der Franz wollte nicht. SCHNITT In Wilna haben dann dreihundert Zeugen für meinen Mann ausgesagt. ------SCHNITT (Einschub = 54A) DR. FEIGENBERG Ich war selbst beim Prozeß in Wilna als Zeuge geladen und Murer wurde wegen Erschießung sowjetischer Bürger verurteilt. Die Ermordung der Juden wurde dort nicht verhandelt, denn Juden zählten nicht als Bürger der UDSSR. Murer wurde als Haupttäter zur Höchststrafe verurteilt, denn die Todesstrafe wurde zu der Zeit nicht mehr verhängt. ------

SCHNITT (Fortsetzung) Elisabeth Murer im Zeugenstand bekommt eine brüchige weinerliche Stimme.

ELISABETH MURER Man weiß ja, wie die Russen mit den Unsrigen umgegangen sind. Aber ich hätte auch fünfundzwanzig Jahre auf ihn gewartet. Und dann 55, als er zurückgekommen ist, das war der schönste Tag in meinem Leben. Er war so beliebt im Ort, dass man ihn förmlich hinein gedrängt hat, in ein politisches Amt. Und kaum ging es aufwärts bei uns, da hat dieser Herr Wiesenthal keine Ruh geben wollen und wieder neue Verleumdungen in die Welt gesetzt. Seltsam, dass der Staat Österreich eine private Femeorganisation zulässt, die Menschen durch ausländische Geheimdienste verschleppen lässt.

Frau Schuhmann im Publikum blickt empört zu dem Vorsitzenden Peyer, dann zu ihrem passiv zuhörenden Mann, dann wieder zu Peyer, der lässt aber Frau Murer ohne Ermahnung gewähren.

Die Geschäftsfrau Hertha B., die bei keinem jüdischen Zeugen eine Regung zeigte, 117 bekommt bei Frau Murer feuchte Augen. Der Mesner Karl beobachtet die Szenerie, sein Blick bleibt auf Julius kleben, der Frau Murer böse ansieht, und sich nervös kratzt.

55.KIRCHE INNEN/TAG

Die Abendmesse ist gerade vorbei und Mesner Karl löscht die Kerzen. Als er hinter die Säule geht, blickt er erstaunt, auf einen Mann, der offenbar auf ihn gewartet hat.

SCHNITT

RICHARD HOCHREINER Wollte nur wissen, wie bei euch die Stimmung ist.

Mesner Karl druckst herum.

MESNER Bis zur Aussage von dem Kagan und dem Schmigl war es eine klare Sache. Jetzt ist die Stimmung anders.

RICHARD HOCHREINER Was heißt das?

MESNER Bei drei bin ich mir ja sicher, aber der Rest?

RICHARD HOCHREINER Du meinst, es könnte 5:3 gegen Murer ausgehen?

Aus dem nichts taucht ein dritter Mann aus dem Dunkel auf, der wohl schon eine Weile zugehört hat. Es ist der Vorsitzende Geschworene Schuldirektor Friedrich.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Leider ja. Vor allem der Julius Kloiber ist ein Problem, der hetzt regelrecht gegen den Murer.

RICHARD HOCHREINER Unser kleiner Julius, ein Judas?

Mesner Karl nickt.

RICHARD HOCHREINER Und der Ersatzgeschworene? 118 SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Mit dem habe ich geredet- ein hochanständiger Mann.

Richard Hochreiner nickt nachdenklich.

56.WOHNUNG SCHUHMANN INNEN/NACHT

Geladene Stimmung im Raum.

STAATSANWALT SCHUHMANN Warum interessiert dich der Murerfall überhaupt so?

Frau Schuhmann zeigt ihrem Mann Drohbriefe.

FRAU SCHUHMANN Das hab ich dir nicht gezeigt. Du hast ja schon genug am Hals. Ich halte es nicht mehr aus. Österreich ist....

Herr Schuhmann blickt auf einen Brief - JUDENKNECHT! Er zerknüllt ihn wütend und wirft ihn in den Papierkorb.

STAATSANTWALT SCHUHMANN ...jaja in Holland ist alles besser-nicht nur der Kas.

Frau Schuhmann steigt darauf nicht ein, sondern wendet sich von ihrem Mann ab.

57. WOHNUNG JULIUS KLOIBER INNEN/NACHT

Die Milch kocht über. JULIUS‘ OMA (76) nimmt sie rasch vom Herd und blickt zu Julius, der geknickt am Küchentisch sitzt.

JULIUS OMA Bin ich froh, wenn das vorbei ist....

Julius setzt sich nieder und stützt sich den Kopf auf. Er muss jetzt mit jemandem reden.

JULIUS KLOIBER Ich weiß nicht, was ich tun soll, Oma. Ich weiß es nicht...

119 Julius‘ Oma blickt ihn besorgt an.

JULIUS OMA Nur keine Dummheiten, Bub. Versprich mir das!

Es läutet. Die beiden blicken sich fragend an. Julius Oma öffnet die Tür. Es ist Schuldirektor Friedrich. Julius Oma blickt den Schuldirektor mißtrauisch an un erwidert den Gruß nicht.

JULIUS OMA (ZISCHT) Habt´´s ihm noch nicht genug angetan? Ihr ...

Dem Schuldirektor Friedrich ist die Situation unangnehm. Julius sieht seine Oma nochmals an, dann geht er mit dem Direktor hinaus auf den Gang.

Julius Oma bleibt in der Küche und horcht dann aber an der Tür.

57 A) FLUR INNEN/NACHT Julius mit Schuldirektor Im Flur auf und ab gehend.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH … Ich versteh‘ dich ja. Du warst ein junger Bursch damals. Und genau deshalb haben sie dich ja aus der Sache rausgehalten damals.

Julius rückt unangenehm hin und her. Er hat wie immer sein hochkragiges Hemd an. Er löst einen Knopf und man sieht erstmals eine vernarbte Schnittwunde an der Halsschlagader. Friedrich ist für einen Moment darüber irritiert, worauf Kloiber peinlich berührt den Knopf wieder sofort zumacht.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Deinen Namen hat damals auch keiner genannt im Verfahren 48. Findest du nicht, dass du jetzt was schuldig bist?

Julius blickt Schuldirektor Friedrich fassungslos an, bevor es aus ihm heraus bricht.

JULIUS KLOIBER Ich kann den Murer nicht freisprechen. Vorher zeig‘ ich mich selbst an. Ich kann nicht gegen mein Gewissen...

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Na das verlangt ja niemand. 120 Julius blickt erstaunt zu Friedrich.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Du wirst dich befangen erklären und gut ist es. Und du bist ja befangen. Das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Julius blickt Friedrich hin- und hergerissen an. Oma Kloiber öffnet abrupt die Tür. Schuldirektor Friedrich zieht seinen Hut.

58.WOHNUNG SCHUHMANN INNEN/NACHT

Das Ehepaar Schuhmann befindet sich inmitten einer schon länger dauernden Auseinandersetzung. Frau Schuhmann hat die Schuhe ihres Mannes in der Hand.

FRAU SCHUHMANN Du hast dich von dem Böck vorführen lassen. Du agierst wie ein Anfänger. Diese Entlastungszeugen sind doch ein Witz und du...?

STAATSANTWALT SCHUHMANN Gut, dass du mir auch noch in den Rücken fällst.

FRAU SCHUHMANN Ich will ihn dir stärken. Der Böck steht schwächer da...

STAATSANTWALT SCHUHMANN ...aber die öffentliche Meinung.

FRAU SCHUHMANN Die darf doch bei einem Verfahren nicht ausschlaggebend sein.

STAATSANTWALT SCHUHMANN Wir sind nicht inDen Haag. Wir sind in Graz.

FRAU SCHUHMANN (BISSIG) DIE STADT DER ERHEBUNG...

121 STAA TSANWALT SCHUHMANN Du verstehst die Mentalität unserer Geschworenen nicht. Die sind fast alle die Generation vom Murer und alle haben im Krieg jemand verloren.

FRAU SCHUHMANN Aber...

STAA TSANWALT SCHUHMANN ...Nix „aber“. Fakt!

Frau Schuhmann wirft die Schuhe in die Ecke und blickt ihren Mann herausfordernd an. Das Telefon läutet, Frau Schuhmann stürmt in Erwartung eines anonyen Anrufs zum Apparat. Ihre Stimme ist dementsprechend wütend:

FRAU SCHUHMANN Wer ist da bitte...?

Plötzlich ändert sich ihre Miene.

FRAU SCHUHMANN Für dich. Dienstlich. Aus Wien.

Staatsanwalt Schuhmann nimmt den Hörer und blickt streng zu seiner Frau. Frau Schuhmann entfernt sich unwillig.

58.A) BLUMENGESCHÄFT AUSSEN/TAG

Frau Feigenberg blickt auf der Straße zu ihrem sorgenvoll blickenden Mann. Sie schlendern an einem Blumenstand vorbei. Spontan nimmt sie eine Teenelke aus dem Ständer und steckt sie Dr. Feigenberg ins Knopfloch. Er lächelt kurz, bevor er wieder in seine Lethargie verfällt.

59. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Staatsanwalt Schuhmann hält sein Plädoyer

STAATSANWALT SCHUHMANN (ON) Wenn Herr Murer behauptet, von nichts zu wissen, so ist diese Verantwortung zu einfach. Es hieße, der Beweiswürdigung Gewalt antun, wollte man denen nicht glauben, die gesehen haben, was Murer getan hat. Ja, es 122 ist richtig, manchen Zeugen sind Irrtümer und Verwechslungen unterlaufen. Aber es ist leichtfertig und gewissenlos, deswegen das gesamte Beweismaterial als unglaubwürdig abzutun. Murer ist in Wilna eine bekannte und gefürchtete Person gewesen. Und eine Verwechslung in jenen beiden Fällen ist absolut auszuschließen, in welchen Leon Schmigel Augenzeuge der Erschießung seines Sohnes und Jacob Kagan Augenzeuge der Ermordung seines Vaters war. Wer mit eigenen Augen mitansehen muss, wie sein Kind getötet wird, der wird nicht nur die Tat, sondern auch den Täter ein Leben lang nicht vergessen. Ich meine, dass die Aussagen dieser Zeugen ohne jeden Zweifel ausreichen, um erkennen zu können, dass Murer hier schuldig geworden ist.

Frau Schuhmann sitzt in der letzten Reihe, auf ihrem Gesicht ein zufriedener Ausdruck.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Wir haben in den letzten Tagen Dutzende Zeugen gehört, die uns einen Einblick über das ungeheure Verbrechen gegeben haben, das in Wilna stattgefunden hat, zu jener Zeit, als der Angeklagte Franz Murer für das Ghetto verantwortlich war. Die Verteidigung wurde nicht müde seine Rolle klein zu reden, doch die Tatsachen sprechen gegen ihn. Er war nicht der weisungsgebundene Angestellte, nein er war der Herr über das Ghetto. Von den achtzigtausend Juden in Wilna, das man das Jerusalem des Ostens nannte, überlebten nur sechshundert die Schreckensherrschaft.

Fahrt über die Zuschauerreihe über die Gesichter der gespannt zuhörenden jüdischen Zeugen. Dr. Feigenberg und Frau, Selig Shmilewitz, Hermann Rubinoff, Tova Rajzman, Ariel Koslowski, Ephraim Schuster, Shimon Trabski, Israel Szelubski, Sima Kinbrenner und Leon und Jacob.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF/ON) Und Herr Murer will uns weismachen, dass er damit nichts zu tun hat. Wir haben Zeugen aus allen Teilen der Welt gehört, und sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass Herr Murer nicht nur moralisch für die Verbrechen verantwortlich ist, sondern auch direkt, und nur darum geht es in diesem Prozess, persönlich Verbrechen begangen hat. Ich möchte auch anmerken, dass die Anklage noch andere Zeugen hätte aufbieten können, die durch ein organisatorisches „Versehen“ entweder zu spät eingeladen wurden oder die Unkostenvergütung nicht erhalten haben und deshalb nicht erscheinen konnten. 123 Auch müssen wir mit Bedauern akzeptieren, dass jene Zeugen, die ihre Aussage schriftlich abgegeben haben, aber nicht persönlich erscheinen konnten, nicht befragt werden konnten, und somit auch für die Staatsanwaltschaft nicht als stichhaltig gewertet werden.

Frau Schuhmanns Ausdruck schalten von wohlwollend auf irritiert verwundert. Dr. Feigenberg blickt unruhig zu seiner Frau. Staatsanwalt Schuhmann räuspert sich. Seine Stimme sitzt nicht mehr richtig.

STAATSANWALT SCHUHMANN Von den Anklagepunkten, die wir in Faktum eins bis siebzehn beziffert haben, sind durch die Befragung der Zeugen Unstimmigkeiten aufgetreten, die uns veranlassen, den Geschworenen zu empfehlen in jenen Fällen für nicht schuldig zu stimmen.

Dr. Feigenberg blickt entsetzt zu seiner Frau.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Dies betrifft Faktum 4

Schnitt Nah Dr. Feigenberg.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Faktum 9

Schnitt Nah Israel Szelubski.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Faktum 13

Nah des geschockten Selig Shmilewitz.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Faktum 14 und 15.

Schwenk über Hermann Rubinoff, Tova Rajzman, die verwirrt nach vorn sehen.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) In anderen Fällen wie Faktum 1, 2, 6, 12 und 16 gibt es aus Sicht der Staatsanwaltschaft gewichtige Indizien für

124 schuldig zu plädieren, aber auch einige Dinge, die Grund zu Zweifel lassen.

Schwenk über die Gesichter von Tova Rajzman, Ariel Koslowski,

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Wir stellen den Geschworenen in jenen Fällen frei, wie sie sich entscheiden.

Frau Schuhmann blickt fassungslos.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) In sieben Fällen ist für uns die Beweislast so erdrückend, dass wir den Geschworenen empfehlen, in der Hauptfrage für schuldig zu stimmen.

Ephraim Schuster, Shimon Trabski , Israel Szelubski, Sima Kinbrenner. Frau Schuhmann ist irritiert und versucht sich einen Reim zu machen.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) Es handelt sich um Faktum 1,3,5,7,8,10,11 und 17.

Jakob und Leon sehen sich an und blicken zu den Zeugen, die der Staatsanwalt als ungläubwürdig qualifiziert hat.

STAATSANWALT SCHUHMANN (OFF) In diesen Fällen gibt es nicht nur eindeutige, nicht widersprüchliche Zeugenaussagen, die auch durch die Verteidigung nicht erschüttert werden konnten.

Im Saal macht sich Unruhe breit. Elisabeth Murer hebt den Kopf und freut sich über diese Reaktion. Ihr Ältester nimmt ihre Hand. Auch Böck sieht man Verwunderung/Irritation an. Frau Schuhmann steht entrüstet auf und verläßt den Saal. Schuhmann sieht ihr nach und hofft, daß diesen Auftritt niemand bemerkt hat. Krone- und Tagespostjournalist machen eifrig Notizen. Rosa füstert Nowak ins Ohr. Man sieht die gedemütigten jüdischen Zeugen.

ROSA SEGEV Noch nie habe ich einen Staatsanwalt erlebt, der seine eigenen Zeugen so bloß stellt. Widerlich!

125 VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte um Ruhe im Saal. SCHNITT Böck nimmt eine Tablette, bevor er loslegt.

VERTEIDIGER BÖCK ON/OFF) „Hohes Gericht, verehrte Geschworene“. Am 1. November 1943 wurde von den Außenministern der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA die Moskauer Deklaration beschlossen. Darin heißt es, ich zitiere: Österreich war das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte und von deutscher Herrschaft befreit werden soll“

Böck macht eine ungeschickte Bewegung. Die Zettel fallen herunter. Böck scheint aus dem Konzept. Schnell steht er auf hebt die Zettel auf und spontan entschließt er sich nun nicht mehr zum Platz zurück zu gehen, sondern sein Pläydoyer im Gehen vorzutrauegen.

„Österreich ist frei“. Acht Jahre ist es nun her, seit wir endlich jubeln konnten und der Alptraum der Naziherrschaft und der Besatzung beendet ist. „Österreich ist frei!“ Ein Freudentag . Doch wie muss dieser 15. Mai 1955 erst gewesen sein für diejenigen, denen man die Heimkehr vorenthalten hat? Die bis dato in sowjetischen Lagern einer ungewissen Zukunft entgegen sahen? „Österreich ist frei“ hat für diese Menschen noch einen anderen Klang. Denn dieser Satz bedeutet das Ende von Gefangenschaft und Not. Franz Murer, ein steirischer Bauernsohn, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Als Soldat hat er wie Millionen seine Pflicht erfüllt. „Österreich ist frei!“ - das hieß für ihn, heimkehren zur Familie, sich um die Wirtschaft daheim kümmern, wieder unter seinesgleichen zu sein, in Frieden. Alle, die in Gefangenschaft waren, wissen, was das bedeutet. Und dann, als alles sich zum Guten wendet. Erneute Vorwürfe, Denunziation und dann eine Justiz, die sich dem Druck beugt. Über fünfundsiebzigtausend Schilling musste der österreichische Steuerzahler berappen, um jüdische Zeugen aus den USA, Israel und anderen Staaten hier aussagen zu lassen. Und sie haben ungeheuerliche Geschichten erzählt. Aber eines ist dabei deutlich geworden. Die Zeugen standen sichtlich unter einer gewissen Lenkung und Leitung. Hielten sie der Beweisführung hier vor Gericht stand? Nein! Den Zeugen war die Lüge ins Gesicht geschrieben. Wir sind hier vielmehr Zeuge einer Verschwörung geworden. Eine

126 Verschwörung gegen Franz Murer. Die Staatsanwaltschaft selbst muss die Unzuverlässigkeit ihrer Zeugen einräumen und fragt dann im gleichen Atemzug, ob es unmöglich ist, dass so viele Zeugen aus aller Welt sich verabredet haben oder sich irren. Ich sage „Ja“. Sie irren sich oder vielmehr wollten sich irren. Da wurden Gräueltaten des Angeklagten bezeugt, die er 1944 begangen haben soll wie der Mord an Jacob Gens, dem Chef der jüdischen Polizei, den Franz Murer angeblich persönlich erschossen hat. Dies hat sich als eine glatte Lüge erwiesen. Als Gens starb, war Franz Murer nachweislich schon Hunderte Kilometer östlich, abkommandiert an die Ostfront. Ich könnte diese Kette von falschen Anschuldigen noch stundenlang fortsetzen. Aber wozu? Sie waren ja selbst in den letzten Tagen Zeugen. In jedem Krieg passieren Gräuel. Da ist nichts zu leugnen oder zu beschönigen. Krieg ist Krieg. Aber man soll auch nicht vergessen, was die jüdischen Zeugen selbst aussagten. Es gab in Wilna aus den Reihen der Juden bewaffnete Banden, die aus dem Hinterhalt agierten und der Roten Armee in die Hände arbeiteten. Das Bild der unschuldigen Opfer ist also durchaus zu hinterfragen. Aber hier geht es nicht um die Beurteilung von Kriegsschuld, sondern hier steht ein einzelner Mann vor Gericht für etwas, was er nicht getan hat. Über die Motive, warum hier vor Gericht gelogen wurde, zu reden, würde heißen, sich in Spekulationen zu verlieren, wo doch vor Gericht nur einem gedient werden darf: der Wahrheit.

Langsamer Schwenk von Leon zu Jacob und dann über die anderen jüdischen Zeugen, die Böck fassungslos zuhören.

VERTEIDIGER BÖCK OFF/ON Die Tatsache, dass der Vater das Opfer ist, schließt nicht aus, dass der Sohn gelogen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass die Zeugen gelogen haben, und mich hat auch gewundert, warum der Staatsanwalt gegen sie keine Maßnahmen wegen Verdachts der falschen Zeugenaussage getroffen hat! Für die Juden war es gleich, wer gemordet hat, ihr Feind ist der Mann in deutscher Uniform, ob braun oder grau oder grün. Unterschwellig schwingt bei ihnen allen der Gedanke an Kollektivschuld mit. Doch ich erinnere an meine Eingangsworte: Österreich war das erste Opfer Hitlers! Herr Murer sitzt hier als Sündenbock, als Objekt der Rache von ausländischen Interessen. Aber hohes 127 Gericht, verehrte Geschworene: „Österreich ist frei“. Halten Sie sich an die Tatsachen und nicht an fabrizierte Beweise und Vorurteile. Ich fordere deshalb die Geschworenen auf zur Verneinung sämtlicher Fragen. In diesem Verfahren kann es nur eine Antwort geben: Freispruch in allen Punkten!

60. GERICHT DAVOR AUSSEN/TAG

Die österreichischen Journalisten sind in aufgekratzter Stimmung. Rosa beobachtet die Kollegen. Nowak hat es eilig und will an seinen Kollegen vorbei, doch Journalist Tagespost macht sich breit und der Journalist Krone hilft ihm dabei. Nowak muß umständlich an den beiden vorbei.

JOURNALIST TAGESPOST (LAUT) Riechst du das auch? Riecht nach...

JOURNALIST KRONE Nestbeschmutzer aus Kolonne 5.

Nowak überlegt kurz was zu sagen, doch dann läuft er doch schnell an den beiden vorbei.

JOURNALIST TAGESPOST Fünfzig Schilling auf Freispruch.

JOURNALIST KRONE So sicher ist die Sache nicht. Die „Österreich ist frei“ Masche kann auch nach hinten losgehen.

JOURNALIST TAGESPOST Bei den Geschworenen ist es gut angekommen…

JOURNALIST KRONE Nicht nur bei denen.

Journalist Tagespost ist das Grinsen seines Kollegen für einen Moment peinlich.

JOURNALIST KRONE … Selbst wenn die Geschworenen für Freispruch plädieren. Ich bin sicher, dass das Gericht in dem Fall das Urteil aufheben wird...

128 JOURNALIST TAGESPOST ... Die Wette gilt ... Murer geht heute frei nach Hause.

Rosa schließt die Augen. Sie wirkt erschöpft und müde und lässt kurz die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Ein unverschämt schöner Junitag - kein Wölkchen am blauen Himmel. Als Rosa die Augen öffnet, steht Leon vor ihr. Sie blickt ihn verwirrt an.

LEON (ENGLISH) Sie haben noch was von mir.

Rosa sieht ihn entgeistert an.

LEON (ENGLISH) Keine Angst.... Aber es ist ein sehr gutes Messer.

Rosa ist noch immer skeptisch.

LEON (ENGLISH) Ich kann ja nicht einmal von einem Apfel abbeißen - Dank dem Herrn Murer...

Rosa blickt ihn betroffen an, doch Leon stört dieser Betroffenheitsblick, und er entgegnet deshalb gespielt lakonisch.

LEON (ENGLISH) Und was der Murer nicht geschafft hat, hat mein Dentist vollendet.

Er führt Rosa sein Gebiss vor, das tatsächlich nicht sitzt, sondern halb lose ist.

LEON (ENGLISH) Ein Verbrecher. Und dafür wollte er noch hundert Dollar.

Rosa ist noch etwas unschlüssig. Sie lächelt kurz über Leons sarkastische Bemerkung. Schweigen.

ROSA (ENGLISH) Glaub‘ mir Leon. Du hast das Richtige getan…

Leon sieht Rosa schweigend und eindringlich an, was diese aus dem Konzept bringt und ihren Satz nicht vollenden lässt Anscheinend ist sie nicht von ihren eigenen Worten 129 überzeugt.

LEON (ENGLISH) Und mein Messer?

61. GERICHT: BERATUNGSZIMMER INNEN/TAG

Die acht Geschworenen und der Richter bei Tisch

VORSITZENDER PEYER Falls Sie noch Fragen zu der Belehrung haben, jetzt wäre der richtige Augenblick. Wenn nicht, werde ich mit Ihnen nun jede vom Gericht gestellte Frage durchgehen und Sie dann allein lassen, bis Sie zu einer Entscheidung gefunden haben…

Er erwartet auf diese routinemäßig gestellte Frage eigentlich keine Frage und ist schon am Aufstehen, als sich Julius meldet.

JULIUS KLOIBER Ich...

Erstaunter Blick des Richters. Julius Stimme zittert.

JULIUS KLOIBER Ich kann nicht...

Statt einer Frage heften sich bohrende Blicke auf ihn.

JULIUS KLOIBER Ich möchte mich nochmals als befangen erklären. Ich kann nicht neutral urteilen.

62. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Die drei Richter stehen sichtlich nervös beieinander. Es herrscht eine gereizte Stimmung

RICHTER II Die Bestellung eines Ersatzgeschworenen bedarf einer neuerlichen Eröffnung der Hauptverhandlung. Punkt.

130 RICHTER I In dieser Eindeutigkeit ist es eben nicht fest geschrieben, Herr Kollege.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Bitte meine Herren. Wir sind hier in keinem juristischen Seminar. Eine neuerliche Verhandlung würde beim gleichen Ergebnis eine nicht vertretbare Verzögerung bedeuten.

RICHTER II Aber wenn wir uns auf diesen Graubereich einlassen, dann könnte die ganze Legitimität des Verfahrens angefochten werden. Und der Staatsanwalt wird diesen Verfahrensfehler nutzen und dann...

Richter 2 schüttelt den Kopf und wendet sich aufgebracht zu seinem Kollegen.

VORSITZENDER PEYER ...mit dem Staatsanwalt wird man sich einigen. Der ist weisungsgebunden. Und die Signale aus Wien sind diesbezüglich eindeutig.

Vorsitzender Peyer blickt die beiden Kollegen eindringlich an.

63. GERICHT DAVOR INNEN/TAG

Weite Totale. Julius Kloiber kommt aus dem Gebäude. Langsam geht er die Treppe abwärts.

Nah. Julius wirkt jenseits. Fast hat man das Gefühl er fällt in Ohnmacht. Er setzt sich auf die Treppenstufen

Ein patroillierender Gendarm dreht sich von der Ferne herum und blickt Julius an. 131 Obwohl er weit weg ist, spürt Julius diesen Blick und sthet reflexartig auf. Noch einmal blickt er sich zum Gericht um.

64. GERICHT: BERATUNGSZIMMER INNEN/TAG

Halbnah. Der Ersatzgeschworene hebt die rechte Hand zum Schwur ERSATZGESCHWORENER Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe.

SCHNITT SCHULDIREKTOR FRIEDRICH In der von meinen Mitgeschworenen bestimmten Funktion als Obmann eröffne ich nun die Beratung mit dem neu vereidigten Ersatzgeschworenen.

65. . GERICHT: WARTERAUM INNEN/TAG

MONTAGESEQUENZ

Musik, teilweise ohne O-TON Kamera schwenkt über die Gesichter von Selig Shmilewitz, Hermann Rubinoff, Tova Rajzman, Ariel Koslowski, die angespannt im Warteraum des Gerichts sitzen.

65A. GERICHT: FLUR INNEN/TAG Auf dem Flur im Gericht stehen rauchend und sich unterhaltend: Ephraim Schuster, Shimon Trabski und Israel Szelubski.

65. B. HOTEL: ZIMMER PERL AKIN INNEN/TAG

Sima und Perl sind im Hotelzimmer. Perl zittert am ganzen Körper. Sima kümmert sich um sie. Da fällt Simas Blick auf die Chanel Nr.5 Flasche auf dem Nachtkästchen.

PERL (JIDDISCH) (Willst du es haben? Hat mir die Frau Dr. geschenkt.) Du willst dos hoben? Hot mir geget die Froj Doktor a matone –

132 SIMA (JIDDISCH) (Aber das ist doch teuer?) Ober dos is sejer tejer.

PERL (JIDDISCH) (So hat das deutsche Fräulein im Ghetto gerochen, bei der ich gearbeitet hab. Mir kommt‘s Speiben, wenn ich es riech‘.) Asoj hot dos fräulein in getto geschmeckt, wo ich hob gearbet. Ich wollt ojsbrechen wann ich schmeck dos.

65. C HOTEL: LOBBY INNEN/TAG

MONTAGESEQUENZ

Israel Szelubski in der Telefonzelle des Hotels aufgeregt telefonierend. Der Empfang scheint schlecht zu sein. Hermann Rubinoff, Selig Shmilewitz sitzen diskutierend Leon und Jacob sitzen abseits. Leon blickt Jacob für einen Moment voll Zuneigung an - bevor er wieder seine harte Maske aufsetzt. Nowak bietet der aufgekratzten Rosa seinen Flachmann an. Rosa lehnt zuerst ab, dann schnappt sie ihn doch und nimmt einen so großen Schluck, dass Nowak etwas verdutzt schaut.

66. BLUMENGESCHÄFT INNEN/TAG

O-Ton Die Verkäuferin ist dabei, einen Blumenstock umzusetzen und spricht mit Herrn Dr. Feigenberg, ohne mit der Arbeit aufzuhören.

VERKÄUFERIN Schnittblumen?

DR. FEIGENBERG (DEUTSCH) Ja, einen Strauß. Meine Frau hat heute Geburtstag.

VERKÄUFERIN Alles aus. Nur mehr Töpfe oder Grabgestecke.

Dr. Feigenberg, der mit dem Dialekt der Verkäuferin Schwierigkeiten hat, sieht sich ratlos um.

133 DR. FEIGENBERG Und gibt es noch ein anderes... Shop... äh... Magasin?

VERKÄUFERIN ... Da werden Sie kein Glück haben, der Herr. Die haben schon Kunden zu mir geschickt. Ich weiß ja auch nicht, was heute los ist.

67. GERICHT: BERATUNGSZIMMER INNEN/TAG

Man spürt eine geladene Atmosphäre im Raum.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Also dann… Eine erneute Abstimmung zur Frage Nummer 15. Fall Kagan. Wer der Geschworenen stimmt für „Nein“, also nicht schuldig?

Wieder schnellt der Arm der Geschäftsfrau Hertha als erster in die Höhe, gefolgt von Mesner und Schuldirektor. Eine Pause. Keine andere Hand hebt sich.

SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Drei Stimmen für Nein. Und nun: Wer ist für Ja. schuldig.

Der erste, der kaum bevor Friedrich ausgesprochen hat, die Hand nach oben reißt, ist der kleine Angestellte Norbert. Alle sind überrascht, daß dieser bisher unauffällige Mann so eine klare Haltung hat. Dieser Moment einsamer Courage ist Norbert kurz peinlich, doch dann gesellen sich Gewerkschafter Karl, Kunstmaler Franz dazu. Nun richten sich alle Blicke auf die Bäuerin Maria. Sie kämpft mit sich. Sie hat den Impuls die Hand zu heben.

GESCHÄFTSFRAU HERTHA Aber, das kann doch nicht dein Ernst sein, Maria!

BÄUERIN MARIA Seit wann sind wir bei „Du“?

Bäuerin Maria ist nun entschlossen. Es ist für sie ein großer Akt. Sie läßt die Hand länger oben als notwendig. Geschäftsfrau Hertha springt auf, doch Schuldirektor Friedrich deutet mit der Hand sie soll sich wieder setzen. Wütend gehorcht sie. Schuldirektor Friedrich tötet die schüchterne Bäuerin beinahe mit Blicken, bevor er wieder in seine neutrale Rolle zurückfällt.

134 SCHULDIREKTOR FRIEDRICH Also 3:4 nun hängt alles an Ihnen.

ERSATZGESCHWORENER Stimmengleichheit wäre Freispruch - ist das richtig?

68. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

Montagesequenz Analog zur Eingangsgerichtsszene wird die Urteilsverkündung als theatralisches Ereignis inszeniert. Ohne Originalton treten zum Finale auf: der Angeklagte. Der Verteidiger. Die jüdischen Zeugen. Die Zuschauer. Die Geschworenen. Dann die Richter. Der vorsitzende Richter Peyer wendet sich zu den Geschworenen.

VORSITZENDER RICHTER PEYER Ich bitte nun den Obmann der Geschworenen, dem Hohen Gericht den Wahrspruch mitzuteilen

69. WOHNUNG JULIUS KLOIBER INNEN/TAG

Am Küchentisch sitzt Julius, vor ihm ein Teller Suppe. Im Hintergrund läuft das Radio

JULIUS OMA Iss‘ was Bub.

Julius starrt auf den Teller

JULIUS KLOIBER Hab‘ keinen Hunger, Oma.

Die Oma setzt sich seufzend nieder.

JULIUS OMA Du hast schon das Richtige getan...

Julius lacht sarkastisch auf.

135 JULIUS KLOIBER Feig war ich, wieder einmal...

JULIUS OMA Dass du immer alles so schwer nimmst.

JULIUS KLOIBER Wenn es vier zu vier ausgeht? Wenn es meine Stimme ist, die fehlt und er frei kommt? Das würde ich nicht überleben.

Die Oma schlägt wütend auf den Tisch und steht auf.

JULIUS OMA Blödsinn! Es geht immer weiter im Leben, und jetzt iss!

Julius springt auf und dreht das Radio auf laut.

RADIOSPRECHER (OFF) (Gongton) 16 Uhr. Hier ist der österreichische Rundfunk mit den Nachrichten. Das Schwurgericht Graz fällte nach einer Prozessdauer von zehn Tagen soeben einen Urteilsspruch gegen Franz Murer. Der wegen Mordes in mehreren Fällen während des Krieges in Wilna angeklagte Steirer...

70. BÜRO WIESENTHAL INNEN/TAG

Simon Wiesenthal sitzt gebannt neben dem Radio.

RADIOSPRECHER (OFF) ...wurde von allen Anklagepunkten frei gesprochen.

Simon Wiesenthal sackt in sich zusammen. Zuerst ein Moment des Schocks, bevor eine unbändige Wut in ihm aufsteigt.

71. MINISTERBÜRO INNEN/TAG

Minister Broda, der eingekeilt von imposanten Aktenstapeln sitzt, hebt den Kopf.

RADIOSPRECHER (OFF) In 12 Anklagepunkten entschieden die 8 Geschworenen 136 ohne Gegenstimme für unschuldig.

Minister Broda ist erleichtert, doch ohne Freude. Er seufzt tief und arbeitet weiter.

72. GASTHAUS INNEN/TAG

Dr. Wallner und einige Parteikollegen springen voll Freude auf.

RADIOSTIMME (OFF) In zwei Fällen jedoch war die Entscheidung äußert knapp. Die Geschworenen stimmten in diesen Fällen mit 4:4. Laut österreichischer Strafprozessordnung wird Stimmengleichheit als Freispruch gewertet.

73. WOHNUNG JULIUS KLOIBER INNEN/TAG

Julius Kloiber in Schockstarre. Er hat etwas Wahnsinniges im Ausdruck. Als seine Oma ihn trösten will, stößt er sie weg. Sie lässt es geschehen, ohne sich zu wehren.

RADIOSTIMME (OFF) Die Staatsanwaltschaft legte Nichtigkeitsbeschwerde ein und stellte den Antrag, Franz Murer bis zur Entscheidung in Haft zu behalten....

74. GERICHTSSAAL INNEN/TAG

VORSITZENDER PEYER (OFF?) Dem Antrag der Staatsanwaltschaft wird nicht stattgegeben. Da bei Herrn Franz Murer keinerlei Anzeichen auf Fluchtgefahr besteht, ist er unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.

Schließung der Verhandlung im off

Jubel bricht im Saal aus. Die Richter schaffen es kaum, sich noch Gehör zu schaffen. Vorsitzender Peyer und Staatsanwalt Schuhmann blicken sich für einen Moment intensiv und zweideutig an. Euphorie breitet sich im Saal aus, gegen die sie keine Chance haben. Die Juden sitzen geschockt inmitten der jubelnden Menge. 137 Leon blickt wütend zu Rosa, die in sich versunken in Schockstarre bleibt. Als Nowak sie besorgt anblickt, wendet sie sich ab und läuft aus dem Saal. Sie wirkt komplett aufgelöst. Richter Peyer dreht sich beim Verlassen noch einmal um zu Murer. Ihre Blicke treffen sich. Murer nickt dem Richter dankend zu. Über Peyer huscht einen Moment ein mildes Lächeln bevor er sich mit feierlichem Ernst umdreht. Journalist Krone gibt seinem Kollegen von der Tagespost missmutig einen fünfzig Schillingschein.

75. GERICHT: RICHTERZIMMER INNEN/TAG

Verteidiger Böck in seinem Zimmer. Er zieht seine Robe aus. Böcks Gesicht ist schweißnass. Ein Tischventilator dreht vergeblich seine Runden. Wie ein Schauspieler in der Garderobe fällt nun seine Rolle von ihm ab. Dicke Schweißflecken unter den Achseln. Er hängt den Talar in den Schrank. Sein Blick fällt auf die Aktenberge. Böck wirkt keineswegs wie der strahlende Sieger. Er sieht nun blass, erschöpft und kraftlos aus. Böck lockert die Krawatte, wäscht sich gründlich die Hände, bevor er sich eine Insulinspritze setzt. Böck zieht seine glänzenden Lederschuhe aus. Ein unangenehmer Geruch steigt ihm in die Nase. Kurz entschlossen zieht er die Socken aus. Als es klopft, schlüpft er hektisch ohne Socken in Schuhe.

VERTEIDIGER BÖCK Herein!

Als Elisabeth Murer und ihr jüngster Sohn und Murers Schwester, Katharina Ritzinger hereinkommen, entspannt sich Böck wieder und bleibt sitzen.

ELISABETH MURER Herr Doktor. Wir haben ihnen auch noch eine Kleinigkeit mitgebracht.

Sie stellt ihm eine Torte auf den Schreibtisch. Angeekelt blickt er zuerst auf die Torte, dann auf die herausgeputzte Elisabeth Murer und die triumphal lächelnde Katharina Ritzinger.

VERTEIDIGER BÖCK So was darf ich leider nicht essen…

Elisabeth Murer blickt erschrocken auf die Injektionsnadel am Schreibtisch. Daneben ein kleines Fläschen der Firma Beyer mit der Aufschrift : Heroin.

VERTEIDIGER BÖCK (ERKLÄREND) … Zucker. 138 Elisabeth Murer und Katharina Ratzinger setzten ein mechanisch mitleidiges Gesicht auf.

VERTEIDIGER BÖCK Aber dem Buben wird sie sicherlich schmecken.

Der Bub grinst.

ELISABETH MURER Aber Sie kommen doch noch raus auf den Hof - auf einen Sprung?

Böck sieht sie fragend an.

KATHARINA RITZINGER Wir haben da eine kleine Feier... im engsten Kreis.

VERTEIDIGER BÖCK Ich fahr gleich nach Wien. Meine Frau…

ELISABETH MURER … Jaja, die hat ja jetzt auch wenig gehabt von Ihnen.

Elisabeth Murer grinst breit. Kurze, aber peinliche Stille.

VERTEIDIGER BÖCK Sie waren sich ja ziemlich sicher, dass es was zu feiern gibt.

ELISABETH MURER Todsicher.

Böck lächelt abfällig und sieht Katharina Ritzinger und Elisabeth Murer verächtlich an. Sie wirkt mit einem Mal unsicher und drückt ihren Sohn an sich. Dann lächelt sie breit.

KATHARINA RITZINGER Und wir wissen schon, wem wir das alles zu verdanken haben.

Gönnerhaft nickt der Anwalt und massiert dabei seine Füße. Frau Murer wird es durch Böcks demonstrative Nonchalance immer unbehaglicher. Sie versucht, dies durch einen Redeschwall zu überdecken.

139 ELISABETH MURER Wir hätten die Geschworenen nie überzeugen können. Ohne Sie. Wenn Sie nicht von Anfang an die Unschuld vom Franz geglaubt hätten und...

Angewidert blickt Böck Frau Murer an.

VERTEIDIGER BÖCK … Unschuld? Wie kommen Sie denn auf so was?

Elisabeth Murer glaubt, nicht richtig zu hören. Sie blickt die ebenfalls höchst verwundert aussehende Schwägerin an. Elisabeth gibt ihr den Buben zu Obhut.

ELISABETH MURER Wartet ihr draußen?

VERTEIDIGER BÖCK Da, vergiss die nicht.

Der Bub nimmt die Torte, macht einen Diener vor dem Anwalt, sieht nochmals kurz zu seiner Mutter, als ihn die Tante mit einer ruppigen Bewegung zur Tür hinaus schiebt. Katharina wirft dem Anwalt noch einen giftigen Blick zu. Elisabeth Murer sieht Verteidiger Böck an und will etwas sagen, doch Böck kommt ihr zuvor.

VERTEIDIGER BÖCK Ich hab‘ nur getan, was jeder Anwalt tut. Ich habe nur meine Pflicht erfüllt.

Elisabeth Murer nickt. Böck steht auf und holt ein frisches Paar Socken aus seiner Tasche. Die so kalt Stehengelassene wird immer unsicherer. In Frau Murers Kopf schwirrt es.

ELISABETH MURER Ich glaube, ich muss dann...

VERTEIDIGER BÖCK (MECHANISCH) Wiedersehen, Frau Murer!

Verwirrt über Böck will sie gehen, da dreht sie sich um und blickt den Anwalt noch einmal an.

140 ELISABETH MURER (HALB FRAGEND; HALB WIE EIN TROTZIGES KIND) Mein Mann ist kein Mörder!!?

Böck blickt sie tief und ernst an. Er schweigt. Kein erlösendes Wort. Eine intensive Pause. Stille. Elisabeth Murer überlegt. Mit einem Mal fällt alles Süße und Naive ab. Sie sieht fast wie eine andere Person aus. Ernst. Überheblich. Hart.

ELISABETH MURER Es waren nicht wir, die den Krieg begonnen haben. Und er ist auch noch nicht zu Ende, Herr Doktor.

Die Tür öffnet sich. Es ist klar, daß Katharina Ritzinger zugehört hat. Sie steigt ohne zu zögern in das Gespräch ein.

KATHARINA RITZINGER Und eines sag ich Ihnen schon noch. Es wird noch einmal eine Zeit kommen und da wird man meinem Bruder für sein Opfer danken.

ELISABETH MURER Auf wiederschau‘n, Herr Anwalt.

Böck ist über diesen Auftritt gleichermaßen verwirrt wie fassungslos.

76. BAR INNEN/TAG

Rosa kippt ein Glas hinunter. Neben ihr ein leeres. Sie sieht wirklich desolat aus. Sie blickt durchs Fenster hinaus auf die Straße. POV 70A Da sieht sie Jacob und Leon vorbeigehen. Die beiden streiten miteinander. Sie dreht sich weg, will nicht gesehen werden.

77. BAR: STRASSE DAVOR AUSSEN/TAG

Leon stößt Jakob von sich weg. Jakob nimmt Leon beim Ärmel. Leon tut sein Ausbruch auch gleich wieder leid. Da blicken sie erstaunt auf die Geschworene Maria, die ihren ganzen Mut zusammen nimmt. Sie ist aufgelöst und weiß nicht, was sie sagen soll.

141 BÄUERIN MARIA Es tut mir so leid... alles.

Leon und Jakob wissen nicht wie sie reagieren sollen. Die drei stehen sich gegenüber. Maria weiß nicht was tun.

BÄUERIN MARIA Das wollte ich ihnen noch sagen.

78. BAR INNEN/TAG

Rosa holt aus ihrer Handtasche Zigaretten. Man sieht, dass sich darin Leons Messer befindet. In Rosa arbeitet es bis sich ihr Blick fokussiert sich. Rosa spürt wie ein Mann am Tisch hinter ihr sie anblickt. Auch sein Sitznachbar dreht sich zu Rosa um. Rosa erschreckt. Er sieht wie der Doppelgänger von Eichmann aus. Da spürt Rosa eine Hand auf ihrer Schulter. Sie zuckt zusammen. Es ist Nowak.

NOWAK Und nun?

ROSA (BITTER, ZYNISCH) Ich werde morgen abfliegen. Ich hab einen neuen Auftrag in Rom. Das Begräbnis von Johannes Nummer 23. Scheint´s meine Murerberichte waren ein guter career step. Prost. Rest in peace, pope.

NOWAK Rest in pieces, Murer. Prost. To us...

ROSA ....and all the other writing prostitues of the world.

BARKEEPER Herr Nowak Telefon!

Nowak nimmt das Gespräch an. Rosa wendet sich ab und geht langsam zum Fenster.

79. GERICHT: TOILETTE INNEN/TAG

Nah-Verteidiger Böck wäscht sich die Hände, da sieht er im Spiegel Staatsanwalt Schuhmann herein kommen. Ein kurzer Moment der Irritation, dann nicken sich die beiden zu. Schuhmann stellt sich zum Becken neben Böck und gibt sich Wasser auf den 142 Nacken.

STAATSANWALT SCHUHMANN Verdammt heiß.

Böck sieht Schuhmann einen Moment zu lang an, und so entsteht ein Moment peinlicher Stille.

STAATSANWALT SCHUHMANN Das war ein denkwürdiger Auftritt, Ihr Plädoyer. Das Hingehen zu den Geschworenen. Einzelne ansprechen. Wie in Hollywood!

An Böck prellt das Kompliment ab, was Schuhmann irritiert.

VERTEIDIGER BÖCK Der Rest ist wie im Heimatfilm. Nur da kann man gewinnen Ohne was in der Hand zu haben.

STAATSANWALT SCHUHMANN Die Stimmung hat eben für Sie gearbeitet.

VERTEIDIGER BÖCK Stimmung? Jeder andere Richter hätte mich wegen meiner Polemiken verwarnt. Der Peyer hat nicht einmal die Murerfratzen aus dem Saal geschickt. Eigentlich ein Skandal.

STAATSANWALT SCHUHMANN Nun, dieser Prozess war eben nicht wie anderen.

Verteidiger Böck nickt und sieht Schuhmann herausfordernd an.

VERTEIDIGER BÖCK Aber was hat Sie eigentlich geritten, im Plädoyer den Großteil Ihrer Zeugen aufzugeben?

STAATSANWALT SCHUHMANN … um alles auf die beiden zentralen Fälle zu konzentrieren...

VERTEIDIGER BÖCK Wer sich in zwölf Fällen irrt, kann sich auch bei zwei

143 irren.

STAATSANWALT SCHUHMANN Trotzdem hätte es fast geklappt.

VERTEIGER BÖCK Sie haben mir aber mit dieser Vorgehensweise einen Ball zugeworfen, den ich einfach spielen mußte.

STAATSANWALT SCHUHMANN Was beschweren Sie sich? Sie haben doch gewonnen, darauf kommt es doch an, oder?

VERTEIGER BÖCK Ich frag mich nur wie? Meine Entlastungszeugen waren der reinste Witz. An Ihrer Stelle hätte ich die Murerschwester in der Luft zerissen.

Schuhmann blickt Böck zweideutig an.

VERTEIDIGER BÖCK Und dieser merkwürdige Deal mit dem angeblich befangenen Geschworenen Julius Kloiber...

Schuhmann tut so, als verstünde er nicht, was Böck meint.

VERTEIDIGER BÖCK Warum haben Sie eigentlich diesen Verfahrensfehler nicht beanstandet? Ich hätte an Ihrer Stelle felsenfest auf die Wiederholung des Verfahrens bestanden...

Schuhmann fühlt sich ertappt. Will einen Moment ehrlich antworten, bevor er sich entschließt zuzumachen.

STAATSANWALT SCHUHMANN ….es ist besser, wenn wir dieses Gespräch nicht fortsetzen.

Man sieht förmlich, wie es in Böcks Hirn rattert und in ihm eine Erkenntnis wächst.

VERTEIDIGER BÖCK Ich werde Murer sicher nicht mehr vertreten. Einmal reicht! Aber Herr Kollege, was ist da gelaufen? Reine Neugier. 144 Schuhmann ist etwas erstaunt. Obwohl Böck ruhig spricht, spürt man darunter seine tiefe Empörung.

Schuhmann fühlt sich ertappt und sieht nun keine Notwendigkeit Böck zu täuschen.

STAATSANWALT SCHUHMANN (FEIN, IRONISCH) Ich tu‘ meine Pflicht und werde dies auch in Zukunft tun. Aber wir sind ja nicht immer Herr unserer Entscheidungen, oder ...?

In Böck arbeitet es. Er blickt Schuhmann mit einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung an.

VERTEIDIGER BÖCK Eine Weisung aus Wien?! Ich Trottel. Ja klar. Das muß es sein.

STAATSANWALT SCHUHMANN Sie waren brillant. Belassenwir es dabei.

VERTEIDIGER BÖCK Respekt, Herr Staatsanwalt.Ihre Fehler waren sehr glaubwürdig. Chapeau.

STAATSANWALT SCHUHMANN Die Wiener unterschätzen uns Bundesländer immer.

VERTEIDIGER BÖCK Aber was hat man Ihnen dafür versprochen?

STAATSANWALT SCHUHMANN (GRINSEND, ZYNISCHER UNTERTON) Versprochen? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.

Schuhmann löst den Knopf seiner Krawatte, und es tut seiner Eitelkeit wohl, dass Böck endlich verstanden hat.

VERTEIDIGER BÖCK Aber wozu? Ist Murer so wichtig?

STAATSANWALT SCHUHMANN Denken Sie einmal weniger juristisch, als politisch. Vielleicht will man niemand dazu... 145 VERTEIDIGER BÖCK ….ermutigen . Schlußstrich! Keine weiteren Nazi- Verfahren mehr. Vergangenheit bewältigt. Aus! Fertig!

Schuhmann streift sich die Haare zurecht. Er lächelt. Böck kommt sich naiv und vorgeführt vor und will gehen.

STAATSANWALT SCHUHMANN An Ihrer Stelle würde ich den Hinterausgang rechts nehmen, sonst treffen Sie womöglich noch auf ein paar aufgebrachte Israeliten...

80. GERICHT: FLUR VOR TOILETTE INNEN/TAG

Verteidiger Böck steht vor der Toilette auf dem Flur, überlegt kurz - rechts oder links. Entscheidet sich für den Vorderausgang. Der hinter ihm herauskommende Schuhmann geht rechts ab. Verteidiger Böck geht in den Flur, in dem die Zeugen stehen. Feigenberg, Selig Shmilewitz, Hermann Rubinoff, Tova Rajzman, Ariel Koslowski, Ephraim Schuster, Shimon Trabski, Israel Szelubski und Sima Kinbrenner. Als sie Verteidiger Böck sehen, stehen sie auf und bilden ein Spalier. Man hat das Gefühl, es könnte zu Gewalt führen. Doch es sind nur ihre Blicke, die Verteidiger Böck töten.

81. BAR INNEN/TAG

Rosa kippt ein Glas hinunter. Plötzlich dreht sich „Eichmann“ um. Er prostet Rosa freundlich zu. Plötzlich schauen sie alle an. (Sie ist die einzige Frau in der Bar). O-Ton weg. Stille. Die an sich freundlich gemeinte Geste wirkt für Rosa wie aus einem Albtraum. Grinsende freundliche mittelalterliche Männer, die Rosa zuprosten. Rosa steht auf und blickt aus dem Fenster. Sie gibt sich Feuer und greift dadurch auf das Messer in ihrer Tasche.

82. GERICHT DAVOR AUSSEN/TAG

Wie ein Filmstar geht Franz Murer die Treppe des Gerichts hinunter zur Straße. Geschäftsfrau Hertha umarmt Franz Murer, was dieser irritiert zulässt. Da bemerkt Hertha die finsteren Blicke von Frau Murer. Menschen mit Blumensträußen scharen sich um Murer. Rosa wirkt mit einem mal ruhig und entschlossen. Sie lässt ihre Hand in die Handtasche gleiten. Murer erhält so viele Sträuße, dass er sie kaum noch halten kann. 146 Rosa Segev mischt sich nach vorn in die Nähe von Murer. Wie eine Rasende stürmt sie plötzlich los. Murer blickt Rosa an. Murers Lächeln weicht einem verwunderten Blick.

Frau Murer entsetztes Gesicht. Das Messer in Rosas Hand sticht in Murers Hals. Blut. Geschäftsfrau Hertha läßt entsetzt die Blumen fallen. Frau Murer brüllt entsetzt. Rosas Blick. Murer röchelnd. Panik in den Gesichtern der Herumstehenden.

83. BAR INNEN/TAG

Rosa steht am Fenster.

ROSA SEGEV (FÜR SICH) „We find that no one, that is, no member of the human race, can be expected to want to share the earth with you. This is the reason, and the only reason, you must hang.“

Sie wendet sich dem Kellner zu.

ROSA Zahlen bitte.

Sie zieht sich an. Rosas und Nowaks Blicke treffen sich.

84. GERICHT DAVOR AUSSEN/TAG

Murer winkt der Menge zu. Auf der Straße erwartet ihn ein schwarzer Mercedes. Murer steigt ein und setzt sich auf den Beifahrersitz. Durchs Fenster nimmt er noch Blumensträuße an. Dann fährt er an.

85.GERICHT DAVOR IM AUTO INNEN/TAG

Elisabeth Murer ist noch etwas nachdenklich.

147 Nun sieht man den Fahrer. Es ist Murers Nazikamerad Hochreiner, der am Steuer sitzt.

RICHARD HOCHREINER Bin ich froh, dass ich keinen Besenstiel essen muss, gell Franz.

Murer lächelt und atmet tief durch. Frau Murer auf dem Rücksitz lacht etwas zu laut und künstlich über Hochreiners Scherz

FRANZ MURER Danke Richard.

Frau Murer blickt nachdenklich-gequält. Sie räuspert sich und überwindet sich ihren Gedanken auszusprechen.

ELISABETH MURER Sag Franz, bitte sag mir was in Wilna war....

Murer sieht seine Frau irritiert fragend an.

ELISABETH MURER SEI EHRLICH FRANZ HATTEST DU WIRKLICH WAS MIT DEM FRÄULEIN FREESE ?

Murer sieht seine Frau erstaunt an. Plötzlich: Patsch! Ein Schlag aufs Fenster. Die Insassen schrecken auf. Kurz sieht man Rosas Gesicht, die mit der Faust auf die Scheibe einschlägt. Hochreiner gibt Gas.

86. WOHNUNG SCHUHMANN INNEN/TAG

Staatsanwalt Schuhmann blickt sich in der Wohnung um. Niemand da. Ein geöffneter Kleiderschrank. Sachen liegen herum. Er hat eine Ahnung und stürzt ins Esszimmer. Auf dem Tisch ein Brief, der mit einem Stein beschwert ist. Er liest und zerknüllt ihn. Er sinkt erschöpft auf den Sessel. Plötzlich kommt Hass ihn im hoch. Er reißt sich einen Schuh herunter und schleudert ihn an die Wand, den anderen hinterher.

87.GAISHORNER HOF AUSSEN/TAG

Der schwarze Mercedes kommt im Hof an. Ein idyllisches, großes Anwesen, umgeben von der satten grünen Natur. 148 Wechsel zu Super 8. Murer Familymovie. Die Murers und Hochreiner steigen aus und gehen ins Haus. Die anderen Murerkinder kommen aus dem Haus und umringen den Vater. Auch der Schäferhund kommt angelaufen. Sie machen faxen für die Kamera. Nur ein Mädchen (15) will nicht gefilmt werden. Sie hält sich die Hand vors Gesicht. Freeze.

SCHRIFT Simon Wiesenthal bemühte sich bis zu seinem Tod durch neue Zeugenaussagen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken. Franz Murer sollte sich aber nie wieder vor einem Gericht verantworten müssen. Am 24. Juli 1974 wurde sein Verfahren auch formell eingestellt. Im selben Jahr wird der Werwolf-Führer Richard Hochreiner mit den Stimmen von FPÖ und SPÖ zum Bürgermeister von St. Michael gewählt. 1975 setzte Christian Broda als Justizminister einer SPÖ Alleinregierung ein modernes Straf- und Familienrecht in Österreich durch. Franz Murer stirbt am 5. Jänner 1994 im Alter von 82 Jahren im Kreise seiner Familie auf seinem Hof in Gaishorn am See.

ABSPANN BILD :Fotos aus dem jüdischen Wilna ausschließlich v o r dem 2. Weltkrieg. MUSIK: Gustav Mahler - Ich bin der Welt abhandengekommen auf Jiddisch gesungen.

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