Brather Zwischen „Fluchtburg“ Und „Herrensitz“. Sozialgeschichtliche
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- ZWisCHEN „FLUCHTBURG“ UND „HERRENsiTZ“ SoziALGESChiCHTLICHE INTERPRETATioNEN FRÜH- UND hoCHMITTELALTERLICHER BURGWÄLLE IN OSTMITTELEUROPA Zwischen „Fluchtburg“„Herrensitz“tliche und Sozialgeschich Interpretationenund hochmittelalterlicherBurgwälle früh- in Ostmitteleuropa SEBASTIAN BRATHER TIAN S Abstract RATHER SEBA B Die Diskussionen um die Ursachen des frühmittelalaterlichen Burgenbaus im östlichen Mitteleuropa und um die Funktionen der Befestigungen dauern an. Die steigende Zahl der Jahrringdaten gestattet neue und immer detailliertere Einblicke. Key words: Burgwälle, Ostmitteleuropa, Mittelalter, Dendrodaten, Sozialstrukturen. 1. Von der „Fluchtburg“ zum frühägyptischen bis zur römischen Zeit, geht der Fes- „Herrensitz“? tungsbau von den Gebietern aus, die ein Schloß für ihre Herrschaftszwecke errichten. Im Norden ist das Burgwälle gelten als Charakteristikum des früh- und erste die Volksburg, die einer sich bergenden Menge hochmittelalterlichen Osteuropa. Ihre große Zahl ließ zur Verfügung steht“ (Schuchhardt 1931:1) Zu diesen diese Gebiete den Normannen als gardarike („Bur- „Volksburgen“ schienen bereits die großen umwallten genland“) erscheinen. Im heutigen Ostmitteleuropa Siedlungen der jüngeren Bronze- und älteren Eisenzeit wird ihre Zahl auf etwa 3000 geschätzt (Abb. 1): zu gehören, die nicht selten im frühen Mittelalter erneut 700 in Deutschland, 2000 im heutigen Polen, 200 in genutzt wurden. Kaiser Wilhelm II., der Schuchhardts Mähren und der Slowakei, 120 in Böhmen (Herrmann archäologische Vorträge und Belehrungen schätzte, in- 1976:111). Aufgrund der großen Zahl, der mitunter teressierte sich bei einem Grabungsbesuch am 2. No- „monumentalen“ Reste und der eindrucksvollen Lage vember 1908 auf der „Römerschanze“ bei Potsdam- zogen die Burgwälle seit dem 19. Jahrhundert breites Sacrow besonders dafür, „ob schon Fürstensitz oder Interesse auf sich. Daß es sich um militärische Befes- nur Fluchtburg“.2 Allgemein habe, so Schuchhardt, tigungen („Schanzen“) handelt, schien den meisten die „genetische“ Entwicklung des Burgenbaus von Beobachtern offensichtlich; andere Interpretationen der „altgermanischen Volksburg“ über den befestigten wie die als kultische Versammlungsplätze und (Son- „fränkisch-römischen Herrenhof“ zur mittelalterli- nen-)Heiligtümer blieben eher marginal.1 Die frühmit- chen „Herrenburg“ geführt (Schuchhardt 1913:207). telalterlichen Burgwälle unterscheidet von den spät- Noch die zusammenfassende Darstellung Hansjürgen mittelalterlichen Burgen formal, daß sie nicht in Stein Brachmanns zum frühmittelalterlichen Befestigungs- errichtet wurden und deshalb allein wallartige Ruinen bau von 1993 verfährt im Grunde ebenso (Brachmann hinterlassen haben. Kennzeichen sind daher Wall (in 1993:210). Für die slawischen Siedlungsgebiete östlich Holz-Erde-Konstruktion) und Graben; diese pragma- von Elbe und Saale erschloß man eine entsprechende tische Charakterisierung beschränkt sich auf die Bau- Entwicklung – von den frühen „Volksburgen“ zu den form (Gebuhr/Gebuhr 2001). jüngeren „Herrensitzen“. Die archäologische Burgenforschung meinte, zwei zentrale Ursachen für den Burgenbau zu erkennen. 2. Burgentypen und Funktion Resümierend schrieb Carl Schuchhardt: „Der große Dualismus, der durch Alteuropa geht mit Indoger- Grundlage dieser Funktionsbestimmungen waren und manen im Norden und Vorindogermanen im Westen sind primär Grundriß-Typologien (Tab. 1). Umfang und Süden, macht sich auch im Burgenwesen gel- 2 So das Gedächtnisprotokoll Schuchhardts (Staatliche Museen zu tend. Bei den Völkern um das Mittelmeer, von der Berlin [Preußischer Kulturbesitz], Museum für Vor- und Frühge- schichte, I A 20, 2301/08); vgl. Meyer im Druck, Abb. 5. – Eggers 1 Behla 1888: 51–76, bes. 75: „Versammlungsstätten für religiöse 1986:224, schreibt diese mündliche Äußerung einem Telegramm Angelegenheiten“. – Im frühen 19. Jahrhundert dominierte die des Kaisers an Schuchhardt zu. Ein solches Telegramm läßt sich Vorstellung, es mit Heiligtümer zu tun zu haben; vgl. Wagner aber nach Auskunft der zuständigen Archivare weder im Museum 1828. Wohl erst mit Klemm 1836 setzte sich die Interpretation als für Vor- und Frühgeschichte Berlin noch im Geheimen Staatsar- Befestigungen allgemein durch. chiv Berlin-Dahlem nachweisen. 40 6 CA I ALT B A I G O AEL H ARC Abb. 1 Verbreitung früh- und hochmittelalterlicher Burgwälle im östlichen Deutschland (nach Stari- gard/Oldenburg 1991:55 Abb. 2). Tab. 1 Verschiedene funktionale Burgentypen und die jeweils vermuteten baulichen Charakteristika. Eindeutige Zuordnungen erscheinen demzufolge unmöglich (vgl. Text) Lage zur Form: groß, Form: klein, Vorburg, Innen- mehrteilige Besiedlung unregelmäßig rund Suburbium besiedlung Anlage Fluchtburg peripher kaum Volksburg zentral? dicht () Fürstenburg, Burgstadt zentral dicht Herrensitz, Adelsburg zentral dicht Tempelburg zentral ? ? ? ? militärische Anlage strategisch ? ? dicht 41 und Bauaufwand der jeweiligen An- lage stellen dabei den zentralen An- haltspunkt dar (1). Außerdem werden Innenbesiedlung (2) sowie Lage zu Zwischen „Fluchtburg“„Herrensitz“tliche und Sozialgeschich- Interpretationenund hochmittelalterlicherBurgwälle früh- in Ostmitteleuropa Besiedlung und Verkehr (3) berück- sichtigt. Diese bei- TIAN S den Aspekte lassen RATHER sich allerdings nur SEBA B beurteilen, wenn ausreichende Beo- bachtungen durch Prospektion und Grabung vorliegen; dies ist aber oft nicht der Fall (Herrmann 1968:146 Anm. 5). Andere, häu- fig unterschiedene Burgentypen wie Höhen- und Nieder- ungsburgen oder Burgen in Sporn- lage, ein- und me- hrteilige Anlagen, Abschnitts- und Ringwälle (Olczak/ Siuchniński 1975) sowie der diver- gierende Aufbau der Wallkonstruk- tionen (Herrmann 1967)3 spielen für die Ermittlung der jeweiligen Nutzung Abb. 2 Grundrisse „altslawischer Volks- und Fluchtburgen“. a) Feldberg; b) Groß Görnow; c) praktisch keine Rolle Sternberger Burg; d) Menkendorf; e) Schlieben; f) Tornow, Burg A; g) Cösitz; h) Zehren (nach (Jankuhn 1981:217; Herrmann/Coblenz 1985:191 Abb. 86). Ebner 1976:15 f.). umgebenden Besiedlung – hängen jedoch in starkem a) Ausgedehnte Burgwälle mit großer Innenfläche Maße von der Intensität der Forschung ab und sind werden als „Volksburgen“ (Schuchhardt 1931:232) deshalb keine verläßlichen Indikatoren. Große Wälle bzw. „Fluchtburgen“ (Herrmann 1960:53 f.) interpre- mit nachweislich „dicht besiedelter Innenfläche“ (Mar- tiert; hier suchte die Bevölkerung angeblich vorüber- schalleck 1954:39), die also dauerhaft bewohnt waren, gehenden Schutz bei kriegerischen Übergriffen. Für sollen „befestigte Siedlungszentren großer vorklas- Refugien sollten spärliche Funde und eine abseitige sengesellschaftlicher Gruppen von Produzenten, von Lage sprechen. „Die Lage der Burgen in den Gauen denen sich die Oberschicht noch nicht abgesondert erklärt sie oft von selbst als Volksburgen“, formulierte hatte“ (Herrmann/Coblenz 1985:187),4 gewesen sein Werner Radig (1940:123) apodiktisch. Beide Merkma- (Abb. 2). Hier scheinen romantische Vorstellungen le – Fundhäufigkeit innerhalb des Walls und Lage zur 4 Herrmann/Coblenz 1985:197, zufolge war es so, „dass kleinere 3 Hierfür spielen vor allem lokale topographische Gegebenheiten, Menschengruppen ständig in der Befestigung wohnten, diese ge- vorhandene Baumaterialien sowie militärische Erfordernisse eine wissermaßen zur Verfügung hielten, und die Masse der Bevölke- wichtige Rolle. rung nur in Kriegszeiten Zuflucht fand.“ 42 Abb. 3 Tornow, 6 Burg B – eine „kleine CA Feudalburg“ I (nach Her- rmann/Coblenz 1985:208 Abb. ALT 100). B A I G O AEL H ARC einer egalitären „Frühzeit“ auf, denen entsprechend „Dienstsiedlungen“, wie sie im přemyslidischen Böh- Schuchhardt formulieren konnte: „Daß in den [säch- men, im piastischen Polen und im arpadischen Ungarn sischen, S. B.] Volksburgen ein Fürst jemals dauernd im Umkreis zentraler „Fürstenburgen“ existierten wohnte, dürfen wir nicht annehmen, weder nach den (Lübke 1991), waren eine Folge politischer Machtkon- literarischen noch nach den archäologischen Zeugnis- zentration und verweisen auf eine sozial differenzierte sen“ (Schuchhardt 1924:46). Gesellschaft. „Fürstensitze“ nimmt man aber für andere große b) „Herrensitze“ (Hülle 1940:61 f.; Marschalleck Burgen in Anspruch. Große „stadtähnliche“ Anla- 1954:36–38) sind dagegen definitionsgemäß klein. Es gen (Herrmann 1960:54–58), „Fürstenburgen“5 bzw. handelt sich mit Schuchhardt um „kleine runde Herren- „Stammesvororte“ (Herrmann 1968:155) werden durch burgen“ (Schuchhardt 1931:232) bzw. mit Herrmann mächtige Befestigungen und dichte Besiedlungsspuren um „kleine Feudalburgen“ (Herrmann 1960:65 f.). Das gekennzeichnet. Vorburgen bzw. Suburbien sowie Hin- weithin rezipierte Beispiel Tornow in der Niederlausitz weise auf Handwerk und Austausch gelten als Indizien böte „das Bild einer kleinen, offenbar einfach organi- „frühstädtischer“ Strukturen. Meistens ergibt sich die- sierten Grundherrschaft [...,] von einem burggesesse- se Interpretation außerdem aus der späteren Bedeutung nen Grundherren und seiner kleinen Gefolgschaft [...] der Anlagen als regionale Mittelpunkte. Abhängige aufrechterhalten und beherrscht“ (Abb. 3) (Herrmann 1966:139). Neben diesen kleinen Herrensitzen habe es 5 Vor allem in Polen und Böhmen; vgl. insgesamt Šolle 1984; Herr- mittelgroße Anlagen – Herrmanns Typologie zufolge mann/Coblenz 1985:210–226. 43 mit einem Durchmesser zwischen 40 und 80 m (Herr- mann 1960:58–65) – gegeben, die als Mittelpunkte von Burgbezirken fungierten. Parallelen in Nieders- achsen hatte Schuchhardt (1931:188) als „Gauverwal-