Rezensionen Hellmut Diwald: Wallenstein. Eine Biographie. Bechtle Verlag, München, Esslingen 1969, 555 Seiten.

Bereits im Einleitungskapitel, das stilistisch und gedanklich den Höhepunkt des Werkes vorwegnimmt, legt der Autor ein Bekenntnis zur subjektiven Geschichts- betrachtung ab: »In der Wahl zwischen Urteil einerseits und Suspension des Urteils zugunsten bloßer Fakten andererseits haben sie [die Historiker] sich für's Vor- urteil entschieden. Nidit zu Unrecht. Nicht zu Unrecht deshalb, weil Wissenschaft- lichkeit genauso zum Extrem auswuchern kann wie die Unwissenschaftlichkeit. Das eben lehrt der ,Fall* Wallenstein: Mit rein wissenschaftlichen Mitteln findet man keine sinnvollen Antworten auf die Hauptfragen« (S. 10). Halten wir ihm daher seine Vorurteile von vornherein zugute, audi manches andere, was in die gleiche Richtung weist. Allerdings hat er Grund, sich von der Faktenhistoriographie zu distanzieren, die Konkurrenz wäre gewaltig. Nächst Napoleon I. hat das Phäno- men Wallenstein die größte Zahl von Historikern zu Untersuchungen angeregt, und es sind illustre Namen darunter.

Zum Trost für den weiterhin allein mit wissenschaftlichen Mitteln arbeitenden Historiker sei jedoch gesagt, es sind nicht exponierte neue Theorien, die das Buch lesenswert machen, es ist der flüssige, etwas extravagante Stil, der ihm seine Span- nung gibt. Diwald verzichtet auf Anmerkungen und bietet dafür eine lose an die Kapitel angelehnte Quellen- und Literaturzusammenstellung am Schluß des Ban- des; ebenso verzichtet er im Text weitgehend auf Beweisführungen. Er stellt auch nidit dar, er erzählt. Jedoch wäre es völlig verfehlt, den Flirt mit der Unwissen- schaftlichkeit wirklich ernst zu nehmen. Hinter der saloppen Sprache verbirgt sich ein ausgedehntes und intensives Aktenstudium. Diwald hat die Quellen durch- gearbeitet, die Literatur gelesen, er kennt seinen Wallenstein. Er hat über ihn ein Buch verfaßt, das zweifellos fasziniert und den Leser über lange Gedankenfolgen hinweg mitreißt, wobei die mehr gesprochene als geschriebene Spradie gelegentlich einmal der Syntax davon läuft (S. 215 oben). Ebenso kommt es vor, daß bestimmte Bilder, Ereignisse oder Charakteristiken ohne Übergang nebeneinander gestellt sind oder daß gar ein Kapitelabschnitt an der falschen Stelle sitzt (Ubergang vom VIII. zum IX. Kapitel, S. 195). Nun, die Endredaktion findet auch bei anderen Autoren oft nicht die Liebe, wie die Formulierung der Gedanken. Diese Formulierungen sind es, die dem Buch einerseits einen eigentümlichen Reiz geben, ihm andererseits leicht den Vorwurf mangelnder Seriosität eintragen kön- nen. Der flotte, feuilletonistische Stil mit seinen gewagten Metaphern und Bonmots spricht naturgemäß mehr an, als der gleichmäßige Fluß einer rein sachlichen Schil- derung, aber er verführt auch zum Spiel mit der Sprache. Nach der Schlacht bei Prag zerschneidet der Kaiser den Majestätsbrief für die böhmischen Stände und verhilft damit dem Autor zu der Bemerkung: »Mit dieser besonderen Note eines Kaiserschnitts kommt in Böhmen die Reformation zur Welt.« Der General Buquoy befolgt, ähnlich wie zu gleicher Zeit Mansfeld, einen Befehl des Kaisers nicht wört- lich und so heißt es, » .. jedenfalls war ihm [Buquoy] das Hemd Mansfelds näher als der kaiserliche Rode, er blieb in Südböhmen« (S. 127). Den kaiserlichen Rods mag zumindest der militärisch engagierte Leser noch akzeptieren, das Hemd Mans- felds wird auch er bei einigem Sprachgefühl mit Entschiedenheit ablehnen. Die Unbekümmertheit im Ausdruck und in der Wahl der Beispiele ruft zunächst wohl- wollendes Schmunzeln hervor, wie es für kleine Schwächen eines großen Wurfes durchaus am Platze ist, auch wenn sie nicht allein im sprachlichen, sondern auch 195 im historisch-fachlichen Bereich zu finden sind. Da steht zum Beispiel auf S. 383 ein Satz, der allen freiheitsbewußten Schweizern die Zornesröte ins Gesicht treiben müßte, wüßten sie um die näheren Umstände: »Die beiden Herzöge von Mecklen- burg ... sind bisher das gewesen, was die Schweizer mit unsicheren Kantonisten bezeichnen1.« Aber die großzügige Fabulierkunst, mit der hier historische Überlieferung präsen- tiert wird, hat nicht nur ihre amüsante Seite. Den 1627 offen zutage tretenden Antagonismus zwischen den Reichsfürsten, vor allem Maximilian von Bayern, und dem kaiserlichen General Wallenstein fängt Diwald in einem recht eindrucks- vollen Bild ein: »Der Bayernherzog darf mit der Hilfe aller deutschen Fürsten von Breisach bis Königsberg rechnen, wenn er versucht, diesen böhmischen Baum zu fällen, dessen Schatten jetzt auf jedem Territorium des Reiches liegt« (S. 396). Damit scheint der weite Bogen von der West- bis zur Ostgrenze geschlagen zu sein, jedoch Breisach war damals keine Grenzstadt, sondern lag noch weit innerhalb des Reichsgebietes, es war auch nicht fürstliche Residenz, sondern gehörte als ein- fache Landstadt zum österreichischen Besitz und damit dem Kaiser in Wien, der damals noch fest zu Wallenstein hielt. Königsberg dagegen, weit außerhalb der Reichsgrenzen im Herzogtum Preußen, stand seit 1466 unter polnischer Lehns- hoheit. Sein Landesherr war als Kurfürst von Brandenburg zwar zugleich deut- scher Reichsstand, die eigentliche Macht in Preußen lag jedoch in den Händen der Landstände, die zusammen mit der Krone Polen nur einen ernsthaften Feind sahen, den Schwedenkönig Gustav Adolf, und nur eine Hilfe gegen diese Bedro- hung - den General Wallenstein. Was also bleibt von dem schönen Bild mit dem überschattenden böhmischen Baum? Sicherlich ist für den heutigen Leser das Deutsche Reich in seinen Grenzen von 1937 leichter zu erfassen als die unüber- sichtliche staatliche Struktur von 1627, trotzdem sollte bei der Behandlung der politischen Verhältnisse des frühen 17. Jahrhunderts doch auch die politische Karte dieser Zeit zugrunde gelegt werden.

Das alles mag nodi hingehen, nachdenklich stimmt es, wenn die Bedeutung Wallen- steins durch eine effektiv falsche Aussage verschoben werden soll. In seinem Schluß- kapitel verficht Diwald die Hypothese, daß Wallenstein, hätte er sich durchgesetzt, als einziger befähigt gewesen wäre, »eine intakte, kräftige Staatlichkeit des Reiches zu verwirklichen« und den Westfälischen Frieden in der 1649 beschlossenen Form zu verhindern, denn: »Man schloß diesen Frieden in einer Form, die dem Reich als Joch bis zu seinem Zusammenbruch auf dem Nacken lag.« Damit greift der Verfasser nun wirklich tief in die Mottenkiste der deutschen Geschichte. Der Generation unserer Väter werden wir es nicht verübeln, wenn sie unter dem Ein- druck des Versailler Vertrages zwischen 1919 und 1648 Analogien sehen wollte, die es nicht gab, dem heutigen Historiker sollte ein solcher Satz nicht mehr unter- laufen. Das Reich unter Ferdinand III. war kein Staat, dem ein Joch auf dem Nacken liegen konnte, und bei der Polarität von »Kaiser und Reich« ist der Friede von 1648 eher als ein Sieg des Reiches — das heißt der Reichsstände — anzusehen als eine bedrückende Belastung. Bis in die Napoleonischen Kriege hinein, also bis zur Annullierung - nidit Zusammenbruch — des alten Reiches, galt das Vertrags- werk von Münster und Osnabrück als das allgemein anerkannte und immer wieder gepriesene verfassungsrechtliche Fundament der deutschen Staatenwelt. Erst die

1 Der Ausdruck »unsichere Kantonisten« bezieht sich nicht auf Schweizer Bürger, die gegen den Kantönligeist opponieren, sondern ist der terminus tedinicus für preußische Bauernburschen, die im Rahmen der sogenannten preußischen Kantonsverfassung des 18. Jahrhunderts zum Militär- dienst verpflichtet waren, sich aber ihrer Dienstpflicht durdi häufigen Ortswechsel und ähnliche Tricks zu entziehen suchten. nationale Geschichtsschreibung diffamierte in ihrer romantisierenden Idealisierung des alten Reiches den Westfälischen Frieden und stempelte ihn zum Tiefpunkt der neueren deutschen Geschichte ab 2. Einmal aufmerksam und mißtrauisch geworden, stößt der Leser auf manche Pas- sage, die so ganz nebenbei erregende historische Aspekte verkündet, jedoch jeder Form eines Beleges ermangelt3. Nun sollen hier nicht all die großen und kleinen Ungereimtheiten säuberlich aufgezählt werden, denn erstens handelt es sidi mei- stens um Randbemerkungen, und zweitens sollten wir die Dinge nicht wichtiger nehmen als der Autor selbst. Ihm kommt es auf den publikumswirksamen Gag an, und wenn die gewöhnliche Geschichte dazu nidit ausreicht, dann hilft er gelegentlich ein wenig nach. Doch halten wir uns daran, daß ein großzügig geschrie- benes Buch auch großzügig gelesen werden muß. Vieles ist ja audi nicht nur amü- sant, sondern auch treffend gesagt. Dieses Rankenwerk von geistreichen Aperçus bis zum überraschend albernen Kalauer versucht, aus der Geschichte eine lesbare Story zu machen. Ist das wirklich als Nachteil anzusehen? Es fängt immerhin Leser ein für ein lesenswertes Buch. Aber dem historisch weniger Versierten sei eine Faustregel mitgegeben: je überzeugender die Bemerkungen in diesem Buch wirken, desto kritischer sollten sie bedacht werden. Mit dem Bemühen um die Gunst des Publikums gerät der Autor jedoch auf eine andere Weise in ein recht eigenartiges Dilemma. Er schreibt die Biographie eines großen Sohnes seiner böhmischen Heimat, der ein Feldherr und General war und also natürlicherweise mit Begriffen wie Militär, Krieg und Schlacht in Bezie- hung gesetzt werden muß - ein Sujet, das bei der akademischen Jugend als seinem eigentlichen Publikum nur unter bestimmten Voraussetzungen ankommen dürfte. Was also tun? Einmal stellt er den böhmischen Edelmann als einen Feldherrn heraus, der nicht allein sein Soldatenhandwerk verstand, sondern der auch als Wirtschafts- und Finanzfachmann, als Politiker und Staatsmann seiner Zeit weit voraus war. Auf diese durchaus diskutable Theorie soll später noch eingegangen werden. Zweitens spricht er seinem Helden eine politisch-moralische Grundhaltung zu, die sicher auf Kritik stoßen muß, dem heutigen Denken aber entgegenkommt. »Die pax Germanica war das oberste Ziel Wallensteins«, schreibt er auf S. 542. Für den ganz naiven Leser hat Diwald dann drittens eine durchschlagende Medizin bereit, er distanziert sich persönlich vom Militär, indem er es beschimpft. So ist also, ebenfalls auf S. 542, zu lesen: »Mit Wallenstein verschwindet der einzige Staatsmann Habsburgs, der im Dreißigjährigen Kriege etwas zu sagen gehabt hat. Nach ihm gibt es nur noch Soldaten, Generale, und was die zu sagen haben, ist fast zu allen Zeiten dasselbe und meist so unerheblich, daß sie es zu Redit durch andere Geräuschentwicklung, durch Säbelrasseln und Gewehrfeuer übertönen. Im Jahre 1634 treten die Geschützführer an die Stelle der Staatsführer...«

Klammern wir die temperamentvolle persönliche Meinung aus, so bleiben ein paar Angaben, die so publikumswirksam wie irreführend sind. Gerade das letzte Drittel des Krieges ist durch die mühevolle Arbeit der Diplomaten ausgezeichnet, die endlich zum Friedenssdiluß führte. Säbelrasseln und Gewehrfeuer waren in der damaligen Zeit noch unbekannte Vokabeln, die Geschützführer hießen Büdisen- meister, rechneten nodi nicht zu den Soldaten und genossen nicht im entferntesten das Ansehen, das ihre Erwähnung in irgendeinem politischen Zusammenhang rechtfertigen würde. Damit sei die Reihe der Zitate abgeschlossen. Sie verwischen

* Vgl. dazu Κ. v. Raumer: Westfälischer Friede, in: HZ 195 (1962), S. 596 ff. ' So z. B. auf S. 392: »Bismarck, unter der Siegesfahne des Nationalismus ...« den Glanz, der von dem Buche ausgeht, ein wenig, audi wenn sie seine eigentliche Aussage nidit ausgesprochen in Frage stellen. Doch warum mußte das sein? Nur der zuletzt angeführte Ausspruch zeigt eine Tendenz, die den Wert dieser Arbeit erheblich herabmindert und daher einen ernst zu nehmenden Einwand hervorrufen muß - die unzureichende Beschäftigung mit einem Bereich, der im allgemeinen als Kriegs- und Truppengeschichte bezeichnet wird. Zugegeben, es ist außerordentlich mühevoll, sich in dieses Gebiet einzuarbeiten, denn um die oft unkritischen kriegsgeschichtlichen Werke mit Erfolg auszuwerten, ist sdion ein fundiertes Wissen um die Zusammenhänge notwendig. Wer aber die Biographie eines Generals schreibt, muß sich auch intensiv mit seinem Metier beschäftigen. Es fällt nicht so sehr ins Gewicht, wenn Diwald Einrichtungen der früheren Lands- knechtszeit in den Dreißigjährigen Krieg überträgt, also vom Feldhauptmann und seinen Befugnissen spricht, oder die Feldwebel von den Mannschaften wählen läßt. Nachdenklicher stimmt es, wenn er spezielle Vorrechte Wallensteins - wie etwa die Ernennung der Obristen - als allgemeines Recht der Feldherren hinstellt, wenn er sich darüber wundert, daß vom Kaiser ernannte Obristen nicht automatisch von Wallenstein ein Regiment erhalten, oder wenn er die These vertritt, daß Tapfer- keit das häufigste und elementarste Motiv für Beförderungen darstellt. Diese, ausschließlich aus dem Sektor des Avancements herausgezogenen Beispiele lassen erkennen, daß er sich wohl mit der Literatur über das vorabsolutistische Heerwesen allgemein beschäftigt hat, daß er aber keineswegs mit der Organisation und dem Funktionieren des militärischen Apparates im Anfang des 17. Jahrhun- derts so vertraut ist, wie es für eine fachgerechte Darstellung notwendig gewesen wäre. Das Buch gab die Gelegenheit, einmal den wirklichen Wallenstein zu zeigen - den militärischen Großunternehmer. Das konnte jedoch nur bis zu einem gewissen Grad gelingen, wenn das Unternehmen selbst, das heißt die Armee, so oberflächlich behandelt wird. Mit Sicherheit hätten einige der großzügigen Deutungen anders formuliert werden müssen, wenn die Armee auch in der Biographie den Platz zugebilligt erhalten hätte, den sie im Leben Wallensteins eingenommen hat. Natür- lich wird sie nicht übersehen, doch der »General« Wallenstein bleibt so etwas wie ein Ärgernis. »Gewiß, als Heerführer ist er von keinem Feldherrn des Großen Krieges übertroffen worden«, aber »der große General Wallenstein war nicht wegen seiner Generalstugenden groß« und »als General ist Wallenstein groß, weil er nicht nur General, weil er mehr als ein General ist«. Das ist alles richtig, aber auch recht nebulös. Vielleicht wäre der Verfasser mit dem Begriff Feldherr dem etwas näher gekommen, was er mit einem Wort ausdrücken könnte, aber nicht möchte, weil er auch damit etwas Positives über den von ihm festgelegten Generals- typ sagen müßte. Die Geschichte wird dadurch nicht wahrer, daß man dem von der älteren Kriegsgeschichte kritiklos entwickelten Heldengeneral einen ebenso undifferenzierten negativen Typ gegenüberstellt. Welches Vorzeichen würde der Verfasser - um im Jahrhundert Wallensteins zu bleiben - den kaiserlichen Genera- len Ludwig Wilhelm von Baden oder Prinz Eugen zuerteilen? Im Grunde läuft das Ganze auf die einfache Tatsache hinaus, daß Wallenstein nicht in die Vorstellung hineinpaßt, die sich in den letzten 150 Jahren über einen Heerführer gebildet hat. Der militärische Auftrag - der das Leben eines Moltke ausfüllte - ist für die historische Persönlichkeit Wallenstein nur ein Kriterium unter anderen. Sein Aufstieg vollzog sich nicht in, sondern mit der Armee. Sie bot ihm keine Laufbahn, sondern war das Instrument, das er sich selbst gezimmert hatte. Er führte sie nicht nur im operativen Sinne, er sorgte für die Finanzierung, die Bewirtschaftung und die personelle Ergänzung. Er konnte mit »seiner« Armee - wenn es sein mußte - das Risiko einer Schlacht eingehen, erheblich wichtiger war die Möglichkeit, weite Gebiete durdi geschickte Dislozierung steuerlich zu kontrol- lieren, sidi dem Kaiser unentbehrlich zu machen und als der Inhaber der militäri- schen Macht weitgehend in die Maßnahmen und Planungen der Politik einzu- greifen. Die Verkoppelung so verschiedener Funktionen legt den Vergleich nahe mit einer besonderen Spezies von Feldherren, den regierenden Landesfürsten des späten 17. und 18. Jahrhunderts, die persönlich ihre Armee führten. Nur leiteten ein Karl XII. von Schweden oder Friedrich II. von Preußen ihren militärischen Führungs- anspruch aus dem Selbstverständnis ihrer Landesherrlichkeit ab, während Wallen- stein umgekehrt seine militärische Machtposition dazu benutzte, landesherrliche Rechte zu usurpieren. Diwald sieht in ihm nicht den letzten großen Condottiere, nicht einmal - um einen zeitgenössischen Vergleich zu verwenden - einen politi- schen Rebellen wie Cromwell, sondern den treuen Diener der Krone, wie vielleicht Richelieu, der sich sogar um der Krone willen auch gegen ihren Träger entscheiden darf.

Doch wir geraten hier unversehens in den Bereich der eingangs erwähnten Vor- urteile, wollen uns aber nicht in den Streit um die politischen Ambitionen und Ziele Wallensteins einmischen, der seit Jahrzehnten von berufener Seite geführt wird und in dem sich Diwald eindeutig engagiert, ohne bei den vielen einander widersprechenden Meinungen eine wirklich neue Position zu vertreten. Bei seinem Bemühen um den Nachweis einer realen, durchführbaren Reichspolitik lenkt er den Blidt auf bestimmte Zusammenhänge, die, erst in all ihren Einzelheiten erfaßt, alteingefahrene Vorstellungen zurecht rücken und damit doch eine Revision des Geschichtsbildes bewirken, jedenfalls auf dem Gebiet der Militärgeschichte. Es ist bekannt, daß die politische Geschichtsschreibung Wallenstein erst mit der Übernahme des ersten Generalates interessant findet, sein früherer Lebensweg bleibt Vorgeschichte. Diwald hingegen setzt keinen solchen Schwerpunkt, sondern erfaßt das Leben dieses Mannes in seiner Kontinuität vom Knabenalter bis zum Tode. Es soll hier nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei gesagt, das Quellen- studium, das für eine solche Arbeit notwendig ist, hat sich bezahlt gemacht. Wird auf der einen Seite deutlich, wie wenig authentisches Material aus dieser Zeit tat- sächlich überliefert ist, wieviel also der Spekulation überlassen bleibt, so ist auf der anderen Seite jede Aussage zu begrüßen, die unterhalb der Region der Haupt- und Staatsaktionen die sozial-, wirtschafts- und militärpolitsichen Verhältnisse zu erfassen sucht. Wie mußte es ein relativ begüterter und angesehener Edelmann anstellen, um sich mit Hilfe von lukrativen Heiraten, Finanzgeschäften, Boden- spekulationen und Beziehungen am kaiserlichen Hof mit materiellem Gewinn und politischem Erfolg den Kriegsdiensten zu widmen? Das kann nicht als Lehrbeispiel aufgezeichnet werden, denn Wallenstein war als Persönlichkeit eine einmalige Erscheinung. Doch die Lebensgeschichte dieses Barochmenschen par excellence, in der nüchternes Kalkül und unbeherrschtes Handeln, sparsame Wirtschaftsführung und maßlose Prachtentfaltung, Habgier und Großzügigkeit, unbedingte Zuver- lässigkeit und bedenkenloser Vertrauensbruch eng nebeneinander stehen, spiegelt recht eindrucksvoll eine Epoche wider, deren Maßstäbe so eigentümlich fremd an- muten und die von der Geschichtsschreibung bisher nicht gerade bevorzugt und als eine Zeit des Übergangs, wenn nicht des Verfalls behandelt wurde. Diwald fängt sie in seinem Helden ein, läßt kaum etwas aus, beschönigt auch nicht, aber im gan- zen gesehen, kommt der kaiserliche General doch immer etwas besser weg als seine Gegner. Auffällig voreingenommen behandelt er zum Beispiel Maximilian I. von Bayern, den Führer der Liga und den großen Gegenspieler Wallensteins, der nach dem Urteil der Geschichte als der wohl profilierteste Territorialfürst seiner Zeit gilt, hier aber ausschließlich als raffgieriger Ränkeschmied auftritt. Dagegen wird die Tatsache, daß der 1630 abgedankte kaiserliche Feldherr seinem Konkurrenten, dem Ligageneral Tilly, den Nachschub aus Mecklenburg sperrte - eine geradezu infame Maßnahme, die wesentlich zum Verlust der Schlacht von Breitenfeld bei- trug - ohne Kommentar registriert. Sie entspricht nicht ganz der reidiserhaltenden Kaisertreue.

Natürlich greift der Verfasser im Laufe der Erzählung immer wieder gedanklidi zusammenhängende Komplexe auf, doch sie sind ihrer Zahl nach so groß und ihrer Art nach so unterschiedlich, daß sie nicht gewissermaßen als wissenschaftliches Ergebnis des Buches registriert und im Gedächtnis behalten werden können. Das ist jedoch ein Mangel, neutraler gesagt ein Merkmal, das jeder historischen Lebens- beschreibung anhaften muß, wenn sie in ihrem Aufbau nicht zerfallen soll. Der Biograph kann nur das Leben beschreiben, nicht die historische Leistung. Aber er kann korrigieren. Da ist zum Beispiel die deutsche Seekriegsgeschichte bemüht, die Marine als Reichsinstitution über die Jahrhunderte hinweg in der Hanse zu be- gründen. Noch in einem vor wengien Jahren erschienenen Handbuch ist zu lesen: »Obwohl ihr Bund außerordentlich locker war, verkörperte die Hanse über vier Jahrhunderte die See- und Wirtschaftsmacht des Reiches im Norden4.« Nun war die Hanse in der Tat mit kaiserlichen Privilegien ausgestattet, und wenn Kaiser und Reich gleichgesetzt werden und solange der Kaiser nicht das geringste Interesse an einer Seemachtstellung im Norden hatte, ist die Diskussion einer solchen Be- hauptung nicht notwendig. Jedoch der erste Versuch eines deutschen Kaisers, Seemachtpolitik zu treiben und in den Jahren 1626-1628 möglichst mit Hilfe der Hanse ein maritimes Bollwerk gegen die nordischen Seemächte zu errichten, führte - um es kurz zu machen - nicht zur engen militärischen Zusammenarbeit, sondern zur Belagerung der Hansestadt Stralsund durch die kaiserliche Armee unter Arnim und später Wallenstein. Diwald beschreibt, mit welcher Sorgfalt und Vorsicht die Verhandlungen mit den Hansestädten und insbesondere mit Stralsund geführt wurden. Die Stadt war zu jedem gewinnbringenden Handelsvertrag bereit, sperrte sich aber entschieden dagegen, auch nur einen kaiserlichen Soldaten inner- halb ihrer Mauern aufzunehmen. Die Fakten als solche sind bekannt, doch gewin- nen sie im Rahmen der wallensteinschen Reichspolitik ihre besondere Bedeutung. Die deutschen Marinehistoriker aber müssen sich entscheiden: entweder für die Hanse, dann gegen Kaiser und Reich, oder für das Reich und Wallenstein, dann gegen die Hanse. Diese eine Richtigstellung mag für vieles andere stehen, das wohl auf Wallenstein bezogen nicht nur die Person, sondern auch die Zeit lebendig und verständlich macht, Vorurteile abbaut und mit Klischeevorstellungen aufräumt. Hierin liegt der eigentliche Wert des Buches. Ausführlich hat der Verfasser keine der Einzel- fragen behandeln können, auch wohl nicht behandeln wollen. So wird der Suchende die Spezialliteratur benutzen müssen, wenn er genaueres über das Kontributions- system Wallensteins erfahren will, mit dem er als erster die Möglichkeit schuf, eine stehende Truppe finanziell aus dem Lande zu erhalten. Das gleiche gilt für sein Herzogtum Friedland, das einmalige Kabinettstück eines frühabsolutistischen Militärstaates, der ausschließlich auf die Versorgung und Erhaltung der Armee hin orientiert und strukturiert war. Die notwendige Beachtung der Armee selbst ist

4 S. G. Bidlingmaier: Seegeltung in der deutschen Geschichte. Ein seekriegsgesdiiditlidies Handbuch, 200 Darmstadt 1967, S. 26. bereits erwähnt. In Organisation und Verwaltung noch stark auf die Praktiken des Söldnertums angewiesen, vielleicht der End- und Höhepunkt der reinen Söldner- armee überhaupt, zeigte sie in ihrer nidit mehr für einen Feldzug, sondern für die Dauer berechneten Existenzsicherung und unbedingten Abhängigkeit von der Befehlsgewalt des Feldherrn dodi sdion eine gewisse Verwandtschaft mit den spä- teren stehenden Heeren des Absolutismus. Diwald befaßt sich mehr mit dem politischen Spiel um die Durchsetzung der Kon- tribution als mit ihrem System und ihrer rigorosen, auf Jahre projektierten Ein- treibung, und das »Dominium Böhmens« ist in seinen Augen zwar eine großartige Sache, aber doch nur ein Objekt für historische Spezialinteressen. Gewiß hätte eine detaillierte Beschreibung dieser Komplexe den Rahmen der Biographie gesprengt, aber schon die ihrem Gewicht entsprechende Einordnung in die Gesamtkonzeption hätte den Verfasser gezwungen, in der Apotheose des Schlußkapitels, die Wallen- stein als den möglichen Friedensbringer und Reichseiniger verherrlicht, wesentlich andere Akzente zu setzen. Die Pax Germanica blieb Utopie, die Pax Bohémica dagegen war schon lebendige Wirklichkeit, während der gesamten Zeit seiner Herrschaft hat Wallenstein es verstanden, sein Herzogtum Friedland von Solda- teska freizuhalten. Aber auch der geringste Verzug bei den gewaltigen Heeres- lieferungen dieses friedlichen Landes war mit schweren Strafen belegt, und die Arbeitskraft jedes einzelnen Bewohners bis in die langen Winterabende hinein war in die Zwangswirtschaft eingeplants.

Wenn man sich schon in Spekulationen verliert, sollte man zumindest von gegebe- nen Tatsachen ausgehen. War das zentralistisch verwaltete kleine Friedland viel- leicht nur die Probe für einen ebenso geplanten späteren Reichsstaat? So manches spricht dafür. Von einer Entlassung des Heeres auch nach der Herstellung des Reichsfriedens ist an keiner Stelle die Rede; es wurde immer benötigt für den Augenblick gegen Frankreich und Schweden, auf die Dauer gegen die Türkei. Hier ist Wallenstein ganz österreichischer Politiker. Was wäre aus der Habsburger Monarchie geworden, wenn sie nicht die Türkengefahr gehabt hätte? Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel, ob die Pax Germanica unter diesen Umständen - etwa für die Bauern und Handwerker, belastet mit einem bis an die Grenze des Mög- lichen ausgedehnten Ablieferungssoll - ein so erstrebenswerter Zustand war. Ein solchermaßen militarisierter Wallenstein entspricht allerdings in keiner Weise den Vorstellungen des Verfassers. Doch wozu den Streit, Wallenstein wurde als ein kranker, ausgebrannter und machtloser Mann 1634 in Eger ermordet - ein Ergeb- nis, das als Moritat größere Bedeutung gewonnen hat, denn als historisches Faktum. Zusammengenommen, das Buch sollte mit der Freude gelesen werden, mit der es geschrieben wurde. Es sagt viel Wahres aus, aber es ist nicht in allem wahr, will es auch gar nicht sein. Der Verfasser möchte über die von Ranke beschworene »nackte Wahrheit«, die an der Quellenkritik kleben bleibt, hinaus zu einer Art spekulati- ven Wahrheit vordringen. Das hat seine Gefahren, dodi wer will grundsätzlich widersprechen. Niemand huldigt - um Diwald zum Sdiluß nodi einmal zu Wort kommen zu lassen - »dem respektvollen Irrtum, die Historiker seien alle nur deshalb so hinter der Wahrheit her, weil sie nackt ist« (S. 10). Gerhard Papke

201 • S. A. Ernstberger: Wallenstein als Volkswirt im Herzogtum Friedland, Reidienberg i. B. 1929. Eberhard v. Vietsch: Bethmann Hollweg. Staatsmann zwischen Macht und Ethos. Harald Boldt Verlag, Boppard/Rh. 1969, 348 Seiten (= Schriften des Bundesarchivs, 18).

Nahezu ein halbes Jahrhundert nach Bethmanns Tod ist mit der anzuzeigenden Publikation die erste von einem Historiker verfaßte Biographie des schon zu seinen Lebzeiten heftig umstrittenen Reidiskanzlers erschienen. Nodi bemerkens- werter erscheint der Umstand, daß, soweit bekannt, dieser Biographie in nicht allzu ferner Zeit zwei weitere folgen werden1. Diese Häufung ist ein erfreuliches Ergebnis der überaus vielschichtigen Diskussionen, die sich aus der Fisdier-Kontro- verse ergeben haben, die über den eigentlichen Anlaß hinaus der historischen For- schung ein bis dahin vernachlässigtes Bezugssystem neu ersdiloß. Allerdings erklärt das aktuelle Interesse nicht, welche Gründe möglicherweise dazu geführt haben, daß die erste umfassende Biographie Jahrzehnte hat auf sich warten lassen. Für die Zeit nach 1945 dürfte hierfür der fast vollständige Verlust des sdiriftlichen Nachlasses Bethmann Hollwegs bestimmend gewesen sein - ein Verlust, der insbesondere für die die Persönlidikeit formenden Jahre bis zur Er- nennung zum Landrat nur durdi glückliche Zufälle zu einem geringen Teil abzu- gleichen sein wird. So hat Vietsch den Briefwechsel zwischen den Schulfreunden Wolfgang v. Oettingen und Bethmann benutzen können und damit eine sehr we- sentliche Quelle nicht nur für die Frühzeit erschlossen. Für die folgenden Biogra- phien wird, so ist zu hoffen, das Riezler-Tagebuch vollständig zur Verfügung stehen, das für die entscheidenden Jahre der Kanzlerschaft wichtige, die Persön- lichkeit kennzeichnende Zeugnisse verspricht. Neben diesen äußeren Gründen, die zum Beispiel für die jahrelangen Vorarbeiten von Friedrich Thimme in den dreißiger Jahren nicht in gleichem Maße angeführt werden können, sieht sich der Biograph Bethmanns methodischen Schwierigkeiten gegenüber, auf die Klaus Hildebrand in seiner jüngsten Veröffentlichung aufmerk- sam gemacht hat2. Er hat sich die im Grunde naheliegende und selbstverständliche, aber meist nur ungenügend beantwortete Frage vorgelegt, wie der Reichskanzler von seinen Zeitgenossen und anschließend von den um Objektivität bemühten Historikern beurteilt wurde. Das Ergebnis seiner überzeugend angelegten und durchgeführten Bestandsaufnahme formuliert er in der provokanten Frage: Der Kanzler ohne Eigenschaften? Hildebrand weist in zwei großen Abschnitten - Im Schatten Bismarcks (1909-1945), Im Schatten Hitlers (1945-1968) - mit bestechender Klarheit nach, daß die bestimmenden Elemente des Urteils je- weils zu einem ganz wesentlichen Teil ideologiegebundenen Überzeugungen entstammen. Mag das für die Zeitgenossen noch als durchaus legitim emp- funden werden, so muß sich aus diesem Ergebnis für den Historiker die unabweisbare Notwendigkeit einer Überprüfung der Methodik seiner Wissenschaft ergeben. Hildebrand konstatiert für die Zeit nach 1945, daß in einigen wenigen Arbeiten der Versuch gemacht worden ist, Bethmann aus den Voraussetzungen und besonderen Bedingungen seiner Zeit zu verstehen und dem Urteil diesen Maßstab zugrunde zu legen. Aber nach wie vor kann von einem in den Grundzügen einheit- lichen Bethmann-Bild nicht die Rede sein. Gefördert durch die Fischer-Kontro- verse stehen sich zwei Tendenzen gegenüber, die im besonderen durch Gerhard Ritter und Fritz Fischer repräsentiert werden. Während Ritter - bei allem Be-

1 Es handelt sich um die Studien von Wolfgang J. Mommsen und Konrad H. Jarausdi. * K. Hildebrand: Bethmann Hollweg - Der Kanzler ohne Eigenschaften? Urteile der Geschichts- 202 schreibung. Eine kritische Bibliographie, Düsseldorf 1970, 68 Seiten. mühen, den objektiven Befund der Akten und die erkennbaren subjektiven Mo- tive zu einem Gesamtbild zu vereinen - Bethmann doch deutlich für das »andere Deutschland« zu reklamieren sucht, vertraut Fischer im wesentlichen auf die Über- zeugungskraft einer Fülle von Dokumenten. Beiden gemeinsam ist ein Vor-Ver- ständnis der wilhelminischen Epoche, das auf jeweils verschiedenen Ebenen nicht im Einklang steht mit den gesicherten Erkenntnissen der Forschung. Ausgehend von dieser Situation sieht sich der Biograph Bethmanns im besonderen Maße der Aufgabe gegenüber, den Kanzler »als Persönlichkeit, aber auch als Typus in der Entwicklung des deutschen Nationalstaates«, das heißt unter dem Aspekt des be- sonderen Verlaufes der preußisch-deutschen Geschichte von 1866 bis 1945, zu schildern, »Vita, Politik und Gesellschaft« miteinander in Einklang zu bringen. Er wird sich dabei neuer Methoden zu bedienen haben. Die Stellung des Kanzlers im wilhelminischen Regierungssystem ist bisher vorwiegend unter verfassungsrecht- lichen und politischen Gesichtspunkten dargestellt worden, damit allein wird man jedoch weder der Person noch den bewegenden Kräften des Zeitalters gerecht. Die von H.-U. Wehler3 erhobene Forderung, die Psychoanalyse unter bestimmten Vorausetzungen in den Dienst des Erkenntnisprozesses der Historie zu stellen, sollte bei einer Biographie Bethmanns nicht unberücksichtigt bleiben - eines Mannes, der als Persönlichkeit und als Politiker so offensichtlich von Widersprü- chen geprägt war und der in seiner persönlichen Reaktion auf die sozialen und politischen Einflüsse seiner Umwelt Verhaltensformen zeigte, die über ein bloßes Finassieren und Taktieren hinausgingen. Vor dem Hintergrund der kritischen Bestandsaufnahme Hildebrands erweist sich das Buch von Vietsch als eine neue Variante der Bemühungen, Bethmann für das »andere Deutschland« zu reklamieren. »Im Grunde scheiterte mit ihm auf der höchsten politischen Ebene die ganze Weltanschauung des klassischen deutschen Idealismus« (S. 313). Vietsch legt dementsprechend besonderes Gewicht auf die Schilderung des Menschen Bethmann Hollweg. Die erwähnten Briefe an (Dettin- gen geben wichtige Aufschlüsse über die geistige Entwicklung des Schülers und Studenten. Man erfährt, daß Bethmann überraschend gute Sprachkenntnisse be- saß, Reisen nach London und Paris unternahm, seinen Urlaub verschiedentlich in Ungarn und den Karpaten verbrachte oder daß er ein passionierter Jäger war. Diese Einzelheiten, so interessant sie sind, und so sehr sie zu einer vertieften Charakteristik der Persönlichkeit beitragen, lassen aber die Lücke unserer Kennt- nisse über die Tätigkeit des späteren Reichskanzlers als Landrat, Oberpräsidialrat, Regierungspräsident, Oberpräsident, Minister des Innern und Staatssekretär des Reichsamtes des Innern noch deutlicher erscheinen. Eine Biographie des großen Gegenspielers Tirpitz ist - um ein Beispiel zu nennen - nicht denkbar ohne eine eingehende Würdigung seiner Erfolge bei der Entwicklung der Torpedowaffe, seiner Tätigkeit als Chef des Stabes des Oberkommandos der Marine - nicht, um den Lebensweg minuziös nachzuzeichnen, sondern um bis in jene Jahre hinein die Formierung der Ansichten, Überzeugungen und Grundsätze - aber auch der Ver- haltensformen - zu verfolgen, mit denen der Staatssekretär sein Konzept in die Tat umsetzte. Für die achtundzwanzigjährige Tätigkeit Bethmann Hollwegs im Dienste der staatlichen Exekutive von 1881 bis 1909 fehlen aber noch immer detaillierte Untersuchungen. Die noch vorhandenen Akten standen dem Verfasser nicht zur Verfügung. So begnügte er sich für jene Jahre mit der Erörterung grund- sätzlicher Aspekte von Bethmanns Verhältnis zu Staat und Gesellschaft.

• H.-U. Wehler: Zum Verhältnis von Gesdiiditswissensdiaft und Psychoanalyse, in: HZ, Bd 208 (1969), S. 529. In einem Brief an Oettingen (August 1901, S. 56) erwähnt der damalige Oberprl- sident der Provinz Brandenburg die »verabscheuungswürdige demokratisdie und byzantinische Gebundenheit unseres Lebens auf politischem, religiösem und künst- lerischem Gebiet« - und stellt gleichzeitig das Ideal »einer freien, im guten Sinne aristokratischen Entwicklung« zweifelnd in Frage. Damit ist ein grundsätzlicher Aspekt der politischen Uberzeugungen auch des späteren Kanzlers angesprochen. In seiner Ablehnung der höfischen Umwelt und ihrer weitgreifenden Folgeerschei- nungen ist er sich treu geblieben, und trotz der durch das Weltkriegsgeschehen aufgelockerten Haltung gegenüber Demokratisierung und Parlamentarisierung blieb sein innerer und grundsätzlicher Vorbehalt bestehen. Gleichzeitig macht die Briefstelle aber auch deutlich, daß Bethmann den negativ beurteilten Erscheinun- gen nur eine ideale Vorstellung entgegenzusetzen vermochte, für deren Realisie- rung er selbst, wenn überhaupt, nur äußerst geringe Chancen sah. Bethmanns Kanzlerschaft war nicht zuletzt aus diesen inneren Gründen zum Scheitern ver- urteilt. Die so oft betonte und im Grunde doch illusionäre Vorstellung von der Position des Kanzlers über den Parteien war Ausdruck des älteren Abhängigkeits- verhältnisses zur Krone, die aber nun von eben jenem Byzantinismus überwuchert war. Wo war eine Basis zu finden? Bethmann sah sie in einem weitaus stärkeren Maße als Bülow in einer »Politik der Diagonalen«, die den Interessenausgleich auf Grund wechselnder Mehrheiten des ungeliebten Reichstages erstrebte. Vietsch be- hauptet (S. 67), die Diagonale Bülows habe kein Programm, sondern nur eine Linie des taktischen Verhaltens dargestellt, und läßt durchblicken, daß sich gerade in dieser Hinsicht Bethmanns Politik positiv von der seines Vorgängers abhebe. Es sei dahingestellt, inwieweit man bei Bülow nicht doch von einem innenpolitischen Programm sprechen kann, sicher ist jedoch, daß die zweifellos von einem größeren Verantwortungsbewußtsein getragene Politik Bethmanns nicht weniger, sondern sehr viel stärker dem Zwang des Lavierens unterlag und eine zielgerichtete Pro- grammatik kaum zu entdecken ist. Mit der Übernahme des Kanzleramtes im Jahre 1909 sieht sich der Biograph Bethmanns einer völlig neuen Situation gegenüber. Nicht nur daß die Quellen sehr viel reichlicher fließen, es gilt vor allem die beinahe unüberschaubare Flut der Literatur zu verarbeiten. Der Verfasser ist der Fülle des »Materials« nicht erlegen und hat an der mehr reflektierenden als berichtenden Form seiner Darstellung festgehalten. Es bleibt allerdings bedauerlich, daß die neueren Thesen zur Politik des Reichskanzlers nur in geringem Maße in die Reflexion einbezogen, vielmehr einem raschen Urteil unterworfen werden. Die Agadir-Krise 1911, die Juli-Krise 1914 und schließlich die Entscheidung vom 9. Januar 1917 über die Eröffnung des unbeschränkten U-Bootkrieges stellen für Vietsch die negativen Fixpunkte der außenpolitischen Bilanz Bethmanns dar. Vietsch konstatiert, daß der »Panthersprung« dem außenpolitischen Grundgedan- ken des Kanzlers - Anbahnung eines verbesserten Verhältnisses zu England mit- tels einer Flottenvereinbarung und mit dem weitgesteckten Ziele, die »Einkrei- sung« Deutschlands an einer Stelle zu durchbrechen - strikt zuwiderlief. Agadir ist nach Vietsch das Werk von Kiderlen-Wächter, dem Staatssekretär des Auswär- tigen Amtes, der den außenpolitisch unerfahrenen und äußerst zurückhaltenden Kanzler nur mangelhaft informierte. Die »kaum begreifliche Passivität Bethmann Hollwegs« sei nur psychologisch zu erklären: der sachlich erwägende und reflektie- rende Kanzler habe sich einem »echten Willensmenschen ausgeliefert« gesehen und sei von dessen »Energie gelähmt und mitgeschleift« worden (S. 132). Vietsch ver- sucht nicht, dieses Verhalten, auf dessen sachliche Problematik hier nicht eingegan- gen werden soll, zu rechtfertigen, aber er wirbt für Verständnis und betont die friedenserhaltenden Bemühungen des Kanzlers nach dem Panthersprung. In ähn- licher Weise beurteilt Vietsch Bethmanns Politik in der Juli-Krise 1914. Wiederum sei die eigentliche Initiative zu dem unannehmbaren Ultimatum an Serbien nicht von ihm, sondern von Wien ausgegangen, »der deutsche Staatsmann wartet und horcht auf das Geschehen, bringt es aber nicht hervor und lenkt es noch weniger« (S. 197). Es ist bekannt, daß die Forsdiung des letzten Jahrzehnts zu Ergebnissen gelangt ist, die mit dieser Interpretation nicht in Übereinstimmung gebracht wer- den können. Überlegungen und Erwägungen, die Vietsch gegen die neueren Thesen zur Politik Bethmanns in der Juli-Krise ins Feld führt, können nach Meinung des Rezensenten nicht überzeugen. Die Gedankenführung hat vielmehr zur Folge, daß der Biograph mit seinem Ziel selbst - Bethmann als Staatsmann zwisdien Macht und Ethos dem Leser vorzustellen - in Konflikt gerät. Vietsch stellt zu wiederholten Malen fest, daß es der sachlichen Natur Bethmanns entsprochen habe, die »Dinge« sich entwickeln zu lassen, daß er dem Programm, der »Phrase«, zutiefst mißtraute und demgegenüber der »fachlidien Arbeit«, der organischen Fortentwicklung, der »praktischen Vernunft« den Vorzug gab. Aber audi Beth- mann konnte einer gewissen Zielvorstellung, die nidit in ein formuliertes Pro- gramm zu münden brauchte, nicht entbehren. Die Herbeiführung einer Verständi- gung mit England war eine der wenigen Zielvorstellungen des Reichskanzlers, deren Realisierung dem Staatsmann durdi die Fachleute Kiderlen-Wächter und Tirpitz erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wurde. Für den Staatsmann mußte es aber darauf ankommen, gestaltend auf die Entwicklung einzuwirken. Vietsdis Darstellung macht deutlich, daß Bethmanns Politik nicht nur an der Struktur des Kaiserreiches, sondern auch an den seiner Person eigenen Überzeugun- gen und Verhaltensweisen, seiner »unbegreiflichen Passivität« gescheitert ist. Es gehört mit zu dem Bild des ersten Kriegskanzlers, daß er wie nur wenige sich immer wieder um die klare Erkenntnis der realen Situation des Reiches bemühte und hierbei in manchen seiner Aufzeichnungen zu denkwürdigen Formulierungen gelangte. Für den Bereich der Innenpolitik sei hier an die Denkschrift vom 9. De- zember 19154 erinnert, in der er nach einer harten Kritik an der konservativen und nationalliberalen Partei und der Hervorhebung der positiven Leistungen der Sozialdemokratie den Schluß zog, »daß die Zusammenhaltung der Volksgesamt- heit an der Rücksicht auf überkommene Zustände ... nicht scheitern darf«. Aber die Erkenntnis verdichtete sich nicht zu entsprechendem Handeln. Man mag ein- wenden, daß im Blick auf die innenpolitischen Reformen während des Krieges, der sogenannten »Neuorientierung«, die Erkenntnis im Widerspruch stand zu tief ver- wurzelten Überzeugungen und daß der Widerstand der beharrenden politischen Kräfte nicht zu überwinden war - obwohl gerade dieses letzte Argument wenig Überzeugungskraft besitzt, da ein wirklich entschiedener, vor der letzten Konse- quenz nicht zurückschreckender Versuch nie unternommen wurde. Bethmann hat die Verantwortung, die ihm die Erkenntnis der realen Situation und deren unausweichliche Konsequenzen auferlegte, als schwere Last empfunden, aber er ist dem Konflikt, der sich daraus mit seiner Neigung, die »Dinge« sich ent- wickeln zu lassen, ergab, im Grunde aus dem Wege gegangen und hat um die Bewahrung der »Politik der Diagonalen« gekämpft. Es bleibt die Sympathie mit einem Politiker und Menschen, der wie kein anderer in sich, seinen Zielvorstellun- gen und deren Motivationen, auch in seinem Handeln die Problematik der Spät- phase der wilhelminischen Ära widerspiegelt.

Wilhelm Deist

* Veröffentlicht jetzt in: Quellen zur Gesdiidite des Parlamentarismus und der politisdien Par- teien, Reihe II, Bd 1, Düsseldorf 1970, S. 271 ff. Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Droste Verlag, Düsseldorf 1969, 806 Seiten, 8 Übersichtskarten.

Fritz Fischers 1961 in erster, 1964 in dritter Auflage und 1967 in »völlig neu bearbeiteter Sonderausgabe« erschienenes Buch über »die Kriegszielpolitik des kai- serlichen Deutschland 1914-18« mit dem herausfordernden Titel »Griff nach der Weltmacht« hat Anfang der sechziger Jahre nicht nur den Anstoß zu einer noch längst nicht ausgelaufenen Lawine von wissenschaftlichen Studien zur Innen- und Außenpolitik, zur sozialen Struktur und zur ökonomischen Basis des Deutschen Reiches in der wilhelminischen Ära gegeben, sondern in einer ganz bestimmten politisdi-psychologischen Situation (Ausklang der Adenauer-Zeit) in der öffentli- chen Meinung der Bundesrepublik eine leidenschaftliche publizistische Diskussion über die nun nicht mehr wie in den fünfziger Jahren auf das »Dritte Reich« und die Weimarer Republik beschränkte jüngste deutsche Vergangenheit eröffnet, die im Effekt nicht unwesentlich zur Veränderung des allgemeinen historisch-politi- schen Bewußtseins in Westdeutschland beigetragen haben dürfte. Zu einer ver- gleichbar starken öffentlichen Wirkung des neuen Buches mit dem weniger provo- zierenden als zweideutig-unscharfen Titel »Krieg der Illusionen«, in dem »die deutsche Politik von 1911 bis 1914« zum Gegenstand einer etwa gleich umfang- reichen Monographie gemacht wird, fehlen in dem veränderten politischen Klima der Bundesrepublik Anfang der siebziger Jahre alle Voraussetzungen. Für die Fachwissenschaft hingegen stellt dieses Buch aus mancherlei Gründen wiederum ein Ärgernis dar. Doch auch hier dürften die Auseinandersetzungen kaum mit der gleidien Erregung geführt werden1, weil es im Kern um dasselbe Problem geht wie beim ersten Werk, um die Klärung der Fragen, unter welchen Vorbedingungen struktureller wie situationsbedingter Art im politischen, sozialen und ökonomi- schen Bereich sowie in psychologischer Hinsicht, in welcher internationalen Kon- stellation, mit welcher Zielsetzung und aus welchen Motiven die Reichsleitung in der Juli-Krise 1914 - wie es Fischer sieht - zum Eroberungszug auf dem Konti- nent in Gestalt eines »Blitzkrieges« (»Krieg der Illusionen«) ansetzte oder — wie es bei mancherlei Differenzierung im einzelnen im wesentlichen gemeinsam seine Kritiker sehen - zu einer aktiven Politik unter Inkaufnahme eines sehr hohen Kriegsrisikos überging und, als dieser Kurs hart am Rande des Krieges scheiterte, als letzten Ausweg aus einer längerfristig als äußerst bedrohlich für die Groß- machtstellung des Reiches betrachteten internationalen Situation zum »Präventiv- krieg« schritt.

Fischer macht es einem Rezensenten nicht leicht, sein Buch sine ira et studio zu besprechen, da er, wie schon bei anderen Gelegenheiten so auch in der Auseinan- dersetzung mit den Kritikern an seinem früheren Werk in der Polemik dieses Buches, zeigt, daß er im Grunde nur »Freunde« und »Feinde« kennt und daß ihm eine sachlich-nüchterne Bestandsaufnahme der Einwände seiner Kritiker, ein dif- ferenzierendes »Verarbeiten« ihrer Gegenpositionen zugunsten einer erweiterten Spannweite seiner neuen Monographie offensichtlich nicht möglich ist. So mündet bei ihm alles in eine pauschale Ablehnung der »anderen« und in den Versuch, die eigene Position durch die Ausbreitung eines scheinbar überwältigend vielschichti- gen, jedoch von ihm nicht wirklich durchdrungenen und unter klaren Fragestellun- gen kritisch geordneten »Materials« abzustützen. Trotz der großen Gefahr, daß

1 Die behutsam-abwägende Besprechung des Buches durch Hans Rothfels in der »Frankfurter All- gemeinen Zeitung« v. 18. 3.1970 dürfte symptomatischen Charakter tragen. sich Gleiches auch bei einer Auseinandersetzung mit dem neuen Buch wiederholt und die Rezensenten wieder in »gut« und »böse« eingeteilt werden2, soll im fol- genden die Kritik so nuanciert wie möglich vorgetragen und nicht zuletzt auch die respektable Leistung des Verfassers gewürdigt werden. Sie besteht im Grunde bereits in der Vorlage eines so umfangreidien, auf einer sehr breiten Aktenbasis erarbeiteten Werkes (auch wenn man die Fischer in erheblichem Maße zuteil ge- wordene Hilfe von Assistenten und Doktoranden in Rechnung stellt) - in einer Zeit, die die meisten Hochschullehrer in einem sogenannten Massenfach angesichts der »Unruhe« (verschiedenster Provenienz) kaum mehr Muße zur Niederschrift eines »opus magnum« finden läßt. In dieser Hinsicht kann Fischer uneingeschränkt als Vorbild gelten. Aber auch inhaltlich dürfte er diesmal auf weiten Strecken seines Buches mehr auf Zustimmung als auf Widerspruch stoßen. In einer über hundertseitigen Einleitung über »Die Grundlagen des Wilhelmini- schen Deutschland« werden sehr intensiv und weitaus fundierter als in dem mit Recht viel kritisierten entsprechenden Uberblick in der ersten Auflage des älteren Buches die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme des Deutschen Rei- ches seit 1890 behandelt. Bezeichnenderweise ist darin, weil Fischer trotz aller offenkundigen Neigung keinen rechten Zugang zur Grundproblematik von Außenpolitik und zur Interpretation komplizierter Mächtekonstellationen findet, da ihm anscheinend der »Sensus« für Machtkalkül fehlt, das Kapitel »Von Bis- marck zu Bethmann: Um die englische Neutralität« (S. 85 ff.) am schwächsten geraten. Danach setzt im Hauptteil die intensive Darstellung mit der zweiten Marokko-Krise 1911 ein, die Fischer als Wende für die deutsche Politik in Rich- tung auf den Krieg hin betrachtet, und verfolgt auf verschiedenen Ebenen (Innen- politik und öffentliche Meinung, Wirtschafts- und Außenhandelspolitik, diploma- tisch-politische Auseinandersetzungen, Rüstungs- und allgemeine Militärproble- matik) den Entscheidungsprozeß »der deutschen Politik« bis zum Kriegsbeginn und bis zur Ausprägung der Kriegszielprogramme in der Zeit der Siegesillusionen im August/September 1914, um mit einem auf das Thema des ersten Buches hin- lenkenden Ausblick auf die Zeit nach dem Scheitern des »Blitzkrieges« (November 1914) zu schließen. Eine weitaus stärkere Berücksichtigung der Politik der übrigen europäischen Großmächte als im früheren Werk erleichtert dem Leser den Einblick in die internationalen Zusammenhänge. Andererseits wird die auf diese Weise ansatzmäßig erreichte bessere Lesbarkeit infolge des Einschiebens ganzer Inhaltsre- ferate von Dissertationen seiner Schüler — mit der Folge, daß sehr viele Wieder- holungen auftreten - zum Teil wieder zunichte gemacht. Bedenklich ist, daß im übrigen nicht klar getrennt wird zwischen dem, was bereits als Ergebnis der For- schung aus der Zwischenkriegszeit vorlag, und dem, was wirklich neu ist. Nicht jede Erwähnung ungedruckten Quellenmaterials darf so verstanden werden, als wäre das Gebotene bisher unbekannt geblieben (die Bände der »Großen Politik« ent- halten inhaltlich weit mehr, als es auf Grund der Bezugnahme Fischers auf unge- druckte Quellen scheinen mag). Schließlich stört die zum Teil überlange polemische Auseinandersetzung mit den Kritikern des ersten Buches, die insbesondere das Kapitel über die Juli-Krise (S. 663 ff.) überwuchert, ebenfalls den Fluß der Darle- gungen.

Fischer beharrt auf seiner im Zuge der Kontroverse mit den Kritikern seit 1961 fortlaufend weiter zugespitzten These von der Kontinuität der expansiven Ziel-

2 Der Rezensent z. B. wird gleich im Vorwort (S. 11) mit einem herausgegriffenen, nodi dazu falsch wiedergegebenen Zitat ohne Fundstellennachweis »abgestempelt«. Vgl. das Zitat und den Zusam- menhang, in den es gestellt ist, in : Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 1967, S. 13 f. Setzung »der deutschen Politik« vor und nach 1914 und leugnet, daß im Kriege etwas grundlegend Neues an Zielen hervorgetreten sei. »Überschaut man alle An- triebe, so läßt sich eine deutliche Kontinuität der Zielsetzungen in der Vorkriegs- zeit und im Kriege erkennen«, so formuliert er diesmal (S. 13): »Der gleiche Dynamismus mitsamt seinen innenpolitischen Komponenten, mit dem die Führung des Reiches 1897 zur >Weltpolitik< aufgebrochen war, blieb auch im Jahre 1914 ohne Bruch wirksam. Wie damals war das Ziel die Hoffnung auf ein »größeres Deutsdiland< und auf die Bewahrung des konservativen Systems. Die Illusionen jener Konzeption von 1897 führten zu den Illusionen von 1914.« Dem ersten Satz könnte man in der allgemeinen Fassung, in der er formuliert ist, nodi zustimmen, obwohl dabei das historisch Entscheidende, der jeweilige »Stellenwert« der einzel- nen Zielsetzungen (etwa »Mitteleuropa«, »Mittelafrika« usw.) innerhalb einer Konzeption, nicht ins Auge gefaßt ist und erst bei Übereinstimmung auch hinsicht- lich der Rangfolge und des Grades an Konkretheit der Zielsetzung von Kontinui- tät gesprochen werden sollte. Gerade in dem nicht unwichtigen Fall der handels- und zollpolitisch orientierten »Mitteleuropa«-Programmatik ist sie bei der Reichs- leitung nicht gegeben, wie Fischer (S. 529) zugeben muß. Hingegen weist der eben zitierte zweite Satz vom Autor unbeabsichtigt auf die größte Schwädie, ja die verfehlte Anlage dieses Buches hin. Wenn die auf den Krieg hinführende Kontinuität »der deutschen Politik« von 1897 an mit so viel Vehemenz vom Verfasser vertreten wird, dann wäre doch die logische Konsequenz die Darstellung und Analyse der deutschen Politik in diesem ganzen Zeitraum gewesen und nicht nur für die letzten drei Jahre vor Kriegsbeginn. Statt eine breite Darlegung der Diplomatiegeschichte der Balkankriege zu bieten, die längst aus den Akteneditionen der »Großen Politik«, der britischen, französischen, russischen, italienischen und österreichisch-ungarischen Dokumente entnommen werden konn- te, um nur eine Möglichkeit zur Platzersparnis anzudeuten, wäre in der Tat eine gründliche Analyse der deutschen Politik und ihrer Zielsetzung in dem Jahrzehnt zwischen 1897 und 1905/06 zum Verständnis der Politik der Reichsleitung in den letzten Jahren vor 1914 unumgänglich gewesen. Sie hätte den Verfasser vor der verfehlten These von der Kontinuität der Zielsetzung »der deutschen Politik« von 1897 an bewahrt. Von der vorgefaßten und nicht wenigstens durch ein Studium der vorausgehenden Jahre überprüften Meinung ausgehend, daß der Kriegsent- schluß aus einer sich seit 1911 entwickelnden außenpolitischen, innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Krise zureichend zu erklären sei, konzentriert Fischer sein Augenmerk ganz auf die Details der letzten drei Jahre vor 1914. Für diesen Zeitraum wird an Quellen alles aufgeboten, was sich für seine These verwerten läßt. Die notwendige weitere Perspektive fehlt. Fischer unterscheidet folglich nicht klar zwischen der »weltpolitisch«-offensiven Konzeption Tirpitz' und der seit 1890 mit Einsetzen des »Neuen Kurses« relativ kontinuierlich verfolgten konti- nental-europäisch orientierten Grundlinie der deutschen Außenpolitik8. Er erfaßt daher auch nicht, daß - wie V. R. Berghahn auf Grund erstmaliger umfassender Auswertung des Tirpitz-Nachlasses nachgewiesen hat -4 der andere Ansatz der Konzeption Tirpitz', die der Grundlinie 1897 gleichsam übergestülpt worden war, bereits 1905/06 wegen des »Dreadnought«-Sprunges der britischen Marine

® Ausführlich hierzu mein Beitrag »Zwischen Hegemonie und Weltpolitik - Das Problem der Kontinuität von Bismarck bis Bethmann Hollweg«, in: Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918. Hrsg. von Michael Stürmer, Düsseldorf 1970. 4 V.R. Berghahn: Zu den Zielen des deutschen Flottenbaus unter Wilhelm II., in: HZ 210/1970, S. 34 ff.; ferner: ders. (zusammen mit W. Deist): Kaiserliche Marine und Kriegsausbruch 1914. Neue Dokumente zur Juli-Krise, in: MGM 1/1970, S. 37 ff. (vor allem die Einleitung). als gescheitert angesehen werden mußte und daß die Reichsleitung danach, schon in der letzten Phase unter Bülow, konsequent dann unter Bethmann Hollweg, zur kontinentaleuropäisch bestimmten Grundlinie zurückzuschwenken suchte. Daß ihr dies infolge der Nachwirkungen des Jahrzehnts »Weltpolitik« (gewissermaßen auf Vorsdiuß, weil die reale Situation, die Tirpitz anvisierte, niemals eintrat) nur sehr unvollkommen gelang, daß die einmal geweckten »weltpolitischen« Erwartungen in der öffentlichen Meinung, vor allem bei den verschiedenen Interessen- und Agitationsgruppen, nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, so daß das Dilemma für die deutsche Politik dadurch im ganzen noch größer wurde, gehört mit zum Verständnis der letzten Jahre vor 1914. Fisdier bringt wohl die »Fakten«, sieht aber nicht die Spannungen, die erst den begrenzten Handlungsspielraum der Reichsleitung verdeutlichen. Da er nicht zwischen der Tirpitz'schen Konzeption, der Grundlinie der Außenpolitik der Reichsleitung, den militaristisch-chauvinisti- schen Kritikern von »rechts« (er identifiziert sogar die Zielvorstellungen sdirift- stellernder pensionierter Militärs mit denen der militärischen Führung, obwohl die Unterschiede klar zutage liegen) und den in anderer Weise machtpolitisch gegen die Reichsleitung argumentierenden »liberalen Imperialisten« unterscheidet, ver- schwimmen die Konturen zugunsten einer nicht vorhandenen Einheitlichkeit »der deutschen Politik«, von der er allenfalls einige englandfreundliche Diplomaten ausnimmt. Eine so weitgehende Einheitlichkeit, wie sie Fischer unterstellt, hat es jedoch nicht gegeben, wenn man natürlich auch das Ziel einer unbedingten Bewah- rung der deutschen Großmachtstellung auf dem Kontinent (und unter Ausnutzung günstiger Konstellationen: ihrer Verbesserung), im Falle ihrer Bedrohung auch um den Preis eines Krieges, als gemeinsamen »Sockel« aller Zielvorstellungen abstra- hieren kann. Während sich bei einem methodisch weitaus günstigeren Ansatz von den verschie- denen Zielvorstellungen und ihrem Gegeneinander her die komplexe Situation der Reichsleitung im Juli 1914 erschlossen hätte, beschränkt sich der Verfasser, von der unterstellten relativen Einheitlichkeit des Ganzen ausgehend, darauf, die Quellen für sich selbst - und seine These - sprechen zu lassen. Dem liegt methodisch eine Art »naiver Realismus« zugrunde. Die Folge davon ist unter anderem, daß einzel- ne, scheinbar besonders aussagekräftige Quellen die Rolle von Schlüsseldokumen- ten für den Weg »der deutschen Politik« zum Kriegsentschluß hin erhalten, so wie es in anderer Weise im ersten Buch mit dem sogenannten Septemberprogramm Bethmann Hollwegs der Fall war, das für den Zeitraum von 1914-1918 zum zentralen Bezugspunkt für die gesamte Kriegszielprogrammatik wurde. Eine ver- gleichbare Rolle kommt hier dem »Kriegsrat« vom 8. Dezember 1912 (S. 232 ff.) zu, der erst vor kurzem, dank einer vollständigen Publikation der Tagebuchauf- zeichnung des Admirals ν. Müller durch den englischen Historiker J. C. G. Röhl ins volle Rampenlicht der Historiker gerückt ist5, nachdem W. Görlitz seinerseits in seiner unzulänglichen Edition der Müllerschen Aufzeichnungen die Bedeutung dieser Eintragung herabzumindern gesucht hatte®. Wichtiger noch als die Zurückweisung solcher Uberzeichnungen einzelner Bespre- chungen und Meinungsäußerungen ist die aus prinzipiellen Gründen erforderliche Auseinandersetzung mit der Polemik Fischers gegen die von seinen Kritikern ver- tretene These vom »Präventivkrieg«, die er jetzt als die der eigenen Auffassung grundlegend gegenüberstehende Position ansieht und daher zu Fall zu bringen

' J. C. G. Röhl: Admiral von Müller and the Approadi of War, 1911-1914, in: The Historical Journal 1969, S. 661 ff. • W. Görlitz (Hrsg.) : Der Kaiser ... Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander v. Müller über die Ära Wilhelms II., Göttingen 1965, S. 124f. versucht. So sehr es zu begrüßen ist, daß Fischer im Gegensatz zum ersten Buch diesmal die für die Gesamtpolitik der deutschen Führung so bedeutsame militärpo- litische und militärstrategische Komponente in seine Betrachtung mit einbezieht, und so sehr er mit Recht bestrebt ist, über die Forschungsergebnisse in Gerhard Ritters Spätwerk »Staatskunst und Kriegshandwerk« hinauszugelangen — die ätzende Schärfe seiner Antikritik gegen den inzwischen verstorbenen Kritiker Rit- ter gehört allerdings zu den am wenigsten erfreulichen Aspekten des neues Buches -, so problematisch ist doch die Methode seiner Attacken gegen die »Präventiv- kriegs«-These. Natürlidi kann man mit dem Schweizer Historiker A. Gasser7, auf den sich Fischer in diesen Partien beruft und den er außer seinem Schülerkreis offenbar als einzigen »Freund« betraditet, der Auffassung sein, daß die Transfor- mation des traditionellen, eng militärischen Präventivkriegsgedankens in Preußen- Deutschland seit den Denkschriften des Feldmarschalls v. Moltke den ursprüngli- chen Sinn des Begriffs so erheblich verändert und schließlich in gewisser Weise geradezu ins Gegenteil verkehrt hat, daß dieser Begriff besser in den wissenschaft- lichen Darstellungen dei η Frage stehenden Epodie durch einen anderen unzwei- deutigen ersetzt werden sollte (ob der von Fischer verwendete Begriff »Angriffs- krieg« oder »Aggressionskrieg« den Sachverhalt deckt, ist allerdings audi zu bezweifeln, da audi er zu »belastet« ist). Indessen ist von den Kritikern Fi- schers der »Präventivkriegs«-Begriff mit dem damals in Deutschland damit verbundenen Sinngehalt verwendet worden. In jedem Falle hätte daher die viel- leicht wünschenswerte terminologische Präzisierung Fischer nicht verleiten dürfen, die Kritiker, die den Begriff mit der veränderten Bedeutung seit den 1860er Jahren übernahmen und von der ihm seitdem zugrunde liegenden Vorstellung ausgingen, daß einer für das Reich bedrohlichen allgemeinen Entwicklung infolge des immer schneller zunehmenden Übergewichts des gegnerischen Kräftepotentials nur noch durch überraschendes, offensives militärisches Handeln entgegengewirkt werden könne, die letzte Entscheidung der Reidisleitung Ende Juli 1914 (nach dem Schei- tern der ursprünglich begrenzten Zielsetzung der Risikopolitik) unter dem nun- mehr beherrschenden Einfluß des Generalstabes bestimmt sehen, einfach unter Rückgriff auf den traditionellen, aber 1914 in Deutschland längst nidit mehr gebräuchlichen Präventivkriegsbegriff, zurückzuweisen. Damit wird die historische Diskussion auf eine der Klärung des Sachverhalts abträgliche Ebene der reinen Polemik verschoben. Fisdiers in drei großen Anläufen vorbereiteter »Generalan- griff« gegen die Verfechter der »Präventivkriegs«-These (S. 565 ff., S. 586 ff. und S. 663 ff., hier ganz massiv-polemisch) stößt ins Leere, weil er den Kritikern eine apologetische Tendenz unterstellt, die ihnen gänzlich fern liegt. Dabei entgeht es Fischer im übrigen, obwohl die von ihm zitierten Quellen hierfür bereits einige Hinweise bieten, in welchem Grade die allgemeinen »Präventiv- kriegs«-Äußerungen Moltkes, wie sie etwa in der genannten Besprechung beim Kaiser am 8. Dezember 1912 fielen, seit den Balkankriegen eine - militärisch gesehen - reale Fundierung erhielten. Die seitdem eingeleitete Entwicklung in Österreich-Ungarn war für die militärische und politische Führung des Reidies gleichermaßen alarmierend8. Auf Grund der veränderten Situation auf dem Bal- kan stellte nämlich der k. u. k. Generalstab seit 1912 das Schwergewicht seiner Planungen für den Kriegsfall, die bisher im Einvernehmen mit dem deutsdien Bundesgenossen auf Rußland konzentriert worden waren und eine Grundlage für

7 A. Gasser: Deutschlands Entschluß zum Präventivkrieg, in: Discordia concors. Festschrift für Edgar Bonjour, Basel 1968, S. 173 ff. 8 Das Folgende verdanke idi einem Hinweis von Herr»' Kollegen Wolfgang Steglich (), der 210 eine Studie über dieses Problem vorbereitet. die Verwirklichung des Sdilieffen-Plans darstellten, auf Operationspläne gegen die Balkannachbarn, vor allem Serbien, um. Die bei Conrad v. Hötzendorf schon in den Jahren zuvor erkennbare Neigung, regionale Kriege gegen die kleineren, aber für die Erhaltung der Donau-Monarchie mit ihren Nationalitätenproblemen ge- fährlicheren Gegner (Serbien, aber auch Italien) der Vorbereitung des großen Krieges vorzuziehen, führte somit zum ersten Mal zu Konsequenzen, die die deut- sche militärische Planung und darüberhinaus die Sicherheit des Reiches in einer Krisensituation oder im Kriegsfall auf das schwerste gefährdeten. Vor diesem Hin- tergrund ist es zu »verstehen«, daß sich die Reichsleitung unter Bethmann Holl- weg nach dem Attentat von Serajewo in der Zwangslage sah, entweder mit Hilfe eines regional begrenzten Krieges Österreich-Ungarns gegen Serbien eine gewalt- same Rückversthiebung des seit den Balkankriegen zugunsten Rußlands und seiner »Freunde« veränderten Kräftegleichgewichts in Südosteuropa riskieren zu müssen, um danach den k. u. k. Generalstab wieder zu seinen operativen Planungen im Rahmen des Bündnisses, das heißt für die Aufgabe der Abschirmung gegenüber Rußland, zurücklenken zu können, oder aber, wenn Rußland nicht zurücksteckte, den »Präventivkrieg« im großen zu diesem zwar schon bedrohlichen, aber im Vergleich mit später noch verhältnismäßig günstigen Zeitpunkt in Kauf zu neh- men, da sich angesichts der fortschreitenden russischen Rüstungen das Verhältnis der militärischen Kräfte der sich gegenüberstehenden Blöcke der Kontinentalmäch- te in wenigen Jahren hoffnungslos zuungunsten der Mittelmächte verschieben würde. Zu diesem Kern der Problematik der Politik der Reichsleitung in der Juli- Krise 1914, aus der eine Diskrepanz allergrößten Ausmaßes zwischen der Ein- schätzung der Situation Deutschlands durdi die öffentliche Meinung und die Agi- tationsgruppen einerseits, durch den kleinen Kreis der Führung um die Reidislei- tung andererseits entsprang, stößt Fischer nicht durch. Was gewiß starken Kräften in der deutschen Gesellschaft als Deutschlands Durchbruch zur Hegemonialstel- lung oder gar zu einer erweiterten Weltstellung erscheinen mochte, nahm sich aus der Sicht der Reichsleitung, deren einseitig militärstrategisch akzentuierte Sicht von historischer Warte kritisch zu analysieren ist, völlig anders, als eine »Flucht nach vorn«, aus. Fischer ist diese Diskrepanz zwischen hochgespannten Erwartungen und relativ realistischer Lageeinschätzung auf den verschiedenen Ebenen — ebenso wie die ähnliche Problematik später während des Krieges in seinem früheren Werk - entgangen. Seine zu sehr am »Material« haften bleibende Darstellung, die weder zum »Verstehen« der Perspektive der in der Reichsleitung Handelnden noch zu einer umfassenden historischen Analyse vordringt, obwohl er diesmal noch stärker um die Einbeziehung möglichst aller Aspekte bemüht ist, erschöpft sich in ihrer Addition. Die Ergebnisse werden kurzschlüssig thesenhaft verkürzt und wirken daher wie leere Hülsen. So bleibt bei aller Anerkennung des Reichtums an »Fakti- schem«, der vor dem Leser ausgebreitet wird, das Bedauern über das allzu Holz- schnittartige in der Zusammenfassung und im Urteil vorherrschend. Sehr viele Ubersichten und Einzelpartien, die dieses Buch enthält, möchte man gewiß nicht mehr missen. Vor allem die recht umfangreichen Abschnitte über wirtschafts- und außenhandelspolitische Probleme enthalten zahlreiche bisher unbekannte Einzelhei- ten und bieten vielfach Anregungen zu weiterer Forschung. Jedoch - darin liegt das prinzipiell Bedenkliche an diesem Werk - drängt sich beim Leser der Ge- samteindruck auf, als wolle ihn der Autor durch die Vorlage zahlloser »Beweis- stücke« von der Richtigkeit einer bereits im voraus feststehenden »These« überzeu- gen. Ehe sich jedoch eine - kaum so holzschnittartig wie hier gefaßte - »These« 211 in der Historie durchzusetzen pflegt, bedarf es ihrer Erhärtung in einer fair ee- führten Diskussion jenseits von Apologie und Anklage, die - nach allzu langer Herrschaft der ersteren - nunmehr in Fischers Büchern dominiert. Bis zu einer sich davon befreienden, distanzierten, unbefangen-abwägenden, umfassenden hi- storischen Interpretation eines wichtigen Abschnitts der Geschichte des Deutschen Reídles sdieint - nadi diesem neuen Buch Fischers zu urteilen - nodi ein redit langer Weg, obwohl seit dem aller menschlichen Voraussicht nach unwiderruflichen Untergang einer souveränen deutschen Großmacht in Mitteleuropa mit dem Ab- reißen der geschichtlichen Kontinuität die Voraussetzungen hierfür längst gegeben sind. Andreas H illgr über

Egmont Zechlin: Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarbeit von Hans Joachim Bieber. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göt- tingen 1969, VIII, 592 Seiten.

Während die Geschichte der nationalsozialistischen Judenpolitik im Zweiten Weltkrieg zumindest in ihren großen Zügen heute hinreichend bekannt ist, gab es bis zur Veröffentlichung der hier vorliegenden Studie keine vergleichbare Unter- suchung der Politik des deutschen Kaiserreiches den Juden gegenüber während des Ersten Weltkrieges. Das hatte seine Gründe. Denn abgesehen davon, daß die deutsche Geschichtswissenschaft sich nach 1945 im allgemeinen vorsichtig von historischen Themen fernhielt, die sich auch nur entfernt mit jüdischen Fragen befaßten, schien ihr eine diesbezügliche Untersuchung der Jahre 1914—1918 ein Forschungsprojekt von zweifelhaftem Wert zu sein. Es ist das Verdienst dieses Buches, daß es nicht nur die Berechtigung einer Untersuchung der deutschen Judenpolitik im Ersten Weltkrieg bestätigt, sondern audi zeigt, wie sehr diese Politik damals auf Mißverständnissen, Unterlassungssünden und manchmal auf bodenloser Unkenntnis der Verhältnisse seitens der verantwortlichen deutschen Zivil- und Militärbehörden beruhte. Dabei handelt es sich hier nicht, wie man nach dem Titel vermuten könnte, vorwiegend um die deutschen Juden, deren Situation in diesem Zeitraum nur im einleitenden und abschließenden Teil des Buches, quasi als Rahmen des Ganzen, im Abriß geschildert wird. Vielmehr besteht der Kern der Studie aus drei großen Abschnitten, welche die politische Stellung Deutschlands zu den Juden der eroberten (oder noch zu erobernden) östlichen Gebieten, der zioni- stischen Bewegung und zu den Juden der - bis April 1917 neutralen - Vereinig- ten Staaten von Amerika zum Gegenstand haben. Die für alle Phasen der deutschen Judenpolitik grundlegenden Schwächen zeigten sich schon in der Behandlung der Ostjudenfrage. Vor Kriegsausbruch hatte man die Reaktion der in den polnischen Gebieten des Zarenreiches lebenden jüdischen Bevölkerung für den Fall eines Krieges mit Rußland überhaupt nicht in Betracht gezogen. Erst nach dem Einsetzen der Feindseligkeiten begann man in den deut- schen Führungskreisen die Möglichkeit zu erwägen, die so lange unterdrückten und unter Ausnahmegesetzen lebenden und leidenden Ostjuden durch sachgemäße 212 Maßnahmen für die Förderung deutscher Interessen zu gewinnen. Zu diesem Ent- sdiluß gelangten Auswärtiges Amt und OHL nicht zuletzt durch die Bemühungen führender deutscher Zionisten. Diese hofften, den Forderungen der in den besetz- ten Gebieten lebenden Juden nach Gewährung nationaler Minderheitenrechte, die auf Gleichberechtigung mit den Polen hinausliefen, dadurch zu begegnen, daß sie den deutschen Behörden nahelegten, diese jüdischen Wünsche zu erfüllen und sich damit die Dankbarkeit und Unterstützung der ostjüdischen Bevölkerung zu sichern. Sehr weit allerdings führten die in diesem Sinne unternommenen Schritte nicht. Die Polen, deren guter Wille den deutschen Behörden aus militärpolitischen Gründen wichtiger war, als die Sympathie der Ostjuden, setzten sich den jüdischen Bestrebungen auf Anerkennung ihrer nationalen Autonomie sehr energisch ent- gegen. Um einen Konflikt mit den Polen zu vermeiden, beschloß man, die Lösung des polnisch-jüdischen Interessengegensatzes nicht durch deutsche Einmischung zu belasten. Das bedeutete praktisch, daß die jüdischen Belange dem Interesse der zahlenmäßig weit überlegenen polnischen Volksgruppe geopfert wurden. Nicht einmal die verhaßte zaristische Judengesetzgebung wurde abgeschafft. An eine Verwirklichung des Autonomiestatus war nicht mehr zu denken. Gekrönt wurde die deutsche Ostjudenpolitik dadurch, daß man im Interesse der Kriegswirtschaft Tausende von Juden zwangsweise zum Arbeitseinsatz einzog und dann im letzten Kriegsjahr die preußischen Ostgrenzen gegen die unerwünschte Einwanderung ost- jüdischer Arbeiter sperrte. All das geschah trotz eifriger Bemühungen der verschie- denen, allerdings oft auch gegeneinander arbeitenden, jüdischen Interessenver- bände aller Richtungen, die zuständigen deutschen Stellen zu einer gerechten und befriedigenden Lösung der Ostjudenfrage zu bewegen. Ähnlich unzulänglich wie die deutsche Stellung zur Ostjudenfrage war die Politik gegenüber der zionistischen Bewegung und den Juden Nordamerikas. Obwohl es in Deutschlands Interesse gelegen hätte, die zionistische Bewegung zu fördern, um sich gleichzeitig im Nahen Osten einen mit Deutschland eng verbundenen politi- schen, wirtschaftlichen und kulturellen Stützpunkt zu schaffen, kam es trotz der Erkenntnis dieser Vorteile seitens vereinzelter höherer Beamter weder vor noch während des Krieges zu einer klaren und entschlossenen deutschen Stellungnahme. Wie in der Ostjudenfrage wurde auch hier die deutsche Politik einerseits durch die traditionelle Indifferenz der Bürokratie in jüdischen Angelegenheiten, andererseits durch die politischen und militärischen Gegebenheiten bestimmt. Denn ebenso wie der polnische Widerstand gegen jegliche jüdische Autonomiebestrebungen die deut- sche Politik in den besetzten östlichen Gebieten schließlich zur »Neutralität« in der Ostjudenfrage verdammte, zwang die anti-zionistische Türkei, also eine ver- bündete Macht, die deutsche Regierung zu immer größerer Zurückhaltung in der Frage einer jüdischen Heimstätte in Palästina. Damit ging die Initiative auf das feindliche England über, das sich dann Ende 1917 durch die Balfour-Deklaration zum Schirmherrn des Weltzionismus machte und somit die Mittelmächte, speziell aber Deutschland, diplomatisch überspielte. Eng verknüpft mit Deutschlands Ostjudenpolitik und seiner Haltung zum Zionis- mus war der Versuch, die öffentliche jüdische Meinung Amerikas zugunsten der Mittelmächte zu beeinflussen. Bei Kriegsausbruch besaß Deutschland in den Ver- einigten Staaten noch weitgehend die Sympathien der zumeist aus Deutschland stammenden Oberschicht des amerikanischen Judentums wie auch der aus Ost- europa vor russischen Pogromen geflohenen jüdischen Massen. Diesen Kredit büßte Deutschland aber schon geraume Zeit vor dem Eintritt der USA in den Krieg ein durch seinen rücksichtslosen U-Bootkrieg, die lapidare Behandlung der ost- jüdischen und zionistischen Fragen und durch die trotz offiziöser Versprechungen weiterhin betriebene Zurücksetzung der deutschen Juden bei Anstellung in öfFent- lichen Ämtern und bei der Beförderung im Heeres- und Zivildienst. Daß audi der seit 1916 immer stärker werdende deutsche Antisemitismus auf die Haltung ame- rikanischer Juden, einschließlich so einflußreidier Bankiers wie Jacob Schiff und Paul Warburg einwirkte, war ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, daß sich dieser Umschwung der jüdischen öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten audi auf die dortige Regierung auswirkte. Sicher spielten bei diesem Umschwung auch wirtschaftliche Interessen und die zunehmende Identifizierung der jüdischen Einwanderer mit den demokratischen Idealen des Adoptivlandes eine Rolle, aber ausschlaggebend blieb wohl die wadisende Enttäuschung über Deutschlands Juden- politik. Als Antwort auf die Frage, warum diese Politik im Ersten Weltkrieg so unfrucht- bar blieb, schreibt der Autor im Zusammenhang mit der Ostjudenfrage: »Das Desinteresse der Reichsleitung an den Ostjuden, was wiederum nachgeordneten zivilen und militärischen Stellen einen Freibrief für ein mehr oder minder deutlich gegen die Juden gerichtetes Planen und Verhalten ausstellte, läßt sich freilich nicht allein aus ... allgemeinen Bedingungen der deutschen Ostpolitik erklären ... Viel- mehr ist es in erheblichem Maße auch auf das geistige und emotionale Klima zurückzuführen, in dem jüdische Angelegenheiten in Deutschland seit langem be- handelt wurden« (S. 282). Das gleiche läßt sich über die gesamte deutsdie Juden- politik im Ersten Weltkrieg sagen. Das bestehende Klima, ein Gemisch aus Gleich- gültigkeit, Unverständnis und Abneigung, sich mit jüdischen Angelegenheiten überhaupt ernstlich zu befassen, wirkte sich in der Behandlung der zionistischen und amerikanischen Probleme ebenso negativ aus, wie in der Ostjudenfrage, ganz abgesehen von der seit Jahrzehnten antisemitisch gefärbten inneren Verwal- tungspraxis den Juden gegenüber, die sich auch während des Krieges nicht wesent- lich besserte. Das Buch stützt sidi vor allem auf Akten des deutschen Auswärtigen Amts, auf die Memoiren führender jüdischer Persönlichkeiten und auf jüdische Zeitschriften deutsch-jüdischer und national-jüdischer Richtung. Der weitaus schwächste Punkt dieser Studie ist ihre Konstruktion. Die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen den drei Hauptthemen wie auch dem Rahmenthema werden nur angedeutet, und eine abschließende, zusammenfassende Analyse und Bewertung der deutschen Judenpolitik im Ersten Weltkrieg fehlt gänzlich. Die fehlende Koordinierung der verschiedenen Themen mag mit der im Vorwort erwähnten geistigen Zusammen- arbeit des Autors mit seinen Assistenten zusammenhängen. Auch die öfter auf- tauchenden Wiederholungen schon bekannter Tatsachen und Argumente im Text, wie hier und da audi Unklarheiten in den Quellenangaben der Anmerkungen, mögen darauf zurückzuführen sein. Aber so bedauerlich diese Mängel auch sind, die Arbeit als solche mit ihrer bahnbrechenden Problemstellung, ihrer Sachlichkeit und ihrer breiten Quellenbasis ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der deutschen Geschichte unseres Jahrhunderts. 'Werner T. Angress

214 Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschulleh- rer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Musterschmidt- Verlag, Göttingen, Zürich, Frankfurt 1969, 302 Seiten.

Die überarbeitete Fassung einer 1958 vorgelegten Dissertation ist heute mitten in einer auf breiter Basis geführten Diskussion um die deutsche Position während des Ersten Weltkrieges wohl noch aktueller als ihre Vorgängerin. Schwabe, jetzt Do- zent in Freiburg, breitet zum ersten Mal in einer thematisdien Untersuchung reich- haltiges Material über die politisch-propagandistische Aktivität der deutschen Hochschullehrerschaft im Ersten Weltkrieg aus. Dabei werden Gruppierungen und Schattierungen deutlich, im wesentlichen aber die Spannungen beleuchtet zwischen den »Gemäßigten« und den »Annexionisten« seit dem Auseinanderfall der natio- nalen Solidarität und dem Verblassen der »Ideen von 1914«. Mit der Erschließung des umfangreichen Materials, zu dem auch Gelehrtenbriefwechsel und -nachlasse gehören, ist ein wichtiger Beitrag zur innerdeutschen Perspektivenforschung für den Ersten Weltkrieg geleistet. Dankenswert ist die bei aller Knappheit ausgewogene Rückschau im ersten Kapitel auf die Rolle des »politischen Professors« im 19. Jahrhundert. Schwabe ist bei- zupflichten, wenn er in der Zeit von 1848 bis 1871 die entscheidende Zäsur für den politischen Einfluß der intellektuellen Honoratioren ansetzt. Vielleicht sollte die meinungs- und weltanschauungsbildende Wirkung der nationalen Tatsachen von 1866 und 1871 nodi stärker akzentuiert werden. »Realpolitik« wurde im Bis- marck-Reich zum Dogma und zur Ideologie1. Liberale englische Beobachter be- zeichneten noch vor Ausbruch des Krieges einen »cult of force« als Ergebnis der Entscheidungen von 1866 und 1870, so etwa der produktive W. H. Dawson2. Die Polarisierung des politischen Engagements begann sich jetzt primär an außenpoliti- schen Zielsetzungen zu bilden. Es sei nur auf die Flottenagitation und auf den Alldeutschen Verband hingewiesen. Nuancen, Differenzierungen und Gegenpositionen wurden 1914 zunächst von einer ungeheuren nationalen Euphorie überschwemmt. Hier setzt der Bericht ein. Die deutsche Professorenschaft hielt sich für berufen, ihren nicht aufgegebenen »politischen Führungsanspruch« jetzt in besonderer pädagogischer Weise zu aktua- lisieren8. Allein von den 69 ordentlichen Professoren der Geschichte beteiligten sich 43 an der »Mobilmachung der Geister«. Ausgangspunkt war für sie eine allenthalben festzustellende Selbsttäuschung über die Ursachen des Krieges. Der Jurist Gerhard Anschütz, der den Linksparteien nahestand, konnte, über die Ver- teidigung der Motive der deutschen Politik hinausgehend, damals schreiben: »Das Wort Militarismus, das in der weiten Welt... als ein Schimpf- und Ekelwort über uns verbreitet wird, es sei uns ein Ehrenzeichen ...«. Bald verband sich der natio- nal-pädagogische Eifer mit den entscheidenden, das innenpolitische Klima bestim- menden Fragestellungen: mit der Kriegszielauseinandersetzung, dem Für und Wi- der des uneingeschränkten U-Bootkrieges und schließlich mit der Kampagne um Siegfrieden oder Verständigungsfrieden. In der Flut der Meinungen und Verdächtigungen hält sich Schwabe an Max Webers

1 Vgl. u. a. K.-G. Faber: Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politi- sche Denken in Deutschland, in: HZ 203/1966, S. 1-45. * In seinem 1908 erschienenen The Evolution of Modern Germany. ' S. dazu audi die kenntnisreiche Behandlung der Vor- und Kriegszeit bei D. Aigner in seinem grundlegenden Buch: Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis. Die öffentliche Meinung 1933-1939. Tragödie zweier Völker, München 1969, S. 17 ff.; ausführlich rezensiert in diesem Band der MGM, S. 221 ff. Zum Deutschlandbild englischer Historiker vor und während des Weltkrieges s. a. M. Messerschmidt: Deutschland in englischer Sicht, Düsseldorf 1955. Definition des Politischen. Hieran gemessen können die Exaltationen zahlreicher Wissenschaftler schwerlich bestehen, und es läßt sich gar nicht vermeiden, daß der heutige Leser den Vergleich mit der Zeit nach 1933 zieht, zumal Schwabe selbst in einem Vorausblick auf die Weimarer Republik der »psychologischen Hypothek« der »Gemäßigten« die »innere Sicherheit« gegenüberstellt, mit der die »Annexio- nisten« naditräglidi ihre Haltung verteidigt haben - und sehr leicht verteidigen konnten, wie hinzugefügt werden darf. Der »idealistische« Ansatz des deutschen Professors, wie er euphemistisch genannt worden ist, war das Produkt seiner sozialen Beziehungslosigkeit in der Welt- kriegsgesellschaft. Sie war viel bedrängender als seine Fehleinsdiätzungen der Nachbarn, vor allem Englands oder gar der USA. Die von Friedrich Naumann 1914 erhoffte »Integration nach unten«, mit deutlichem Blick auf die Sozialdemo- kratie von seinen Anhängern oder ähnlich Denkenden (Troeltsch, Meinecke, An- schütz und andere) als »Wunder« des Augusts 1914 gefeiert, war nicht soziales oder politisches Resultat einer zielsicheren Politik, sondern lediglich psychologisches Er- eignis: in den Augen der »Annexionisten« oder Imperialisten in wieder anderer Fehleinschätzung als Sieg der Vorstellungen der Rechtsparteien gewertet. Bereit- schaft zum Umdenken war bei diesen Parteien nicht vorhanden. Im Laufe des Krieges radikalisierten sich ihre Anschauungen noch. Mochten Männer wie Har- nack, Troeltsch, Anschütz und Preuß für die Reform des preußischen Wahlrechts eintreten, um die Identität von Staat und Nation zu verwirklichen, so standen ihnen andere gegenüber, etwa Below, Hoetzsch, Schäfer, Eduard Meyer und Sdie- ler, die ausdrücklich am Obrigkeitsstaat festhielten. Der Krieg gab der Innenpolitik ganz neue Züge mit dem anschwellenden unkon- trollierbaren »Einfluß von unten«, an dem vornehmlich die rechtsstehenden Pro- fessoren während der Kanzlerschaft Bethmanns teilhatten, besonders seit sie ganz unverhohlen auf seinen Sturz hinarbeiteten. Im Vergleich zu ihrer Demagogie, zu der auch die von Max Weber so heftig bekämpfte »Admiralsdemagogie« gehörte, nahm sich der Einfluß der Reichsleitung auf die öffentliche Meinung geradezu hilflos aus. Auch hier sind wieder erstaunliche Parallelen zur Weimarer Republik zu ziehen. Des Reiches Beamtenregiment war machtlos gegen die schon lange in der Flottenagitation, im Alldeutschen Verband und im Kolonialimperialismus ein- geübten Propagandisten - allen voran Dietrich Schäfer. Die Gruppierung ist deutlich: den »Gemäßigten« auf Seiten des Reichskanzlers (Delbrück und andere) standen die Expansionisten gegenüber, angelehnt an All- deutsche, Schwerindustrie und OHL. Schäfers »Unabhängiger Ausschuß« ging schon 1915 an den Aufbau von Ortsausschüssen. Er hielt enge Fühlung mit Tir- pitz, vor allem in der Frage des U-Bootkrieges. Seit sich mit Bethmanns Sturz die Beziehungen der »Gemäßigten« zur Reichsleitung lockerten, knüpfte Schäfer das Verhältnis zur OHL fester. Sie wurde zusammen mit den Alldeutschen und der Schwerindustrie zum Rückhalt seines Ausschusses. Dieselbe Konstellation kenn- zeichnete die Vaterlandspartei. Schäfer konnte jetzt sogar Resolutionsentwürfe von Oberst Bauer genehmigen lassen. Der Vertreter der OHL war dabei nicht zimperlich. Im Januar 1918 billigte er selbst eine Denkschrift an den Kaiser, in der für den Fall des Ausbleibens von Annexionen mit Revolution gedroht wurde! Überhaupt gehörten Denkschriften und Appelle seit 1914 zu den wichtigen Aktivi- täten der Professorenschaft, so der »Aufruf der 93« »an die Kulturwelt« vom 4. Oktober 1914, von 56 Professoren unterzeichnet - mißbilligt nur von wenigen, nämlich Einstein, Delbrück und Leopold v. Wiese. Schwabe spricht diesem Aufruf »allgemeingültigen Charakter« zu, und er kann in der Tat als grundlegend für seine Untersuchung der »Ideen von 1914« angesehen werden. Man mag die Frage aufwerfen, ob Schwabe mit der Besdiränkung auf die »or- dentlichen« Professoren seine Untersuchung nicht zu eng angelegt hat? Dem ist entgegenzuhalten, daß es ihm um einen repräsentativen Querschnitt der Meinun- gen einer überschaubaren und soziologisch deutlich abgehobenen Gruppe ging. Tat- sächlich hat der Ordinarius 1914 noch ein Prestige besessen, das diese Auswahl gerechtfertigt erscheinen läßt. Dagegen wäre eine stärkere Heranziehung der politischen Diskussion innerhalb der Parteien nützlich gewesen. Dabei wäre deutlich geworden, daß vieles von dem, was in die Überlegungen der Professoren eingegangen ist, auch von anderen ge- dacht wurde. Der Professor handelte und dachte in den Kategorien des Besitz- und Bildungsbürgertums. Mit ihm teilte er auch die soziale Distanz zu jenen Sdiiditen, die in erster Linie diesen Krieg kämpfend durchzustehen hatten. Zusammenhänge dieser Art sind durchaus angedeutet, aber nicht eigentlich in das Thema einbezogen worden. Im Rahmen einer Dissertation und angesichts des reichhaltigen Materials, das der Verfasser ohnehin zu bewältigen hatte, war das wohl nur unvollkommen möglich. Doch wäre es zu wünschen, wenn diese Aufgabe den Verfasser künftig reizte. M. Messerschmidt

Edouard Calie: Ohne Maske. Hitler-Breiting Geheimgespräche 1931. Vor- wort von Golo Mann. Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1968, 233 Seiten.

In »Mein Kampf« und »Hitlers zweites Buch« sind die Grundgedanken der außenpolitischen Konzeption Hitlers niedergelegt, die nach der Machtergreifung die Maxime seines Handelns bestimmten. Aus bisher bekannten Zeugnissen der letzten Jahre vor der Machtübernahme wurde lediglich eine beginnende Verschleie- rung der Zielsetzung deutlich, die der Parteiführer angesichts einer möglichen Kanzlerschaft für opportun hielt. Mit Aufmerksamkeit wird daher jedes neue Dokument aus dieser Zeit registriert werden müssen, zumal Hermann Rausdinings »Gespräche mit Hitler«1 in den Jahren 1932-1934 als primäre Quelle nicht vorbehaltlos akzeptiert werden können2. Die beiden vorliegenden Unterredungen zwischen Hitler und dem Journalisten Richard Breiting, die im Mai und Juni 1931 stattfanden und von denen Breiting stenographische Mitschriften anfertigte, stellen ein Dokument ersten Ranges dar. Die Tatsache, daß die Niederschrift den Versuch Hitlers dokumentiert, den Chef- redakteur einer großen bürgerlichen Zeitung zum Bundesgnossen zu gewinnen8, beeinträchtigt ihren Quellenwert nicht. Die aus diesem Grunde geübte Reserve stellt sich als unbegründet heraus. Hitler bekennt sich ungeschminkt zu seinen

1 H. Rauschning: Gespräche mit Hitler, Zürich, Wien, New York, 2. Aufl. 1940. 4 E. Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Tübingen 1969, S. 14, Anm. 22 (zit. Jäckel). ' Ebenso wie vermutlich Breiting erkunden wollte, ob Hitler für die bürgerliche Redite nutzbar gemacht werden könne. Vgl. die Besprechung von Sebastian Haffner, Die Zeit, Nr. 8, 21. 2.69, S. 23. Zielvorstellungen4. Das zweite Gespräch, das audi eine bemerkenswerte Voraus- schau auf die späteren außenpolitischen Taktiken enthält, belegt jedoch in zwei Punkten eine erhebliche Modifizierung der beiden großen Programmschriften, ein- mal in der Beurteilung des Wunschpartners England und zum anderen in der Sicht des westlichen Nachbarn Frankreich. Hitler bestätigte die Bündnisabsichten gegenüber England® und sprach erneut von einem Verzicht auf Kolonien, Flottenrüstung und Welthandel®. Doch verschwieg er nicht, daß es nach der Verwirklichung der Lebensraumpläne durchaus zu einer deutsch-englischen Rivalität im Weltmaßstab kommen würde7. Diese Kennzeich- nung der Vorläufigkeit seiner Zugeständnisse liegt ganz auf der Linie der »Stel- lungnahme der Reichsleitung zur Frage der Kolonien« vom Januar 19308, die den Vorrang des Landerwerbs im Anschluß an das Reich betont, kolonialen Neuerwerb aber nicht ablehnt. Mit Akribie hat jetzt Hildebrand" die Entwicklung der Kolo- nialfrage innerhalb der Gesamtkonzeption Hitlers nachgezeichnet. Ihr Weg führt ausgehend von der in den zwanziger Jahren formulierten Konzessionsbereit- schaft10 über die Variante der Sanktionsdrohungen der zweiten Hälfte der dreißi- ger Jahre hin zur Vorbereitung kolonialer Betätigung, die nun (1939/40) schon für die Mitte der vierziger Jahre in den Blick genommen wird. Abgesehen davon, daß London längst die Abkehr von der expansiv-imperialisti- schen Ära vollzogen hatte, von der Hitler immer noch ausging, und daher ein Bündnis zum Zwecke beiderseitiger Machterweiterung beziehungsweise ein Still- halteabkommen zur Sanktionierung einer deutschen Expansion nicht der Realität entsprach, wirkten seine Verzichterklärungen nach der Machtergreifung, obwohl erneut bekräftigt, nicht glaubwürdig. Verantwortlich dafür war die dilatorische Behandlung der Kolonialfrage durch den Reichskanzler, zu der ihn Rücksichten auf die konservativen Kräfte im Reich zwangen11. So konnte der konservative britische Abgeordnete Duncan Sandys bei seinem Berlin-Besuch im April 1935 auf die enge Verknüpfung von Kolonial- und Flottenfrage hinweisen und betonen, solange die Stellung Deutschlands zur Kolo- nialfrage nicht eindeutig geklärt sei, glaube man in England nicht daran, daß sich das Deutsche Reich mit den erhobenen Flottenforderungen begnügen werde12. Neben die Verzichtserklärungen trat in den Unterhaltungen mit Breiting nun aber ein neuer, ebenso gewichtiger Gesichtspunkt, den wir schon in einem Artikel Hitlers in der »Daily Mail« am 27. September 19301S angedeutet finden und der zugleich belegt, daß sich Hitler jetzt auch eingehender mit der traditionellen briti-

4 Die Nationalsozialisten versuchten nach 1933, die Stenogramme zurückzuerhalten. Breiting behauptete gegenüber der , die Dokumente, die seine Schwester in Verwahrung hielt, vernichtet zu haben. Zahlreiche Indizien lassen vermuten, daß Breiting wegen seiner Kenntnisse später ermordet wurde. ' E. Calie: Ohne Maske. Hitler-Breiting Geheimgesprädie 1931, Frankfurt/M. 1968, S. 97 (zit. Calie). • Ebd., S. 78. 7 Ebd., S. 93, 100 f. 8 Bundesarchiv (Koblenz), NS 22 - vorl. 356, 2 Seiten (»Wir müssen aber darüber wadien, daß nidit durch koloniale Bestrebungen der Blick des deutschen Volkes - unter Umständen absicht- lich - von Wichtigerem abgelenkt wird«). • K. Hildebrand: Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919-1945, München 1969 (zit. Hildebrand). 10 Schwer vorstellbar erscheint allerdings, daß Hitler, wie Hildebrand schreibt (S. 82), zu dieser Zeit glaubte, bis zu einem überseeischen Ausgriff würden hundert Jahre vergehen. » Hildebrand, 5. Kap., 6. Kap. (S. 447 ff.). 11 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Bonn), Abt Π-Abr, Abr 5 E, Material England, Bd 2, Aufzeichnung Dieckhoffs v. 16. 4. 35, 2 Seiten. " Daily Mail, 27. 9.1930, S. 9. Vgl. D. Aigner: Das Ringen um England. Das deutsch-britische Ver- hältnis. Die öffentliche Meinung 1933-1939. Tragödie zweier Völker, München, Esslingen 1969, S. 36 (zit. Aigner). sehen Gleidigewiditspolitik auseinandergesetzt hat. Unter Hinweis auf das »Pul- verfaß« Ferner Osten, die Unzufriedenheit im Mutterland und im britischen Empire sowie die für Deutschland allgemein günstige Weltlage vertrat er die Auf- fassung, daß England gar nicht in der Lage sei, erfolgreich für das Gleichgewicht der Mächte auf dem europäischen Kontinent einzutreten, ja den Briten keine an- dere Wahl bleibe, als sich Deutschland anzunähern14. Die Bedrohtheit des Empire war in Hitlers Augen zum entscheidenden Moment gereift, aus dem sich bündnis- politisch Kapital gewinnen ließ18. Nur vor diesem Hintergrund kann seine Ab- sidit gewürdigt werden, Großbritannien vorzuschlagen, das englisdie Weltreich mit deutschen Soldaten zu sichern1·, ein Angebot, das Hitler und Ribbentrop in späteren Jahren tatsächlich aussprachen17. Für Großbritannien stand selbstverständlich die Sicherheit des Mutterlandes an erster Stelle, was angesichts der deutschen Aufrüstung in den britischen Verteidi- gungskonzeptionen ab 1934 besonders deutlich seinen Niederschlag gefunden hat. Eine deutsche Kontinentalhegemonie bedeutete aber auf Grund der Entwicklung moderner Waffen, die auch der insularen Festung viel von ihrem einstigen Wert genommen hatte, eine potenzielle Bedrohung Englands selbst, zumal zu befürchten stand, daß die Selbständigkeit der drei westlichen Nachbarn Deutschlands dann nur noch eine Frage der Zeit war. Hitler muß dieser Gedankengang nicht gänzlich fremd gewesen sein, denn er vertraute nicht allein auf die Gunst der Stunde und die Würdigung seiner Verzichterklärungen durch die Londoner Verantwortlichen, sondern beschäftigte sich auch mit der Möglichkeit eines widerstrebenden Großbri- tannien. Letzten Endes werde die militärische Kraft entscheiden, vertraute er sei- nem Gesprächspartner an, er werde neue Waffen und die besseren Soldaten zur Verfügung haben, das wisse man in London (und Paris)18. Mit Hilfe einer über- legenen Luftwaffe, die er zusammen mit der U-Bootwaffe für das geeignete In- strument gegen England hielt19, wollte er Großbritannien notfalls zum Stillhal- ten zwingen80. Die Bündnispolitik Hitlers gegenüber England im Rahmen der Pläne für eine Neuordnung Europas erscheint hier als ein Mittel zur Erleichterung, nicht als notwendige Voraussetzungen für die Durchsetzung seiner Ziele. Zwar rechnete er auf Grund seines »verlockenden« Bündnisangebotes mit einem deutsch-englischen Arrangement, doch wie er für spätere Zeiten einen Machtkampf mit England nicht ausschloß, vertraute er auch schon in dieser Phase letztlich allein auf die militäri- sche Macht, mit deren Hilfe seine außenpolitischen Pläne auch bei einer Gegner- schaft Englands durchzusetzen seien. Allerdings meinte Hitler, ein Gegenmittel für diese Alternative zu besitzen. Wie im Artikel in der »Daily Mail« operierte er mit dem Argument der bolschewisti- schen Gefahr, von dem er glaubte, daß sich Großbritannien ihm nicht verschließen könne: »Wir werden sie vor die Frage stellen, mit uns für eine neue Ordnung oder mit dem Bolschewismus für die Anarchie und den Untergang zu paktieren81.« " Calie, S. 75, 92, 100 ff. » Vgl. Aigner, S. 36. " Calie, S. 91 f. 17 A. Eden: Angesichts der Diktatoren. Memoiren 1923-1938, Köln, Berlin 1964, S. 172; A. Toyn- bee: Acquaintances, London 1967, S. 279; W. Churchill: The Gathering Storm, Boston 1937, S. 222 f. » Calie, S. 87, 93. 11 G. L. Weinberg (Hrsg.): Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, Stuttgart 1961, S. 173. 10 Calie, S. 93, 95. Allerdings setzt er voraus, daß Italien Deutschlands südliche Flanke schützte (S. 79). n Ebd., S. 78; vgl. S. 77, 100. S. ferner H.-A. Jacobsen: Nationalsozialistische Außenpolitik 1933- 1938, Frankfurt, Berlin 1968, S. 11, Anm. 37. Die Englandpolitik nadi 1933 zeigte, daß Hitler »alles« tat, um London für sich zu gewinnen. Lange Zeit erschien ihm dieser Wunsch auch realisierbar. Als er einzusehen begann, daß England dem Bündnis widerstrebe, stellte sich ihm die Auseinandersetzung mit Großbritannien nicht mehr so leicht dar wie im Jahre 1931. Die direkte Konfrontation scheuend versuchte er, die englische Großmacht auf Umwegen gefügig zu machen22. Doch weder koloniale Sanktionsdrohungen23 und die Schaffung einer mächtigen Konstellation (Antikominternpakt mit Japan, deutsch-russischer Pakt) noch die Vertreibung Englands vom Kontinent und die Vergrößerung der deutsdien Kriegsbasis durch die Niederwerfung Frankreichs konnten London bewegen, den Ausgleich zu suchen24. Als Ausweg aus dem Di- lemma dieser Situation betrieb er den baldigen Krieg mit Rußland, um England den letzten Festlandsdegen aus der Hand zu schlagen. Erst nach der Besiegung Rußlands glaubte er über die Basis zu verfügen, England militärisch erfolgreich zu begegnen, sollte es wider Erwarten weiter aushalten. Die widerstrebende Haltung der Briten hat Hitler zu immer neuen Modifikatio- nen seiner Englandkonzeption getrieben, aufgegeben hat er den Gedanken an ein Arrangement jedoch nie. Nodi als Deutschland schon zerstört am Boden lag, gab er Ribbentrop eine Art politisches Vermächtnis mit, in dem gesagt war, daß der entscheidende Punkt für das Schicksal Europas die absolute Notwendigkeit einer deutsdi-englischen Verständigung sei25. In Frankreich hatte Hitler bisher den Gegner gesehen, nach dessen Vernichtung erst die Vergrößerung des Lebensraumes in Osteuropa in Angriff genommen wer- den könnte. Gegenüber Breiting äußerte der Parteiführer nun die Überzeugung, daß Frankreich ebenso wie England ein deutsches Übergewicht auf dem Kontinent billigen werde29. Stehen wir vor einem totalen Sinneswandel? Hitler orientierte sich bei der Beurteilung der zukünftigen Haltung Frankreichs gegenüber dem Reich an den gleichen Maßstäben, mit denen er die englische Politik festzulegen suchte. Die Unzufriedenheit im eigenen Lande und in den Kolonien, wähnte er, werde Frankreich auf die Seite Deutschlands treiben. Zugeständnisse auf maritimem und kolonialem Gebiet sollten Frankreich die Annäherung erleich- tern. Außerdem wollte Hitler Paris die Übernahme einer gebührenden Rolle in Europa sichern und für die Rückgabe von Elsaß und Lothringen entschädigen27. Diese Vorstellungen Hitlers sind auf die Phase der Expansion nach Osten zuge- schnitten, in der Deutschland nach erfolgtem Aufbau des militärischen Instruments aus einer Position der Stärke und Überlegenheit heraus verhandeln konnte. Zu- nächst aber mußte die Durststrecke der inneren Konsolidierung und militärischen Aufrüstung durchschritten werden, die Frankreich und selbst schwächeren Staaten wie Polen die Möglichkeit ließ, das Aufbauwerk zu verhindern. In der Tat hat

a Zu den Planungen von Luftwaffe und Marine vgl. W. Bernhardt: Die deutsdie Aufrüstung 1934 bis 1939. Militärische und politische Konzeptionen und ihre Einschätzung durch die Alliierten, Frankfurt 1969, S. 18; R. Bensei: Die deutsdie Flottenpolitik von 1933 bis 1939. Eine Studie über die Rolle des Flottenbaus in Hitlers Außenpolitik, Beih. 3 der Marine-Rundschau, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforsdiung, Frankfurt 1958, S. 52 ff.; K.-H. Völker: Die deutsdie Luftwaffe 1933-1939. Aufbau, Führung und Rüstung der Luftwaffe sowie die Entwiddung der deutsdien Luftkriegstheorie, Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, hrsg. vom MGFA, Bd 8, Stuttgart 1967, S. 75, 157 f., 160 f., 200. » Hildebrand, S. 441 ff. " Vgl. Jäckel, S. 54 f. ω D. Krywalski: Zwei Niederschriften Ribbentrops über die Persönlichkeit Adolf Hitlers und die letzten Tage in Berlin, in: GWU 18 (1967), S. 744. » Calie, S. 78, 102. 220 » Ebd., S. 78, 88,92 f. Hitler für diese Phase eine Intervention des westlichen Nachbarn befürchtet28. Die Verschleierungstaktik sollte helfen, diese Gefahr zu bannen. Die deutschen Bemühungen um ein Zusammentreffen Hitler - Daladier im Herbst 1933, die Aktivität Ribbentrops im darauffolgenden Jahre, die Kontakt- aufnahme mit den französischen Frontkämpferverbänden sowie die Äußerungen Hitlers vor dem Abschluß des französisch-russischen Beistandspaktes sind selbst- verständlich in erster Linie dieser außenpolitischen Taktik zuzurechnen. Gleich- wohl müssen diese Bemühungen als Annäherungs- und Sondierungsversuche für ein eventuelles späteres Einvernehmen mit Paris gedeutet werden. Ebenso wie Hitler aus der Bedrohtheit des englichsen Empire außenpolitisch Kapital schlagen wollte, versuchte er das im Falle des französischen Weltreiches. Der Verlauf der französisch-deutschen Beziehungen ließ Hitler freilich frühzeitiger als im Falle England erkennen, daß Frankreich nicht gewillt war, sich zu arrangieren. Frankreich spielte in Hitlers Plänen weiterhin eine, verglichen mit der Englands, untergeordnete Rolle. Ein Bündnis mit Frankreich hielt Hitler nicht für notwen- dig, doch würde ein deutsch-französisches Einvernehmen die Verwirklichung der osteuropäisdien Zielsetzungen erleichtern. Der Widerstand Frankreichs mag ihn darum wenig berührt haben, entscheidend war und blieb die Haltung Englands. Sie zu ändern, würde vielleicht der Besiegung Frankreichs hilfreich sein. Zweifellos bietet sich mit diesen Überlegungen ein in sich geschlosseneres Bild der Hitlerschen Konzeption. Die Bedrohtheit des französischen und des englisdien Weltreiches und das Vertrauen auf die militärische Stärke als zwei der wesentlich- sten Grundlagen dieser Konzeption beinhalten jedoch weiterhin Prämissen, die sowohl in militärischer wie in politischer Hinsicht mit den Gegebenheiten nidit in Einklang zu bringen waren. Hitlers Ideen untermauern vielmehr die These, daß Ideologien ihre Träger in gewissem Maße realitätsblind machen. Norbert Wiggersbaus

Dietrich Aigner: Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis. Die öffentliche Meinung 1933-1939. Tragödie zweier Völker. Bechtle Verlag, München, Esslingen 1969, 444 Seiten.

Heute gehört die erstaunliche Tatsache der jüngsten Schwerpunktbildung in der deutschen Geschichtsschreibung, nämlich die mit vielfältigem Elan betriebene Er- forschung der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, schon nicht mehr zu den schlag- zeilenverdächtigen Ereignissen. Die aufgerührten Kontroversen zeigen deutlich, daß es sehr wesentlich dabei zugleich um Fragen der Vorgeschichte und Geschichte des Zweiten Weltkrieges geht, im Grunde um eine geschichtliche Bewußtseins- erhellung, wie sie in dieser Nachhaltigkeit bisher nicht versucht worden ist, wenn man von einstigen »Außenseitern« wie etwa Eckart Kehr absieht. Im ganzen ge- nommen sind die gegenseitig erhobenen Vorwürfe der Einseitigkeit, Voreingenom- menheit oder einer apologetischen Grundeinstellung angesichts des Gesamtertrages

28 Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930-1933, Aufzeichnung Generalleutnant Liebmann (3.2.33), in: VjhfZg 2 (1954), S. 435; Brief Hitlers an Oberst v. Reichenau v. 221 4.12. 32, ebd., 7 (1959), S. 435. der Auseinandersetzung für die Forschung sekundär. Der Durchbrach zu neuen Fragestellungen und Thesen ist selten ohne Einseitigkeit gelungen, hinzu kommt angesichts gewaltiger Literatur- und Aktenberge ein Zwang zur thematischen Be- schränkung, der dem Historiker künftig immer nachhaltiger fühlbar werden wird und dem prinzipiell wohl auch nicht mit dem Ruf nach Team-Arbeit abzuhelfen ist. Bei solchen Arbeitsbedingungen sind Orientierungshilfen und Standortüber- prüfungen nützlich, ja notwendig.

Aigners Werk nimmt bei aller Vielfalt seiner Betrachtungsebenen in diesem Bereich einen wichtigen Platz ein. In höherem Maße, als es bei der Diskussion um den Ersten Weltkrieg bisher der Fall war, läßt er Hintergründe politischer Aktionen und Gruppierungen in Deutschland und in England transparent werden und ge- langt so zu manchen Korrekturen bisher primär »national« anvisierter Vorgänge. Freilich muß für die deutsche Seite auf die neuesten Untersuchungen zur Außen- und Kolonialpolitik verwiesen werden, die Aigners mehr feststellende Argumen- tation in mancher Hinsicht vertiefen und in weitere Zusammenhänge zu stellen vermögen. In Aigners einleitender Betrachtung fallen auch Streiflichter auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. Von seinem Ansatz her ist das scharfe Urteil über Fischers »Griff nach der Weltmacht« erklärbar, dem er wegen »methodisch bedingter« Einseitigkeit vorwirft, kein »ausgewogenes Bild« von der »geistigen Haltung der beiden Völker« gezeichnet zu haben1. Dennoch vermag auch seine doppelte Optik nicht allein Ordnung und Übersicht im uferlosen Raum der Zeit- geschichte zu garantieren, so notwendig sie ist.

Schärfere Konturen und nachhaltigere Problemerhellungen verspricht Hillgrubers Ansatz zur Gewinnung von Kategorien aus dem Gang der politischen Geschichte seit der Begründung der preußisch-deutschen Großmacht2, wenn Hillgrubers Vor- aussetzung gewahrt bleibt, daß politische Geschichte nicht als absolute, sondern nur relative Gegenposition zur modernen Sozialgeschichte verstanden werden dürfe und sich ständig der »Verschränkung« innen- und außenpolitischer Momente be- wußt bleiben müsse. Eindimensional, das zeigen diese Überlegungen, ist eine kategoriale Erfassung moderner politischer Geschichtsabläufe nicht möglich. Uber- raschend ist der Effekt des polaren Begriffspaares Kontinuität-Diskontinuität für die Klärung komplizierter Zusammenhänge.

Aigners Stoffgliederung scheint am Modellfall der englischen Meinungsbildungen über Deutschland geradezu eine Probe auf diesen antithetischen Versuch zu sein: in England spielte die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität der deutschen Politik, des deutschen Machtstrebens die entscheidende Rolle bei der Gruppen- bildung innerhalb und außerhalb der Regierung. Interessant und von Aigner sehr anschaulich dargestellt ist heute vor allem die Kontinuitätsperspektive jener Rechts- opposition um Churchill, den Focus-Kreis und der Opposition im Foreign Office, verkörpert in erster Linie durch Vansittart. Ihr Deutschlandbild war geradezu determiniert von Eindrücken der Vorweltkriegs- und Weltkriegszeit. Man glaubte an Konstanten im deutschen Charakter und sah insofern den Nationalsozialismus weniger als singuläres Phänomen oder auch nur als ein Resultat der Nachkriegs-

1 Anmerkung zu S. 23-28. So sei audi die Interpretation der »Erklärung der 93 Professoren« abwegig. Vgl. zu dieser Erklärung ferner die in diesem Band der MGM besprochene Arbeit von K. Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. 2 A. Hillgruber: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik yon Bismarck bis 222 Hitler, Düsseldorf 1969. entwiddung. Sicherlich hatten diese Männer nur eine unzureichende Vorstellung vom Nationalsozialismus - wie übrigens viele deutsche Zeitgenossen -, aber füt ihre Entschlossenheit, die englische Nation im Widerstand gegen Deutschland zu- sammenzuführen, blieb dieses Manko unerheblich, weil sie eben Deutschlands zweiten Anlauf zur Hegemonie in Europa und dann in der Welt nur als Neu- auflage, als eine zweite germanische oder preußische Entladung auffaßten. Mit dieser Kontinuitätsvorstellung suchten sie die deutsche Gefahr zu beschwören, die heute zumeist durdi Betonung der besonderen Momente nationalsozialistischer Herrschaft, vor allem ihres rassenbiologischen Kerns - also der geschichtlichen Dis- kontinuität - herausgearbeitet wird. Aber die außenpolitischen Zielvorstellungen Hitlers lassen sich genauer fassen bei Berücksichtigung der Groß- und Weltmacht- vorstellungen der wilhelminisdien Zeit mit all ihren Akzenten politischer, militä- rischer und wirtschaftlicher Herkunft. Uber die Einordnung der Vorstellungen Hitlers in diese Zusammenhänge gehen die Ansichten heute noch auseinander, wie etwa Hillgrubers Einwand gegen Jacobsens umfassende Untersuchung der national- sozialistischen Außenpolitik3 und Hans Mommsens Kritik zeigen4. Um nicht miß- verstanden zu werden: diese Kontinuitätsvorstellung der englischen Rechts- opposition - übrigens auch die eines Flügels der englischen Historiker - ist als eine politisch-propagandistische nicht mit dem wissenschaftlichen Begriff Hillgrubers und Mommsens zu verwechseln. Sie ist vieldeutiger und schillernder, bringt aber auch Teilinhalte des letzteren zum Ausdruck. Aigners Verdienst ist es, audi solche komplizierten Zusammenhänge in einer wahrhaft großen Arbeitsleistung auf- gedeckt zu haben. Das Buch führt durch die einem Niditengländer nur sdiwer ver- ständlichen Hintergründe und Motivationen der öffentlichen Meinung Englands. Dem deutschen Leser wird deutlich, warum die innerenglische Kritik an der so- genannten Appeasementpolitik so heftig werden konnte. Hitler gegenüber behielt die Rechtsopposition im Ergebnis redit, wie audi immer im einzelnen ihre Argu- mente ideologisch begründet oder wie fragwürdig mandie ihrer Taktiken gegen- über der eigenen Regierung gewesen sein mögen. Dieser Gesichtspunkt wird bei Aigner vielleicht nicht deutlich genug, wie überhaupt der Kausalnexus zwischen öffentlicher Meinung und politischer Entscheidung nidit durchweg befriedigend geknüpft ist. Aber dies gehört zu den schwierigsten Geschäften des politischen Historikers. Die Quellenlage hat dabei ebenfalls ein wichtiges Wort mitgesprodien. Dagegen macht Aigner klar, daß Hitler mit seinem »Bündnisangebot« zur Erhal- tung des Empire auch bei den verständigungsbereiten Kräften nie eine reelle Chance besaß. England war nicht bereit, für ein globales Arrangement freie Hand in Ost- europa zu gewähren. Daß die Beherrschung des Kontinents durch Deutsdiland angesichts der modernen Waffentechnik eine tödliche Gefährdung der Insel involvierte, daß sie überdies nur eine Etappe auf dem Weg zur Weltherrschaft dar- stellen würde, haben in England die beiden wichtigsten politischen Lager gleicher- maßen erkannt. England hat Hitlers Taktieren in der Kolonialfrage audi in diesem Sinne verstanden5.

s Ebd., S. 26 u. Anm. 39. H.-A. Jacobsens Werk: Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt/M., Berlin 1968, hebt den »revolutionären« Charakter der Politik Hitlers als ent- scheidend hervor. 4 Vgl. seine Besprechung in MGM 1/70, S. 180-185. Mommsen hält die Frage nach dem systemati- schen Charakter der NS-Außenpolitik für unfruchtbar. Die überwiegende Zurückführung dieser Politik auf ideologische Vorstellungen ist nach ihm unbefriedigend und die Ablehnung der Kontinuität widerspruchsvoll. s Zu diesem Komplex neuerdings die umfassende Untersuchung von K. Hildebrand: Vom Reich zum Weltreich - Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919-1945, München 1969 (= Veröffent- lichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim, Bd 1). Uber die Kritik Hildebrands Die Paralleluntersuchung der Faktoren und Bedingungen der öffentlichen Meinung sowie der politischen Gruppen in Deutschland und England läßt die unterschied- lichen Strukturen der beiden Staaten und Völker mit ihren Traditionen, Zielen und Vorurteilen hervortreten. Aigners Werk birgt eine Fülle von bisher unbekannten Details. Jede künftige Untersuchung über die politische Geschichte Deutschlands und Englands seit 1933 wird von den neu gewonnenen Ergebnissen ausgehen und ihre Fragestellung an Aigners Perspektiven überprüfen müssen: eine ganze Reihe von politischen Schachzügen wird eben erst verständlich, wenn die Kausalkette bis zum Adressaten dieser Maßnahmen oder Manöver verfolgt wird, wobei - und das ist im Blick auf England besonders wichtig - Adressat hier nie das Foreign Office oder das Kabinett allein waren, sondern die vielfältig gegliederte Komposition der öffentlichen Meinung.

Abschließend sei ein Fragezeichen hinter den Untertitel »Tragödie zweier Völker« gesetzt, sofern jemand folgern zu können glaubt, daß bei mehr Verständnis in England der Krieg zwischen beiden Nationen unnötig gewesen wäre. Hitler hätte ihn zwar gern vermieden, aber nur um den Preis der Billigung seiner Bedingungen. Die globale Auseinandersetzung mit den angelsächsischen Seemächten hätte er dann in die nähere oder fernere Zukunft vertagt. Doch selbst die sogenannten Appease- ment-Politiker waren nie bereit, Englands Rolle vom Kontinent her definieren zu lassen. Hitler begriff nicht, daß sich ein Empire-Bewußtsein durchgesetzt hatte, dem die militärische Sicherung der weltweiten Besitzungen gegenüber ihrer politisch-geistigen Verklammerung sekundär geworden war. Hitlers Englandbild war schief, anachronistisch, in den Vorstellungen der Weltkriegszeit befangen. Im Grunde hatte er, wenn er einer kollektiven Sicherung des europäischen Friedens nicht zustimmte, für England nichts zu bieten. Daß Großbritannien an dieser Linie festhielt, war jedenfalls nicht eine Tragödie des englischen - und im Endergebnis auch nicht des deutschen - Volkes.

Diese Bemerkung ergibt sich für die politische Geschichte aus den mit den Begriffen Kontinuität und Diskontinuität angesprochenen Sachverhalten. Ergebnisse der jüngsten Forschung können mit ihrer Hilfe genauer in übergreifende Zusammen- hänge gestellt und damit fruchtbar gemacht werden, ohne daß die Quellen auf eine fixierte Sicht der Dinge hin ausgewählt oder interpretiert werden müssen®.

Auf Einzelheiten der Arbeit Aigners kann nicht eingegangen werden. Ihre Zahl ist erdrückend, wenn auch die Anlage des Buches manche Wiederholung notwendig gemacht hat. Wer sich über einzelne einschlägige Vorgänge auf englischer Seite, ferner über die deutschen Reaktionen, über Persönlichkeiten auf und hinter der politischen Bühne orientieren will, kann sich bei der übersichtlichen Gliederung des Buches schnell ins Bild setzen. Der wissenschaftliche Benutzer sollte nicht ver- säumen, sich den besonderen Anmerkungsband zu beschaffen, der auf 220 Seiten Aufschluß über den Arbeitsaufwand des Autors gibt. Manfred Messerschmidt

an Hillgrubers Einordnung der kolonialen Ziele Hitlers vgl. S. 442. Aigners Darstellung bedarf audi von dieser Diskussion her nodi der Ergänzung. Niitzlidi audi E. Calie: Ohne Maske. Hitler - Breiting Geheimgespräche 1931, Frankfurt/M. 1968, ausführlich besprochen in diesem Band der MGM, S. 217 ff. • Eine Gefahr, die bei fixierten Ausgangspositionen gegeben sein kann. Vgl. dazu die in diesem Band der MGM, S. 235 ff., besprochene Arbeit des ostdeutschen Historikers D. Eidiholtz: Ge- sdiidite der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd 1, 1939-1941. Alexander Nekritsch/Pjotr Grigorenko: Genickschuß. Die Rote Armee am 22. Juni 1941. Übersetzungen aus dem Russisdien und dem Französischen, herausgegeben von Georges Haupt. Europa Verlag, Wien, Frankfurt, Zürich 1969, 328 Seiten.

Im Herbst 1965 veröffentlichte der sowjetische Historiker A. N. Nekritsch unter dem Titel »22. Juni 1941« eine Untersuchung über die Gründe der sowjetischen Niederlage im Jahre 1941. Das Buch erschien im Rahmen einer Schriftenreihe, die von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegeben wurde, an seiner grundsätzlichen Billigung durch die wissenschaftlichen Instanzen gab es keinen Zweifel, die hohe Auflage von 50 000 Exemplaren war in Kürze vergriffen. Nek- ritsch, Jahrgang 1921 und damit ein Angehöriger jener Generation, »die unter dem Stalinismus herangewachsen ist, von ihm geformt wurde, sein Zeuge, Kompli- ze und Opfer war« (G. Haupt), galt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als angesehener Historiker und war mit Arbeiten über Großbritannien sowie Studien zum Beginn des Zweiten Weltkrieges auch im Ausland bekanntgeworden1. Im Widerspruch zu den bis dahin vorherrschenden Versionen, die die Gründe für die anfängliche Niederlage der sowjetischen Truppen in der »Unfähigkeit« ihrer Führer, in der Überraschung durch den deutschen Angriff - beide Lesarten gingen auf Stalin zurück - und nach dem XX. Parteitag der KPdSU, 1956, in Stalins »schweren Fehlern« sahen, kam Nekritsch zu dem Ergebnis, daß an der Eroberung der Hälfte des europäischen Teils der UdSSR in den Jahren 1941/42 das seinerzei- tige System in seiner Gesamtheit - mit Stalin und seinem Partei- und Staats- apparat auch die hohe militärische Führung — schuld gewesen sei. Es ist inzwischen bekanntgeworden, daß diese Thesen von Nekritsch heftige Dis- kussionen auslösten, die nicht auf den Kreis der Historiker beschränkt blieben und auch nach Nekritschs Ausschluß aus der Partei und nachdem das Buch zurückgezo- gen und eingestampft worden war (Sommer 1967) weitergingen. Erste Höhe- punkte der Auseinandersetzungen bildeten der berühmte Prawda-Artikel über »Die große Verantwortung des Historikers« (vom 30.1.1966), der auch eine neue Bewertung Stalins ankündigte und zugleich rechtfertigte, und kurz darauf (am 16. 2. 1966) eine stürmische Diskussion von mehr als hundert Historikern, hohen Militärs und Parteifunktionären über das Buch von Nekritsch im Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU, bei der die Mehrheit der Anwesenden den Thesen Nekritschs zwar grundsätzlich zustimmte, sich auf die Dauer, wie die weitere Entwicklung bewies, aber nicht durchsetzen konnte. Der Konfiszierung2 des »22. Juni 1941« folgte vielmehr - gleichsam zu ihrer Begrün- dung und bezeichnenderweise in der Zeitschrift woprosi istorii3 - ein großer Artikel von Deborin und Telpudiowski, der Nekritsch vom Titel4 bis zum Schluß-

1 Nekritsch veröffentlichte u. a.: Die Politik des englischen Imperialismus in Europa, Oktober 1938- September 1939, Moskau 1955; Der staatliche Aufbau und die Politik der Parteien in Groß- britannien, Moskau 1958; Die Außenpolitik Großbritanniens im Ersten Weltkrieg, Moskau 1963 (dies war seine Habilitationsschrift); ferner in Zusammenarbeit mit V. M. Chwostow (der nach der Veröffentlichung des »22. Juni 1941« scharf von N. abrückte): Wie der Zweite Weltkrieg aus- brach, Moskau 1958. Nekritsch war auch stellvertretender Leiter des 10. Bandes der »Welt- geschichte in zehn Bänden«, Moskau 1965 (in dt. Obersetzung: Berlin 1968), der ausschließlich dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist und in dem N. für mehrere Abschnitte als Autor zeichnet. 2 Sie erfolgte durch die »Hauptdirektion zum Schutz von militärischen und Staatsgeheimnissen in der Presse«. 3 Diese Zeitschrift ist das Organ des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU. 4 »Im ideologischen Bann von Geschichtsfälschern.« - G. A. Deborin war zur Zeit Stalins Professor an der Obersten Parteischule des Zentralkomitees und, als er diesen Artikel veröffentlichte, stell- satz (»Der Verlag Nauka hat unverantwortlich gehandelt, als er dieses politisch schädliche Buch herausbrachte«) mit dem ganzen Denunziations-Vokabular der Stalin-Ära anklagte, vom »marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkt« abgewi- chen und der »historischen Wahrheit« untreu geworden zu sein. Dagegen wurde Stalin, wenn auch verschlüsselt, glänzend gerechtfertigt: er habe trotz seiner Fehler das Sowjetvolk zum Siege geführt, greife man ihn an, so greife man zugleich die Partei, das Regime und die sowjetische Heimat an. Unter den Erwiderungen auf diesen Artikel nimmt der »Leserbrief« des bekann- ten ehemaligen Generals und Professors an der Militärakademie, Grigorenko®, den ersten Rang ein. Der »Brief« ist in Wahrheit eine Studie von mehr als 60 Druckseiten®, in der Grigorenko das Ergebnis von Nekritsch prinzipiell über- nimmt, es durch detaillierte Zahlenangaben zur Rüstungsproduktion und zum Kräfteverhältnis Deutschland-Rußland sowie aufschlußreiche Ausführungen zur Entwicklung der sowjetischen Militärdoktrin und zu den Auswirkungen der berüchtigten »Tschistka« kritisch ergänzt und sich in temperamentvoller Weise mit der »wetterwendischen« Haltung von Deborin und Telpuchowski - sie hatten 1966 das Buch von Nekritsch durchaus positiv beurteilt! - auseinandersetzt. Als Schul- dige am sowjetischen Debakel 1941 nennt er in erster Linie Stalin, weiter Woro- schilow, Timosdienko und Golikow, den seinerzeitigen Leiter des Nachrichten- dienstes. Dagegen kommt Schukow sehr glimpflich davon: er sei mit der Dienst- stellung des Generalstabschefs zweifelsohne überfordert gewesen. Grigorenkos » Brief « wurde in der UdSSR zwar niemals veröffentlicht, aber er kursierte unter der Hand und er bewirkte, daß spätere Publikationen7 deutlich bemüht waren, Nekritschs Thesen zu widerlegen - ein Beweis dafür, daß »er tatsächlich Gehör gefunden hatte«, wie Haupt in seiner Einleitung hervorhebt. Das vorliegende Buch gibt Gelegenheit, die »Affaire Nekritsch« im Zusammen- hang zu verfolgen. Außer der vollständigen Übersetzung (die vor einer wissen- schaftlichen Auswertung kritisch überprüft werden müßte) des »22. Juni 1941« und dem »Leserbrief« von Grigorenko enthält es einen Auszug aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie8, in dem die offizielle Version der stalinschen Ge- schichtsschreibung zum Ausdruck kommt, ferner das Protokoll der Diskussion vom 16. 2.1966 (dessen Überprüfung, da es niemals veröffentlicht wurde, kaum mög- lich sein dürfte, das bei kritischer Berücksichtigung aber eine anschauliche Illustra- tion der Auseinandersetzung gibt), weiter den Artikel von Deborin und Telpuch- owski, die Antwort des sowjetischen Literaturkritikers Kopelew auf die Frage, ob

vertretender Direktor des Instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Seine bekannteste Veröffentlidiung dürfte »Der Zweite Weltkrieg. Militärpolitischer Abriß.« (Ubersetzung a. d. Russischen, Berlin 1960) sein. B. S. Telpuchowski hat seine »Sowjetische Ge- schichte des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945« (dt. Obersetzung hrsg. von A. Hill- gruber u. H.-A. Jacobsen, Frankfurt/M. 1961) mehrfach umgeschrieben, er ist einer der führenden sowjetischen Militärhistoriker im Range eines Generalmajors. Beide Autoren waren leitende Mit- arbeiter der offiziellen »Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion« (dt. Ubersetzung Bde 1-6, Berlin 1962-1968). - Grigorenko wirft Deborin und Telpuchowski u. a. vor, mit ihrem Artikel bestellte Arbeit geleistet zu haben. 5 Nach seinem Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen In die Tschechoslowakei (21. 8.1968) wurde G. bekanntlich in eine Irrenanstalt eingewiesen. - S. auch P. Reddaway: Fife Years in the Life of Pjotr Grigorenko, in: The Listener, Bd 81, Nr. 2082 v. 20.2.1969, S. 225-227. ' Vgl. jetzt auch die deutsche Ausgabe Pjotr Grigorenko: Der sowjetische Zusammenbruch 1941. Ubersetzung a. d. Russischen u. Kommentare von G. Bruderer, Vorwort von M. Garder, Possev- Verlag, Frankfurt/M. 1969. 7 So etwa die Memoiren von Schukow und Schtemenko (s. die Rezension in diesem Bd der »Militär- geschichtlichen Mitteilungen«, S. 227 ff.). 8 Große Sowjetische Enzyklopädie, 2. Aufl., Bd VII, Artikel »Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion« von F. D. Worobjew, V. M. Kratwtzow u. P. A. Bjelow, S. 158-163, veröffentlicht am 19. 6.1951. eine Rehabilitierung Stalins möglich sei9 (in der die »Diener des Stalinkults« zwar schärfstens verurteilt werden, Kopelew jedoch dafür plädiert, ihnen die Möglich- keiten zur Publizierung ihrer Ansichten nicht zu nehmen, wenn auch denjenigen keine Hindernisse in den Weg gelegt würden, die sie kritisieren wollen, weil dies »der einzige Weg ist, der zunehmenden Aktivität der Stalinschen Restauratoren Schranken zu setzen«), und schließlich einen in Moskau zirkulierenden »Brief an einen Genossen«10, der im Zusammenhnag mit dem »Fall Nekritsch« dafür ein- tritt, »die große Kraft der öffentlichen Meinung« in Bewegung zu setzen, um den Versuchen, zur Stalin-Ära zurückzukehren, entgegenzutreten. Damit ist das Buch für den »westlichen« Leser in mehrfacher Hinsicht wertvoll: es zeigt mit großer Eindringlichkeit, daß die klischeeartige Vorstellung von einer sowjetischen Geschichtsschreibung, die in erster Linie die Losungen des Zentralkomi- tees wissenschaftlich aufputzt, zumindest für die Zeit nach 1956, nicht aufrecht zu halten ist. Es dokumentiert zugleich das leidenschaftliche Engagement, mit dem die sowjetischen Historiker sich der Erforschung des Zweiten Weltkrieges widmen und dabei auch bisherige Tabus nicht ausklammern. Es versucht an einem vielleicht typischen Beispiel die gesellschaftliche Entwicklung in der UdSSR seit Stalins Tod und den Einfluß, den die zeitgeschichtliche Forschung dabei ausübt, deutlich zu machen. Schließlich erleichtert es durch die Aufhellung bestimmter Zusammenhän- ge und Hintergründe die Einordnung von historischen Studien und von Memoiren, die sich im weiteren Sinne den Themen »Zweiter Weltkrieg« und »Geschichte der Nachkriegszeit« widmen. Es soll hier dahingestellt bleiben, inwieweit die Frage G. Haupts, »ob das Umschreiben der Geschichte nicht eine Rückkehr zu Methoden einleite, die diese Geschichte einst bedingt haben«, gewisse Möglichkeiten zu einer differenzierenden Wertung aktueller politischer Prozesse erschließt, ob »die Ge- schichtsschreibung« in der Tat »ein überempfindlicher Spiegel der Entwicklung in der UdSSR« ist. Johannes Fischer

Georgi Κ. Scbukow: Erinnerungen und Gedanken. Vom Verlag der Presse- agentur Nowosti (APN), Moskau, besorgte Ausgabe. Deutsche Verlags-An- stalt, Stuttgart 1969, 684 Seiten.

Armeegeneral S. M. Schtemenko: Im Generalstab. Ubersetzung aus dem Russischen. Deutscher Militärverlag, Berlin 1969,427 Seiten.

Wenn sowjetische Soldaten ihre Memoiren schreiben, sehen sie sich nicht in der fatalen Situation, einen verlorenen Krieg erklären zu müssen. Die Bedeutung die- ses Faktums für Autoren und Leser wird durch die allgemeine Vorstellung unter- strichen, die in der neuesten Zeit einen »Feldherrn« mit einem »Zivilisten« nur dann zu identifizieren vermochte, wenn er sich - wie Stalin oder Hitler - als

9 Veröffentlicht in der Wiener Zeitschrift »Tagebuch«, November 1967. 10 Veröffentlicht am 8.12 1967 in dem in Zürich erscheinenden Informationsbulletin »Zeitdienst«. »Soldat« präsentierte oder zugleich einen militärischen Titel führte, und die - zumindest bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges - Schlachten und Kriege in erster Linie als das ureigenste Geschäft von Generalen und Marschällen ansah. Was nun Männer wie Schukow und Schtemenko1 im besonderen betrifft, so blickten sie bei ihrer Geburt nidit auf eine Ahnengalerie von hohen Offizieren, sondern auf das ärmliche Interieur von Bauern- und Schusterkaten. Ihr innerer und äußerer Werdegang ist unverwechselbar geprägt vom Entwicklungsprozeß ihres Staates und seiner Menschen. Und obwohl es heute schon schwerfallen mag, sich anstelle des Marschalls einen Wachtmeister a. D. Schukow vorzustellen, ist es gut, sidb bei der Lektüre von Büchern wie den hier besprochenen dieser fundamentalen Zusam- menhänge und ihrer Ursachen und Folgen zu erinnern - nicht zuletzt, um den scheinbar unausweichlichen Mißdeutungen entgegenzuwirken, denen sich Geschrie- benes und Gedrucktes aus dem Umkreis der Geschichtswissenschaft in »Ost« und »West« wechselseitig a priori ausgesetzt sieht. Der »Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion« bestand für die sowjetische Seite keineswegs aus einer Kette glorreicher Siege, er begann vielmehr mit einer katastrophalen Niederlage. Sie hat bis in die jüngste Zeit die verschiedensten Interpretationen gefunden2, und es hat nicht den Anschein, als sei die leidenschaft- liche Diskussion darüber bereits abgeschlossen. Dabei scheint es der einen Seite weniger um die Suche nadi Schuldigen für das Debakel der Jahre 1941/42 zu geben, als vielmehr um die Auseinandersetzung mit dem stalinistischen System in seiner Gesamtheit. Seine Infragestellung müßte andererseits den alldurchdringenden Machtanspruch des Parteiapparates im Innern und nach außen elementar gefähr- den. Bei der Betrachtung so vielschichtiger Komplexe, wie sie die Vorbereitung und Führung eines Krieges darstellen, könnten deshalb für die sowjetischen Führer zwar periphere verhältnisbedingte Versäumnisse, auch personeller Art, tragbar sein, nicht aber die pauschale politische Abwertung eines Mannes, der die sowjetischen Völker in ihrem schwersten Kriege zum Siege geführt hat. Wahrscheinlich wurde im Westen bei der Beobachtung der verschiedenen sowjeti- schen Entwicklungsphasen nach Stalins Tod zu wenig beachtet (weil auch in eini- gen Ländern des »Ostblocks« nicht im Sinne des Kremls interpretiert), daß Chru- schtschows vernichtende Abrechnung mit dem Diktator sich wesentlich auf den ideologischen und innerpolitischen Bereich bezogen hatte, daß er und seine Nach- folger an den Grundlinien der Außenpolitik in der Stalin-Ära dagegen im Prinzip festgehalten haben. War es also nur willkommen, daß mit der Empörung über das »Ungeheuer« auch der angestaute Unwille über vielfache Unzuträglichkeiten hin- weggespült wurde und daß Stalin für unermeßliche Leiden und Entbehrungen der Bevölkerung und für tausendfache Mängel im politischen, wirtschaftlichen, sozia- len, also logischerweise auch im militärischen Bereich, als der Verantwortliche be- nannt werden konnte - obwohl sich mit Chruschtschow nicht wenige fragen lassen mußten, wo sie denn gewesen seien, als der »große Vater« seine Verbrechen verübte - so mußte das Bild Stalins als Generalissimus und Feldherr unzweifel- haft im positiven Sinne gewahrt bleiben (oder, wo nötig, wiederhergestellt wer- den), wenn mit dem Sieger nicht zugleich der Sieg selbst und damit all das ins Zwielicht geraten sollte, was auf ihn aufbaute. Da bestimmte Entwicklungen, die die sowjetischen Menschen in den Nachkriegs- jahren durchlaufen haben, jedoch nicht annulliert und neue Vorstellungen nicht ausgelöscht werden können, scheint die sowjetische Führung ohne scharfe Eingriffe

1 Die Schreibweise der Eigennamen entspricht der in den besprochenen Büchern. 2 Vgl. die Besprechung zu Nekritsch-Grigorenko: Genickschuß, in diesem Bd der MGM, S. 225 ff. und schmerzhafte Prozeduren bei der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit nicht auszukommen. Sdiukow hat es als Mithandelnder unter anderem ebenso erfahren müssen wie der Interpret Nekritsdi. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich, daß die Memoiren Schukows und Sditemenkos zugleich als Beiträge zu einer Diskussion gesehen werden müssen, deren Ergebnisse sowohl für das sowjetische Selbstverständnis als auch für die Selbstdarstellung des Systems und für die Be- gründung des Handelns seiner Repräsentanten im internationalen Bereich von großer Bedeutung sind.

Die Originalausgabe der Erinnerungen Schtemenkos trägt den Titel »Der General- stab während der Kriegsjahre«. Chef des sowjetischen Generalstabes war bei Be- ginn des deutsch-sowjetischen Feldzuges Schukow, der gut zwei Drittel seines Buches ebenfalls dem Zweiten Weltkrieg widmet3. Deshalb mag es im Rahmen dieses Bandes erlaubt sein, die vorliegenden Bücher in erster Linie unter dem Aspekt der sowjetischen militärischen Führung im Zweiten Weltkrieg zu betrach- ten, zumal Sditemenko nadi dem Kriege etwa vier Jahre Chef des Generalstabes war und als derzeitiger Chef des Stabes beim Vereinigten Oberkommando der Warschauer Vertragsstaaten und zugleich als Erster Stellvertreter des sowjetischen Generalstabsdiefs eine herausragende aktive Führungsposition inne hat. Von 1940 bis 1945 gehörte er dem »Kernstück« des Generalstabes, der Operativen Verwaltung an, deren Chef er im April 1943 wurde. Seit dieser Zeit hatte er zusammen mit den Generalstabsdiefs Wassilewski und Antonow4 entscheidenden Anteil an der Planung der Operationen, der Erarbeitung der Direktiven des Hauptquartiers und der Kontrolle ihrer Durchführung. Seine Tätigkeit brachte ihn mit nahezu allen führenden Männern der Sowjetunion, insbesondere den hohen Militärs, in Berührung, von denen er in seinem Budi differenzierte Por- traits zeichnet. Er ist ohne Zweifel dem kleinen Kreis von Generalen und Mar- schällen zuzuredinen, die nicht nur begrenzte Einblicke, sondern tiefe und umfas- sende Kenntnisse von den politischen, wirtsdiaftlidien und sozialen, den personel- len und materiellen Faktoren und Verhältnissen erhielten, die den Entsdieidungs- prozessen zugrunde lagen oder sie wesentlich beeinflußten. Wie Schukow stützt er sich bei seinen Ausführungen auf sowjetische Primärquellen. Beide Autoren ent- nehmen ihnen eine Fülle von Namen5, Daten und Zahlen zur Produktion der gesamten Kriegswirtschaft, insbesondere der Rüstung sowie zur Stärke, Ausrü- stung und Bewaffnung der Streitkräfte, weiter Angaben über Verluste, Zerstörun- gen und Aufbauleistungen und schließlich ausführliche Zitate aus wichtigen Bera- tungen und Gesprächen, Weisungen und Befehlen. Insgesamt läßt Sditemenko die Abhängigkeit militärischer Analysen, Planungen und Entscheidungen von den politischen Verhältnissen und Zielsetzungen klarer erkennen als Schukow®. Es sei dahingestellt, ob dieser Aspekt in den »Erinnerungen und Gedanken« be- wußt zurückgetreten ist, obwohl Schukow unter den sowjetischen Soldaten als derjenige anzusehen ist, der auf den Verlauf des gesamten Feldzuges wohl den

' Es endet mît der Potsdamer Konferenz und vor dem eingangs skizzierten Hintergrund erscheint es plausibel, daß Schukow auf die Nachkriegszeit, insbesondere seinen Sturz im Jahre 1957, nicht eingeht. 4 Die Chefs des sowjetischen Generalstabes waren: die Marsdiälle Jegorow (1931-1937) und Schaposdinikow (bis August 1940 und wieder von Juli 1941 bis Mitte 1942), die Armeegenerale Merezkow (August 1940 bis 31.1.1941) und Schukow (anschließend bis Mitte Juli 1941), schließlich Armeegeneral Wassilewski (Mitte 1942 bis Frühjahr 1945) und Generaloberst Antonow. ' Sditemenko teilt u. a. die Namen sämtlicher Oberbefehlshaber der »Fronten« (etwa den deut- schen Heeresgruppen vergleichbar) und der Armeen mit (passim, insbesondere S. 417 ff.). ' U. a. nahm Sditemenko audi an der Konferenz von Teheran als militärischer Berater teil und gibt von den dortigen Vorgängen einen anschaulichen Bericht. stärksten Einfluß genommen hat. Bereits im Juli 1941 von seinen Pflichten als Chef des Generalstabes entbunden, blieb er während des ganzen Krieges Angehö- riger des Hauptquartiers und hat die meiste Zeit als dessen Vertreter, oft in sehr kurzfristigem Wechsel7 und immer mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, wie sie von Stalin sonst niemandem zugebilligt wurden, an den Brennpunkten des Geschehens die Führung von Fronten koordiniert, nachdem er jeweils an der Er- arbeitung der grundlegenden Operationspläne maßgeblich beteiligt war. Zwi- schendurch hat er audi selbst Fronten geführt und seit Oktober 1944 die Operatio- nen gegen Berlin geleitet. Urlaub hatten er und Sditemenko übrigens von 1941 bis zum Ende des Krieges ansdieinend nicht einen Tag, audi krank waren beide nicht. Mit dem Stichwort »Vertreter des Hauptquartiers« ist eine für die sowjetische Führung typisdie Institution angesprodien. Sowohl Schukow als audi Sditemenko - der letztere zurückhaltender - legen dar, daß in der Gesamtorganisation der sowjetischen Verteidigung im Jahre 1941 zum Teil erhebliche Mängel bestanden8, die nadi Beginn der Feindseligkeiten im Suchen nach einer arbeitsfähigen Spitzen- gliederung sinnfälligen Ausdruck fanden. Das erst im März 1941 geschaffene Füh- rungssystem, wonach der Volkskommissar für Verteidigung, Marschall Timo- sdienko, durch den Generalstab und mit Hilfe einer Reihe von Stellvertretern die Verteidigung leitete, wurde bereits am 23. Juni 1941 durch die Bildung eines Hauptquartiers geändert, an dessen Spitze de jure der Volkskommissar der Vertei- digung, de facto aber Stalin stand. Im Entwurf des Generalstabes war Stalin als

7 Schukow war im Juli 1941 zunächst zum Oberbefehlshaber der Reservefront ernannt worden, leitete ab August die Operationen an der Südwest-Front, ab Oktober 1941 bei Leningrad, zwisdiendurdi erneut im Mittelabschnitt und nach des deutschen Angriffs vor Moskau im Winter 1941/42 die Kämpfe bei Leningrad und an der Kalinin-Front. Nachdem er zusammen mit Wassilewski die Gegenmaßnahmen am Südabsdinitt vorbereitet hatte, kehrte er zwar zu dieser (Kalinin-) Front zurück, blieb aber weiter für den Südabsdinitt verantwortlich. Am 18.1.1943, kurz vor der endgültigen Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad, wurde er zum Marsdiall der Sowjetunion ernannt, leitete bis März 1943 die Operationen an der Leningrader- und Wolchow-Front und bereitete anschließend die Operationen im Raum Kursk vor. Im April koordinierte er an der Kaukasus-Front die Kämpfe um die Taman-Halbinsel, kehrte im Mai zur abschließenden Vorbereitung der Operationen im Mittelabschnitt ins Hauptquartier zurück und war bis zum Herbst im Raum Kursk-Belgorod-Charkow sowie Orjol-Briansk tätig. Von September bis Dezember 1943 leitete er die Operationen in der Ukraine und blieb bis März 1944 überwiegend im Südabsdinitt, ab Februar zugleich als Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front. Zwischendurch kehrte er wiederholt zu Besprechungen des Staatlichen Verteidigungs- komitees und des Hauptquartiers nach Moskau zurück, war im April 1944 an den Planungen der Operation »Bagration« gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte beteiligt, kehrte zum Süd- absdinitt zurück, leitete im August/September die Operationen in Bulgarien und wechselte im Oktober in den Raum Warschau, wo er im November 1944 den extra für ihn freigemachten Oberbefehl der 1. Belorussischen Front, die auf Berlin angesetzt wurde, übernahm. Sditemenko berichtet, daß sogar die Grenzen der Fronten so festgelegt wurden, daß Sdiukow als der Eroberer der deutschen Hauptstadt in die Geschichte eingehen konnte, obwohl sich durch den Verlauf der Kämpfe dadurch Schwierigkeiten mit der 1. Ukrainischen Front (Marsdiall Konew) ergaben (Sditemenko, S. 322 ff.). - Konew selbst ist in seinen Erinnerungen (Das Jahr Fünfundvierzig, Berlin 1966) auf diese Episode nicht näher eingegangen. 8 Ihre sachlichen und sehr ins einzelne gehenden Argumente decken sich im Prinzip mit den Aus- führungen in der offiziellen »Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion« (Bd 2, Berlin 1963, S. 53 ff.), wo die »großen Fehler« Stalins allerdings schärfer formuliert wer- den. Während Sditemenko (S. 25-32) zunädist nur vom Mangel an modernen Panzern und Flugzeugen sowie der Fehleinschätzung der deutschen Angriffsvorbereitungen und dem »großen Unglück für unsere Armee und das Land« spricht, »daß sie am Vorabend des Vaterländischen Krieges vieler erfahrener Heerführer beraubt waren« (in der »Geschichte...« war ζ. B. nodi von »der Verfolgung alter erfahrener Militärs durch Stalin« die Rede, S. 55), nennt er später auch noch »die Unvollkommenheit der Struktur des Generalstabes« bei Kriegsbeginn (S. 121). - Sdiukow erörtert wesentlich ausführlicher »viele entscheidende Mängel und Mißstände« (S. 206 ff.) - häufigen Führungswechsel; mangelnde Mobilmadiungsvorarbeiten; vernachlässigte Grenzbefestigungen; unzureichende und unrichtige Informationen sowie schlecht organisiertes Meldewesen; falsche Einschätzung des deutschen Gegners - und spricht zusammenfassend von Vorsitzender und eine erweiterte Zusammensetzung vorgeschlagen worden®. Eben- falls am 23. Juni 1941 wurden die Mobilmachungspläne in Kraft gesetzt, die sich alsbald als unzureichend erwiesen, so daß sofort ergänzende Maßnahmen getrof- fen werden mußten. Am 30. Juni 1941 folgte die Bildung des »Staatlichen Vertei- digungskomitees« mit Stalin an der Spitze. Ihm gehörten Vertreter der höchsten Parteigremien und der Regierung an. Schukow hebt hervor, daß es ein »autoritati- ves Führungsorgan der Landesverteidigung [war], das in seiner Hand absolute Machtvollkommenheit konzentrierte«. Es konnte allen Partei- und Verwal- tungsorganen Anweisungen erteilen, prüfte auch die militärischen Operations- pläne, faßte sie in Beschlüsse und kontrollierte ihre Durchführung. Schukow cha- rakterisiert die militärische Führung dahingehend, daß »Stalin nach dem 22. Juni 1941 während des ganzen Krieges zusammen mit dem Zentralkomitee der Partei und der Sowjetregierung fest und sicher das Land, den bewaffneten Kampf und die internationalen Angelegenheiten geleitet hat« (S. 263/264). Bereits am 19. Juli 1941 bildete das Staatliche Verteidigungskomitee das Hauptquartier um. Vorsit- zender wurde auch hier jetzt Stalin, der am 19. Juni 1941 zugleich zum Volkskom- missar für Verteidigung und am 8. August 1941 schließlich auch zum Obersten Befehlshaber der Streitkräfte der UdSSR ernannt wurde. Von nun an stellte das »Hauptquartier des Obersten Kommandos« (Stawka) das »höchste strategische Führungsorgan« dar (Schukow, S. 275). Das »Arbeitsorgan« des Hauptquartiers, das sonst über keinen anderen Führungs- apparat verfügte, war der Generalstab10, dessen Arbeitsweise von Stalin bis in die letzten formalen Einzelheiten geregelt wurde11. Zusammen mit den Vertretern des Hauptquartiers, teilweise auch den Führungsstäben der Fronten und Armeen, sammelte der Generalstab alle erforderlichen Unterlagen für die Planungen, ana- lysierte sie und erarbeitete die »Direktiven« für die Vorbereitung und Durchfüh- rung aller militärischen Maßnahmen, insbesondere der Operationen. Zur schärferen Zusammenfassung der militärischen Führung wurden am 10. Juli 1941 drei Oberkommandos für die strategischen Richtungen Nord west (Worosdii- low), West (Timoschenko) und Südwest (Budjonny) geschaffen, die ein unmit-

»operativ-strategisdien Fehlern des Volkskommissars, des Generalstabes und der Befehlsstellen der Wehrkreise» (S. 248). Einen Teil der Schuld gibt er den Militärs, weil sie Stalin nidit mit dem erforderlichen Nachdruck auf die notwendigen Maßnahmen hingewiesen hätten. Er schwächt jedodi sofort ab, daß »das selbstverständlich auch keinen vollen Abwehrerfolg gegen den feindlichen Angriff bedeutet hätte«, weil »die Führung« in den letzten Monaten vor dem Krieg nicht die Maßnahmen ergriffen hatte, die dann in kürzester Frist verwirklicht werden mußten. Da im nächsten Satz von »der Führung mit Stalin an der Spitze« die Rede ist, wird der Verantwortliche eindeutig beim Namen genannt. Aber wieder schwächt Schukow ab, indem er erklärt, Stalins »Fehler ... dürfen aber nicht isoliert vom historischen Geschehen, nicht los- gelöst von dem Gesamtkomplex betrachtet werden« (S. 220 ff.). Diese ausführlichen Zitate aus den beiden Büchern mögen die geschickte und zugleidi differen- zierte Argumentation erkennen lassen. • Dem Hauptquartier gehörten an: Timoschenko als Vorsitzender, ferner Schukow sowie die Marschälle Worosdiilow und Budjonny, der Volkskommissar für die Kriegsmarine, Admiral Kusnezow und schließlich Stalin und Molotow. Der Generalstab hatte als weiteres Mitglied seinen stellvertretenden Chef Watutin benannt und Stalin als Obersten Befehlshaber vor- geschlagen, weil Timoschenko »bei den damaligen Verhältnissen... dodi keine grundsätzlichen Entscheidungen ohne Stalin treffen konnte« (Schukow, S. 235). 10 Sditemenko, S. 121 : Stalin wies damit dem Generalstab die gleichen Aufgaben und die gleichen Kompetenzen zu, wie sie auch Hitler und Göring den Generalstäben des deutschen Heeres bzw. der Luftwaffe als ihren »Arbeitsstäben« übertrugen und zubilligten. 11 Stalin setzte nicht nur die täglichen Vortragszeiten fest und befahl, wer anhand welcher Unter- lagen über welche Komplexe vorzutragen hatte, sondern bestimmte auch, wann der Chef des Generalstabes und seine führenden Mitarbeiter ruhen durften (Sditemenko, S. 123). Wie nach- drücklich Stalin auf die Arbeitsweise des Generalstabes eingewirkt hat, geht u. a. audi daraus hervor, daß das von ihm eingeführte System bis zu seinem Tode beibehalten wurde. telbares Eingreifen des Hauptquartiers in die Führung der Fronten und Armeen jedoch nicht ausschlossen. Da sich diese Oberkommandos aber nicht bewährten, wurden sie nadi wenigen Wochen wieder aufgelöst und nunmehr entstand zur »Koordinierung der Operationen der Fronten, zur Kontrolle über die Durchfüh- rung der Direktiven des Hauptquartiers und zur Unterstützung der Fronten bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung von Operationen mit entscheiden- der Zielsetzung« (Schtemenko, S. 122) die Institution der Vertreter des Haupt- quartiers. Sie ist von den Oberbefehlshabern an der Front, die für die Führung ihrer Verbände voll verantwortlich blieben, bekanntlich sehr drastisch kritisiert worden12. Schtemenko räumt ein, daß diese Kritik »vielleicht audi teilweise zu Recht« vorgebracht worden sei (S. 122), besteht aber darauf, daß sich die Tätig- keit der Vertreter des Hauptquartiers »im allgemeinen durchaus bewährt« habe (ebd.). Das ist eine sehr bemerkenswert zurückhaltende Feststellung angesichts der Tatsache, daß die führenden Vertreter des Hauptquartiers Schukow und Wassi- lewski waren. Mit dieser Einrichtung, auf die Stalin erst im Oktober 1944 verzichtete13, gab es also drei voneinander unabhängige Wege, um in die Führung der Fronten und Armeen unterstützend oder korrigierend eingreifen zu können und sie zu kontrol- lieren: Es mußten sämtliche Operationspläne dem Hauptquartier zur »Bestäti- gung« vorgelegt werden, und zwar auch jene, die auf Grund der Direktiven erarbeitet worden waren. Die Vertreter des Hauptquartiers hatten nicht nur ihren direkten Draht zu Stalin, sondern auch die Möglichkeit, an Ort und Stelle sofort einzugreifen. Schließlich konnten die »Mitglieder der Kriegsräte«14 ohne Wissen ihrer Oberbefehlshaber sich unmittelbar an Stalin wenden. Diese »straffe Zentralisierung« (Schukow, S. 630) ist das grundlegende Kennzei- chen der sowjetischen militärischen Führung im Zweiten Weltkrieg. Sie ließ den örtlichen Oberbefehlshabern und den nachgeordneten Führern nur begrenzte Mög- lichkeiten zur Entfaltung der geforderten »Initiative« und erlaubte auch bei Be- ratungen im Hauptquartier keine Diskussionen, wenn Stalin sich seine Meinung schon im voraus gebildet hatte (S. 264). Es kam hinzu, daß sich der Oberste Befehlshaber auch über den Kopf der höchsten militärischen Führer hinweg vom Chef des Nachrichtendienstes berichten ließ (S. 215), den er andererseits mit der Bemerkung, man könne dem Geheimdienst nicht alles glauben, gegen die Gene-

11 Vgl. Marschall W. Tsdiuikow: Das Ende des Dritten Reidies, München 1966, S. 28 u. 145. 19 Nach Sdiukows Ansicht resultierte Stalins Verzicht auch aus den Differenzen, die sich zwischen ihm und Stalin wegen der Kampfführung im Raum Warschau ergeben hatten. Seine Zustim- mung zu der von Stalin beabsichtigten Abberufung der Vertreter des Hauptquartiers begrün- dete er mit dem Hinweis, daß die Zahl der Fronten zurückgegangen, ihre Gesamtlänge geringer und ihre Gesamtleitung einfacher geworden sei. Stalin fragte ausdrücklich zurück, ob Schukow das »ohne ein Gefühl der Kränkung« gesagt habe und teilte ihm mit, daß beschlossen worden sei, ihn mit der Führung der 1. Belorussischen Front zu beauftragen. Die besondere Wert- schätzung Schukows geht audi daraus hervor, daß Stalin ihn die Siegesparade abnehmen ließ, und auf Schukows Einwand, dies käme dem Obersten Befehlshaber zu, abwinkte, dazu sei er zu alt. 14 Gemeint sind die Kommissare beziehungsweise Polit-Stellvertreter, d. h. hohe Parteifunktionäre, die mit entsprechenden militärischen Dienstgraden ausgestattet und nach wechselvoller Entwick- lung den militärischen Führern am 17. 7.1941 erneut gleichgestellt, im November 1942 aber wieder nachgeordnet wurden. Ihre besondere Aufgabe bestand in der politischen Beratung der Truppenführer und in der Gesamtleitung der politischen Arbeit bei den unterstellten Truppen, wo auf allen Führungsebenen bis hinunter zu den Gruppen Polit-Stellvertreter eingesetzt waren. Der hohen Anerkennung, die Schtemenko - wie Schukow - der Tätigkeit der Mitglieder der Kriegsräte zollt, stellt er vereinzelte, aber einprägsame Beispiele gegenüber, wo die verantwort- lichen Befehlshaber von ihrem Mitglied des Kriegsrates in recht übler Weise durch persönliche Briefe an Stalin denunziert wurden (S. 255/56; s. audi das Beispiel Koslow/Mechlis). Vgl. E. Sobik: Die Problematik der »Einzelleitung« als Prinzip der sowjetischen militärischen Führung, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, Nr. 6, Juni 1970, S. 443-451. rale ausspielte (S. 229). Der fluchtartige Rückzug am Südabschnitt im Sommer 1942 war nach Schukows Ansicht »unter anderem auch eine Folge seiner [Stalins] persönlichen Fehlentscheidung« (S. 367), aber Sdiukow betont sogleich, daß Stalin seinen Fehler einsah, und unter den führenden Männern des Hauptquartiers oder des Generalstabes nicht nach anderen Schuldigen suchte. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rigorosität hinzuweisen, mit der Stalin die militärischen Führer behandelte15. In Verbindung mit den kritischen Ausführungen über den Zustand der Verteidi- gung bei Feldzugsbeginn erlauben es diese und andere Bemerkungen zur Person und Amtsführung Stalins nicht, die Bücher Schukows und Schtemenkos pauschal als positive Retouche eines unrichtig-abwertenden Bildes des »Generalissimus« abzustempeln. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Argumentation dieser beiden Soldaten, die von der Stalinschen Schule geprägt wurden und ihr ihren Aufstieg verdanken, deutlich bemüht ist, zu einer insgesamt positiven Würdigung zu kommen, die wesentlich damit begründet wird, daß Stalin auf Grund der Ver- hältnisse kaum anders handeln konnte. Schtemenko hebt bei der Charakteristik des Obersten Befehlshabers hervor, daß er die Mitarbeiter des Generalstabes sehr hoch schätzte, die Ansicht vertrat, daß »gute Stabsarbeiter« auch gute Kommandeure abgäben und daß er sich ständig um die Autorität des Generalstabes sorgte. Er habe nicht die geringste Lüge oder Schönfärberei geduldet, sondern jeden hart bestraft, den er dabei ertappte (S. 124/125), sich um alles gekümmert, selbst auf die sorgfältige Ausfertigung der Tagesbefehle geachtet und keine Fehler entschuldigt (S. 399). In der Anfangszeit entschied er mitunter audi die letzten Einzelheiten16. Sdiukow ergänzt, daß Stalin alles gründlich durchdachte (S. 526), sich stets auf das Wesentliche konzentrierte, knapp und genau formulierte und auch für Fragen der Kriegstechnik besonderes Verständnis zeigte (S. 264). Stalin sei ein willensstarker Mensch und kein Feigling gewesen, nur einmal, am Morgen des 22. Juni 1941, habe Schukow ihn erschüttert gesehen. Im Hauptquartier, »wo jeder seine Meinung sagen konnte«, habe Stalin alle militärischen Führer gleich streng und ziemlich offiziell behandelt, aber er sei nicht der Mann gewesen, vor dem keine heiklen Fragen angeschnitten werden durf- ten (S. 277). Hierzu erwähnte Schtemenko, daß niemand dem Obersten Befehls- haber so entschieden entgegenzutreten wagte wie Schukow, doch habe auch Wassi- lewski seine Ansichten mit Nachdruck vertreten. Sdiukow unterstreicht weiter, daß Stalin durch seine äußerst harten Forderungen, auch gegenüber den Angehörigen seiner nächsten Umgebung, fast Unmögliches durchgesetzt (S. 353), aber auch selbst ein »äußerst bescheidenes« Leben geführt habe (S. 486). Ein wichtiges Kapitel im Bericht Schtemenkos bilden seine Ausführungen über die Organisation und die Arbeitsweise des Generalstabes und über die Offiziere, die

15 Das war besonders in den ersten Monaten des Feldzuges der Fall, wo es nidit nur die Befehls- haber der Wehrkreise bzw. Fronten betraf (vgl. hierzu audi die anschaulichen Schilderungen in den ersten Kapiteln des Budies »Moskau« von Th. Plivier, versch. Ausgaben), sondern audi den Volkskommissar für Verteidigung persönlich. Aber auch in den folgenden Jahren des Krieges ist Stalin selbst mit den höchsten militärischen Dienstgraden in unglaublicher, dem deutschen Leser anhand paralleler Erscheinungen allerdings nicht unbekannter Weise um- gesprungen. Schtemenko Schilden ausführlich den Fall des Generalobersten Petrow, der 1944 innerhalb weniger Monate von Stalin dreimal zum Oberbefehlshaber verschiedener Fronten ernannt, wieder abgesetzt und zwischendurch audi befördert wurde. Er fügt hinzu, daß Stalin gegenüber diesem »aufopferungsvollen und kämpferischen Kommandeur . . . sehr fähigen Heerführer... und Menschen mit ausgezeichnetem Charakter« ein »gewisses Vorurteil« hatte (S. 256). 11 In den ersten Monaten des Krieges hatte Stalin sogar »der Truppe Panzerbüchsen, Granat- werfer und Panzer persönlidi stückweise zugeteilt« (Schtemenko, S. 155). ihm angehörten. Die Unvollkommenheit der Struktur des Generalstabes wurde gleich in den ersten Tagen des Krieges offenbar, und erst um die Mitte des Jahres 1942, nach mehrfachen Neu- und Umgliederungen, entsprachen »die Organisa- tionsformen ... seinem Arbeitsinhalt« (Sditemenko, S. 34 ff.). Bemerkenswerter- weise sah Stalin seinen Generalstabsdief lieber bei der Truppe, so daß als dessen Vertreter oft der Kommissar des Generalstabes amtieren mußte. Der häufige per- sonelle Wechsel, selbst in den führenden Generalstabsabteilungen - unter ande- rem gab es 1942 innerhalb eines halben Jahres sieben Chefs der Operativen Ver- waltung (S. 57) -, förderte zugleich das gegenseitige Mißtrauen (S. 36), dessen Auswirkungen audi Sditemenko mehrfach erfahren hat. Erst ab 1942, nadidem auch die technischen Voraussetzungen für eine geregelte Arbeit geschaffen waren (in den ersten Monaten des Krieges mußten einzelne Abteilungen in die U-Bahn- höfe umsiedeln, weil keine Luftschutzkeller vorhanden waren), konnten Haupt- quartier und Generalstab daran denken, weit voraussdiauend zu planen. So ent- standen die Entwürfe für die Winteroffensive 1942/43 zum Beispiel bereits im Spätsommer 1942, die Planungen zum Angriff auf Berlin im Herbst 1944. Seit 1943 wird zugleich mehr und mehr erkennbar, daß die politischen Zielsetzungen auf die militärischen Planungen Einfluß nahmen. Sditemenko unterstreicht zum Beispiel, daß Anlage und Durchführung der Operationen im polnischen Raum »hauptsächlich auf Grund politischer Erwägungen« erfolgten (S. 315). Das gleiche gilt wohl grundsätzlich auch für den umstrittenen Stop der Operation gegen Berlin am 4. Februar 194517, obwohl Sditemenko hier in erster Linie militärische Argu- mente nennt, und für die Operationen gegen die Kwantungarmee, August 1945 (S. 341 ff.). Von den verschiedenen interessanten Aspekten, auf die hier nicht näher eingegan- gen werden konnte, sei nur nodi kurz auf zwei verwiesen. Der erste ist quellenkritisdier Natur: Schukow und Sditemenko haben wie er- wähnt zahlreiche Passagen und Argumente auf sowjetische Primärquellen abge- stützt und diese vielfach und ausführlich im Wortlaut zitiert. Diese Dokumente sind für den »westlichen« Leser in der Regel im Original nicht einzusehen18. Darüber hinaus hat der bekannte Marschall Woronow in seinen Ausführungen über die Schlacht von Stalingrad19 daran erinnert, daß »einige von unseren opera- tiven Urkunden und Berichten über diese Operation ... die Kriegshistoriker ver- wirren [könnten]. Unter den Bedingungen des Personenkults von Stalin wurden wir jedoch manchmal gezwungen, unsere logische Initiative und schöpferischen Handlungen zu tarnen, um den Anschein zu erwecken, als ob alles gemäß der Direktive des Hauptquartiers zur Ausführung käme.« Woronow führt weiter aus, daß man von der Stalingrader Front über den Verlauf der Kämpfe zwar so an das Hauptquartier berichtet habe, wie es etwa der Direktive entsprach, daß die Kämpfe aber entsprechend der Ansichten der örtlichen Führungsstäbe geleitet wor- den seien. Diese Feststellungen dürften weder auf Stalingrad, noch überhaupt auf

17 Vgl. die Vorwürfe des späteren Marschalls Tschuikow gegen Schukow (S. 106/107) und die Er- widerungen in der Zusammenfassung von A. Boitin / S. J. Rostschin : Konnte die Sowjetarmee im Februar 1945 Berlin einnehmen?, in: Zeitschrift für Militärgeschidite, Jg 5, H 6/1966, S. 718-723. - Sdiukow selbst hat nochmals ausführlich dargelegt, daß allein die militärische Situation - Bedrohung der rechten Flanke der 1. Belorussischen-Front - für das Anhalten der sowjetischen Truppen maßgebend gewesen sei. Das von ihm laut Tschuikow mit Stalin am 4. 2.1945 geführte Telefongespräch habe, wie die Akten auswiesen, überhaupt nicht statt- gefunden (Schukow, S. 566/567). 18 Die Rezension stützt sich ausschließlich auf die deutschen Ausgaben bzw. Obersetzungen, ein Vergleich mit den originalen russischen Texten erfolgte nicht. " N. Woronow: Die Operation »Ring«, in: Voenno istoriieskij iurnal, 1962, S. 71 ff. Der Zeit- punkt der Veröffentlichung ist zu beachten. den sowjetischen Bereich beschränkt sein20. Sie machen aber gewisse grundsätz- liche Schwierigkeiten deutlich, denen sich die historische Forschung gegenüber sieht, weil eine uneingeschränkte wechselseitige Benutzung und damit kritische Würdi- gung der Primärquellen nicht möglich ist21. Der zweite Aspekt betrifft die Beurteilung des deutschen Gegners durch die sowje- tische Führung. Eher als Anekdote sei in diesem Zusammenhang die Antwort Stalins auf die Denunziation des Mitgliedes des Kriegsrates Mechlis erwähnt, der den Fall Sewastopols mit der »Unfähigkeit« des Generals Koslow zu erklären versuchte und seine Ablösung vorschlug. Stalin antwortete: »Sie verlangen, daß wir Koslow durch eine Art Hindenburg ersetzen, obwohl Sie genau wissen, daß wir keine Hindenburgs in Reserve haben« — und ließ sowohl Koslow als auch Mech- lis abberufen und degradieren (Schtemenko, S. 55/56). Von besonderer Bedeutung für den deutschen Leser ist dagegen Schukows zusammenfassende Feststellung, daß »im Gegensatz zur deutschen Führung ... wir dann erst im Krieg mit der Theorie und Praxis der Truppenführung vertraut [wurden]«, daß aber »Hitler und seine Leute... nicht imstande [waren], die Widerstandsfähigkeit und die Kräfte« der Sowjetunion richtig einzuschätzen. Es wäre sicher verfehlt, dies im wesentlichen auf die alliierte Hilfe oder, wie in jüngster Zeit mehrfach erörtert, auf Irreführung und Verrat22 zurückzuführen23. Johannes Fischer

Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945. Band I: 1939-1941. Akademie-Verlag, Berlin 1969, XI, 408 Seiten (= For- schungen zur Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Jürgen Kuczynski und Hans Mottek, Bd 1).

Die historische Analyse und Darstellung der deutschen Kriegswirtschaft in den Jahren 1939 bis 1945 wird allmählich zu einem Feld, auf dem der Streit um grundlegende Geschichtsauffassungen besonders zu gedeihen scheint. Wenn aber die westlichen Historiker sich bisher vor allem an der Fragestellung, weniger an der Methode ihrer Kontrahenten interessiert zeigten und deren Forschungsergeb- nisse kaum berücksichtigten - im Osten wurde viel häufiger aus westlichen Wer- ken zitiert als umgekehrt - so bahnt sich in der letzten Zeit offenbar eine Wand- lung an.

10 Vgl. ζ. B. die entsprechenden Hinweise des Generals Heusinger für die deutsche Seite bei J. Fischer: Der Entsdiluß zur Luftversorgung Stalingrads, in: MilitärgeschichtlicheMitteilungen, Bd 2/1969, S. 27. n Hierher gehört u. a. die Frage, weshalb Sdiukows Memoiren als zweites Werk der mili- tärischen Memoirenliteratur auch für den Bereich der Bundesrepublik freigegeben wurden. a Schtemenko berichtet (S. 185), daß der sowjetischen Führung kurze Zeit nach der Besprechung im Führerhauptquartier am 26. 7.1943 Teile des stenographischen Protokolls vorlagen. a Auf die Artikel über »Sowjetische Kriegskunst im Großen Vaterländischen Krieg« von Sacharow und Schtemenko sowie die Arbeiten von Sdiukow (»Wie führte die Stawka«), Wassilewski (Stel- lung der Vertreter der Stawka), Konew (Urteil über die Führung durch die Stawka) und weitere Aufsätze über Führungsfragen im Heft 5/1970 des Voenno istoriieskij iurnal, die für diese Rezension nicht mehr ausgewertet werden konnten, sei hingewiesen. Audi der Autor des vorliegenden Buches steht freilich voll und ganz auf der Grundlage der von der östlich-marxistischen Geschichtsschreibung in den Rang einer Gesetzmäßigkeit erhobenen Prämisse, daß die Politik als Überbau der jewei- ligen Produktionsverhältnisse ihre einzige Aufgabe darin findet, deren Bestand zu sichern. Eigenständige staatliche Initiativen und rein politisch motivierte Eingriffe in das Wirtschaftsleben kommen außerhalb eines revolutionären Prozesses nidit in Frage. Die staatliche Intervention in der Wirtschaft, die »gelenkte Wirtschaft« des Dritten Reiches, erscheint somit als Ausnutzung des Staats- und audi des Partei- apparates im Interesse der monopolisierten Bourgeoisie. Wer dieser Dialektik nicht zu folgen vermag, wer im Nationalsozialismus einen politischen Herrschaftsentwurf und im Dritten Reich differenzierte Strukturen und verschiedene geschichtliche Wirkfaktoren erkennt, der wird Eichholtz' Arbeit andererseits eher als Darstellung einer Wirtschaft im Kriege als die einer Kriegswirtschaft begreifen können. Zusammen mit Wolfgang Schumann hatte Eichholtz 1969 bereits den Quellenband »Anatomie des Krieges« herausgebracht, so daß sich erwarten ließ, daß auch seiner Geschichte der Kriegswirtschaft, deren erster Band hier zur Besprechung ansteht, vorwiegend Dokumente des industriellen Bereichs zugrundeliegen würden. Dieser spezifische Schwerpunkt macht die Auseinandersetzung mit seinem Werk für die westliche Geschiditschreibung wertvoll, offenbart aber zugleich auch entschei- dende Mängel. Die intensive Auswertung der Firmenarchive, die den Historikern der DDR mög- lich ist, gibt ihnen auf diesem Gebiet einen Vorsprung. Hierzulande steht die gültige Eigentumsordnung einer unbeschränkten Einsicht in Firmenakten entgegen, und alle Dokumente, die sich unter dem alliierten Beutegut befanden und in den letzten Jahren nach Deutschland zurückgebracht wurden, erhielt der Eigentümer in der Regel prompt zurück. Die Gefahr aber, daß die westliche Geschichtsschreibung auf Grund der ungünstigeren Situation gegenüber den Ländern, in denen die Firmenarchive wenigstens bis 1945, bis zu der Zeit des Umbruchs der Sozialord- nung, geöffnet sind, im internationalen Vergleich zurückfallen könnte, sollte auch nicht überschätzt werden. Noch immer findet der Forscher genügend Material in den staatlichen Archiven, so daß er durchaus in der Lage ist, die allgemeinen Erkenntnisse der östlich-marxistischen Geschichtsschreibung kritisch zu überprü- fen. Tatsächlich lassen sich in der vorliegenden Arbeit denn auch manche Lücken erkennen. Obwohl Eichholtz die Erlaubnis erhielt, die Bundesrepublik zu be- suchen, und in Koblenz alle Akten anstandslos einsehen konnte, hat er aufschluß- reiche Quellen, beispielsweise aus dem Bestand des Wehrwirtsdiafts- und Rüstungs- amtes und des Reichsamtes für Wirtschaftsausbau unausgewertet gelassen. Dem- gegenüberbevorzugte er neben den Industrieakten die Einzeldokumente der Nürn- berger Prozesse. Diese Materialien sind aber in der Regel aus dem Zusammenhang herausgerissen und würden zur Begründung einer so allgemeinen historischen Inter- pretation, wie sie Eichholtz vornimmt, auch den mittelbaren Kontext benötigen. Die besondere Polemik Eichholtz' gilt jener Auffassung vom Primat der Politik über die Wirtschaft, die in erster Linie von Arthur Schweitzer (vgl. Big Business in the Third Reich, 1964) ausgearbeitet und später von Tim Mason präzisiert wurde. Auf eine kurze Formel gebracht, besagt sie in Opposition gegen einen marxisti- schen Normablauf der Geschichte, daß ab 1936 die deutsche Außen- und Innen- politik in einem immer geringeren Maße von der ökonomisch herrschenden Klasse bestimmt wurde. Allerdings haben auch die östlich-marxistischen Historiker trotz aller Suche noch keinen Beleg gefunden, aus dem sich eine direkte Beteiligung von Industrievertretern an den Ausarbeitungen der strategischen Konzeptionen Hitlers bis hin zur Weisung Nr. 21 (Barbarossa) erkennen ließe. Diejenigen Akten aber, die eine eigenständige politische Zielsetzung im Bereich der Wirtschaft sichtbar wer- den lassen, legt Eichholtz oftmals einseitig aus oder ignoriert sie ganz. Beispielhaft dafür ist seine Analyse der Vierjahresplan-Denkschrift Hitlers vom 26. August 1936, der er lediglich die Übereinstimmung der Autarkiepassagen mit den Interes- sen der IG.-Farben entnimmt, nicht aber Hitlers massive Drohungen gegen eine widerstrebende Industrie. Einige Seiten weiter formuliert Eichholtz dann pauschal und lapidar, daß die Denkschrift »nach Vorlagen der Gruppe um IG-Farben- Direktor Carl Krauch aus Görings Rohstoff- und Devisenstab entstand«. Diese einseitige Interpretation wird dem vielschichtigen historischen Dokument nicht gerecht. Es wird und kann niemand bestreiten, daß die IG.-Farben sich stets weit- gehend mit den Nationalsozialisten arrangierten - schon Anfang Oktober 1931 wurden der Partei im Leunawerk die Möglichkeiten der Treibstoffsynthese vor- geführt - allein die Voreingenommenheit läßt Eichholtz über das Ziel hinaus- schießen, das ihm die historische Quellenanalyse setzen müßte. Audi andere Stellen in dieser Arbeit machen deutlich, daß sidi Eichholtz der mei- sten der ihm bekannten Dokumente vorwiegend zu dem Zweck bedient, sich den präsumtiven Geschichtsverlauf bestätigen zu lassen. Im Blick auf den Gesamt- komplex des Dritten Reiches und auf die funktionale Anordnung der Parteiämter ist es beispielsweise sehr zweifelhaft, in den Behörden und Dienststellen Todts bis hin zum RMfBuM einfach staatsmonopolistische Apparate zu erkennen. Die ideo- logische Grundhaltung der von Todt geleiteten Ämter richtete sidi nicht nur staatskonkurrierend gegen traditionelle Ministerien, sondern konnte auch in einem direkten »politischen« Gegensatz zu Wirtschaftsgruppen stehen, soweit diese ihre besonderen Interessen durchzusetzen suchten. Immer nur auf Grund der Prämisse, daß jeglidie Regulierung der Wirtschaft durch Staat und Partei zugleich im Inter- esse der Monopole erfolgen müsse, kann Eichholtz Formen des staatlichen Inter- ventionismus als soziale Demagogie abtun. Wenn er im Frühjahr 1940 der Grup- pierung Hitler/Todt/Industrie die Wehrwirtschaftsorganisation gegenüberstellt, wiederholt er unkritisdi eine mehr ideologisch als sachlich begründete Auffassung des General Thomas und mißachtet aufschlußreidie, ihm offenbar unbekannte Quellen. Damals gingen die Interessenkämpfe, die Eichholtz freilich zu bagatelli- sieren sucht, quer durch die aufgezeigten Fronten hindurch, und auch Göring war durchaus noch in der Lage, ein gewichtiges Wort mitzureden. Todts heftige Kon- troversen mit Hitler und Göring zeigen schließlich, daß im Ministerium Todt nidit einfach die »zentrale Exekutive der Großkonzerne« gesehen werden darf, sondern auch eigenständige Kräfte am Werk waren. Die Theorie vom staatsmono- polistischen Versdimelzungsprozeß im Dritten Reich läßt sich immer wieder mit guten Gründen in Frage stellen. Selbst der von Eichholtz wiederholt herangezo- gene Zangen, der sich mit der Reichsgruppe Industrie in der Tat außerordentlich aktiv in alle Planungsarbeiten zur Errichtung eines »großeuropäischen Wirt- schaftsraumes« eingeschaltet hatte, brachte im Februar 1942, auf einem ersten Höhepunkt industrieller Ausbeutung der besetzten Gebiete, ein Selbstverständnis zum Ausdruck, wonach in diesen Ländern »die endgültige Form der wirtschaft- lichen Beziehungen von der Politik her bestimmt wird«. Enttäuscht sehen werden sich von der Arbeit Eidiholtz alle diejenigen, die neues, im Westen unbekanntes Material zur Kriegswirtschaftsstatistik erwartet hatten. Dieser Komplex wird ebenso wie der des deutsch-russischen Wirtschafts- und Nichtangriffspaktes vom August 1939, dessen Auslegung durch Eichholtz nicht uninteressant gewesen wäre, nur gestreift. Die wenigen statistischen Zusammen- stellungen des ersten Bandes sind mangelhaft und ermöglichen keine direkten Ver- gleiche. DenAngaben über die Sowjetunion wird deren letztes »Friedensjahr« 1940 zugrunde gelegt. In die statistische Masse sind dann Ostpolen, das Baltikum, Bess- arabien und Teile Finnlands vermutlich einbezogen. Die Daten über Deutschland und Österreich werden zusammengefaßt und erscheinen in der einzigen größeren Tabelle »Produktionsfaktoren und -Ziffern des faschistisch beherrschten Europas«, und zwar »auf der Basis von Vorkriegszahlen«. Eine einzelne Stichprobe ergab, daß die Aufstellung Fehler enthält, da sich die Daten einmal auf Deutschland und Österreich, dann wieder auf Deutschland allein beziehen. Auch davon abgesehen, bleibt es fragwürdig, einer Tabelle, die politisch den Stand von 1940/41 markiert und Jugoslawien, Albanien und Griechenland als okkupierte Gebiete einbezieht, die ökonomischen Daten des Jahres 1937 zugrunde zu legen. Am Schluß des ersten Bandes und bevor auf 130 Seiten eine Reihe aufschlußreidier Dokumente vorwiegend industrieller Provenienz abgedruckt werden, geht Eidi- holtz auf die leichtfertigen Kriegsvorbereitungen des »Wirtschaftsstabes Ost« und des »Wirtschaftsführungsstabes Ost« ein. Obwohl er dabei teilweise neues Mate- rial vorbringt, wird gleichwohl die Aufwertung der mit Göring kooperierenden Wehrwirtschaftsorganisation gegenüber anderen Gruppierungen nicht begründet. Die vom Autor geschickt eingeflochtene Darstellung der von deutschen Großban- ken und Großkonzernen unterstützten Gründung der »Kontinentale öl AG« im März 1941, deren Bestrebungen sich auf die Übernahme rumänischer Erdölgesell- schaften aus französischem und belgischem Besitz richteten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Akten eine Teilnahme dieser Gruppierung an den Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion nicht erweisen. Hier kommt Eich- holtz über seine eigene Aussage, daß gegen eine »Unterbrechung« des Krieges »wahrscheinlich« auch einflußreiche Kräfte aus der Rüstungsindustrie arbeiteten, nicht hinweg. Die unter Görings Oberaufsicht durchgeführten Kriegsvorbereitun- gen des Wirtschaftsstabes und des Wirtschaftsführungsstabes Ost, an denen auch die Staatssekretäre des Vierjahresplans und des Wirtschaftsministeriums beteiligt waren, belegt Eichholtz mit Nürnberger Prozeßakten, die an dem barbarischen Charakter der geplanten ökonomischen Ausbeutungsaktionen keinen Zweifel las- sen. Obwohl diese Vorbereitungen noch vom Konzept des Blitzkrieges ausgingen, periodisiert Eichholtz das Ende der Blitzkriegsphase mit dem Tag des Angriffs auf die Sowjetunion. Dieser Standpunkt wäre aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht heraus aber zu begründen, denn in der Militärgeschichte herrscht darüber Ein- mütigkeit, daß die deutsche Blitzkriegsstrategie erst im November und Dezember 1941 vor Moskau endgültig scheiterte. Es kann Eichholtz bestätigt werden, daß die Auseinandersetzung mit seiner Arbeit den Blick der westlichen Historiker schärfen wird, die Rolle der Industrie im historischen Prozeß genau zu verfolgen. Andererseits lassen sich die rein politischen Komponenten im Nationalsozialismus und die divergierenden Mächtegruppierun- gen nicht in seinem Sinne dahin negieren, daß auf der historischen Bildfläche ein mehr oder weniger amorpher Staatsmonopolismus übrig bleibt. Eine solche Ge- schichtsbetrachtung würde der in den Quellen erkennbaren Vielfalt der Machtfak- toren nicht gerecht. Auch ist die Erkenntnis eines Primats der Politik und der Partei im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches nicht, wie Eichholtz zu unterstel- len sucht, mit einer Wiederaufnahme der Totalitarismus-Theorie der 50er Jahre verknüpft. Vorherrschaft bedeutet nicht Alleinherrschaft. In der Auseinanderset- zung mit der östlich-marxistischen Geschichtsschreibung darf man auf die weiteren Bände von Eichholtz gespannt sein. Sie sollten einige neuere Werke des Westens berücksichtigen (unter anderem Carroll, Hildebrand, Hillgruber, Homze, Speer), damit die Diskussion dem jeweiligen Stand der Forschung zu entsprechen vermag. Karl-Heinz Ludwig Ignác ölvedi: A budai Vár és a debreceni csata. Horthyék katasztrófa- politikája 1944 öszen (Die königliche Burg zu Ofen und die Schlacht bei Debrecen. Die Katastrophenpolitik Horthys im Herbst 1944). Zrinyi Kato- nai Kiadó, Budapest 1970,227 Seiten.

Der Autor - Kandidat der Geschichtswissenschaft und Dozent an der Militär- akademie »Zrinyi« in Budapest — untersucht in seinem neuesten Werk die Mili- tärpolitik der Regierung Lakatos. Diese Regierung wurde am 29. August 1944 mit dem Ziel gebildet, das Land aus dem bereits verloren geglaubten Krieg durch einen Separatfrieden herauszulösen. Ihre Lage war äußerst schwierig: das Land befand sich seit März 1944 unter deutscher Militärbesatzung1. Die neue, auf Hitlers Druck ernannte ungarische Regierung mit dem einstigen ungarischen Gesandten in Berlin, Döme Sztójay, an der Spitze, handelte im Interesse des Dritten Reiches. Die Mobilisation der Honvéd wurde durchgeführt; verschärfte Judengesetze ge- schaffen, die die baldige Deportation von 400 000 Menschen begründeten; die Links- und die bürgerlichen Parteien aufgelöst, ihre führenden Mitglieder von der Gestapo verhaftet und der Versuch unternommen, das gesamte Wirtschaftsleben in den Dienst des Krieges zu stellen. Dazu wurde nun noch der Krieg ins Land getragen. Die bisher verschonten ungarischen Städte und Industrieanlagen wurden im Laufe des Sommers 1944 stets intensiver von den Bomberflotten der Westalli- ierten heimgesucht, und die Ostfront rückte immer näher an die Grenze Ungarns. In dieser mißlichen Lage entschied sich der Reichsverweser, Miklós v. Horthy, der nicht tatenlos zusehen wollte, bis sein Land zum Schauplatz von Kämpfen deut- scher und russischer Armeen würde, zu handeln. Schon im Juni 1944 schaute er sich nach einem neuen Ministerpräsidenten um, dessen Person für die Deutschen an- nehmbar und für seine Pläne geeignet war. Dieser Mann war der Ritterkreuzträ- ger Generaloberst Géza Lakatos, im Frühjahr 1944 Oberbefehlshaber der 1. ungarischen Armee, die im Vorfeld der Karpaten bereits gegen die Rote Armee örtliche Angriffe führte. Er sollte nun den ohnehin kränklichen Sztójay ablösen und retten, was noch zu retten war. ölvedis Buch behandelt die Außen- und Militärpolitik dieser Regierung, die sechs Wochen lang die Geschicke Ungarns in ihren Händen hielt und die schließlich - im Sog der inneren und äußeren Umstände - zu Fall gebracht wurde, ohne ihre Aufgabe gelöst zu haben2. Der erste Teil des Buches ist ausschließlich der militär- politischen Lage Ungarns und Lakatos' beziehungsweise Horthys Anstrengungen gewidmet. Der Frontwechsel Rumäniens am 23. August 1944 brachte eine grund- legende Änderung der Gesamtlage im Südosten: der Roten Armee wurde nicht nur das Tor zum Balkan, sondern auch der Weg in das Donau-Becken weit geöffnet. Die Karpaten, deren natürlicher Schutzwall schon im Ersten Weltkrieg den russi- schen Truppen große Schwierigkeiten bereitete, konnten nun von Süden her, ohne nennenswerten Widerstand, überschritten werden. Die in Rumänien befehlsfüh- rende HGr Südukraine konnte nur kümmerliche Reste ihrer Divisionen nach Ungarn retten. Hitlers Prophezeiung, daß Stalin sich in erster Linie um die Er- oberung der Dardanellen kümmern werde, bewahrheitete sich nicht. Die Rote

1 S. dazu A. Hillgruber: Das deutsch-ungarische Verhältnis im letzten Kriegsjahr. Vom Unter- nehmen »Margarethe I.« (19. März 1944) bis zur Räumung Ungarns durdi die deutschen Trup- pen (4. April 1945). In: Wehrwissensdiaftlidie Rundschau (WWR) 2/1960, S. 78-104; G. Rinki: 1944 március 19. Magyarország német megszállása (19. März 1944, Ungarns deutsche Besetzung), Budapest 1968. 2 Dazu die Erinnerungen des Außenministers der Lakatos-Regierung, Generaloberst G. Hennyey: Ungarns Weg aus dem Zweiten Weltkrieg. In: WWR 12/1962, S. 687-719. Armee erschien bereits am 1. September 1944 in Süd-Siebenbürgen, und in einigen Wochen hatte sie hier genügend Truppen versammelt, um den weiteren Vormarsch in Richtung der Großen Ungarischen Ebene risikolos wagen zu können8, ölvedi, der die damalige ungarische Politik sdiarf kritisiert, wirft Lakatos vor, die Lage in dieser Stunde deutschen Disasters nicht ausgenützt, nicht energisch und zielbewußt gehandelt zu haben. Mit anderen Worten: die in Ungarn befindlichen Truppen Hitlers (die er auf 65 000 bis 70 000 Mann schätzt) nicht entwaffnet und mit den Sowjets nicht gemeinsame Sache gemacht zu haben (S. 18). Andererseits räumt er Lakatos jedodi mildernde Umstände ein: »Horthys Konzeption war es, das Ausscheiden aus dem Krieg allein durch Vereinbarungen mit den angelsächsi- schen Mächten zu verwirklichen. Andere Möglichkeiten sah er auch Ende August 1944 nicht. In dieser Auffassung standen hinter ihm nicht nur die Stützen des Regimes, der Staatsapparat, das Offizierkorps, das Gros der Intelligenz, die städtische und bäuerliche Mittelklasse, sondern auch das Kleinbürgertum ... Auch das Groß derjenigen, die gegen Krieg und Faschismus in jeder Hinsicht Front machten, blickten mit Vorurteilen und Furcht auf die anrückende Rote Armee ... Ende August 1944 hatten alle Bevölkerungsschichten - sogar die Arbeiterschaft - Illusionen in bezug der Friedenspläne Horthys« (S. 21). Also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da die Kommunisten, die tatsächlich die Russen erwar- teten, nicht einmal 0,01 Prozent der ungarischen Bevölkerung ausmachten4. Vergebens waren jedoch die Bemühungen der Regierung Lakatos, die angelsächsi- schen Mächten zu einem Separatfrieden zu bewegen und das Land durch die west- lidien Truppen besetzen zu lassen. Der in ölvedis Buch öfters zitierte Telegramm- wechsel zwischen der ungarischen diplomatischen Vertretung in Bern (wo mit Allen Dulles konferiert wurde) und dem Budapester Außenministerium ließ schließlich auch die Verantwortlichen in der königlichen Burg zu Buda nicht im Zweifel, daß man sich wegen eines Separatfriedens nur an die Russen wenden konnte. Inzwischen wurde auch die Frontlage stets kritischer. Durch ölvedis Schil- derungen erfährt der ungarische Leser erstmals, welche Kontroversen zwischen Regierung und Generalstab in bezug des Angriffes auf (rumänisch) Süd-Sieben- bürgen entstanden; weshalb man eine neue ungarische Armee aufstellte und wie sich die Deutschen zu der ungarischen Lage Mitte September 1944 stellten. Der Autor versteht es recht gut, diese verwirrenden Ereignisse plastisch vor Augen zu führen. Horthys beziehungsweise Lakatos* Anstrengungen auf der einen Seite, die Bestrebungen Hitlers und der Wehrmacht auf der anderen Seite und die politische Lage in Ungarn — dies sind die Schwerpunkte des ersten Teiles des Buches, dessen Dramatik in den Ereignissen Ende 1944 gipfelt. Am 28. September überschritt nämlich eine ungarische Delegation die Landesgrenze, um durch die Slowakei nach Moskau zu gelangen. Ihre Aufgabe war es, den Waffenstillstandsvertrag mit den Russen auszuhandeln. In dieser Zeit war Siebenbürgen praktisch sdion verloren.

9 S. dazu die neueste sowjetische Veröffentlichung: Generalmajor M. M. Minasjan: Osvoboidenie narodov Jugo-Vostoénoj Evropy. Boevye dejstvija Krasnoj Armii na territorii Rumynii, Bol- garii, Vengrii i Jugslavii ν 1944—1945 gg. (Die Befreiung der Völker Südosteuropas. Die Kampf- tätigkeit der Roten Armee auf den Territorien Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Jugoslawien in den Jahren 1944-1945), Moskva 1967. 4 Im Jahre 1942 verzeichnete die in der Illegalität existierende ungarische kommunistische Partei 400—450 eingeschriebene Mitglieder. Nach einer Monster-Razzia Ende 1942, geführt von der ungarischen Polizei, verblieben etwa 10-12 KP-Mitglieder auf freiem Fuß (1). Nach einer Re- organisation der Partei verzeichnete diese im Jahre 1943 70-80 Mitglieder. Vgl. J. Kádán: A KMP feloszlatása korülményeinek ¿s a Békepárt munkijának néhány kérdésérôl (1943 junius - 1944 szeptember). (Uber den Umstand der Auflösung der ung. KP und einzelner Fragen der Tätigkeit der Friedenspartei.) In: Pirttôrténeti Kôzlemények (Buda- pest), 3/1956. Der Krieg erreichte das Kerngebiet des Landes. In einem ausführlidien Kapitel behandelt ölvedi die deutsch-ungarischen Militärbeziehungen des Monats Septem- ber und beschreibt die verschiedenen politischen Strömungen innerhalb der Hon- véd-Armee einschließlich des Offizierkorps. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den Kriegsoperationen in Ost- ungarn, im Raum der Theiss. Zeitlich umfaßt diese Periode ungarischer Kriegs- geschichte drei Wochen: vom 26. September bis 15. Oktober 1944. ölvedi zählt gewissenhaft die deutsch-ungarischen Truppen, die in diesem Raum standen, auf und gibt auch die russisch-rumänischen Kräfte der 2. Ukrainischen Front an. Da- nach verfügte Marschall der Sowjetunion Malinowskij, als er den Rand der Gro- ßen Ungarischen Ebene erreichte, über 59 Schützendivisionen (davon 17 rumäni- sche Infanteriedivisionen), drei Kavalleriekorps, drei Panzerkorps, zwei mechani- sierte Korps, eine selbständige Panzerbrigade und eine Luftflotte. Dies bedeutete in Zahlen ausgedrückt: 750 Panzer und Sturmgeschütze, 10 200 Geschütze aller Kaliber und 1200 Flugzeuge (S. 111). Uber die Schlachten im Raum von Debrecen wurde vor einigen Jahren in der Bundesrepublik ein ausgezeichnetes Buch veröffentlicht, das die deutschen An- strengungen im Oktober 1944 in allen Details untersuchte®, ölvedi schrieb dazu das östliche Gegenstück. Er konnte dazu nicht nur die Schriften der sowjetischen Militärarchive studieren, sondern er sprach unseres Wissens auch über die einzelnen Phasen der schweren Kämpfe mit dem sowjetischen Generalleutnant I. A. Plijew, der eine der Hauptrollen in diesen Wochen sowjetischerseits spielte. Obwohl der Autor in diesem Kapitel seines Buches das Hauptgewicht auf die militärischen Auseinandersetzungen an der Front legt, vergißt er nicht, die politi- schen Entwicklungen in der königlichen Burg zu Ofen weiter zu verfolgen. Am 11. Oktober hatten Horthys Emmissäre in Moskau den provisorischen Waffenstill- stand mit den in der Anti-Hitler-Koalition vereinten Großmächten (vertreten durch die UdSSR) abgeschlossen. Malinowskij ließ daraufhin seine Truppen im Raum von Szeged anhalten, um den Ungarn eine Möglichkeit zur Verteidigung ihrer Hauptstadt gegenüber eventuellen deutschen Angriffen zu sichern. Eine der wichtigsten Punkte des in Moskau unterzeichneten Vertrages verlangte, daß die Ungarn ihre bisherigen Verbündeten, die Deutschen, angreifen sollten. Im Kapitel »Die Schlacht bei Debrecen und die Waffenstillstandsverhandlungen in Moskau« schildert ölvedi - gestützt auf im Westen veröffentlichte ungarische Dokumente - die Anstrengungen des Reichsverwesers, diesem Punkt des Vertrages nicht nach- zukommen. Horthy, und das steht heute fest, wollte keinesfalls den Deutschen - die er nie mit Hitler und der Gestapo gleichsetzte - meuchelmörderisch in den Rücken fallen. »Ich werde diese Verpflichtung irgendwie umgehen«, sagte Horthy - laut ölvedi - zu einem seiner Generale (S. 157)®. Die letzten Kapitel des Buches beschäftigen sich mit dem Endkampf im Raum von Debrecen und den Folgen des mißglückten Versuches Horthys, Ungarns Lage durch einen Waffenstillstandsvertrag zu sichern. Viele interessante Details werden hier erstmals veröffentlicht, so Angaben über die Bemühungen des ungarischen Generalstabes, die Front zu wahren und es (am 15. und 16. Oktober) nicht zu einer totalen Auflösung der Truppen kommen zu lassen. Die Untersuchungen des Autors über die sehr zwiespältige Haltung des Generalstabschefs, Generaloberst Vörös, zeitigen leider kein Ergebnis. Man vermutet nur, daß diese Schlüsselfigur in den Ereignissen vom 15. Oktober 1944 der Sache Horthys mehr geschadet als

5 H. Kissel: Die Panzerschlachten in der Pußta im Oktober 1944, Neckargemünd 1960 (Wehr- macht im Kampf, Bd 27). ' S. dazu nodi die Stellungnahme G. Hennyeys, in: WWK 6/1968, S. 354 ff. genützt hat. Da Vörös später zu den Russen überging und in der Miklós-Regie- rung (24.12. 1944 - 4. 11. 1945) Verteidigungsminister wurde, konnte der Autor vielleicht seine Person nicht ganz »sine ira et studio« beurteilen. Sehr aufschlußreich sind die Untersuchungen ölvedis audi über das Verhalten des Oberkommandos der 1. ungarischen Armee, mit dessen Stabschef er anscheinend mehrmals konferierte. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Ignác Divedi mit einer wesentlichen Arbeit die Kriegsgeschichte bereichert hat. Er verstand es - im Rahmen der Möglichkei- ten - eine umfassende und abgerundete Schilderung der dramatischen Ereignisse des Herbstes 1944 zu bieten; er stützte sich bei seinen Untersuchungen nicht nur auf ungarisches, sondern auch deutsdies (KTB der HGr Süd) und sowjetisches Archivmaterial und unterließ es auch nicht, die neuesten und wichtigsten westlichen Veröffentlichungen zu berücksichtigen (daß er dabei weder die Lakatos-Memoiren noch das sehr interessante Tagebuch des ungarischen Generalstabsdiefs Vörös vom Jahr 1944 in seine Untersuchungen einbeziehen konnte, ist keinesfalls sein Fehler, da ihre Publikation erst jetzt - und dazu im Westen - vorbereitet wird). Peter Gosztony

David Kahn: The Codebreakers, The Story of Secret Writing. The Macmil- lan Company, New York 1967, XVI, 1164 Seiten.

»Entzifferung ist die bedeutsamste Form der geheimen Aufklärung in der heutigen Welt.« Mit diesen Worten beginnt David Kahn die erste wissenschaftliche Ge- schichte der Kryptologie (des Geheimschriftwesens). Diese Feststellung ist zweifel- los richtig. Führende Aufklärungsfachleute wie Allen Dulles von der Central Intel- ligence Agency (CIA), dem amerikanischen »Bundesnachrichtendienst«, und Wal- ter Schellenberg vom Reichssicherheitshauptamt haben beide zugegeben, daß die Entzifferung (Kryptanalyse) mehr und bessere Informationen hervorbringt als ihre Geheimagenten. Deutsche Ic-Offiziere des Zweiten Weltkrieges haben be- hauptet, daß die Funkaufklärung (mit der Kryptanalyse) 60 Prozent der operati- ven Aufklärung im Jahre 1944 bei den Kämpfen in der Normandie und in Frank- reich geliefert hat. Die heutige amerikanische kryptologische Organisation, die National Security Agency (NSA), beschäftigt mehr Menschen und wendet mehr Geld auf als die CIA. Bisher sind nur journalistische und Jugendbücher über die Geschichte der Kryptologie erschienen; die technische Fachliteratur erwähnt ledig- lich das Entwickeln von Geheimschriftverfahren und das Einwirken der Entziffe- rung auf das Weltgeschehen. Daher hat eine Notwendigkeit für ein derartiges Buch bestanden; und bei der ungeheuren Zeitspanne und dem reichen Material hat das Buch so umfangreich werden müssen, wie es ist. Nichtsdestoweniger ist dem 20. Jahrhundert mehr als die Hälfte des Werkes gewidmet, was es außerordentlich zeitnah macht. Die Quellen, auf denen das Werk beruht, sind auf 156 Seiten in Anmerkungen dargelegt; sehr häufig sind es Primärquellen. Sie schließen die wenigen wissen- schaftlichen Untersuchungen von Erscheinungen der kryptologischen Geschichte ein (die meistens von deutschen Gelehrten stammen), ferner unveröffentlichte Do- kumente wie etwa Berichte von Entzifferungseinheiten der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und Ausarbeitungen von Kryptanalytikern der US Army im Ersten Weltkrieg, gedruckte Regierungsberichte, ältere Schriften über Krypto- logie, Aufzeichnungen von Gerichtsverfahren, Patente von Chiffriermaschinen, Interviews und Berichte, die von ehemaligen Kryptanalytikern speziell für Mr. Kahn geschrieben worden sind. Der Text selbst enthält zahlreiche Darstellungen, die von entscheidenden Entzifferungen und deren Einfluß auf die Geschichte be- richten, und biographische Angaben über bedeutende Kryptologen sowie Angaben über die Entwicklung moderner Geheimschriftverfahren und die Entzifferung von Code- und Geheimschriftverfahren. Trotz des Umfanges des Werkes verliert der Autor niemals das Gesamtbild aus den Augen. Wertvoll und interessant sind Abschnitte des Buches, die einer Zusammenfassung der Wirkung gewidmet sind, welche die Télégraphié und der Funkbetrieb während des Ersten und Zweiten Weltkrieges auf die Kryptologie ausgeübt haben. Ein Streifzug durch das Buch wird den weiten Rahmen des Gebotenen erkennen lassen. Nach kurzer Einführung in die Terminologie der Kryptologie beginnt das Kapitel 1 mit einem Einblick in den amerikanischen kryptologischen Dienst und dessen Einfluß auf die amerikanische Japan-Politik vor dem verhängnisvollen Angriff auf Pearl Harbor. Damit wird die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen militärischer und diplomatischer Entzifferung auf der oberen Ebene bewiesen, wo die entscheidenden Beiträge für die politische Führung eines Landes geleistet werden. Dann folgt in den Kapiteln 2 bis 19 ein historischer Überblick über die Entwick- lung der Geheimschriften und ihre Entzifferung sowie über deren Einfluß auf das politische Geschehen. Neben einigen Beispielen von Hieroglyphen, Keilschrift und alten jüdischen, griechischen, arabischen, thailändischen, Runen- usw. Geheim- schriften, werden die Anfänge politischer Geheimschriften behandelt, die etwa im 14. Jahrhundert beginnen, wobei die kleinen italienischen Staaten, die diplomati- sche Beziehungen miteinander hatten, eine wesentliche Rolle gespielt haben. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche systematischer Entzifferung durch Be- rufskryptanalytiker. Schon im 15. und 16. Jahrhundert traten die Grundlagen der heutigen modernen Geheimschriften hervor. Es wird weiter das Zeitalter der »Schwarzen Kabinette« behandelt, wie die Entzifferungsbüros genannt wurden. In Wien beispielsweise entzifferte die »Geheime Kabinetts-Kanzlei« (auch »Ge- heime Ziffernkanzlei« genannt) im 18. und 19. Jahrhundert mit ausgezeichnetem Erfolg chiffrierte Texte, die in den sogenannten »Postlogen« aus geöffneten Post- sendungen sorgfältig abgeschrieben wurden. Die Staatskanzlei hat auf diese Weise den Schriftverkehr der in Wien akkreditierten Diplomaten und auch anderer Per- sonen überwacht und ausgewertet. Die Einführung der Télégraphié führte zur Entwicklung einer Hierarchie der Geheimschriftverfahren im militärischen Nach- richtenverbindungsdienst: einfache Verfahren für den Frontgebrauch, komplizier- tere Verfahren für die höheren Stäbe. Der Telegraph regte auch die Erfindung von Geheimschriftverfahren an, von denen etliche als Feld-Geheimschriften verwen- det wurden. Im Jahre 1863 veröffentlichte der pensionierte preußische Infanterie- Major Kasiski ein Entzifferungsverfahren, das zur Grundlage für die moderne Kryptanalyse wurde, in seinem Buch »Die Geheimschriften und die Dechiffrir- kunst«. Schon 30 Jahre später war dieses Buch in Preußen bereits vergessen; das Kriegsministerium führte für das Heer im Jahre 1892 eine Geheimschrift ein, deren Entzifferung Kasiski bereits beschrieben hatte. Der englische Physiker Wheatstone erfand eine »Rechteck-Geheimschrift«, die heute als Playfair-Geheim- schrift bekannt ist; die deutsche Wehrmacht hat diese Geheimsdirift im Jahre 1940 in etwas abgewandelter Form als »Kastenschlüssel« beziehungsweise »Dop- pelkastenschlüssel« für den Frankreichfeldzug eingeführt. Kahn berichtet auch über Chiffrierverfahren aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges und von der Entzifferung eines chiffrierten Telegramms, das eine Bestechung zum Beein- flussen der Präsidentenwahl im Jahre 1880 beinhaltet. Nach einem Einblick in die Entwicklung der Kryptologie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als vorwiegend französische Kryptologen neue Chiffriertechni- ken erfanden, schildert Kahn die erfolgreiche Entzifferungstätigkeit im »Zimmer 40«.der britischen Admiralität. Die britische Marine hatte bis 1914 keine selbstän- dige kryptanalytische Gruppe; erst im August 1914 wurde im »Zimmer 40« eine Entzifferungsstelle eingerichtet. Diese entwickelte sidi in kurzer Zeit zur Funkauf- klärungsleitstelle der britischen Marine mit einer gut besetzten Auswerte- und Entzifferungszentrale sowie zahlreichen Funkempfangs- und Funkpeilstellen, die zunächst den deutschen Marine-Funkverkehr beobachteten, dann aber audi Funk- verbindungen des deutschen diplomatischen Dienstes abhörten und dessen Tele- gramme entzifferten. Besondere Bedeutung hatte 1917 das Entziffern des soge- nannten »Zimmermann-Telegramms«, in welchem Deutschland die Mexikaner zum Krieg gegen die USA veranlassen wollte. Es gehört in die Vorgeschichte des Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg. Auch bei der Skagerrak-Schlacht und beim Bekämpfen der deutschen Unterseeboote spielte Zimmer 40 eine wesentliche Rolle. Durdi die Entwicklung der Funktelegraphie machten der Funkhordidienst und damit auch die Entzifferung immer größere Fortschritte. Die Funkaufklärung lieferte nicht nur der militärischen sondern audi der politischen Führung sehr schnelle und genaue Erkenntnisse in einem Umfang, den der bisherige Einsatz von Spionen nodi nie ermöglicht hatte. Frankreich hat diese wichtige Informationsquel- le schon vor dem Weltkrieg ausgenutzt. Während in Frankreich sich vorwiegend das Heer mit der Funkaufklärung befaßte, interessierte sidi in Großbritannien zunächst die Marine für diese neue Aufklärungstechnik. Deutschland begann erst während des Ersten Weltkrieges mit dem Abhören und Entziffern feindlicher Funksprüche, und zwar zunächst durch den Unternehmungsgeist einzelner Funk- offiziere. Der Einsatz britischer Streitkräfte in Frankreich führte dann audi zum britischen Heeres-Funkhordidienst. In allen Fällen wirkte sich das Entziffern feindlicher Funksprüche in der Verbesserung der eigenen Chiffrierverfahren aus. In Frankreich hat der Professor an der Bergakademie und Reserveoffizier der Artillerie Capitaine Painvin zahlreiche deutsche und österreichische Heeres- und Marine-Geheimschriften sowie diplomatische Telegramme entziffert. Sein Glanz- stück war das Entziffern der im März 1918 neu eingeführten und im Juni 1918 verbesserten deutschen »Geheimschrift der Funker« (GedeFu; französische Be- zeichnung ADFGX bzw. ADFGVX, da nur diese 5 bzw. 6 Buchstaben in den chiffrierten Texten auftreten), weil die Deutschen beim Anwenden dieses an sich guten Geheimschriftverfahrens nicht den notwendigen Weitblick gezeigt haben. Entscheidend ist damals das Entziffern eines »harmlosen« Funkspruchs über das Beschleunigen der Munitionierung gewesen, der von den Franzosen später als »Funkspruch des Sieges« bezeichnet wurde. Den Franzosen ist dadurch im Juni 1918 die erfolgreiche Abwehr eines deutschen Großangriffs ermöglicht worden. Kahn sdiildert eingehend die Leistungen der beiden amerikanischen Spitzen-Krypt- analytiker H. O. Yardley und W. F. Friedman. Yardley hat nach dem Ersten Weltkrieg japanische diplomatische Telegramme entziffert und damit die ameri- kanisch-britisch-japanischen Flottenverhandlungen von 1922 entscheidend beein- flußt; Friedman ist der später berühmte Chef-Kryptanalytiker, der unter anderem japanische Geheimschriftverfahren und Chiffriermaschinen vor und im Zweiten Weltkrieg entziffert und neue Chiffrierverfahren entwickelt hat. Ferner wird der Werdegang einiger Chiffriermaschinen behandelt. Schon im Jahre 1917 wurde in den USA die Vernam-Chiffriermaschine erfunden, die Fernsdireibzeidien mit Hil- fe von Schlüsselstreifen automatisch ver- und entschlüsselt; Mauborgne hat dafür schon damals den »Einmal-Schlüssel«, ein unentzifferbares Chiffrierverfahren, vorgeschlagen. Ferner wird die Chiffriermaschine ENIGMA beschrieben, die in der deutschen Wehrmacht bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verwendet wurde (polnische Kryptanalytiker haben übrigens bereits ab 1935 deutsche ENIGMA- Funksprüche entziffert). Und schließlich wird die schwedische HAGELIN- Chiffriermaschine erwähnt, die in zahlreichen Spielarten in der ganzen Welt ver- breitet ist. Daneben werden noch mancherlei Chiffriermaschinen aufgeführt, die nur begrenzt verwendet worden sind. Die Entzifferbarkeit dieser Maschinen ist recht unterschiedlich und teilweise lediglich von der mehr oder weniger geschickten Anwendung abhängig gewesen. Eine besondere Rolle hat der Kampf zwischen Kryptographie und Kryptanalyse gespielt. Auf deutscher Seite werden die Entzifferungsdienste des Auswärtigen Amtes, der Wehrmacht und von Himmlers Sicherheitsdienst (SD) zum Teil einge- hend behandelt; besonders ausführlidi ist die Entzifferungstätigkeit des Auswär- tigen Amtes beschrieben. Erwähnt ist auch die Entzifferung bei der Funkaufklä- rungskompanie von Rommels Afrikakorps, die bei einem britischen Vorstoß nicht rechtzeitig zurückgenommen war, so daß von den Briten viele Unterlagen er- beutet und fast alle Horchfunker gefangengenommen wurden. Das Versiegen die- ser Informationsquelle hat erheblich zu Rommels anschließenden Mißerfolgen bei- getragen (die Entzifferer der Vichy-Regierung haben ihre Unterlagen rechtzeitig vernichten können, als Deutschland 1942 Südfrankreich besetzte). Schweden baute etwa ab 1936 seinen Entzifferungsdienst aus und arbeitete auf diesem Gebiet auch mit Norwegen, Dänemark und Finnland zusammen. In Großbritannien übernahm das Foreign Office nach dem Ersten Weltkrieg einen Teil des Personals vom »Zimmer 40« der Admiralität. Im Zweiten Weltkrieg haben die Enzifferungs- dienste der amerikanischen und britischen Streitkräfte zusammengearbeitet, aber das Foreign Office hat sich an dem Gedankenaustausch auf diesem Gebiet nicht beteiligt. Vom amerikanischen und auch vom japanischen kryptologischen Dienst werden interessante Einzelheiten berichtet. Die Achsenmächte benutzten zwar für die strategische Führung fast nur Drahtverbindungen, aber die japanischen Mili- târattachés berichteten fleißig über Funk nach Japan und wurden von den Alliier- ten abgehört und entziffert. Erwähnt wird auch die Sprachverschlüsselung im Funkfernsprechverkehr zwischen Churchill und Roosevelt, welche von der Deut- schen Reichspost entziffert worden ist, ferner, wie in den USA die Entzifferung von japanischen Geheimschriften sich vor und im Zweiten Weltkrieg entwickelt und dann zu dem entscheidenden Erfolg in der Midway-Seeschlacht beigetragen hat. Der amerikanische Admiral Nimitz schreibt: »Midway ist im wesentlichen ein Sieg der Aufklärung gewesen.« Auf Grund entzifferter japanischer Funksprüche haben die Amerikaner ihre Seestreitkräfte über mehr als 3000 Seemeilen rechtzei- tig heranführen können. Dazu kommt eine Schilderung, wie der japanische Admi- ral Yamamoto wegen seiner entzifferbaren Geheimschriften von den Amerika- nern abgeschossen wurde. Die Kryptanalyse ist zu einer schlachtentscheidenden Waffe geworden. Ein besonderes Kapitel behandelt die Entwicklung des russischen Geheimschrift- wesens vom Beginn des 18. Jahrhunderts an und vor allem dessen verhängnisvol- les Versagen im Ersten Weltkrieg, als deutsche und österreichische Entzifferer ent- scheidend zu den russischen Niederlagen beitrugen. Die Sowjets haben später ihren kryptologischen Dienst systematisch aufgebaut, was auch erheblich zur Sicherheit ihrer zahlreichen Agenten in der ganzen Welt beigetragen hat; sie verwenden fast ausschließlich das Einmal-Verfahren, welches eine Entzifferung praktisch unmög- lich macht. Es folgt eine anschauliche Darstellung von der weltweiten Tätigkeit der NSA (National Security Agency), des amerikanischen »Bundeschiffrieramtes«, wo so- wohl die amerikanischen Geheimschriftverfahren entwickelt und geprüft als audi ausländische Verfahren entziffert werden. Die NSA arbeitet sehr eng mit den entsprechenden Diensten der US Streitkräfte zusammen sowie mit der CIA, dem amerikanischen »Bundesnachrichtendienst«. Auf den Seiten 682-683 zeigt ein Blockschema sehr anschaulich, wie weitgehend das Geheimsdiriftwesen mit allen Zweigen der politischen und militärischen Führung der USA verflochten ist. Die Kapitel 20 bis 26 behandeln einige Randerscheinungen des Geheimschriftwe- sens, so den inneren Aufbau der Kryptologie mit Hinweisen auf die Informations- theorie und die Statistik. Erwähnt wird eine Vielfalt von Persönlichkeiten, die sich für die Kryptologie interessiert haben: Literaten wie Edgar A. Poe, A. Conan Doyle und Jules Verne; Amateure, die Geheimschriften zum Vergnügen entzif- fern; Erfinder, die ihr Glück in der Geheimhaltung suchen; Wissenschaftler der Renaissance wie Galileo Galilei und auch der heutigen Zeit wie der Sexualfor- scher Alfred Kinsey; aber auch Liebende, einschließlich Eduard VIII. und Wallis Simpson. Hinzu kommen Hinweise auf Verbrecher-Geheimschriften (zum Beispiel der Alkoholschmuggler) sowie deren Entzifferung und auf rechtmäßig verwendete Handelscodes für verschiedenste Handelszweige; Entzifferungen historischer Do- kumente, die für die Geschichtsforschung nützlich sind. Es ist auch eine Seite des sogenannten »Voynich-Manuskripts« abgebildet, das der niederländische Antiquar Voynich im Jahre 1912 in Italien erworben hat und das bisher noch nicht entziffert ist, obwohl sich schon sehr erfahrene Kryptanalytiker darum bemüht haben. Kahn befaßt sich auch mit der übertriebenen Kryptanalyse, die um jeden Preis Geheim- nisse sucht, um sie lüften zu können. Ein typisches Beispiel dafür ist die sogenannte »Shakespeare-Geheimschrift«, deren Unsinn William und Elizebeth Friedman nachgewiesen haben. Eine Betrachtung der Entzifferung beziehungsweise von Entzifferungsversuchen archäologischer Schriften unter kryptanalytischen Gesichtspunkten und ein Blick auf die Möglichkeit einer Nachrichtenübermittlung zwischen der Erde und außer- terrestrischen Welten, und zwar hinsichtlich einer Art von Codierung der dabei gegebenenfalls aufgenommenen beziehungsweise gesendeten Signale, runden das Werk ab. Insgesamt liefert der Autor mit seinem Buch einen neuartigen Beitrag zur politi- schen und militärischen Geschichte, indem er eine bisher vernachlässigte, aber oft bedeutsame Seite dieser Geschichte beleuchtet. Er bringt eine riesige Menge neuer Informationen zur Kenntnis der Öffentlichkeit. Zahlreiche Beispiele machen un- streitig den Einfluß der Kryptanalyse auf das Weltgeschehen klar. Dies tut der Autor, indem er Fragen stellt, die zuvor niemand gestellt hat, und indem er Antworten dazu findet. Er fragt beispielsweise, welches der Ursprung der Feld- Geheimschriften gewesen ist, und kommt bei der Suche nach der Lösung zu dem Einfluß, den die Télégraphié auf das Geheimschriftwesen ausgeübt hat. Das Buch ist recht gut bebildert (24 Seiten mit Bildtafeln und dazu noch mehr als 80 Abbildungen im Text); es ist gut gedruckt, mit einem Stichwortverzeichnis (25 Seiten mit Angaben nicht nur von Personennamen sondern auch von Ländern und Geheimschriftverfahren) versehen, und es ist vor allem in einem gut lesbaren Stil geschrieben. Letzteres wird nicht nur zu seinem entscheidenden Erfolg in den USA beigetragen haben, wo es als ein »klassisches Werk«, als das »beste Nachtticchbuch des Jahres« und als ein Buch begrüßt worden ist, »das Verfasser von Spionage- romanen grün vor Neid werden lassen wird«, sondern auch zu seinem Verkaufs- erfolg, denn seit 1967 sind insgesamt fünf Auflagen mit mehr als 60 000 Exem- plaren gedruckt. Eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Sie kann jedoch das Original nicht ganz ersetzen, da sie nur die Hälfte des englischen Textes enthalten wird, weil die Ereignisse fortgelassen sind, welche sich nicht oder kaum auf Europa ausgewirkt haben. Das Werk ist natürlich nicht vollkommen. Es fehlen fast völlig zwei entscheidend wichtige Themen: die Erfolge der alliierten Kryptanalytiker während des Zweiten Weltkrieges in Europa und die Erfolge der russischen Kryptanalytiker. Angaben über die deutsche militärisdie Entzifferung im Zweiten Weltkrieg sind gering. Es ist nichts gesagt über den General der Nachrichtenaufklärung und fast nichts über die Entzifferungstätigkeit bei den Kommandeuren der Nachrichtenaufklärung, welche den Kampfverbänden viele wertvolle Aufklärung geliefert haben. Über Ar- thur Scherbius und seine ENIGMA-Chiffriermaschine hätte mehr gesagt werden können und über die Firma, die so viele Maschinen an die Wehrmacht geliefert hat. Görings Forschungsamt ist nur sehr kurz behandelt worden. Kahn hat keinen Gebrauch gemacht vom Kriegstagebuch des Funkbeobachtungsdienstes (B-Dienst) der Kriegsmarine im OKM, welcher laut Großadmiral Dönitz die Hälfte zu der Aufklärung des OKM beigesteuert hat. Kahn scheint auch noch nichts von den Quellen über die deutsche Marine-Entzifferung gewußt zu haben oder von dem wertvollen Manuskript des führenden französischen Kryptologen Général Gi- vierge. Ein Irrtum betrifft das Geheimschriftverfahren, das heute als polyalphabetische Substitution mit gemischten Alphabeten bekannt ist und zu dem die meisten mo- dernen Geheimschriftverfahren gehören. Kahn behauptet, daß Giovanni Battista Porta als Erster in seinem Buch vom Jahre 1563 anderen Elementen gemischte Alphabete hinzugefügt und dadurch diese Geheimschrift geschaffen habe. Tatsäch- lich hat Giovanni Battista Bellaso diesen Schritt bereits im Jahre 1553 getan; Kahn irrt, wenn er sagt, daß Bellaso nur Normal-Alphabete verwendet hat. Ein Fehler (auf S. 659) in bezug auf den General Fritz Thiele bedarf jedoch unbedingt einer Berichtigung. Thiele hat niemals zu Rösslers Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg gehört, weil Rössler in der württembergischen Armee ge- dient hat, während Thiele (seit März 1914) immer in der Telegraphentruppe der preußischen Armee gewesen ist. Außerdem ist Thiele während des Zweiten Welt- krieges bei der Amtsgruppe WNV (Wehrmachtnachrichtenverbindungen) in Berlin gewesen und hat von dem Geschehen im Führerhauptquartier niemals die für die Mitteilungen an Rössler notwendige Kenntnis bekommen. Auch der Historiker Wilhelm v. Schramm hält in seinem Buch »Verrat im Zweiten Weltkrieg« (Düssel- dorf 1967) die Geschichte von Rösslers zehn Kriegsgefährten für vollends un- wahrscheinlich. The Codebreakers ist ein großes, wertvolles und spannendes Buch über ein Thema von zeitnaher Bedeutung. Es wird nicht nur Historiker interessieren sondern auch Soldaten, Diplomaten und Staatsmänner, denn Kahn berichtet über eine ihrer Hauptinformationsquellen, auf denen ihre Entscheidungen beruhen - Entschei- dungen, welche das Leben der Menschheit gestalten. Herbert Flesch