
Japanische Gesellschaft fur Germanistik Versteckte Autorschaft -Zur Frage der Sammeltätigkeit der Grimmschen Märchen- Mie I<AwAHARA Man kann die „Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm"1l als Dokument des Verkehrs zwischen zwei Gruppen von Sprechakteuren, d. h. den Schreibern und Herausgebern (den Brüdern GRIMM) und den Beiträgern, ansehen. Das Aufschreiben der Märchen ist demnach unter Handlungsaspekten zu analysieren,2l dabei sind die Handlungsabsichten, die Intentionen der Brüder Grimm herauszuarbeiten. Es ist schon bekannt, dass die KHM von der Handschrift (1810) bis zur siebten Auflage (Ausgabe letzter Hand 1857) wiederholt umgeschrieben wurden.3l Über die Umarbeitung der Texte, wie sie von Wilhelm GRIMM charakterisiert wurde, haben die Märchenforscher, Germanisten und Pädagogen oft gestritten.4l In Japan hat die allgemeine Leserschaft in den letzten Jahren durch die Übersetzung gefunden, dass die noch nicht umgearbeitete erste Ausgabe (1812/ 15) spannender und interessanter sei, weil die lebendige Schilderung der ursprünglichen Menschenbegierde wie Sexualität und Inzest, die in den folgenden Ausgaben gestrichen oder umgeschrieben wurde, hier noch ganz ungefiltert ist. 5l Um zu beurteilen, ob man die Umarbeitung für positiv oder negativ hält, bedarf es einer grundlegenden Diskussion, wie die Brüder Grimm überhaupt im Stande gewesen sind, die Märchentexte zu überarbeiten. In der Vorrede erwähnen sie: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen."6l Diese „Treue und 1) Im Folgenden abgekürzt KHM. 2) Diesen Ansatz verdanke ich der Beschäftigung mit der Sprachtheorie Michail Bachtins. Vgl. etwa Bachtin Gengoron-nyümon. Übersetzt und hrsg. von Takashi Kuwano und Kiyoshi Kobayashi. Tokyo (Serika-shobö) 2002, S. 123ff. Übersetzung im Deutschen nicht verfügbar. 3) Zur Umschreibung der Märchentexte siehe Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung von Heinz Rölleke. München; Zürich (Artemis) 1986, S. 34ff. 4) Vgl. z. B. Kenji Takahashi: Gurimu-kyödai. Tokyo (Shinchö-sha) 2000, S. 143ff. 5) 1997 ist die Übersetzung erschienen: Shohan-gurimu-döwashü. 4 Bde. Übersetzt von Takashi Yoshihara und Motoko Yoshihara. Tokyo (Hakusui-sha). 6) Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Original- NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik Versteckte Autorschaft 43 Wahrheit" wird jedoch nicht bedeuten können, dass die Brüder Grimm, wie sie behaupteten, den Inhalt des Gesammelten wortwörtlich so aufzeichneten und wiedergaben wie er ihnen mitgeteilt wurde, denn schließlich - schon der Bezug auf die „Wahrheit" des Mitgeteilten deutet darauf hin -waren sie nicht in der Lage, das ihnen Mitgeteilte in seinem exakten Wortlaut zu repräsentieren. Was die Herkunft der Märchentexte betrifft, so ist es belegt, dass 147 von den 210 Stücken in der siebten Auflage, also 70 Prozent, aus von Beiträgern mitgeteilten mündlichen Quellen stammen, während 63 Stücke, also 30 Prozent, von schriftlichen Quellen wie Büchern, zeitgenössischen Zeitschriften und Märchensammlungen herkommen.7l Aus dieser Tatsache lässt sich ersehen, dass die Grimmschen Märchen überwiegend aus mündlicher Tradition schöpften und die Sammeltätigkeit ohne die Mitwirkung dieser Beiträger so nicht machbar gewesen wäre. Aber hier stellt sich die Frage, wer überhaupt als „Beiträger" zu verstehen ist. Ist et der eigentliche Erzähler, aus dessen Mund die Brüder Grimm direkt, quasi protokollartig die Erzählungen aufschrieben? Oder widmete er sich nur als Vermittler der mündlichen Texte der Sammeltätigkeit? Kurz: Die gemeinhin für selbstverständlich gehaltenen Termini „Beiträger" oder „Gewährsleute" - wie sie etwa in den vorangegangenen Studien verwendet wurden8l -, verdecken etwas, bei dem zu differenzieren ist. Hier helfen abstrakte Begriffsfestlegungen nicht weiter, vielmehr möchte ich diese Termini klären, indem ich sie genealogisch in den historischen Kontext des Sammlungsprozesses stelle, und so die Stelle beschreibe, an der, was eine reine, der „Treue und Wahrheit" verpflichtete Sammeltätigkeit zu sein beansprucht, sich als intendierte Umarbeitung zu erkennen gibt. Wenn man über den Prozess der Konzipierung der Grimmschen Märchen nachdenkt, so sind zwei aufeinander aufbauende Phasen erkennbar: 1. Man muss die (zumeist ja nur oral vorhandenen) Quellen erfassen und aufzeichnen. anmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. Stuttgart (Reclam) 1980 [im Folgenden abgekürzt KHML], Bd. 1, S. 21. 7) Zu der Anzahl der mündlichen und schriftlichen Texte siehe Grimms Märchen und ihre Quellen. Die literarischen Vorlagen der Grimmschen Märchen synoptisch vorgestellt und kommentiert von Heinz Rölleke. Trier (WVT Wissenschaftlicher Verlag) 1998, S. 8. In den folgenden Überlegungen möchte ich die Frage einer genaueren Präzisierung des Terminus Mündlichkeit nicht weiter verfolgen, weil sie zur Analyse der Märchentexte selbst gehört, die hier jedoch nicht als Thema behandelt wird. 8) Siehe KHML Bd. 3, S. 559ff., Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 61ff„ sowie Wilhelm Schoof: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Bearb. unter Benutzung des Nachlasses der Brüder Grimm. Hamburg (Dr. Ernst Hauswedell & Co) 1959, S. 10ff. NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik 44 Mie KAwAHARA 2. Die Quellen müssen dann eingeordnet und zu lesbaren Texten verarbeitet werden. Und es sind die Brüder Grimm, die als Planer, Sammler, Schreiber und Herausgeber diese mehrschichtige Tätigkeit verrichten. Insofern steuern und kontrollieren sie den gesamten Prozess, bei dem ihre Funktion durch die Verantwortung für das eigene Produkt bestimmt ist. Was hingegen die Beiträger oder die Gewährsleute angeht, so erscheinen sie prominent in der ersten Phase. Dabei spielen sie als Geber oder Sprecher der originalen Quellen eine notwendige Rolle. Aber dann, obwohl sie von der 9 heutigen Forschung zuweilen als „Mitarbeiter"/„Mitarbeiterin" ) bezeichnet werden, müssen sie in der zweiten Phase, in der die Redaktion nur den Brüdern Grimm zugebilligt wird, von der Bühne abtreten. In ihrer Individualität kommen sie nicht mehr zum Zug, wenn die Brüder Grimm das „Volk" oder die „Nation" als Subjekt der Märchen kennzeichnen.10l Wie oben dargelegt, ist die Sammlung der Märchen ein durchaus komplexer und doppelbödiger Prozess, dessen Spezifik darin besteht, dass für den Leser kein schreibendes Subjekt, d. h. kein Autor (im Sinn moderner literarischer Erzeugnisse) zu identifizieren ist. Aber diese Abwesenheit des Autors bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass die Frage nach der Autorschaft bei den Grimmschen Märchen nicht gestellt werden kann. Es ist beachtenswert, dass die Aufnahme der mündlichen Quellen in den I<HM einen hohen Anteil an der ersten Ausgabe (1812/ 15) hatte; die seit der zweiten Ausgabe (1819) neu hinzugekommenen Stücke stammten großenteils 11 aus schriftlichen Quellen. ) Parallel zur Gewinnung der mündlichen Quellen beschäftigten sich die Brüder Grimm mit dem Entwurf der Grundidee einer Naturpoesie gegenüber einer Kunstpoesie.12l Die Grimmschen Märchen wenden 9) Schoof: (s. Anm. 8), S. 7ff. 10) „Volk" und „Nation" werden von den Brüdern Grimm gleichbedeutend gebraucht; sie werden, weil damals die politische Einigung Deutschlands noch nicht vollzogen war, nicht als politische Nation, sondern als Sprach- und Kulturgemeinschaft verstanden. Siehe Jacob Grimm: Kleinere Schriften. Bd. 1. Hildesheim (Georg Olms) 1965, S. 399ff., sowie Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770-1990. München (C. H. Beck) 1993, 3. Aufl. 1996, S. 12ff. 11) Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. (s. Anm. 3), S. 86. 12) Nach Ansicht der Brüder Grimm sind „Naturpoesie", „Volkspoesie", „National• geschichte" und „Nationalsagen" begrifflich miteinander austauschbar. Im Prinzip sind es in Verbindung mit der Nationalbewegung am Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffene Termini. Siehe Jacob Grimm: (s. Anm. 10), S. 399ff. - So unterscheidet etwa Jacob Grimm die Kunstpoesie, in der „ein menschliches Gemüt sein Inneres bloß gebe, seine Meinung und Erfahrung von dem Treiben des Lebens in die Welt gieße, welche es nicht überall begreifen wird, oder auch ohne daß es von ihr begriffen sein wollte", -von der Naturpoesie dadurch, dass in letzterer „die Taten und Geschichten gleichsam einen Laut von sich geben, welcher NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik Versteckte Autorschaft 45 sich als zur Naturpoesie gehörig geradezu paradigmatisch gegen eine Indivi­ dualisierung in der Literaturgeschichte, wo zumal im Bereich der Kunstpoesie die Frage nach der Autorschaft in erster Linie gestellt wurde.13l Dieser versteckten und von den Brüdern Grimm mit einer bestimmten Intention verfolgten anonymisierten Autorschaft ein Stück weit nachzugehen, ist Aufgabe dieses Aufsatzes. Darüber nachdenkend, halte ich es für nötig, die Frage im Zusammenhang mit der Nationalbewegung aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts neu zu beleuchten und dabei eine Einschränkung vorzunehmen: gefordert ist nicht die immanente Analyse der als literarische Gattung kategori­ sierten Märchentexte, also eine Analyse der Ergebnisse des Sammlungsprozesses, sondern eine Einsicht in die Möglichkeit, wie die Sammlung der Grimmschen Märchen selbst als eine von den Brüdern Grimm so gewollte Darstellung einer Praxis der Nationalbewegung bestimmt werden kann.
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