Jahrbuch Hochtaunuskreis

2020 28. Jahrgang

Schwerpunktthema Literatur

(Diese Beiträge sind farbig hinterlegt) Johannes Tuchel

Normalität der Integration oder Ignoranz der Verbrechen?

Überlegungen zu Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten

Ein 2018 im Jahrbuch Hochtaunuskreis er- Welche prägenden Erlebnisse lassen sich schienener Aufsatz hat auf der Grundlage vor 2 Der am 20. allem der lokalen und regionalen Archive die August 1900 in Kiel Geborene machte als lokalpolitische Bedeutung des ehemaligen 17-Jähriger 1917 sein „Notabitur“ an einem Generalrichters der Manfred Roe- Berliner Gymnasium. Er meldete sich freiwil- der in den 1960er Jahren gewürdigt. Es ging lig zum Heer und diente beim 3. Rheinischen Feld-Artillerie-Regiment Nr. 83 als Artillerie- Manfred Roeders, nicht um seine Rolle im beobachter. Im Juli 1918 erlitt er in Frank- verbrecherischen Apparat des Dritten Rei- reich eine Gasvergiftung und eine Verletzung ches und erst recht nicht um eine Beurteilung am Oberschenkel. Das Regiment wurde nach seines Handelns nach heutigen ethischen dem Waffenstillstand nach Lohne/Oldenburg Maßstäben. Es geht vielmehr um die Rol- verlegt und im Dezember 1918 demobilisiert, le, die Manfred Roeder in der Glashüttener Roeder als Leutnant entlassen. Roeder schloss Kommunalpolitik zugekommen ist.“1 Trotz sich danach der Garde-Kavallerie-Schützen- dieser Einschränkungen nennt die Autorin In- Division an und war an den Berliner Stra- ßenkämpfen im Januar 1919 beteiligt. 1920 und liefert allgemeine Einschätzungen des kämpfte er in der Freiwilligen Russischen Roeder’schen Handelns, die nichts mit Glas- Westarmee (Westrussische Befreiungsarmee), hütten zu tun haben. Diese scheinen mir an einer weißrussischen antikommunistischen einigen Stellen ergänzungs- und korrektur- bedürftig zu sein. Vielleicht lassen sich dann auch einige Fragen an den Umgang mit Man- fred Roeders Vergangenheit in Glashütten 2 Zum Folgenden: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interro- gations, R 118, Vernehmung Roeders vom 9. Juli 1948. Zur präziser als bisher stellen. ausführlich: Hiska D. Bergander, Das Ermittlungsverfahren gegen Dr. jur. et rer. pol. Manfred Roeder, einen „General- richter“ Hitlers. Eine Untersuchung zur unbewältigten Rechts- geschichte der NS-Justiz, Diss. jur., 2006 sowie: Stefan Roloff mit Mario Vigl, Die Rote Kapelle. Die Wider- standsgruppe im Dritten Reich und die Geschichte Helmut Roloffs, München 2002, S. 324 ff. Instruktiv auch Heinrich Grosse, „Niemand kann zwei Herren dienen“. Zur Geschich- te der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus und in

ders., Ankläger von Widerstandskämpfern und Apologet des NS-Regimes nach 1945 – Kriegsgerichtsrat Manfred Roeder, 1 Ingrid Berg, Kommunalpolitik mit NS-Vergangenheit? - Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten, in: Jahrbuch onen liefert auch Roeders Personalakte aus dem Reichsjustiz- Hochtaunuskreis 26 (2018), S. 205 ff., hier S. 206. ministerium: Bundesarchiv, R 3001/72501.

173 Formation im Baltikum.3 Es ist davon auszu- lesungen, kunsthistorischen Vorlesungen.“6 gehen, dass diese Zeit für Roeders weiteres Zur selben Zeit gehörte er dem „Stahlhelm politisches Denken und Handeln prägend – Bund der Frontsoldaten“ und bis 1931 der war. Deutschnationalen Volkspartei an.7 Im Anschluss daran begann Roeder in Das Jurastudium schloss Roeder mit dem ein Jurastudium, das er in Würzburg Referendarexamen am 1. Mai 1931 mit „voll fortsetzte. Seine Eltern und eigene Ersparnisse ausreichend“ ab und ging dann ins Referen- - dariat nach Lüneburg (bis Ende April 1934), dium. In Würzburg wurde Roeder am 23. Fe- kurz nach Hannover und später nach Berlin. bruar 1922 mit einer Arbeit über den „öffent- Hier legte er am 17. August 1934 das Asses- lich-rechtlichen Arbeiterschutz der Seeleute“ sor-Examen mit „ausreichend“ ab und war promoviert.4 nach einem kurzen Dienst als Ergänzungsof- Er kehrte nach Berlin zurück und arbei- - tete – nach eigenen Angaben bis 1924 – bei tober 1934 als Einzelrichter beim Amtsgericht den Charlottenburger Wasser- und Industrie- Charlottenburg tätig.8 Dies scheint aber noch werken AG, einem damals in Berlin bedeu- keine feste Planstelle als Richter gewesen zu tenden Wasserversorger. Am 15. November sein. 1922 heiratete er Hedwig-Luise von Estorff. Roeder will sich bereits 1933 bei der Mi- Damit waren für ihn ein gesellschaftlicher litärjustiz beworben haben, angeblich, um und ein sozialer Aufstieg verbunden, denn einen NSDAP-Eintritt zu vermeiden. Hier das Gut Neetze bei Lüneburg, das Roeder konnte er seine militärischen Erfahrungen nach eigenen Angaben zwischen 1924 und im Ersten Weltkrieg und im Baltikum sowie 1928 bewirtschaftete, war mindestens seit seine juristischen Kenntnisse miteinander dem frühen 19. Jahrhundert im Estorffschen verbinden. Seit April 1935 war er dann beim Familienbesitz.5 Das Ehepaar bekam 1924, Gericht des Artillerieführers in Königsberg 1925 und 1929 drei Töchter, 1937 folgte (auf Probe) tätig, um dann zum 1. Novem- noch ein Sohn. Nach 1928 arbeitete Roeder ber 1935 eine Stelle als Kriegsgerichtsrat dann bei der Unterelbischen Einkaufs-Kom- beim Gericht des Luftkreiskommandos I in manditgesellschaft, die ihren Sitz in Hamburg Königsberg anzunehmen. Er hatte dort die hatte, und nutzte die Zeit zur Fortsetzung sei- Funktion eines „Dienstaufsichtsrichters“, lei- nes Studiums in Göttingen und Hamburg. Es tete also die Verwaltung dieses Gerichts. Mit scheint für ihn eine Zeit des Suchens gewesen derselben Aufgabe wurde er im April 1937 im zu sein: „Ich habe mich mit allem möglichen Luftkreis VII (Braunschweig) und ab Dezem- befaßt, mit Psychologie, medizinischen Vor- ber 1938 beim Luftgau-Kommando III Berlin eingesetzt. In einem Befähigungsbericht vom Sommer 1938 zur „bevorzugten Beförde- rung“ zum Oberkriegsgerichtsrat hieß es: „Er steht auf dem Boden der nationalsozialisti- 3 Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 5. 4 In seinen Vernehmungen verlegt Roeder mehrfach den schen Staatsauffassung. Er hat es daher auch Termin auf das Jahr 1921, also ein Jahr früher. Aus der Pu- verstanden, mit den Dienststellen der Partei blikation der Dissertation ergibt sich eindeutig 1922 als Pro- motionsjahr. Vgl. zu dem strittigen Datum auch Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 5, Anm. 11. 5 Vgl. Friedrich Wilhelm Boldewin Ferdinand von dem Kne- 6 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, Ver- sebeck (Hrsg.), Die allgemeinen Stände und die Provinzial- nehmung Roeders vom 9. Juli 1948, S. 4. Landschaften des Königreichs Hannover, Hannover 1841, S. 7 Grosse, Ankläger, S. 37. 41. 8 Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 8.

174 in engster Führung zu arbeiten.“9 Diese For- Zweiter Klasse, 1941 das Kriegsverdienst- mulierung – so Hiska Bergander – „geht über kreuz Erster Klasse und 1945 nach eigenen standardisierte Formeln [...] weit hinaus und Angaben auch das „Deutsche Kreuz“ in Sil- drückt Roeders politische Nähe zum Natio- ber, einen Orden, der für „vielfache außer- nalsozialismus aus.“10 Im Januar 1939 folgte gewöhnliche Verdienste in der militärischen die Beförderung zum Oberkriegsgerichtsrat, Kriegführung“ verliehen wurde. Worin diese im August 1941 zum Oberstkriegsgerichts- bei Roeder bestanden, bleibt unklar. rat, am 25. Januar 1945 mit Wirkung zum Von einem amerikanischen Ermittler nach 1. Dezember 1944 zum Generalrichter der seiner politischen Überzeugung gefragt, ant- Luftwaffe. wortete Roeder im Juli 1948: „Die war ab- Nach eigenen Angaben wurde Roeder solut klar, war deutsch, meine Aufgabe war, zwischen März und August 1941 zur neu er- meinem Vaterlande und meinem Volk zu richteten Dienststelle des Luftwaffenbefehls- dienen. Ich habe meinem Volke gedient in habers Mitte in Berlin-Wannsee komman- der Weimarer Republik, in der Kaiserzeit. Ich diert. Zum 1. September 1941 übernahm er habe meinem Volke auch unter dem Natio- seine alte Funktion als Dienstaufsichtsrich- nalsozialismus gedient, konnte nicht emigrie- ter im Luftgau-Kommando III erneut.11 Bald ren, weil wir volksgebunden sind und nach darauf untersuchte er die „dienstlichen und meiner Überzeugung auf dem Platz, auf den damit die technischen und rüstungsmäßigen wir gestellt waren, etwas zu leisten hatten Hintergründe“ des Selbstmords des General- und auch die Einstellung ihrer Regierungsfüh- luftzeugmeisters Ernst Udet am 17. Novem- rer ist, daß, je schlechter die Regierung ist, ber 1941.12 In diesem Fall berichtete Roeder 14 offensichtlich mehrfach Göring direkt. Seit Weder hier noch in irgendeiner anderen Aus- dieser Zeit war er der Mann der Luftwaffen- justiz für politisch heikle Fälle wie die Ver- den verbrecherischen Charakter des natio- fahren gegen die Angehörigen der Roten - Kapelle, die Untersuchung des Selbstmordes se scheinbar unpolitische Haltung lässt sich des Generalstabschefs der Luftwaffe Hans Je- nicht mit seinem Handeln während der Zeit schonnek und die Ermittlungen gegen die Wi- vor 1945 in Einklang bringen. derstandskämpfer im Amt Ausland/Abwehr. Roeder will am 17. Oktober 1942 in Win- Roeder trat nicht in die NSDAP ein, wohl niza, wohin er mit dem Chef des Luftwaffen- aber im Mai 1933 in den „Bund nationalso- rechtwesens und dem Senatspräsidenten des zialistischer Deutscher Juristen“ und im No- Reichskriegsgerichts, Dr. Alexander Kraell, vember 1933 in die SA. Dort will er auf ei- genen Antrag im Februar 1935 im Rang eines Göring den Auftrag zur Untersuchung und SA-Rottenführers ausgeschieden sein.13 1940 Anklagevertretung im Fall Rote Kapelle er- erhielt er die Spange zum Eisernen Kreuz halten haben.15 Ob dies wirklich so spät ge-

9 Zit. nach ebd., S. 8. 10 Ebd. 11 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, Vernehmung Roeders vom 25. November 1947. 14 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, 12 IfZ München, ZS 124, Niederschrift einer Unterredung Vernehmung Roeders vom 9. Juli 1948, S. 9. mit Roeder vom 3. und 4. Dezember 1951 in Neetze. 15 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote 13 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, Kapelle, Aussage des Generalrichters Manfred Roeder, Ober- Vernehmung Roeders vom 4. Juni 1948, S. 5. ursel, 27. Februar 1947.

175 schah, muss dahingestellt bleiben.16 Formell ich meinem Sohne in Liebe ein Grab geben wurde Roeder zum Oberreichskriegsanwalt, kann, bitte ich um die Nachricht, wann und zur Anklagebehörde des Reichskriegsgerichts wo ich den Leichnam meines Kindes empfan- kommandiert. Roeder selbst behauptete spä- gen kann.“21 Roeder antwortete postwendend ter, diese Kommandierung habe nur von Ok- – ohne Anrede – am 26. Mai 1943: „Die Frei- tober 1942 bis August 1943 bestanden.17 gabe der Leiche Ihres Sohnes kann jetzt nicht Schon zwei Tage nach dem von ihm be- mehr erfolgen. Nach den geltenden Bestim- haupteten Ernennungstermin berichtete Roe- mungen wäre aber ohnehin eine Bestattung der am 19. Oktober 1942 Generalfeldmar- außerhalb unzulässig gewesen.“22 schall Erhard Milch über den Sachstand.18 In Soweit die harte, aber formal korrekte Ant- den nächsten zwei Monaten bereitete Roeder wort. Fraglich ist aber, ob der nächste Satz in die Verfahren im Komplex „Rote Kapelle Ber- Roeders Antwort gegenüber der trauernden lin“ vor, die am 14. Dezember 1942 began- Mutter zynisch gemeint ist oder paradigma- nen und nach heutiger Kenntnis mit insge- tisch für sein Denken in dieser Zeit steht: „Im samt 45 Todesurteilen endeten.19 Er vertrat in übrigen weise ich daraufhin, daß nicht ein- den meisten dieser Verfahren die Anklage vor mal den an der Front auf dem Felde der Ehre dem Reichskriegsgericht. gefallenen deutschen Soldaten eine Ruhestät- Sein kaltes, offensichtlich menschenver- te in der Heimat gegeben werden kann.“23 achtendes Verhalten gegenüber den Ange- Subtext: Und ihr Sohn, der Landesverräter, hörigen der Menschen, die auf seinen An- der soll dann ein Grab in seiner Heimatstadt trag zum Tode verurteilt worden waren, ist erhalten? vielfach dokumentiert.20 Nur ein Beispiel aus Mindestens bei den elf Erhängungen und den Akten: Meta Strelow, Mutter des am 13. Enthauptungen am 22. Dezember 1942 war Mai 1943 in Berlin-Plötzensee enthaupteten Roeder in Plötzensee selbst dabei, „um even- Heinz Strelow, schrieb ihm am 24. Mai 1943: tuelle Wiederaufnahmeanträge entgegenzu- „Ihre grausige Mitteilung, daß mein einzigs- nehmen und sie dem bis zur Vollstreckung tes Kind nicht mehr lebt, das Urteil wirklich in Permanenz tagenden Senat zur sofortigen vollstreckt wurde, hat mich erreicht. Damit Entscheidung zuzuleiten.“24 Er sah in dem neu installierten Galgen etwas Positives: „Der Tod trat auf der Stelle ein und war soweit man hier überhaupt das Wort Humanität gebrau- 16 Heinrich Himmler hatte Göring bereits am 29.9.1942 25 über die Aufdeckung der Berliner Gruppe informiert. Vgl. Da- chen kann, humaner als das Fallbeil.“ vid Irving, Göring, Hamburg 1987, S. 546 sowie Peter Witte/ Ingrid Berg hat auf Roeders Rolle als An- Michael Wildt/Martina Vogt/Dieter Pohl/Peter Klein/Christian Gerlach/Christoph Dieckmann/Andrej Angrick (Bearbeiter), klagevertreter und seine Charakterisierung als Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42. Bearbeitet „Bluthund Hitlers“ verwiesen, eine Bezeich- im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Ham- nung, die sich übrigens auch für Heinrich burg, mit einem Vorwort von Uwe Lohalm und Wolfgang - te, herausgegeben von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Quellen, Bd. 3), Hamburg 1999, S. 571 f. 17 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, 21 Militärhistorisches Archiv (MHA) Prag, RKG, Verfahren Vernehmung Roeders vom 25. November 1947. StPL (RKA) III 525/42 gegen Heinz Strelow und 8 andere, Bl. 18 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote 191. Kapelle, GL-Besprechung am 20.10.1942. 22 Ebd., Bl. 192. 19 Vgl. Norbert Haase, Der Fall „Rote Kapelle“ vor dem 23 Ebd. Reichskriegsgericht, in: /Jürgen Danyel/Johannes 24 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote Tuchel (Hrsg.), Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Kapelle, undatierte Denkschrift [1947] von Manfred Roeder, Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 160 ff. Betrifft Rote Kapelle, S. 7 f. 20 Vgl. ausführlich Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 52 ff. 25 Ebd.

176 Himmler und Reinhard Heydrich, aber auch tizförmigen Tötungen nach 1945 herunter- für den Präsidenten des „Volksgerichtshofes“ spielen. Ob seine Beteiligung hier entweder Rechtsbeugung oder ein Verbrechen gegen Zusammenhang allerdings nicht Thema der die Menschlichkeit war, ist von der Staats- Darstellung ist und was sich erstaunlicher- anwaltschaft Lüneburg nicht einmal geprüft worden. Heinrich Grosse und Elisabeth Chowa- Rolle als Richter im Frühjahr 1943.26 niec haben die weiteren Stationen Roeders Für die weiteren Verfahren in Sachen 1943/44 im Zusammenhang mit dem Ver- „Rote Kapelle“ hatte angeblich Göring selbst fahren gegen Widerstandskämpfer aus dem das „Feldgericht z. B. V. [zur besonderen Ver- Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando wendung ] beim Kommandierenden General der Wehrmacht, darunter Hans Oster, Hans und Befehlshaber im Luftgau III“ eingesetzt, von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer nach- zu dem u.a. Roeder sowie die Kriegsgerichts- gezeichnet.28 Seit dem 1. Januar 1944 war räte Werner Falkenberg und Carl-Adolf Gut- hard gehörten. Roeder hat sich später sehr und behielt diese Funktion auch nach seiner unbestimmt und durchaus widersprüchlich Ernennung zum Generalrichter Ende 1944. zu den Verfahren geäußert: „Ich weiß, daß Dies war eine besondere Auszeichnung, wie die Gesamtzahl der Urteile nicht über 20 bis aus dem Beförderungsvorschlag deutlich 25 gelegen hat. Davon werden meiner Schät- wird: „Eine bevorzugte Beförderung aber er- zung nach etwa ein Drittel Todesurteile ge- scheint besonders deswegen angezeigt, um wesen sein.“27 Danach wäre Roeder an nicht dem wegen seines scharfen Vorgehens als mehr als acht Todesurteilen beteiligt gewesen. Untersuchungsführer des RKG in der Strafsa- Tatsächlich lassen sich aber Manfred Roeder che gegen v. Dohnanyi u. a. in seiner Ehre mindestens 24 vollstreckte Todesurteile nach- schwer angegriffenen Dr. Roeder auch äu- weisen, an denen er als Vorsitzender Richter ßerlich volle Genugtuung zu verschaffen, oder als Richter beteiligt war. Hinzu kommen nachdem sich nach den Ereignissen des fünf sehr wahrscheinliche weitere Fälle und 20. Juli herausgestellt hat, daß die Angriffe ein nicht vollstrecktes Todesurteil. gegen Dr. Roeder von Personen ausgingen, Die schriftliche Überlieferung aus die- die an der Beseitigung dieses scharfsinnigen sen Verfahren ist bruchstückhaft, einige Ab- Untersuchungsführers das größte Interesse schiedsbriefe und Todesurkunden sind hier hatten, weil sie selbst zu dem Kreis derer die letzten Zeugnisse. So konnte Manfred gehörten, die an dem geplanten Sturz der Roeder seine Verantwortung an diesen jus- Regierung mitarbeiteten.“29 Reichsmarschall Hermann Göring befahl dem Chef des Luft- waffenrechtswesens, Christian von Hammer- 26 Auch Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 16, die an- stein, am 20. Dezember 1944 persönlich, sonsten sehr sorgfältig Roeders Karriere analysiert, schreibt Roeder rückwirkend zum 1. Dezember 1944 nur: „Zu seiner dortigen Arbeit liegen keine näheren Infor- 30 mationen vor. Roeder schmälert aber die Bedeutung des im zu befördern. er behauptet, primär sei es für technische Angelegenheiten dem Generalluftzeugmeister zur Verfügung gestellt worden. Tatsächlich kam ihm die zentrale Zuständigkeit für politische 28 Grosse, Ankläger, S. 41 ff., sowie Elisabeth Chowaniec, Straftaten zu.“ Der „Fall Dohnanyi“ 1943 – 1945. Widerstand, Militärjustiz, 27 Vernehmung von Manfred Roeder vom 16.9.1948, zit. SS-Willkür, München 1991. nach Heinz Höhne, Kennwort: Direktor. Die Geschichte der 29 Zit. nach Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 24. Roten Kapelle, Ungekürzte Ausgabe, Frankfurt 1972, S. 254. 30 Ebd.

177 Dem Kriegsverlauf entsprechend wurde verlegt, aus der Nähe Lembergs nach Rumä- nien, später nach Ungarn und danach nach Österreich. In Tirol begab sich Roeder am 8. Mai 1945 in amerikanische Gefangenschaft. Im Spätherbst 1946 wurde er in den Zeugen- trakt des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg verlegt und sagte dann am 4. und 5. Juni 1947 als Zeuge der Anklage im „Case III“, dem Nürnberger Nachfolgepro- zess gegen hohe deutsche Juristen, aus.31 Mit- te 1948 beschwerte er sich bei Vernehmun- gen mehrfach, dass er nicht wisse, warum er noch einsitze, gleichzeitig betonte er, schon gegenüber dem amerikanischen militärischen Nachrichtendienst CIC (Counter Intelligence Corps) Aussagen gemacht zu haben und von - legt worden zu sein.32 Im Oktober 1948 wurde Roeder dann dem Nürnberger Amtsgericht vorgeführt, und Manfred Roeder 1947 beim Nürnberger Juristenpro- am 26. Oktober 1948 erging ein Haftbefehl zess (Foto: Wikipedia gemeinfrei). gegen ihn.33 Ihm wurde vorgeworfen „in den Jahren 1942 und 1943 als Untersuchungs- Kuckhoff verschärft vernehmen und schlagen führer in den militärgerichtlichen Verfahren ließ.“34 Doch bereits im Januar 1949 stellte der durch mehrere selbständige Handlungen als zuständige Staatsanwalt Erhard Heinke35 fest, Beamter in einer Untersuchung Zwangsmit- dass „ein beträchtlicher Teil der gegen den tel angewendet oder deren Anwendung zu- Angeklagten erhobenen strafrechtlichen Vor- gelassen zu haben, um Geständnisse oder würfe nicht mehr aufrecht erhalten werden Aussagen zu erpressen.“ Zugleich wurde ihm kann [...] Fernerhin ist nicht damit zu rechnen, vorgeworfen, „als Beamter in Ausübung sei- daß selbst bei voller Verurteilung in all den nes Amtes die Begehung einer schweren Kör- Punkten, in denen nach dem gegenwärtigen perverletzung zugelassen zu haben, indem Ermittlungsergebnis noch Tatverdacht besteht, er Harro Schulze-Boysen, Graudenz und die Strafe die Internierungs- und Haftzeit von über 3 ½ Jahren, die der Beschuldigte haupt- sächlich wegen dieser Sache erlitten hat und

31 Trials of War Criminals Before the Nuernberg Military Tribunals Under Control Council Law No. 10, Vol. III, „The Justice Case“, Washington 1951, S. 1214 unter Verweis auf die Protokollseiten 3993 bis 4033. 34 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote 32 Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Interrogations, R 118, Kapelle, Kopie des Haftbefehls vom 26. Oktober 1948. Aus- Vernehmung Roeders vom 4. Juni 1948. führliche Auszüge aus dem Haftbefehl sind abgedruckt bei 33 Bundesarchiv, NL 263/300, Kopie des Fragebogens für Roloff mit Sigl, Rote Kapelle, S. 325 f. die politische Überprüfung, von Manfred Roeder am 2. März 35 Zu der von Heinke geleiteten Untersuchung vgl. Bergan- 1949 unterschrieben. der, Ermittlungsverfahren, S. 46 ff.

178 deren Anrechnung auf die Strafe daher wahr- mandos der Wehrmacht.39 Hiska Bergander scheinlich ist, nicht wesentlich überschrei- hat alle Stationen des Verfahrens untersucht ten dürfte.“36 So musste auf Roeders Antrag und detailliert dargestellt.40 Ausführlich hat vom 27. Dezember 1948 der Haftbefehl am auch Gerhard Sälter das Verfahren gegen 7. Januar 1949 wieder aufgehoben werden.37 Roe der analysiert: „Finck hatte gar nicht Noch am selben Tag wurde Roeder aus dem gegen Roeder ermittelt, sondern zu dessen Gefängnis entlassen und fuhr nach Lüneburg, Entlastung gegen den Widerstand. Finck ver- der dem Gut Neetze nächsten Bahnstation. suchte, die -Fiktion erneut zu bewei- So verlor die Staatsanwaltschaft in Nürn- sen. Auf der Basis ihrer Ermittlungsergebnis- berg ihre Zuständigkeit an die Staatsanwalt- se führte er aus, dass die Haupttätigkeit der schaft Lüneburg. Diese lag in der britischen Roten Kapelle Spionage für die Sowjetunion Besatzungszone, wo Ermittlungen wegen gewesen sei, auch wenn ihre Mitglieder dies Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach nach 1945 und insbesondere in ihren An- Kontrollratsgesetz Nr. 10 durchgeführt wer- zeigen gegen Roeder verschwiegen hätten. den konnten, die in Nürnberg in der ame- Die Vorwürfe gegen Roeder tat er als gegen- rikanischen Besatzungszone nicht möglich stands- und belanglos ab. Sein Schlussbe- waren. Dies kam Heinke gelegen, der den richt liest sich wie eine Anklageschrift gegen Fall loswerden wollte. Er selbst war als Staats- Schulze-Boysen und andere.“41 Und weiter: anwalt am Sondergericht Breslau tätig gewe- „Fincks Darstellung war offenkundig sachlich sen und hatte keinerlei Interesse daran, in fehlerhaft und bewegte sich am Rande der der Nachkriegszeit die nationalsozialistische Rechtsbeugung.“42 Unrechtsjustiz zu thematisieren. Heinke war Am 12. November 1951 wurde das Verfah- später als Richter am Landgericht Nürnberg, ren eingestellt. In seinem sehr ausführlichen dann als Oberlandesgerichtsrat am OLG Abschlussbericht hielt Staatsanwalt Finck fest: Nürnberg tätig. Ein gegen ihn 1959 eingelei- „Die Ermittlungen haben den Eindruck hin- tetes Verfahren wegen Rechtsbeugung in der terlassen, daß das Reichskriegsgericht zwar NS-Zeit wurde eingestellt. Nach Bergander scheiterte eine Berufung an den Bundesge- verhängt hat, daß aber in diesen Fällen auch richtshof 1960 an dem „formalen“ Grund, beim allerbesten Willen nicht um ein Todes- Heinke sei für einige Zeit am Sondergericht urteil herumzukommen war.“ Hiska Bergan- Breslau eingesetzt gewesen.38 der kommentiert zutreffend: „Damit waren Doch in Lüneburg geriet das Verfahren die Mitglieder der Schulze-Boysen-Harnack- endgültig zur Farce. Der ermittelnde Staats- Gruppierung ein zweites Mal zum Tode ver- anwalt Hans-Jürgen Finck machte sich zum urteilt worden. Finck bekannte sich insoweit Komplizen Roeders in der Diffamierung der unmissverständlich zur nationalsozialisti- Widerstandskämpfer in der Roten Kapelle schen Rechtsprechung. Auch sonst machte er und im Amt Ausland/Abwehr des Oberkom- in seinem Abschlussbericht keinen Hehl aus seiner politischen Gesinnung. Diffamierende

36 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote Kapelle, Kopie des Berichts des Oberstaatsanwalts bei dem Landgerichte Nürnberg-Fürth an den Herrn Generalstaatsan- 39 Grosse, Ankläger, S. 48 ff. walt in Nürnberg vom 13. Januar 1949. 40 Vgl. Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 87 ff. 37 Bundesarchiv, NL 263/300, Kopie des Fragebogens für 41 Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges. Die Orga- die politische Überprüfung, von Manfred Roeder am 2. März nisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feind- 1949 unterschrieben. bildes Rote Kapelle“, Berlin 2016, S. 176. 38 Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 87. 42 Ebd., S. 179.

179 Aussagen, die insbesondere zu Lasten über- maliger deutscher Richter!’ Es sei nach Recht lebender ehemaliger Mitglieder der ‚Roten und Gesetz gerichtet worden, betonte Dr. 43 Roe der weiter.“46 Hiska Bergander resümiert das Verfahren: Roeder hatte schon 1947 und 1948 als „Nach alledem hätte es nicht nur nach heu- „Othello“ mehrere Berichte für den CIC ver- - fasst und war Ende 1947/Anfang 1948 für klage Roeders kommen müssen. Noch nicht einige Zeit aus Nürnberg gemeinsam mit einmal die damalige, NS-Justizverbrechern Walter Huppenkothen („Fidelio“) in eine CIC- gegenüber milde Rechtsprechung westdeut- Einrichtung verlegt worden.47 Die Berichte scher Gerichte gebot, die Ermittlungen einzu- lassen erkennen, dass das CIC keine Zweifel stellen und Roeder zu rehabilitieren. So hätte an der Interpretation Roeders über die Rote die Staatsanwaltschaft ihn zumindest wegen Kapelle hatte. Seit Herbst 1951 stand Roeder des dringenden Verdachts anklagen müssen, dann in Verbindung zur Organisation Geh- sich in mehreren Fällen der Rechtsbeugung, len, vermittelt durch Heinrich Reiser, einem § 336 StGB, und des Justizmordes durch früheren Angehörigen der Sonderkommission Rechtsbeugung, §§ 211, 336 StGB schuldig Rote Kapelle in Paris.48 Die alten Seilschaf- gemacht zu haben. Ferner wäre es Aufgabe ten funktionierten noch, obwohl seine SRP- der Lüneburger Staatsanwaltschaft gewesen, Nähe im Bundeskanzleramt auf Bedenken herauszustellen, dass Roeder nur aus forma- stieß. Roeder wurde daher nicht direkt als len Gründen nicht wegen eines Verbrechens V-Mann registriert, sondern sein Freund Her- gegen die Menschlichkeit angeklagt werden bert Niewerth. Im selben Jahr wurde auch könne, materiellrechtlich aber eines gegeben Staatsanwalt Hans-Jürgen Finck unter dem sei.“44 Decknamen „Vogel“ als Informant der Orga- Schon vor der Verfahrenseinstellung berei- nisation Gehlen angeworben.49 Ausgehend teten Finck und Roeder eine Medienkampag- vom Schlussbericht Fincks sollte dann in der ne vor, die in drei Serien in den Zeitschriften Organisation Gehlen „eine fast 900 Blatt um- „Kristall“, „Fortschritt“ und „Stern“ umgesetzt fassende Personenkartei von Verdächtigen“50 wurde.45 Finck versorgte die Zeitschriften mit entstehen. Fast unnötig zu sagen, dass sich Details aus den Verfahrensunterlagen. Auf hier tatsächlich „kein konkreter Spionagever- mehreren Versammlungen der ein Jahr spä- - ter verbotenen „Sozialistischen Reichspartei“ sammenfassung der Fiktionen der NS-Verfol- warf Roeder dann 1951 in der Öffentlichkeit gungsbehörden, der politischen Aversionen der Roten Kapelle einen „wirklichen Dolch- Roeders und Fincks und daran anknüpfende stoß“ vor und griff Adolf Grimme, den Inten- Vermutungen von Reile und Reiser. Das Ma- danten des Nordwestdeutschen Rundfunks terial bildet ein auf den Widerstand bezoge- direkt an: „Wenn Dr. Grimme auf Vorwürfe geantwortet habe, er habe es nicht nötig, sich als alter Widerstandskämpfer gegen rechtsra- 46 Landeszeitung für die Lüneburger Heide vom 26.4.1951. dikale Kreise zu verteidigen, so müsse er ihm Vgl. zu Roeders Zusammenarbeit mit der SRP auch Bergan- jetzt antworten: ‚Ich führe den Kampf als ehe- der, Ermittlungsverfahren, S. 160 ff. 47 Ein großer Teil der CIC-Berichte von und über Roeder ist digital zugänglich unter https://www.cia.gov/library/readin- groom. Die weiteren Unterlagen sind in den National Archi- ves zugänglich. 43 Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 105. 48 Vgl. Sälter, Phantome, S. 196 ff. 44 Ebd., S. 130. 49 Ebd., S. 247. 45 Details bei Sälter, Phantome, S. 185 ff. 50 Ebd., S. 253.

180 nes Ressentiment ab. Darin trafen sich die Exkulpationsbemühungen Roeders mit den ders befassen, fehlen wichtige Fakten oder geschichtspolitischen Interessen Fincks und werden nicht richtig kontextualisiert. Dies den Verschwörungsphantasien Reisers.“51 beginnt bei der Bezeichnung „Rote Kapelle“: 1952 schließlich legte Roeder in seinem „Eine Widerstandsbewegung unterschied- Pamphlet „Die Rote Kapelle“ eine Gesamt- licher Bestrebungen. Der Name leitet sich schau seiner wilden Behauptungen über die von einer Musikkapelle ab, deren Mitglieder Widerstandsgruppe vor.52 Die offenbar aus auch uneinheitlich zusammengesetzt sind.“55 unterschiedlichen Aufzeichnungen Roeders Vielmehr handelt es sich dabei um eine Be- zusammengestellte Collage aus persönlichen zeichnung der Abwehr aus dem Jahr 1941, Diffamierungen und Falschbehauptungen Funker sind „Pianisten“, mehrere „Pianisten“ gipfelte in der These über die angeblich noch sind eine „Kapelle“ und „rot“ bedarf als Sym- funkende Rote Kapelle. Und damit das Ganze bolfarbe des Kommunismus wohl keiner wei- schön selbstreferenziell war, belegte Roeder teren Erläuterung.56 es mit Auszügen aus der „parteifreien Wo- Das Ermittlungsverfahren der Staatsan- waltschaft Lüneburg gegen Roeder wird bei jener Zeitschrift, die er und Finck mit Material Berg referiert. Sein Verlauf und seine Ergeb- aus dem Ermittlungsverfahren versorgt hatten. nisse verdienen es aber, problematisiert zu Heinrich Grosse verweist zu Recht da- werden, zumal dessen Kontext – ohne den rauf, dass Roeder nicht nur eine stattliche nachrichtendienstlichen Hintergrund, den Pension erhielt, sondern nach dem „Gesetz erst Gerhard Sälter 2014 aufdeckte – in der zur Rechtsstellung der unter Art. 131 GG Forschung spätestens seit 1990 bekannt ist.57 fallenden Personen“ ein „Generalrichter zur Mehr als problematisch ist die Aussage: „Eine Wiederverwendung“ war, auch wenn diese heute ausführlich recherchierte Tatsache ist, natürlich nicht mehr erfolgte.53 dass Manfred Roeder nach Beendigung des Warum Manfred Roeder 1963 von Neetze Zweiten Weltkriegs sowohl von den Amerika- in den Taunus bei Frankfurt am Main zog, ist nern als auch von der Vorläuferorganisation bisher ungeklärt. Heinrich Grosse gibt eine des BND unter Reinhard Gehlen gebraucht mündlich überlieferte These wieder, Roeder wurde. Da Mitglieder der Roten Kapelle we- sei aus Neetze weggezogen, weil er in dem gen Landesverrats und Sowjetkontakten ver- nahe der Grenze zur DDR gelegenen Dorf urteilt worden waren, galt Roeder als Experte befürchte, von sowjetischen Agenten entführt - zu werden.54 Zwischen 1963 und seinem schen den USA und der Sowjetunion, insbe- Tode 1971 war Manfred Roeder in Glashütten sondere mit Blick auf sowjetische bzw. kom- gemeldet. Er starb am 18. Oktober 1971. munistische Spionagetätigkeiten. Er selber Mit dieser Zeitspanne hat sich Ingrid Berg konnte dieses Image ausnutzen [...] Noch in in ihrem Aufsatz befasst und wertvolles lo- den 50er Jahren glaubte man an eine Nach- kalhistorisches Material erschlossen. Doch

55 Berg, Kommunalpolitik, S. 206. 56 Vgl. ausführlicher Johannes Tuchel, Die Gestapo-Sonder- 51 Ebd., S. 253. kommission „Rote Kapelle“, in: Coppi/Danyel/ Tuchel (Hrsg.), 52 Die Rote Kapelle. Aufzeichnungen des Generalrichters Die Rote Kapelle, S. 145 ff. Dr. M. Roeder, Hamburg 1952. Der Verlag Hans Siep, in dem 57 Vgl. „Das Ermittlungsverfahren gegen Dr. Manfred Ro- die Broschüre erschien, kann zumindest als SRP-nah gelten. eder“, in: Ulrich Sahm, Rudolf von Scheliha 1897 – 1942. Ein 53 Grosse, Ankläger, S. 53. deutscher Diplomat gegen Hitler, München 1990, S. 296 ff. 54 Grosse, Ankläger, S. 53. sowie ausführlich Bergander, Ermittlungsverfahren.

181 ner möglichen Strafverfolgung zu entziehen. an deren Agententätigkeit, die den Westen Tatsächlich zeigt die seit 1992 vorliegende bedrohe.“58 Prozessübersicht eine Vielzahl von Grün- Nein, Roeder wurde nicht „gebraucht“. Er den, darunter Vorbereitung zum Hochver- bot sich an – und wurde gern angehört, weil rat, Kriegsverrat, Zersetzung der Wehrkraft, er den ideologisch begründeten Konstrukti- Feindbegünstigung, Ungehorsam im Felde onen der alten Gestapo-Angehörigen in der und Preisgabe von Staatsgeheimnissen, Bei- Organisation Gehlen entsprach und weil er hilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat u.v.m. seinem eigenen Ideologem von der kommu- Damit waren jene Widerstandsaktionen der nistischen Gefahr folgte, die er immer „als Roten Kapelle geahndet worden, wie etwa deutscher Richter“ bekämpft hatte. Nur wenn die Flugblattverteilung in Berlin, die Klebe- er diese Fiktion aufrechterhielt und seiner zettelaktionen, die Unterstützung für Kriegs- Umwelt gegenüber glaubhaft machte, konnte gefangene u.a.m., die Roeder immer wieder er sicher sein, wegen seiner Taten in der NS- in seiner Darstellung der Roten Kapelle unter- Zeit nicht belangt zu werden. schlagen oder herabgesetzt hat. Tatsächlich aber ist Sälter zuzustimmen: Die Frage des Wissens um Manfred Roe- „Roeder war denkbar ungeeignet als Aus- der in Glashütten wird von Ingrid Berg ge- kunftsperson, weil er dubiose Gerüchte aus stellt und eher verneint. Sie verweist darauf, der rechtsradikalen Szene weitergab. Er för- dass Roeder die Bezeichnung „Generalrich- derte die in der Organisation Gehlen oh- ter z.Wv.“ in Glashütten nicht geführt habe nehin vorhandene Bereitschaft, auch den – weil er ja zu dieser Zeit bereits im Ruhe- unglaubwürdigsten Geschichten nachzuge- stand gewesen sei.60 In den Glashüttener hen [...] Glaubhaft wurden Roeders Bezichti- gungen, weil er als politisch verlässlich galt. Roeder selbst sich als „Generalrichter a. D.“ Mitarbeiter studierten seine 1952 erschiene- bezeichne.61 Allerdings verwendet etwa der ne Broschüre. Reiser hielt die Schrift zwar für Oberstaatsanwalt beim Landgericht Frankfurt unvollständig und bemerkte, sie enthalte kei- am Main die Titulatur „der Beigeordnete der ne neuen Erkenntnisse [...] Diese ambivalente Gemeinde Glashütten i.Ts., Generalrichter Haltung – einerseits von Roeder niemals ver- a. D. Dr. Manfred Röder“.62 Tatsächlich un- wertbares Material zu erhalten, andererseits terzeichnete Roeder noch eine im SPIEGEL aber seine Auskunftsfähigkeit nie ganz infrage 1969 abgedruckte „Gegendarstellung“ mit zu stellen – dominierte die Haltung der Orga- „Generalrichter a. D.“63 Er stand sogar im Te- nisation Gehlen und des BND zu Roeder bis lefonbuch als „Generalrichter a. D.“64 Ende der 1950er Jahre.“59 Ingrid Berg meint: „Allgemein zugängli- Die Angehörigen des Widerstandsnetz- che, kritische Veröffentlichungen zu Roeders werkes der Roten Kapelle waren auch nicht nur „wegen Landesverrats und Sowjetkon- takten“ – also wegen Spionage – zum Tode 60 Berg, Kommunalpolitik, S. 206. verurteilt worden. Dies hat Manfred Roeder 61 Ebd., S. 212. Zeit seines Lebens behauptet oder suggeriert. 62 Gemeindearchiv Glashütten. Auch dies war Teil seiner Strategie, sich ei- 63 DER SPIEGEL, Nr. 27/1969, S. 105. 64 Faksimile des Eintrags etwa bei Alexander S. Blank/Julius Mader, Rote Kapelle gegen Hitler, Berlin (Ost) 1979. S. 428. Auch in seiner Anmeldung in Glashütten vom 23.12.1963 gab Roeder als Beruf „Generalrichter a. D.“ an. Ich danke Ingrid 58 Berg, Kommunalpolitik, S. 206. Berg für den Hinweis und das mit Mail vom 7.5.2019 über- 59 Sälter, Phantome, S. 199 ff. mittelte Dokument aus dem Gemeindearchiv.

182 Vergangenheit gab es zu dem Zeitpunkt Charakterisierung Roeders als „Bluthund“68, nicht.“ Allerdings vermerkt schon die 1946 die Ingrid Berg erst dem SPIEGEL 1968 zu- erschienene Erstausgabe der Tagebücher von schreibt. Ulrich von Hassell unter dem 20. April 1943: „Dank von Devisenunkorrektheiten als Vor- Bethges über Dietrich Bonhoeffer, erstmals wand ist Dohnanyi mit Frau und Schwager - verhaftet worden, aber kriegsgerichtlich ist tel über das Verfahren gegen Hans von Dohn- nur ein schwacher Punkt gefunden worden. anyi, in der es etwa unter der Überschrift Untersuchungsführer ist ein Kriegsgerichtsrat „Kampffronten“ heißt: „Die Untersuchung der Luftwaffe Roeder, der ehrgeizig zu sein führte Dr. Roeder, der als Oberstkriegsge- scheint und auch schon gegen Sch.-B. [Schul- richtsrat zur Luftwaffe gehörte. Er rühmte ze-Boysen] amtiert hat. Diese Sache fehlte sich, bei Göring in Karinhall zu verkehren. wirklich noch gerade.“65 1942 hatte er sich mit den Todesurteilen ge- In der ersten Studie von Allen Welsh gen Arvid und und Schulze- Dulles über den Widerstand gegen den Na- - verdient.“69 sage: „Ein sehr fähiger und verschlagener Und schließlich erschien 1969, nachdem Nazibeamter namens Röder hatte die ‚Rote- auch in Glashütten die Vergangenheit Roe- - ders bekannt geworden war, Gilles Perraults te dafür, daß Röder auch die Untersuchung Studie „Auf den Spuren der Roten Kapelle“ über die Abwehr übertragen bekam.“66 Auch mit einer Schilderung seines Besuchs in Glas- in der damals schon vorhandenen Literatur hütten, einer wenig schmeichelhaften Cha- zur Abwehr erscheint Roeder immer wieder, rakterisierung Roeders und der Behauptung, dieser sei stellvertretender Bürgermeister.70 Karl Heinz Abshagen: „Roeder, der nun Blut Ingrid Berg geht davon aus, dass in Glas- geleckt hatte, führte die Untersuchung wo- hütten im Rahmen der allgemeinen „Schluss- chenlang weiter. Er trat sehr großspurig auf, strichmentalität der Nachkriegszeit“ eher we- bedrohte Zeugen, prahlte mit seinen persön- nig Interesse an der „Problematik der dunklen lichen Beziehungen zu Göring, aber er kam Vergangenheit des Dr. Manfred Roeder“ be- nicht sehr viel weiter.“67 standen habe. „In der Nachkriegsöffentlich- Übersichtswerk „Deutsche Opposition gegen keit betrachtete man die Tätigkeit der ‚Roten Hitler“, das zwischen 1958 und 1964 immer- ein Terrorregime, sondern akzeptierte die Todesurteile wegen Spionage, Landes- und Hochverrats.“ Sie belegt diese These mit einer

65 Ulrich von Hassell, Vom andern Deutschland, Zürich 1946, S. 305. Zur Problematik der Edition von 1946 vgl. die Neuausgabe: Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher 68 Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler. 1938 – 1944: Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. Eine Würdigung, Krefeld 1949, vgl. dazu das Vorwort von Nach den Handschriften rev. u. erw. Ausg., hrsg. von Friedrich Hermann Graml, in: Hans Rothfels, Deutsche Opposition ge- gen Hitler. Eine Würdigung. Neue, erweiterte Ausgabe. Hrsg. die entsprechende Passage auf S. 362 mit der stärkeren Origi- von Hermann Graml, Frankfurt am Main 1977. nalformulierung „der sehr ehrgeizig zu sein scheint“. 69 Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe Christ 66 Allen Welsh Dulles, Verschwörung in Deutschland, Zü- Zeitgenosse. Eine Biographie, München 1967, hier zit. nach rich 1948, S. 104. 67 Karl Heinz Abshagen, Canaris. Patriot und Weltbürger, 70 Gilles Perrault, Auf den Spuren der Roten Kapelle, Rein- Stuttgart 1949, S. 360 f. bek 1969, S. 332.

183 weiteren Behauptung: „Erst 2009 wurden die des Bürgermeisters Franz Johann Gottschalk Urteile gegen die Mitglieder der Roten Ka- an den Landrat vom 12. Juli 1968 enthält pelle aufgehoben, und zwar pauschal, ohne nach Berg wörtliche Formulierungen Roeders Einzelfallprüfung.“71 Dies ist in mehrfacher und einen fatalen Schluss: „Es besteht m.E. Hinsicht falsch: Bereits 1998 wurden durch kein Grund, besorgt zu sein. Mir, wie auch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti- der Öffentlichkeit steht kein Recht zu, die an- gesehene Person durch die bis heute in kei- Urteile, die „unter Verstoß gegen elementare ner Weise belegbaren Anschuldigungen mit Gedanken der Gerechtigkeit“ ergangen wa- irgendwelcher Manipulation abzuwerten.“75 ren, pauschal für nichtig erklärt. Unter diese Roeder beabsichtige zudem „selbstverständ- lich“ gegen den Verfasser des Artikels „Schrit- der Urteile des Reichskriegsgerichts aus den te zu unternehmen“. Er habe fünf Jahre zuvor Jahren 1942/43 gegen die Rote Kapelle. 2009 die ZEIT gezwungen, einen ähnlichen An- entschied der Deutsche Bundestag, dass auch wurf „unter Übernahme der nicht unerheb- die Urteile wegen „Kriegsverrats“ nach § 57 lichen gerichtlichen und außergerichtlichen des Militärstrafgesetzbuches aufgehoben Kosten“ zurückzunehmen. Doch in diesem - Fall konnte sich Roeder nicht durchsetzen. Im le gegen Angehörige der Roten Kapelle, aber das Urteil vom 19. Dezember 1942 gegen keine Korrektur und keine Gegendarstellung. Harro Schulze-Boysen und elf andere war auf Erst 1969, im Zusammenhang über die Wi- Antrag seines Bruders Hartmut Schulze-Boy- derstandsgruppe um Hans Oster, druckte der sen von der Staatsanwaltschaft Berlin bereits SPIEGEL eine Gegendarstellung Roeders, wo- am 24. Februar 2006, also nach einer Einzel- bei der Nachspann des SPIEGELS die Falsch- fallprüfung aufgehoben worden.72 aussagen Roeders in der Gegendarstellung Für die Bewertung Roeders ist noch der deutlich aufzeigte.76 Abschnitt „Das Jahr 1968“ von besonderem Die Einschätzung von Bürgermeister Gott- Interesse. In Glashütten hätten sich nach dem schalk, dass kein Grund zur Besorgnis beste- SPIEGEL-Bericht vom 8. Juli 196873 die Er- he, scheint richtig gewesen zu sein. Ingrid eignisse „überschlagen“. Interessant ist aber, Berg weist darauf hin, die Veröffentlichung dass bereits im SPIEGEL vom 20. Mai 1968 im SPIEGEL sei „in Glashütten entweder gar auf Roeders Rolle hingewiesen und seine nicht wahrgenommen [...] oder [...] schnell Begegnung mit der Mutter Schulze-Boysens wieder ad acta gelegt“77 worden. So konnte nach dem Todesurteil gegen ihren Sohn dar- Roeder bald darauf von den Gemeindevertre- gestellt worden war.74 Dies scheint in Glas- tern – wie sie betont, „nicht von den Bürgern“ hütten noch nicht so wahrgenommen worden – zum Ersten Beigeordneten in Glashütten zu sein, wobei das Tempo verwundert, das gewählt werden.78 Diese Funktion nahm er nach dem Erscheinen des SPIEGELS vom 8. bis Mai 1971 wahr. Ingrid Berg gibt die Ver- Juli 1968 angeschlagen wurde. Der Bericht mutung wieder, dass Roeder aus Krankheits-

71 Berg, Kommunalpolitik, S. 208, Anm. 208. 72 Vgl. Johannes Tuchel „Weihnachten müsst Ihr richtig fei- 75 Berg, Kommunalpolitik, S. 212. Bedauerlich ist, dass der ern“ – Im Dezember 1942, zwei Tage vor Heiligabend, wur- aktuelle Erschließungsstand des Gemeindearchivs Glashütten den die ersten Mitglieder der Roten Kapelle hingerichtet, in: keine präzisen Quellenangaben zulässt. DIE ZEIT, Nr. 51 vom 12. Dezember 2007, S. 96. 76 DER SPIEGEL, Nr. 27/1969, S. 105. 73 DER SPIEGEL, Nr. 28/1968, S. 60 ff. 77 Berg, Kommunalpolitik, S. 213. 74 DER SPIEGEL, Nr. 21/1968, S. 78 ff, hier S. 79. 78 Ebd., S. 215.

184 gründen auf eine Teilnahme an der Wahl am grundsätzlich abgeschafft worden war, besaß 9. Mai 1971 verzichtete, denn er starb am auch er sehr viel Verständnis für Roeder. Wie 18. Oktober 1971. bitter und richtig klingt da der Kommentar Während Roeder in Glashütten wohn- einer Angehörigen der Hingerichteten: „So te, erstattete der Frankfurter Rechtsanwalt kommt man zu der Frage, ob der Wortlaut der R.M.W. Kempner nach dem Erscheinen der Einstellungsverfügung statt 1971 nicht ebenso SPIEGEL-Serie noch einmal Anzeige wegen gut vor 1945 verfasst worden sein könnte.“ Mordes gegen Roeder bei der Staatsanwalt- Hiska Bergander hält über die Frankfurter Ent- schaft beim Landgericht Frankfurt am Main. scheidung fest: „Damit wurden die gegen die Die Akten aus Lüneburg wurden angefordert, - und in der Einstellungsverfügung vom 23. Mai mals für rechtens erklärt. Überspitzt formu- 1971 wurde ihnen gefolgt: „Selbst wenn die liert sind die Widerstandskämpfer damit ein genannten Verurteilten nicht wegen Spiona- drittes Mal zum Tode verurteilt worden – und ge, sondern wegen Hochverrats und Feindbe- das, obwohl mit Cato Bontjes van Beek zu- günstigung verurteilt worden wären, so wäre mindest eine Hingerichtete bereits durch das diese nach dem damals geltenden Recht kein Urteil einer westdeutschen Entschädigungs- Missbrauch der gesetzlichen Bestimmungen kammer als Opfer des Nationalsozialismus gewesen, da diese Vorschriften in erster Linie anerkannt worden war.“80 die Todesstrafe androhten. Bei der Gruppe Was bleibt? Ausgangslage des Aufsatzes Schulze-Boysen handelte es sich zudem um von Ingrid Berg waren die Aussagen in Chris- einen sehr aktiven und zahlenmässig umfang- tian Weisenborns Film „Verräterkinder“: „Die reichen Spionage- und Widerstandsring. In Bürger von Glashütten wählten ihn für die den von ihnen verfassten Propagandaschrif- CDU zum stellvertretenden Bürgermeister.“ ten wurden nicht nur die Reichsangehörigen, Sie hält fest: „Keine dieser Aussagen stimmt sondern auch die Fremdarbeiter zu Sabotage- mit der Aktenlage überein.“ Korrekt ist: Roe- akten und zum gewaltsamen Widerstand auf- der wurde von einer Mehrheit der Gemeinde- gefordert. Unter Berücksichtigung dieser Um- vertreter zum Ersten Beigeordneten gewählt, stände und der damaligen Kriegslage dürfte er stand – so Berg – der CDU nahe, und er das Reichskriegsgericht – aus der damaligen vertrat den Bürgermeister mehrfach bei des- Sicht verständlich – die Herbeiführung eines sen Abwesenheit. So viel Distanz, wie jetzt nur ‚unbedeutenden Nachteils für das Reich zwischen Glashütten und Roeder hergestellt und nur eines unbedeutenden Vorteils für die werden soll, war offensichtlich doch nicht vorhanden. Dazu war Roeder zu gut in die ist auch zu berücksichtigen, daß derartige lokalen Eliten integriert. Doch bleiben Fragen Delikte, insbesondere Spionage im Kriege, offen, die – wenn überhaupt – vielleicht nur von sämtlichen Staaten unseres Kulturkreises an den lokalen Archivakten geklärt werden mit der Todesstrafe bedroht werden.“79 Abge- können. Bei der Darstellung der „Kommunal- sehen davon, dass der hessische Staatsanwalt wahlen 1968 in Glashütten“ ist nicht erkenn- offensichtlich übersah, dass die Todesstrafe bar, ob und welche Rolle Roeder bei der Auf- in der Bundesrepublik Deutschland 1949 stellung der „Einheitsliste (parteilos)“ spielte. Waren hier bei ihm noch Elemente natio- nalsozialistischen politischen Denkens wirk-

79 GDW, Sammlung Rote Kapelle, Einstellungsverfügung vom 23. Mai 1971 im Verfahren 4 Js 1285/68 der Staatsan- waltschaft Frankfurt am Main. 80 Bergander, Ermittlungsverfahren, S. 172.

185 sam, die die „Volksgemeinschaft“ über die hätten. Er wusste es besser, denn schon das demokratische Auseinandersetzung stellten? erste Urteil gegen Harro Schulze-Boysen und Der Leser erfährt eine Seite später, dass die andere vom 19. Dezember 1942 hatte festge- Kommunalwahl angefochten und im Januar halten, dass es aus Berlin nur Funkversuche 1971 für ungültig erklärt wurde – offenbar gegeben hatte: „Kurz bevor der Sendebetrieb eben wegen dieser Einheitsliste.81 Welchen in größerem Umfang aufgenommen wurde, - gelang es der Geheimen Staatspolizei, die gen des Bürgermeisters und der kommunalen sämtlichen Beteiligten festzunehmen.“82 Gremien? Nahm er wirklich hauptsächlich re- Kein einziges der von Roeder überlieferten präsentative Aufgaben wahr? Lässt sich noch Zeugnisse, Vernehmungen oder Denkschrif- erkennen, welche Ziele Roeder mit seinem ten lässt erkennen, dass er den Nationalso- lokalpolitischen Engagement verfolgte? zialismus als Unrechtssystem betrachtete. Er Manfred Roeder war nach vielen überein- hatte „meinem Volke auch unter dem Natio- stimmenden Beurteilungen ein ehemaliger nalsozialismus gedient“. Für ihn war das NS- Freikorpskämpfer, ein Jurist mit sehr mittel- System lediglich eine „schlechte Regierung“, mäßigen Noten, der in der nationalsozialis- tischen Militärjustiz seine Karrierechancen musste. Bis zum Ende seines Lebens stand erkannte und rücksichtslos ausnutzte. Sein er zu dieser Position: „Ich habe gegenteilig Förderer Hermann Göring sorgte Anfang immer den Standpunkt vertreten und vertre- 1945 für seine Beförderung zu einem der te ihn heute auch noch unverändert, daß ein höchsten Militärjuristen Deutschlands. Unterschied zwischen Hoch- und Landesver- Roeder wird von den Angehörigen der rat besteht und daß Landesverrat, insbeson- Berliner Angeklagten der Roten Kapelle dere Landesverrat im Krieg, ein durch nichts oder später des Widerstandskreises im Amt Ausland /Abwehr fast durchwegs als kalt, ar- ist.“83 Dass der Angriffskrieg selbst und vor rogant, gefühllos und dadurch grausam ge- allem der Vernichtungskrieg mit all seinen schildert. Als Ankläger beantragte er allein im Massen- und Völkermorden ab 1941 ein nati- Fall Rote Kapelle mindestens 45 vollstreckte onalsozialistisches Verbrechen war, kommt in Todesurteile, als Richter 1943 war er für min- diesem Denken nicht vor. destens 24 vollstreckte Todesurteile verant- Mit Hilfe alter Kumpane der Gestapo und wortlich. Für diese Beteiligung an justizför- des Reichskriegsgerichts gelang es Roeder, migen Tötungen, für die Zusammenarbeit mit sich der justiziellen Verfolgung nach 1945 zu der Gestapo, die die Beschuldigten folterte, entziehen und durch sein propagandistisches und für seine weiteren Urteile der national- Engagement in rechtsextremen Kreisen die sozialistischen Militärjustiz hätte sich Roeder - nach 1945 verantworten müssen. Doch eben- fe der Organisation Gehlen konnte er seine so, wie er vor 1945 seine Chancen zu nutzen Sicht auf die Rote Kapelle auch noch in der wusste, gelang ihm dies nach 1945. Pauschal diffamierte er die Rote Kapelle als Spionage- organisation, die schweren Landesverrat be- 82 Militärhistorisches Archiv Prag, Urteil des Reichskriegs- gangen habe und deren Funksprüche den Tod gerichts vom 19. Dezember 1942 gegen Harro Schulze-Boy- sen u.a., Abdruck in: Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht vieler deutscher Soldaten zur Folge gehabt und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herr- schaft. Hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Justiz, Berlin 1993, S. 103 ff. 81 Berg, Kommunalpolitik, S. 214. 83 DER SPIEGEL, Nr. 27/1969, S. 105.

186 geschützt werden? Tatsächlich war Roeder in Rehabilitierung als „Generalrichter z.Wv.“, allgemein zugänglichen historischen Studien später „Generalrichter a. D.“ nichts mehr ent- damals schon längst als einer der berüch- gegen, auch nicht seiner sozialen Integration tigtsten nationalsozialistischen Militärjuristen in Neetze, später in Glashütten. Der Artikel von Ingrid Berg zeigt, wie Bürgermeister weiterhin als Beigeordneten, viele der von Roeder überlieferten Vorurteile also als aktiven Kommunalpolitiker, behal- und Diffamierungen wirkmächtig waren, er ten? Was für ein Verständnis von lokalpoliti- zeigt aber auch, dass selbst nach den SPIE- scher Verantwortung wird dahinter deutlich? GEL-Veröffentlichungen von 1968 die Ver- Interessant wäre es zu sehen, ob bei Roeders brechen des Generalrichters a. D. niemanden kommunalpolitischen Aktivitäten noch länger in Glashütten interessierten. Auch die Staats- wirkende autoritäre oder nationalsozialisti- anwaltschaft Frankfurt am Main stellte ein sche Ideologeme wirksam waren. Alles Fra- erneutes Ermittlungsverfahren gegen Roeder gen, die aufgrund der aktuellen Quellenlage wegen des Verdachts des Mordes ein. Dies noch offenbleiben müssen. war der gesellschaftliche und juristische Nor- Ingrid Berg hat ihren Artikel „Kommunal- malfall der Integration nationalsozialistischer politik mit NS-Vergangenheit?“ bewusst mit Juristen in die bundesdeutsche Gesellschaft einem Fragezeichen versehen. Nein, hierher – trotzdem ist es erstaunlich, wie schnell gehört kein Fragezeichen, denn Manfred Roe- Bürgermeister Gottschalk reagierte, Roeder der war einer der höchstrangigen Vertreter der gegenüber dem Landrat in Schutz nahm und nationalsozialistischen Unrechtsjustiz. Doch offensichtlich niemand in Glashütten, weder es stellt sich weiterhin die Frage, ob der Fall der Bürgermeister noch andere Kommunal- Roeder nicht weit über Glashütten hinaus politiker, die Notwendigkeit sahen, die Vor- zeigt, dass die Ignoranz der Verbrechen zur würfe gegen Roeder aufzuklären. Normalität der Integration der ehemaligen Gab es Gründe dafür, die nicht in der nationalsozialistischen Führungselite in der allgemeinen bundesrepublikanischen Ent- postdiktatorischen deutschen Gesellschaft wicklung, sondern in Glashütten lagen? gehörte. Sollte wirklich nur „die angesehene Person“

187