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-Zur Frage der Sammeltätigkeit der Grimmschen Märchen-

Mie I

Man kann die „Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm"1l als Dokument des Verkehrs zwischen zwei Gruppen von Sprechakteuren, d. h. den Schreibern und Herausgebern (den Brüdern GRIMM) und den Beiträgern, ansehen. Das Aufschreiben der Märchen ist demnach unter Handlungsaspekten zu analysieren,2l dabei sind die Handlungsabsichten, die Intentionen der Brüder Grimm herauszuarbeiten. Es ist schon bekannt, dass die KHM von der Handschrift (1810) bis zur siebten Auflage (Ausgabe letzter Hand 1857) wiederholt umgeschrieben wurden.3l Über die Umarbeitung der Texte, wie sie von Wilhelm GRIMM charakterisiert wurde, haben die Märchenforscher, Germanisten und Pädagogen oft gestritten.4l In Japan hat die allgemeine Leserschaft in den letzten Jahren durch die Übersetzung gefunden, dass die noch nicht umgearbeitete erste Ausgabe (1812/ 15) spannender und interessanter sei, weil die lebendige Schilderung der ursprünglichen Menschenbegierde wie Sexualität und Inzest, die in den folgenden Ausgaben gestrichen oder umgeschrieben wurde, hier noch ganz ungefiltert ist. 5l Um zu beurteilen, ob man die Umarbeitung für positiv oder negativ hält, bedarf es einer grundlegenden Diskussion, wie die Brüder Grimm überhaupt im Stande gewesen sind, die Märchentexte zu überarbeiten. In der Vorrede erwähnen sie: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen."6l Diese „Treue und

1) Im Folgenden abgekürzt KHM. 2) Diesen Ansatz verdanke ich der Beschäftigung mit der Sprachtheorie Michail Bachtins. Vgl. etwa Bachtin Gengoron-nyümon. Übersetzt und hrsg. von Takashi Kuwano und Kiyoshi Kobayashi. Tokyo (Serika-shobö) 2002, S. 123ff. Übersetzung im Deutschen nicht verfügbar. 3) Zur Umschreibung der Märchentexte siehe Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung von Heinz Rölleke. München; Zürich (Artemis) 1986, S. 34ff. 4) Vgl. z. B. Kenji Takahashi: Gurimu-kyödai. Tokyo (Shinchö-sha) 2000, S. 143ff. 5) 1997 ist die Übersetzung erschienen: Shohan-gurimu-döwashü. 4 Bde. Übersetzt von Takashi Yoshihara und Motoko Yoshihara. Tokyo (Hakusui-sha). 6) Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Original-

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Wahrheit" wird jedoch nicht bedeuten können, dass die Brüder Grimm, wie sie behaupteten, den Inhalt des Gesammelten wortwörtlich so aufzeichneten und wiedergaben wie er ihnen mitgeteilt wurde, denn schließlich - schon der Bezug auf die „Wahrheit" des Mitgeteilten deutet darauf hin -waren sie nicht in der Lage, das ihnen Mitgeteilte in seinem exakten Wortlaut zu repräsentieren. Was die Herkunft der Märchentexte betrifft, so ist es belegt, dass 147 von den 210 Stücken in der siebten Auflage, also 70 Prozent, aus von Beiträgern mitgeteilten mündlichen Quellen stammen, während 63 Stücke, also 30 Prozent, von schriftlichen Quellen wie Büchern, zeitgenössischen Zeitschriften und Märchensammlungen herkommen.7l Aus dieser Tatsache lässt sich ersehen, dass die Grimmschen Märchen überwiegend aus mündlicher Tradition schöpften und die Sammeltätigkeit ohne die Mitwirkung dieser Beiträger so nicht machbar gewesen wäre. Aber hier stellt sich die Frage, wer überhaupt als „Beiträger" zu verstehen ist. Ist et der eigentliche Erzähler, aus dessen Mund die Brüder Grimm direkt, quasi protokollartig die Erzählungen aufschrieben? Oder widmete er sich nur als Vermittler der mündlichen Texte der Sammeltätigkeit? Kurz: Die gemeinhin für selbstverständlich gehaltenen Termini „Beiträger" oder „Gewährsleute" - wie sie etwa in den vorangegangenen Studien verwendet wurden8l -, verdecken etwas, bei dem zu differenzieren ist. Hier helfen abstrakte Begriffsfestlegungen nicht weiter, vielmehr möchte ich diese Termini klären, indem ich sie genealogisch in den historischen Kontext des Sammlungsprozesses stelle, und so die Stelle beschreibe, an der, was eine reine, der „Treue und Wahrheit" verpflichtete Sammeltätigkeit zu sein beansprucht, sich als intendierte Umarbeitung zu erkennen gibt. Wenn man über den Prozess der Konzipierung der Grimmschen Märchen nachdenkt, so sind zwei aufeinander aufbauende Phasen erkennbar: 1. Man muss die (zumeist ja nur oral vorhandenen) Quellen erfassen und aufzeichnen.

anmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. Stuttgart (Reclam) 1980 [im Folgenden abgekürzt KHML], Bd. 1, S. 21. 7) Zu der Anzahl der mündlichen und schriftlichen Texte siehe Grimms Märchen und ihre Quellen. Die literarischen Vorlagen der Grimmschen Märchen synoptisch vorgestellt und kommentiert von Heinz Rölleke. Trier (WVT Wissenschaftlicher Verlag) 1998, S. 8. In den folgenden Überlegungen möchte ich die Frage einer genaueren Präzisierung des Terminus Mündlichkeit nicht weiter verfolgen, weil sie zur Analyse der Märchentexte selbst gehört, die hier jedoch nicht als Thema behandelt wird. 8) Siehe KHML Bd. 3, S. 559ff., Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 61ff„ sowie Wilhelm Schoof: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Bearb. unter Benutzung des Nachlasses der Brüder Grimm. Hamburg (Dr. Ernst Hauswedell & Co) 1959, S. 10ff.

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2. Die Quellen müssen dann eingeordnet und zu lesbaren Texten verarbeitet werden. Und es sind die Brüder Grimm, die als Planer, Sammler, Schreiber und Herausgeber diese mehrschichtige Tätigkeit verrichten. Insofern steuern und kontrollieren sie den gesamten Prozess, bei dem ihre Funktion durch die Verantwortung für das eigene Produkt bestimmt ist. Was hingegen die Beiträger oder die Gewährsleute angeht, so erscheinen sie prominent in der ersten Phase. Dabei spielen sie als Geber oder Sprecher der originalen Quellen eine notwendige Rolle. Aber dann, obwohl sie von der 9 heutigen Forschung zuweilen als „Mitarbeiter"/„Mitarbeiterin" ) bezeichnet werden, müssen sie in der zweiten Phase, in der die Redaktion nur den Brüdern Grimm zugebilligt wird, von der Bühne abtreten. In ihrer Individualität kommen sie nicht mehr zum Zug, wenn die Brüder Grimm das „Volk" oder die „Nation" als Subjekt der Märchen kennzeichnen.10l Wie oben dargelegt, ist die Sammlung der Märchen ein durchaus komplexer und doppelbödiger Prozess, dessen Spezifik darin besteht, dass für den Leser kein schreibendes Subjekt, d. h. kein Autor (im Sinn moderner literarischer Erzeugnisse) zu identifizieren ist. Aber diese Abwesenheit des Autors bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass die Frage nach der Autorschaft bei den Grimmschen Märchen nicht gestellt werden kann. Es ist beachtenswert, dass die Aufnahme der mündlichen Quellen in den I

9) Schoof: (s. Anm. 8), S. 7ff. 10) „Volk" und „Nation" werden von den Brüdern Grimm gleichbedeutend gebraucht; sie werden, weil damals die politische Einigung Deutschlands noch nicht vollzogen war, nicht als politische Nation, sondern als Sprach- und Kulturgemeinschaft verstanden. Siehe : Kleinere Schriften. Bd. 1. Hildesheim (Georg Olms) 1965, S. 399ff., sowie Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770-1990. München (C. H. Beck) 1993, 3. Aufl. 1996, S. 12ff. 11) Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 86. 12) Nach Ansicht der Brüder Grimm sind „Naturpoesie", „Volkspoesie", „National• geschichte" und „Nationalsagen" begrifflich miteinander austauschbar. Im Prinzip sind es in Verbindung mit der Nationalbewegung am Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffene Termini. Siehe Jacob Grimm: (s. Anm. 10), S. 399ff. - So unterscheidet etwa Jacob Grimm die Kunstpoesie, in der „ein menschliches Gemüt sein Inneres bloß gebe, seine Meinung und Erfahrung von dem Treiben des Lebens in die Welt gieße, welche es nicht überall begreifen wird, oder auch ohne daß es von ihr begriffen sein wollte", -von der Naturpoesie dadurch, dass in letzterer „die Taten und Geschichten gleichsam einen Laut von sich geben, welcher

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sich als zur Naturpoesie gehörig geradezu paradigmatisch gegen eine Indivi­ dualisierung in der Literaturgeschichte, wo zumal im Bereich der Kunstpoesie die Frage nach der Autorschaft in erster Linie gestellt wurde.13l Dieser versteckten und von den Brüdern Grimm mit einer bestimmten Intention verfolgten anonymisierten Autorschaft ein Stück weit nachzugehen, ist Aufgabe dieses Aufsatzes. Darüber nachdenkend, halte ich es für nötig, die Frage im Zusammenhang mit der Nationalbewegung aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts neu zu beleuchten und dabei eine Einschränkung vorzunehmen: gefordert ist nicht die immanente Analyse der als literarische Gattung kategori­ sierten Märchentexte, also eine Analyse der Ergebnisse des Sammlungsprozesses, sondern eine Einsicht in die Möglichkeit, wie die Sammlung der Grimmschen Märchen selbst als eine von den Brüdern Grimm so gewollte Darstellung einer Praxis der Nationalbewegung bestimmt werden kann.

1 Was die Sammeltätigkeit der Brüder Grimm angeht, hat Wilhelm ScHOOF diese erstmals in „Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen"14l (1959) genauer herausgestellt. Schoof hat die Bereitschaft der Beiträger beschrieben, den Brüdern Grimm die Märchen mitzuteilen. Es ist zwar bemerkenswert, wie er anhand des reichen Grimmschen Nachlasses die einzelnen Beiträger identifiziert und ihren Einfluss herausgearbeitet hat. Gleichwohl muss man sagen, dass Schoof ausschließlich die Leistung der Brüder Grimm betont hat und nicht im Stande gewesen ist, die Verhältnisse der Sammeltätigkeit objektiv zu überprüfen. Inzwischen sind 1980 die neu edierten KHM erschienen.15l Im Anmerkungs­ band hat der Herausgeber Heinz RöLLEKE die Herkunft jedes Märchentextes nachgewiesen und dazu die Beiträge für den Text- und Anmerkungsteil einzelnen Gewährsleuten oder Publikationen zugeordnet. Aufgrund dieser Aufstellung lässt sich leicht belegen, welcher Beiträger welche Texte angeboten hat und wann er diese mitgeteilt hat. Die folgende Übersicht zeigt die Namen der am

forthallen muß, und das ganze Volk durchzieht, unwillkürlich und ohne Anstrengung, so treu, so rein, so unschuldig werden sie behalten.", ebd. S. 399. 13) Charakteristisch ist eine Einsicht in der Rezension August Wilhelm von Schlegels zu den „Altdeutschen Wäldern" (1813), hrsg. durch die Brüder Grimm. Hier argumentierte Schlegel gegen die Naturpoesie; seine Denkweise besteht im Wesentlichen darin, literarische Erzeugnisse auf einen individuellen Autor zurückzuführen. Vgl. August Wilhelm von Schlegel: Altdeutsche Wälder, hrsg. durch die Brüder Grimm. Bd. 1, Cassel 1813. Recensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur 1815. Nr. 46-48. Sämmtliche Werke/ August Wilhelm von Schlegel. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. 4. Hildesheim; New York (Georg Olms) 1971, S. 390f. 14) Schoof: (s. Anm. 8) 15) KHML 3 Bde.

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16 häufigsten mitwirkenden sechs Beiträger sowie die Zahl der Texte. )

Familie von HAXTHAUSEN (vor allem Anna von HAXTHAUSEN) 56 37 Dortchen WILD 19 Marie HASSENPFLUG 18 Familie HASSENPFLUG (Marie, Jeanette, Amalie HASSENPFLUG) 17 Ferdinand SIEBERT 14

An dieser Übersicht ist deutlich abzulesen, dass, abgesehen von Ferdinand Siebert, die aktivsten Beiträger Beiträgerinnen, also Frauen waren. Die Studie Röllekes zeigt, dass unter den Gewährsleuten insgesamt 35 Männer 85 Texte 1 lieferten, während 25 Frauen 212 Texte zutrugen. 7) Das ist ganz konsequent, weil das Märchenerzählen in Deutschland sich überhaupt seit dem frühen 18. Jahrhundert zu einer Aktivität der Frauen entwickelte, was auf Auswahl und Art der Überlieferung eine entscheidende Wirkung ausübte.18l Hier muss besonders die Tatsache beachtet werden, dass die Frauen, die numerisch zwar die geringere Anzahl als Beiträger (25) im Vergleich zu den Männern (35) stellten, mehr als doppelt soviele Texte (212/ 85) lieferten. Nach Schoof sollen die Brüder Grimm den Großteil der Textquellen von zwei Gruppen, den „hessischen Gewährsleuten" und dem „Bökendorfer Märchenkreis", denen in beiden Fällen die meisten Frauenbeiträger angehörten, 19 geschöpft haben. ) Die Brüder Grimm verdankten den Gewährsleuten ihre Textquellen. Trotzdem ist offensichtlich, dass die Brüder Grimm immerhin deren Namen und Herkünfte verschwiegen haben, weil diese meistens von einer gut gebildeten bürgerlichen oder adligen Familie abstammten und als ideale Märchenerzähler im Sinne einer Volkspoesie nicht geeignet waren.20l Daher muss man sagen, dass die

16) Bei der Familie von Haxthausen gibt es noch drei unsicher zugewiesene Texte. Was Familie Hassenpflug betrifft, ist zwar nachweisbar, dass es die drei Schwestern Marie, Jeanette und Amalie sind, die Texte den Brüdern Grimm angeboten haben, es ist aber nicht klar, von wem welches Textangebot kam. Siehe ebd. Bd. 3, S. 559ff., sowie Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 70ff. 17) In dieser Aufstellung werden die Beiträge der drei Familien, der Hassenpflugs, der Haxthausens - wie gesagt, allesamt Frauen - und der Wilds (Dorothea Catharina, Dortchen, Gretchen, Lisette, Marie Elisabeth), zu der Gruppe der Frauen gezählt, obwohl jede Familie darüberhinaus noch individuell zuschreibbare Beiträgerinnen hatte. Die unsicher zugewiesenen Texte sind von der Summe ausgeschlossen. 18) Vgl. Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 73. 19) Schoof: (s. Anm. 8), S. 59ff. 20) Die einzige Beiträgerin, die die Brüder Grimm bekannt machten, war Dorothea Viehmann, sie hielten diese „Bäuerin" für eine Repräsentantin des anonymen Volksgeistes.

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Märchensammlung in erster Linie programmatisch stark an den Interessen der Brüder Grimm orientiert ist; sie wollten nämlich durch die Märchensammlung Elemente der Volkspoesie darstellen, um die damals noch nicht vollzogene politische Einheit Deutschlands mit der tradierten Volksgeschichte zu vereinigen. Im nächsten Abschnitt möchte ich dieses Dilemma der Brüder Grimm anhand des „Bökendorfer Märchenkreises" genauer verfolgen. Zu dem Kreis gehörten die adligen Familien von Haxthausen und von DROSTE-HüLSHOFF, die eine im Paderborner Land, die andere im Münsterland seßhaft, beide miteinander verwandt. Um nachzuweisen, dass die Brüder Grimm bei der Konzipierung ihrer Märchensammlung, vor allem in der o. g. ersten Phase, den Frauen, die ihnen die Märchen vermittelten, jegliche Initiative absprachen und ihre Funktion rein auf die Mitteilung des jeweiligen Märcheninhalts reduzierten - geschweige denn, dass sie deren Beiträge als deren Eigentum betrachteten und als solches auswiesen -, bietet die Gruppe ein gutes Beispiel. Man kann sagen, dass es gar kein „gemeines Volk" gab, wie es die Brüder Grimm als Träger der Nationalgeschichte konzipierten; es waren meistens gebildete Frauen, die anonym zum Zusammenstellen der Nationalgeschichte beitrugen.

2 Wilhelm Grimm schrieb in der Vorrede der KHM (1815): „Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstenthum Paderborn und Münster verdanken wir besonderer Güte und Freundschaft; das Zutrauliche der Mundart ist ihnen bei der innern Vollständigkeit besonders günstig. [ ... ] Das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern."21J Wie Wilhelm Grimm beriChtete, ist festzustellen, dass die Begegnung mit den Westfalen Anlass zur Entwicklung und Intensivierung der Sammeltätigkeit war. Deren erstes Ergebnis lässt sich an 25 von 70 Märchenstücken im zweiten Band der ersten Ausgabe ablesen.22J Die Familie von Haxthausen, deren Erbgüter in Abbenburg und Bökendorf lagen, bestand zu damaliger Zeit aus einer großen Verwandtschaft, die etwa 80 Personen umfasste. Das Familienoberhaupt, Werner Adolph Freiherr von HAXTHAUSEN heiratete zweimal: zunächst Luise Freiin von WESTPHALEN zu HEIDELBECK, die früh nach der Geburt eines Kindes starb, und später Maria

In Wirklichkeit aber war sie nicht Bäuerin, sondern Frau eines Schneidermeisters und stammte von den französischen Hugenotten ab. Vgl. KHML Bd. 3, S. 602f., sowie Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 82f. 21) I

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Anna Freiin von WENDT zu PAPENHAUSEN. Therese Freiin von HAXTHAUSEN, die Tochter aus erster Ehe wurde nachher Frau des Freiherrn Clemens-August von DROSTE-HüLSHOFF, und ihnen wurden vier I

23) Wilderich Freiherr Droste zu Hülshoff: Annette v. Droste-Hülshoff im Spannungsfeld ihrer Familie. Limburg a. d. Lahn (C. A. Starke) 1998, S. 21. 24) Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. Teil 1 Text. Stuttgart (S. Hirzel) 2001, S. 233. 25) KHME S. 341.

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Aber das schöne, freundliche Verhältnis, das zwischen uns besteht, möcht ich ja nicht aufgeben, sondern will es immer zu erhalten suchen, so viel von mir abhängt. Mit Ihren Brüdern sind wir zuerst bekannt geworden, die haben aber, nach und nach, an dem, was uns zusammenbrachte, die rechte Lust verloren und sich anderen Neigungen hingegeben; Sie aber halten Farbe und freuen sich noch wie immer an Märchen, Liedern und Sprüchen und theilen uns mit, was Ihnen zukommt, weil Sie wißen, daß wirs noch ebensogern wie sonst haben und ordentlich brauchen können.26l

Wie Jacob Grimm sagte, war die Mitwirkung der Bökendorfer Frauen bei der Sammlung deutlich wirksam; in der Ausgabe letzter Hand trugen sie schließlich 27 44 Märchen bei. ) Was hingegen den Beitragsanteil der Männer betrifft, so findet sich nur einer, es ist ein Text von August von HAXTHAUSEN. Mit Blick auf dieses Ergebnis muss man hier fragen, was „das schöne, freundliche Verhältnis" bedeutete, wenn es sich nicht auf die Brüder Haxthausen, sondern auf die weiblichen Mitglieder der Familie bezieht. Sieht man sich die Interaktion bei der Sammeltätigkeit genauer an, so zeigt sich, dass eine bestimmte Rollenverteilung in Bökendorf vorhanden war. Es waren die Brüder Friedrich und Werner HAXTHAUSEN, die im Jahr 1806 Volkslieder zu sammeln begannen. Und von den älteren Brüdern beeinflusst, übernahm dann August von Haxthausen die Aktivitäten der Sammlung. Hinterher veröffentlichte er eine Volksliedersammlung, „Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen alten 28 Gesangbüchern" (1850). ) Während die Brüder als Schreiber und Herausgeber tätig waren, mussten die 29 Schwestern unerwähnt bleiben. ) Sie hatten nämlich weder Initiative noch Verantwortung bei der Sammeltätigkeit. 30l Diese Rollenverteilung könnte man

26) Freundes briefe von Wilhelm und Jacob Grimm. Mit Anmerkungen hrsg. von Alexander Reifferscheid. Heilbronn (Verlag von Gebr. Henninger) 1878, S. 91. 27) Von den 200 Märchen und 10 Kinderlegenden stammen 44 von Frauen wie Anna von Haxthausen, Ludowine von Haxthausen, Marianne von Haxthausen und J enny von Droste-Hülshoff. Siehe KHML Bd. 3, S. 560ff. 28) Aufgrund von Augusts Nachlass wurden dann von Alexander Reifferscheid „West• fälische Volkslieder in Wort und Weise mit Klavierbegleitung und liedervergleichende Anmerkungen" (Heilbronn: Henninger 1879) herausgegeben. 29) Diese Rollenverteilung ist Wilhelms Brief an Jacob (am 19. Aug. 1811) zu entnehmen. Er berichtet, dass Friedrich von Haxthausen den Plan habe, Volkslieder herauszugeben, und die Mädchen die Lieder sich auf kleine Velinpapiere geschrieben hätten. Siehe Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. (s. Anm. 24), S. 233f. 30) Nachweis dazu ist ein Brief von Wilhelm an Ludowine von Haxthausen (am 21. Jan. 1813). Wilhelm bat sie um die Beiträge und Mitarbeit und erwähnte, dass ihr Bruder Werner

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hier mit Bezug auf die soziale Struktur der bürgerlichen Gesellschaft erklären, weil der sich verbürgerlichende Landadel wie die Haxthausens einerseits weiterhin durch die Erbfolge den Haushalt und den Namen der Familie erhalten musste, sich aber anderseits schon von der Tätigkeit der adligen Gesellschaft löste, in der die Innerlichkeit eines Familienlebens grundsätzlich verpönt war. Die Aktivitäten des Romantikerkreises in Bökendorf funktionierten nicht mehr wie ein geselliger Salon des 17. oder 18. Jahrhunderts, sondern wie ein enger, festgeschlossener Kreis der Freunde des Hauses. Was den Ort der Interaktion als einen sich verbürgerlichenden Salon betrifft, so ist dieser, wie Jürgen HABERMAS erläutert, wie folgt zu beschreiben: alle Familienmitglieder traten als „Privatleute" jeweils aus ihrem privaten Leben hervor, „das im Binnenraum der patriarchalischen Kleinfamilie institutionelle Gestalt gewonnen hat".31l Auf einen solchen sich verbürgerlichenden Kreis muss es als Topos 32 gewirkt haben, Volkslieder zu sammeln und gemeinsam zu singen. ) Das bestätigt die Aussage von Anna von ARNSWALDT (geb. Haxthausen): Mit beredtem Munde schilderte mir [Reifferscheid] Frau v. A. [Arnswaldt], wie Abends, als der große Hof und die herrliche Allee von dem blendenden Glanze des großen Cometen erhellt gewesen, sie mit Brüdern und Schwestern vor der Hausthüre gesessen, und wie sie alle nach der Anweisung Werners ihre schönen Lieder gesungen hätten. Die Mägde und die Burschen, welche alle helle Stimmen gehabt, seien hinzugetreten und hätten sich an dem Gesange betheiligt. Das sei ein liebliches Getöne gewesen, bald seien lustige, bald traurigmelancholische Lieder erklungen. Von da an hätten sie alle eifrig Volkslieder gesammelt, und die Mägde seien ganz stolz gewesen, wenn sie ein „neues altes Lied" hätten vorsingen können.33l Im Gegensatz zu der festlichen Musik der adligen Gesellschaft entsprachen Volkslieder dem Anspruch der Privatleute, die in der Öffentlichkeit an einem gemeinsamen vertraulichen Gefühl teilhaben mochten. Es ist also der sich verbürgerlichende Kreis, der der Ort des Ursprungs der Volkspoesie ist.

schon im Voraus ihre Teilnahme versprochen hätte. Siehe Freundesbriefe von Wilhelm und Jacob Grimm. (s. Anm. 26), S. 1f. 31) Siehe Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1990, S. 109. 32) Übrigens identifiziert auch Goethe die Familie als den Ort, an dem Volkslieder ihre Praxis im Sinne einer Aufnahme und Pflege des Bestandes fanden. Vgl. seine Rezension von Arnim und Brentanos Wunderhorn Sammlung, Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sofie von Sachsen. 40. Bd. Weimar (Hermann Böhlaus Nachfolger) 1901, s. 337. 33) Freundesbriefe von Wilhelm und Jacob Grimm. (s. Anm. 26), S. 195f.

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Bökendorf war der Ort einer psychologischen Emanzipation, wo man den Bereich der reinen Menschlichkeit entwickeln konnte. Aber es ist nicht zu verkennen, dass er nicht von den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft ausgenom­ men war, unter denen man als Mitglied der patriarchalischen Familie deren „genau umschriebene Rolle im Verwertungsprozeß des Kapitals"34l - so formuliert Habermas - spielen musste. Was Jacob Grimm „das schöne, freundliche Verhaltnis" nannte und bei der Sammeltätigkeit besonders schätzte, basiert auf dieser sozialen Struktur.

3 Im März 1813 begannen die Befreiungskriege gegen Napoleon. Auch bei der Familie von Haxthausen war der Widerstand gegen den französischen Eroberer festzustellen. Vor allem war Werner von Haxthausen radikal tätig im geheimen Kampf gegen Napoleon. Er war beteiligt an einem Aufstand, der sich zum Ziel setzte, den König Jerome gefangen zu nehmen, der aber am Ende scheiterte.35l Deswegen musste er nach London fliehen, damals ein Asyl für politische Flüchtlinge. Sobald Napoleon in Russland besiegt war, machte Werner den Befreiungskrieg mit. Beim Einzug in Paris traf er mehrere Brüder Haxthausen, die auch gegen Napoleon gekämpft hatten, wieder. In der Tat zeigt sich, dass Gruppen und Organisationen, die sich angesichts der Verfolgung durch die französische Okkupation und die eigene Regierung meist geheim gebildet hatten, unter der Nationalbewegung nun in den Mittelpunkt rückten.36l Außerdem ist bemerkbar, dass diese Gruppen und Organisationen aus der bürgerlichen Moral eine eigene Antriebskraft entwickelten: man betonte gegenüber den schamlosen, faulen Franzosen Pflichtbewußtsein, Unschuld und Bescheidenheit. Es breitete sich auch damals über ganz Deutschland die Verehrung der Königin Luise von PREUßEN aus. Die Königin des von den Napoleonischen Truppen geschlagenen Preußen wurde zum Symbol der Jung­ fräulichkeit und Reinheit. 37l

34) Habermas: (s. Anm. 31), S. 111 35) Vgl. Neugriechische Volkslieder gesammelt von Werner von Haxthausen. Urtext und Übersetzung. Hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen und Gustav Soyter. Münster i. W. (Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung) 1935, S. 4. 36) Otto Dann nennt als Beispiele: den im Hause des Berliner Verlegers Georg Andreas Reimer sich regelmäßig versammelnden Patriotenkreis, den im Jahr 1810 von Friedrich Friesen und Friedrich Ludwig Jahn organisierten „Deutschen Bund" sowie die 1811 von und Adam Müller gegründete „Deutsche Tischgesellschaft". Siehe Dann: (s. Anm. 10), S. 72. 37) Vgl. George L. Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jörg Trobitius. München; Wien (Hanser) 1985, s. 15.

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Wenn auch die mit dem Nationalismus verbundene bürgerliche Tugend und Moral hochgeschätzt wurden, so herrschte innerhalb der Gruppen und Organisa­ tionen doch eine Regel: nur Männer nahmen sie als Mitglieder an; Frauen wurden nicht zugelassen. Die restriktiven Zulassungsbestimmungen sind z. B. bei „der deutschen Tischgesellschaft" zu betrachten. Einer der Begründer, Achim von ARNIM, vermerkte: „Die Gesellschaft versteht unter dieser Wohlan­ ständigkeit, daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sey, unter dieser Angemessenheit, daß es kein Philiser, als welche auf ewige Zeiten daraus verbannt sind. " 38l Er weist ausdrücklich auf den Ausschluss des „Philisters" hin, d. h. es wurden nicht nur Frauen, sondern auch Juden von den Angehörigen ausgeschlossen. Die Tendenz des Ausschlusses der Frauen, die sich noch unter der Nationalbewegung verstärkt hat, findet man auch im Bökendorfer K:reis. Die Rollenverteilung, nämlich die männlichen Familienmitglieder als Schreiber und Herausgeber und die weiblichen Familienmitglieder als Mitwirkende, wurde, wie oben dargestellt, im Binnenraum der Familie institutionalisiert. So entstand eine Ambivalenz, in der einerseits die Familie ein Agent der patriarchalischen Bürgergesellschaft war und andererseits die Familie doch auch zugleich der Ort der Emanzipation der Gesellschaft sein sollte. Der Widerspruch, der sich in der Position der Familienmitglieder ausdrückte, ist auch in der Öffentlichkeit zu erkennen: Frauen waren faktisch wie juristisch ausgeschlossen, während sie an der literarischen und musikalischen Öffentlichkeit oft stärkeren Anteil als die Männer hatten.39l Im Juli 1813 machte Wilhelm Grimm in Bökendorf den zweiten Besuch. Dabei begegnete er der 16-jährigen Annette von Droste-Hülshoff, die zusammen mit der Mutter, der Schwester J enny und den zwei Brüdern anwesend war. Wilhelm schrieb Jacob Grimm (am 28. Juli 1813), dass Jenny und Annette von Droste-Hülshoff in der Volksdichtung gute Kenntnisse besässen: Märchen, Lieder und Sagen, Sprüche u. s. w. wißen sie die Menge; [ ... ] Die Fräulein aus dem Münsterland wußten am meisten, besonders die jüngste [gemeint ist Annette], es ist Schade, daß sie etwas Vordringliches und unangenehmes in ihrem Wesen hat, es war nicht gut mit ihr fertig werden; sie ist mit 7. Monat auf die Welt kommen und hat so durchaus etwas frühreifes bei vielen Anlagen. Sie wollte beständig brilliren und kam von einem ins andere.40l

38) Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen (Niemeyer) 2003, S. 10. 39) Vgl. Habermas: (s. Anm. 31), S. 120f. 40) Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. (s. Anm. 24), S. 252.

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Es lässt sich ermessen, dass Annette von Droste-Hülshoff von ihrer Persönlichkeit auf Wilhelm Grimm einen wenig guten Eindruck machte, während ihre Schwester Jenny auf ihn „sanft und still" wirkte.41l Annette versprach ihm, „alles auf­ zuschreiben was sie noch wiße und nachzuschicken", dennoch wurde das Versprechen bis acht Jahre später nicht erfüllt.42l Tatsächlich besaß Annette zwar von Jugend an einen empfindlichen und eigensinnigen Charakter, aber man muss vorsichtig sein bei dem Urteil, dass die Ursache des Konfliktes zwischen den beiden auf ihrem Wesen beruht hat. Sehr viel später (am 2. Jan. 1844) berichtet Annette von Droste-Hülshoff ihrer Freundin über Bökendorf: Ich habe Ihnen ja schon früher erzählt, wie wir sämmtlichen COUSINEN Haxthausischer BRANCHE durch die bittere Noth gezwungen wurden, uns um den Beyfall der Löwen zu bemühn, die die ÜNCLES von Zeit zu Zeit mitbrachten, um ihr Urtheil danach zu REGULIREN, wo wir dann nachher einen Himmel oder eine Hölle im Hause hatten, nachdem diese uns hoch oder niedrig gestellt. - Glauben Sie mir, wir waren arme Thiere, die ums liebe Leben kämpften, und namentlich Wilhelm Grimm hat mir durch sein Misfallen jahrelang den bittersten Hohn und jede Art von Zurückset• zung bereitet, so daß ich mir tausendmahl den Tod gewünscht habe. - ich war damals sehr jung, sehr trotzig, und sehr unglücklich, und that, was ich konnte um mich durchzuschlagen.43l In Bökendorf genossen die Brüder Haxthausen und deren Gäste „eine ordentlich seltene Freude", frei zu reden, ohne die französische Bedrohung zu fürchten,44l indessen Annette und die „Cousinen" (die Schwestern Haxthausen)45l „durch die bittere Noth gezwungen" werden mussten, sich um „den Beyfall der Löwen zu bemühn". Diese Meinungsverschiedenheiten weisen darauf hin, dass die hier

41) Siehe ebd. 42) Siehe ebd., sowie Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen (Niemeyer) [im Folgenden abgekürzt ADH], Bd. VIII, 1. Briefe 1805-1838. Text. Bearb. von Walter Gödden. 1987, S. 68ff. 43) ADH Bd. X, 1. Briefe 1843-1848. Text. Bearb. von Winfried Woesler. 1992, S. 128f. 44) Siehe Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearb. von Reinhold Steig. Stuttgart; (Cotta) 1904, S. 284. 45) Zu den „Cousinen" siehe ADH Bd. X, 2. Briefe 1843-1848. Kommentar. Bearb. von Winfried Woesler. 1996, S. 790: „Cousinen im strengeren Sinne, Töchter der Geschwi­ ster Haxthausen, konnten hier außer der Schwester der Droste J enny nur Theresia (geb. 1801) und Johanna (geb. 1805) von Wolff-Metternich aus Wehrden sein, alle anderen Haxthausenschen Cousinen waren 1813 erst fünf Jahre oder jünger. Wahrscheinlich aber meint die Droste an dieser Stelle auch ihre jüngsten Stieftanten Anna (1801-1877) und Ludowine (1795-1872); sie alle haben nachweislich (über Korrespondenz oder Tagebuch) an den Besuchen Grimms teilgehabt."

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herrschende idyllische Freude eigentlich nicht den weiblichen Familienmitgliedern zuteil wurde. Die Frauen nämlich durften zwar aus der privaten Intimsphäre heraustreten und an der literarischen und musikalischen Öffentlichkeit Anteil haben, aber sie wurden nie von den Männern, d. h. den „Löwen", als richtige Angehörige anerkannt. Deutlich sichtbar, wie sich hier ein Bewusstsein artikuliert, das sich- ob in den Diskussionen oder auch anderswo -nicht mit der Rolle eines Beiträgers, eines Marterialzulieferers begnügt; der Beiträger will Autor sein. Annette von Droste-Hülshoff diskutierte gern mit den Männern in Bökendorf. Und bevor sie Wilhelm begegnete, hatte sie schon begonnen, das Trauerspiel „Bertha" zu schreiben. ·Das lässt ein von einem hervorragenden Bildungsmilieu hervorgebrachtes Selbstbewusstsein sichtbar werden. Im Unterschied zu bürger• lichen Frauen, für die eigentlich nur eine Karriere als Familienmutter in Frage kam, genoss Annette dank der aufgeklärten Eltern ein außergewöhnlich hohes Niveau an Wissen: sie sprach Französisch, Englisch, Holländisch, zum Teil Italienisch und konnte ohne Hindernisse im Lateinischen und einigermaßen im Griechischen klassische Dichtungen lesen. Außerdem lernte sie mit Hilfe von Hausunterricht Musik, Malerei und Naturwissenschaften.46l Indessen kamen Annettes Verstandesschärfe und Neigung zur Diskussion Wilhelm Grimm so vor, als ob sie „beständig brilliren" wollte. Im Gegensatz zu Annette von Droste-Hülshoff ist nun zu beobachten, in welchen Verhältnissen die anderen Frauen sich in Bökendorf befanden. Der jüngste Bruder, Emil Ludwig GRIMM, der seit 1818 oft zu Besuch da war, erinnert sich: „[ ... ] die Schwestern von Haxthausen waren angenehm und liebenswürdig, natürlich und gebildet".47l Und Heinrich STRAUBE, der 1817 zum erstenmal dort war, berichtet auch: „[ ... ] so nun auch die Fräuleins jedes seiner eigenen Natur zu dem Besseren gefolgt sind sie alle recht gescheut und natürlich geblieben".48l Es zeigt sich, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die Frauen, die einen überdurchschnittlichen Grad an Bildung erlangten, sich meistens zu Hause ihr Wissen aneigneten, indem sie als stille Zuhörerinnen am Unterricht ihrer Brüder teilnehmen durften. Man muss aber zugestehen, dass ihnen diese Bildungsgrundlage nur gewährt wurde, um ihnen bessere Heiratschancen zu geben. Anja PETERS erläutert: „[ ... ] es lässt sich annehmen, dass diese Position der lediglich geduldeten Zuschauerin, ihre Spuren in der Erfahrung

46) Vgl. Anja Peters: »Die rechte Schau«. Blick, Macht und Geschichte in Annette von Droste-Hülshoffs Verserzählungen. Paderborn (Schöningh) 2004, S. 78ff. 4 7) : Erinnerungen aus meinem Leben. Hrsg. und ergänzt von Adolf Stoll. Leipzig (Hesse & Becker) 1911, S. 387. 48) Eduard Arens: Werner von Haxthausen und sein Verwandtenkreis als Romantiker. Aichach (Lothar Schütte) 1927, S. 33.

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weiblicher Bildungsaneigung hinterlassen hat. Wenn der Unterricht der Brüder im Mittelpunkt stand, mussten die Schwestern sich zu guten Zuhörerinnen und 49 Beobachterinnen entwickeln, um vom Lehrstoff zu profitieren". ) Wenn die Schwestern Haxthausen den Männergästen „gescheut, natürlich und gebildet" vorkamen, spiegelt das diese Position wider.

4 Wie oben erwähnt, wirkte es in Bökendorf als Topos der Bürger, Volkslieder zu sammeln und gemeinsam zu singen. Was Volkslieder angeht, hatte eine Generation zuvor Johann Gottfried HERDER mit der Herausgabe der „Volkslieder" (1778/79) die Gattungsvorstellung des Volksliedes geschaffen. Herder übersetzte aus dem Englischen „folk song" in den deutschen Terminus „Volkslied" und traf für dessen Boden mit der Sammlung von 162 deutschen und aus anderen Sprachen übertragenen Liedern umfangreiche Vorbereitungen. Der Idee des Vorgängers folgend, veröffentlichten Achim von Arnim und den ersten Band von „Des I<:naben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder" (1806) mit 210 Liedern. Sie sammelten anonyme und künstlerische Lieder der alten und neuen Zeit. Es war hauptsächlich von den Prinzipien der Herausgeber abhängig, wie man die Originaltexte behandelte. Arnim und Brentano bearbeiteten die Textquellen nach ihrem romantischen Geschmack und scheuten sogar nicht, ihre eigenen Lieder beizumischen. Es ist bemerkenswert, dass im Untertitel nicht „Volkslieder", sondern „Alte deutsche Lieder" steht, weil die Lieder auf die Leserschaft einen altertümlichen, nationalen Eindruck machen sollten, indem die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen 50 Texte sich durch Bearbeitung und sprachliche Modernisierung lesen ließen. > Die Umarbeitung der Texte ist also nicht nur ziel- und interessegeleitet, sondern, wie ein weiteres Detail belegt, auch auf soziale Interaktion bei der Sammlung und Bearbeitung der vorgefundenen Texte bezogen. Es ist nachzuweisen, wie Brentano sich bei der gemeinsamen Produktion benahm. Nach der Veröffentlichung des Wunderhorns hatte er die Neuherausgabe der „Trutznachtigall", geistlich-barocker Gedichte von Spee (1817), vor. Dabei beteiligte er Luise HENSEL, die damals bereits als eine „versierte Lyrikerin" galt, am Plan. Aber im Gegensatz zu der gemeinsamen Arbeit mit Arnim verschwieg er nicht nur den Namen der Mitarbeiterin, sondern übernahm und variierte ihr 51 Gedicht, um es in den Gedichtkontext einzupassen. ) Selbstverständlich war

49) Peters: (s. Anm. 46), S. 71f. 50) Vgl. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Hrsg. von Willi A. Koch. Mit einem Nachwort von Heinz Rölleke. Düsseldorf; Zürich (Artemis & Winkler) 2001, S. 896f. 51) Brentano bearbeitete ihr Gedicht „Stilles Gotteslob" in der „Zueignung" zur

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daraus zu folgern, dass die Brentano zugeschriebene Arbeit eigentlich nicht aus seiner Feder stammt. Es muss festgestellt werden, dass es in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für schreibende Frauen allzu schwer war, ohne männliche Ver­ mittlung zu publizieren. Und zwar stießen sie bei der literarischen Anerkennung immer noch auf ein konventionelles Hindernis: ihre Dichtungen wurden zwar als Liebhaberei in einem Salon zugelassen, nicht jedoch als ernsthafte literarische Produkte ernst genommen, geschweige denn ihre Arbeit als Ergebnis einer Berufstätigkeit betrachtet. Deswegen dauerte es so lange, bis Luise Hensel wie Annette von Droste-Hülshoff an die literarische Öffentlichkeit treten konnten: diese mit 41, jene mit 71. Es erklärt sich von selbst, dass die Brüder Grimm bei der Sammeltätigkeit der Volksdichtung solchermaßen unterschätzte Frauen als Mitarbeiterinnen hatten. Dem Wunsch Wilhelm Grimms gemäß begann J enny von Droste­ Hülshoff, Märchen zu sammeln und schickte einige an ihn. Darauf antwortete er (am 5. Febr. 1815): „Aber nun will ich Sie auch wieder recht schön und ernstlich um weitere Unterstützung bitten, sowohl in Märchen als Sagen von besondern Orten, von Bergen, Wäldern, alten Schlössern und dergl. Auf diese sammle ich auch, und bessere Beiträge, als Ihre waren, wünsche ich mir kaum."52) Es lässt sich ermessen, welchen Wert J enny von Droste-Hülshoff für Wilhelm Grimm als Beiträgerin hatte. Trotzdem: wer die Volksdichtung überliefert hat, das war nicht J enny, sondern ein abstraktes, anonymes „Volk". Das „Volk", d. h. der Repräsentant der Nationalgeschichte, soll auf der von Wilhelm orientierten Ebene existiert haben und nicht am „Bökendorfer Märchenkreis", wo die Frauen lediglich zu natürlichen und gebildeten Zuhörerinnen gemacht wurden. Somit kann man festhalten, dass die Problematik der Sammeltätigkeit nicht nur in der nach sozialen Rollen bestimmten Geschlechterdifferenz liegt: hier die Frauen als Quellen, dort die Männer als Schreiber und Herausgeber, sondern auch den Prozess der Konstruktion der Texte selbst betrifft, indem man den gesammelten Quellen ein abstraktes, scheinbar neutrales Subjekt der V olksdich­ tung unterstellt.

Neuausgabe der Trutznachtigall. Siehe Barbara Stambolis: Luise Hensel (1798-1876). Frauenleben in historischen Umbruchszeiten. Köln (SH-Verlag) 1999, S. 38f., sowie Kristina Hasenpflug: Clemens Brentanos Lyrik an Luise Hensel. Mit der historisch-kritischen Edition einiger Gedichte und Erläuterungen. Frankfurt am Main; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien (Peter Lang) 1999, S. 313ff. 52) Briefwechsel zwischen Jenny von Droste-Hülshoff und Wilhelm Grimm. Hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen. Münster in Westfalen (Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung) 1929, s. 26.

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Nach dem Zusammentreffen mit Wilhelm Grimm übersandte Annette von Droste-Hülshoff Ludowine von Haxthausen einige Rätsel und Sprichwörter und Märchen (vermutlich im Herbst 1821). Sie wollte damit das schon erwähnte Wilhelm gegebene Versprechen einhalten; es ist jedoch nicht zu übersehen, dass sie von Anfang an wenig Interesse hatte, seine Mitarbeiterin zu werden. Walter GöDDEN nimmt an: „Hierfür mag zum einen ihre Antipathie zu Wilhelm Grimm beigetragen haben, zum anderen aber auch, daß ihr die wissenschaftlich­ philologischen Ambitionen der Grimms und auch der Haxthausens fernlagen, so daß sie die münsterländischen Volkslieder nicht für mitteilenswert hielt und in ihren Niederschriften auch relativ frei behandelte."53l In Bökendorf erfuhr Annette von Droste-Hülshoff von ihrem Großvater Werner Adolph von den Ereignissen (am 13. Juli 1813), die sie in ihrer späteren Erzählung „Die Judenbuche" verarbeitete.54l Später entwarf sie den ambitionierten Plan eines Westfalenwerks, zu dem die Judenbuche als Teil gehören sollte. Wie dem Untertitel der Judenbuche „Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten [sie!] Westfalen", der ursprünglich der von Annette geplante Haupttitel war, zu entnehmen ist, empfand sie starke Zuneigung zu ihrer Heimat und verdankte größtenteils einheimischem Material ihr Werk.55l Was Annette von Droste­ Hülshoff in der eigenen Erzählung konzipierte, zeigt ein anderes Verfahren: wie man mit Hilfe von Quellen Geschichte [= history] darstellen kann oder wie man eine Geschichte [= story] schreiben kann.

53) ADH Bd. VIII, 2. Briefe 1805-1838. Kommentar. Bearb. von Walter Gödden. 1999, S. 561. 54) Siehe Walter Gödden: Tag für Tag im Leben der Annette von Droste-Hülshoff. Daten-Texte-Dokumente. 2. durchgesehene Aufl. Paderborn; München; Wien; Zürich (Schöningh) 1996, S. 35. 55) Vgl. ADH Bd. V, 2. Prosa. Dokumentation. Bearb. von Walter Huge. 1984, S. 207ff.

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