SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

„Herr Ober, ein Kunstwerk bitte!“ Das Kaffeehaus als kreativer Raum (1-5) Folge 2: Paris und Madrid Mit Sylvia Roth

Sendung: 27. April 2021 (Erstsendung: 13. März 2018) Redaktion: Dr. Ulla Zierau

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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Guten Morgen und Willkommen zur zweiten Folge über das Kaffeehaus als Ort der Inspiration. Am Mikrofon begrüßt Sie Sylvia Roth – schön, dass Sie wieder dabei sind!

Eine weiße Serviette überm Arm, den Notizblock in der einen, den Stift in der andern Hand – erstaunlicherweise besitzen die Kellner in Paris genau den selben erwartungsvoll-fragenden Gesichtsausdruck wie die in Madrid: Wir bestellen Café au lait und Caffè con leche, vielleicht ein paar Churros dazu, Käsebrot und Milch, literweise Absinth, eine große Portion Diskretion, außerdem ein durch Neugier verlängertes Pferd, ein alleine reisendes Koffer-Krokodil, tanzende Ratten, mehrere schöne Hintern – und natürlich: Musik!

M 01: Charles Trenet: 2'10 Le Grand Café I: Charles Trenet CD: Les Années frou-frou, Bella Musica BFD1013, LC 00562

Um 1650 bringt Jean de la Roque, ein reicher Kaufmann aus Marseille, von seiner Geschäftsreise nach Konstantinopel Kaffeebohnen mit – und lässt sie von seinen Landsleuten staunend beäugen. Nur wenige Jahre später importiert auch der Orientreisende Jean de Thévenot Kaffee nach Frankreich und erklärt seinen Pariser Freunden, wie man ihn zubereitet: Erst die Kaffeebohnen in einer Pfanne rösten, dann fein zerstoßen, dann das Kaffeepulver mit Wasser vermischt in einem metallenen Flaschenkessel aufkochen, insgesamt zwölf Mal vom Feuer ziehen und wieder draufschieben – und schon ist der Kaffee perfekt. Als außerdem auch noch der türkische Gesandte Soliman Aga am Hof Ludwigs XIVten Kaffee serviert, ist bald ganz Gallien vom Koffeinfieber besetzt. Ganz Gallien? Nein. Eine kleine eigensinnige Dame, noch dazu aus Deutschland stammend, will sich der neuen Mode einfach nicht beugen. Liselotte von der Pfalz, Schwägerin des Sonnenkönigs, berichtet ihrer Tante, der Kurfürstin Sophie von Hannover, vom Versailler Hof: „Viele Leute hier trinken Tee und Kaffee und Chocolat, aber ich nehme nichts von diesem Zeug. (...) Tee kommt mir vor wie Heu und Mist, Kaffee wie Ruß und Feigbohnen und Chocolatte ist mir zu süße, kann also keines leiden.“ Deutliche Worte – und wenn Menschen aus Liselottes Umgebung es dennoch wagen, Kaffee zu trinken, klärt sie die leichtsinnigen Abtrünnigen umgehend über die Schädlichkeit des Getränks auf: „Die Fürstin von Hanau ist davon gestorben (...). Man hat den Kaffee nach ihrem Tod in ihrem Magen gefunden, der hundert kleine Geschwüre darin verursacht hat.“ So also schimpft die kleine pfälzische Kaffee-Résistance, während die französischen Komponisten längst begonnen haben, wahre Hymnen auf den Kaffee zu schreiben.

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M 02: Nicolas Bernier: 4'18 Air gai, Café du jus de la bouteille aus der Kantate „Le caffé“ I: Sara Macliver (Gesang), Ensemble Battistin CD: The Perfection of Music, CD 4: The Palais Royal, ABC Classics, LC 00268

Liselotte von der Pfalz kann es nicht verhindern: Der Kaffee bürgert sich nicht nur am Hof von Versailles sondern in ganz Frankreich ein – und erobert die Musik: Der Komponist Nicolas Bernier, einer der Leiter der königlichen Kapelle, schreibt mit seiner Kantate „Le caffé“ eine innige Liebeserklärung an das Getränk: Von einer guten Hand zubereitet, verführe allein schon der Duft, heißt es im Text der Arie „Café du jus de la bouteille“, gesungen von Sara Macliver, begleitet vom Ensemble Battistin.

1664 geboren, erlebt Bernier das Aufflammen der Pariser Kaffeemode hautnah – inklusive des Auftauchens der ersten Kaffeehäuser. Eines dieser ersten, bis heute existierenden, wird 1686 im Quartier Latin eröffnet, ausgerechnet in Räumen, die zuvor ein „Bade-Etablissement mit galantem Einschlag“ beherbergten. So kommt es, dass die Wände des Lokals voller Spiegel sind – was einem Bad gut steht, kleidet auch ein Kaffeehaus, denkt sich wohl der Besitzer, der Sizilianer Francesco Procopio dei Coltelli alias François Procope. So früh das „Café Procope“ auch geboren ist, es weist bereits alle Eigenschaften auf, die das kreative französische Café über die Epochen hinweg ausmachen: Aufgrund seiner Nähe zur Comédie Française verkehren viele Theaterleute, Schauspieler, Schriftsteller und Musiker dort, Beaumarchais feiert den Erfolg seines „Mariage de Figaro“ natürlich im Procope – und auch die Philosophen der Zeit nutzen es: Voltaire, Rousseau, Diderot machen es zu einem aufklärererischen Zentrum Frankreichs. Voltaire schwärmt, dass der Kaffee ihn in einen „nüchternen Rausch“ versetze, der seinem Geist Flügel verleihe. Und wenn man bedenkt, dass viele Europäer vor der Existenz des Kaffees Biersuppe zum Frühstück getrunken haben, kann man sich die beflügelnde Wirkung des Koffeins gut vorstellen. Angeblich sollen im Procope, diesem koffeinberauschten Hort des geistreichen Diskurses, sogar die Grundgedanken der Französischen Revolution geschmiedet worden sein ...

M 03: Jacques Offenbach: 4'45 Ouvertüre aus der Operette „La vie parisienne“ I: Orchestre de Capitol de Toulouse, ML: Michel Plasson CD: EMI Classics CDC 7471548, LC 6646

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Der große Erfolg des Procope, wo man schon bald übrigens nicht mehr nur Kaffee sondern auch Eiscreme bekommt, führt rasch dazu, dass sich Kaffeehäuser als Pariser Institution etablieren. Jedes einzelne besitzt ein besonderes Flair, jedes einen eigenen Charakter. Im 1731 begründeten Café des Aveugles spielt ein Orchester von blinden Musikern, gemeinsam mit der Sängerin Rosalba; im „Café Mécanique“ geben die Besucher ihre Bestellung durch ein Sprechrohr auf, das in die Küche führt. Und dann gibt es da noch das Café Anglais, das so beliebt ist, dass es zum Schauplatz gleich mehrerer künstlerischer Werke mutiert: In Balzacs „Vater Goriot“ taucht es ebenso auf wie in Zolas „Nana“ oder in Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ – und Jacques Offenbach lässt einen ganzen Akt seiner Operette „Pariser Leben“ dort spielen. Wobei man in einer Szene auch der Unterweisung der Kellner beiwohnen darf: Wichtigste Eigenschaft eines guten Obers, so lernt man bei Offenbach, sei die Diskretion – tauche ein stadtbekannter, aber verheirateter Mann am Arm einer Schauspielerin im Café auf, schließe der geschulte Kellner am besten einfach die Augen ...

M 04: Jacques Offenbach: 2'05 Couplet aus der Operette „La vie parisienne“ I: Michel Jarry (Alfred), Orchestre de Capitol de Toulouse, ML: Michel Plasson CD: EMI Classics CDC 7471548, LC 6646

Der Chef des Café Anglais weist seine Kellner in die formvollendete Diskretion ein: Das Couplet „Fermons les yeux“ aus Offenbachs Operette „La vie parisienne“, gesungen von Michel Jarry, begleitet von Chor und Orchester de Capitol de Toulouse unter der Leitung von Michel Plasson.

Am Boulevard des Italiens gelegen, ist das Café Anglais im 19. Jahrhundert bekannt für seine phänomenale Küche. Als während der Weltausstellung 1867 viele berühmte Menschen nach Paris kommen, konzipiert Chefkoch Adolphe Dugléré ein „Drei-Kaiser-Menü“ für Wilhelm I sowie Zar Alexander II. und dessen Sohn. Bismarck lümmelt sich natürlich auch mit am Tisch, 16 Gänge und neun Stunden lang schlemmen, das lässt sich keiner gern entgehen. Und klar, dass auch ein Feinschmecker wie Rossini während seiner Paris-Aufenthalte am liebsten im Café Anglais speist – er bezeichnet den Koch Dugléré als den „Mozart der französischen Küche“. Doch schauen wir nun auf die bescheideneren Gefilde der Bohème und nehmen Platz im Café de la Nouvelle Athènes an der Place Pigalle. Dort tummeln sich zunächst Schriftsteller wie Zola, Maupassant, Verlaine, Mallarmé, ehe das Lokal von den Malern des Impressionismus erobert wird: schlägt hier auf, Edouard Manet, für den das Café günstig auf dem Weg ins Atelier liegt – und auch Auguste Renoir, der in der Nähe wohnt. Bald folgen van Gogh,

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Seurat, Gauguin und Toulouse-Lautrec. Aber auch Musiker: allen voran und , der hier nicht nur als Gast verkehrt, sondern auch Chansonniers am Klavier begleitet – und der bisweilen seinen Kumpel Claude Debussy mitbringt.

M 05: Claude Debussy: 3'20 Arabesque No. 2 I: Nikolai Tokarev CD: French Album, Sony Classical 88698341452, LC 06868 SWR M0099237 008

Eine von Claude Debussys Arabesken, in der SWR2 Musikstunde gespielt von Nikolai Tokarev.

Das Café de la Nouvelle Athènes geht in die Kunstgeschichte ein, wird es doch von seinen Maler-Stammgästen in zahlreichen Werken verewigt: Edgar Degas zeigt in seinem Porträt „Absinth“ den Maler Marcellin Desboutin und die Schauspielerin Ellen Andrée im Nouvelle Athènes, beide schon deutlich sediert vom hohen Alkoholkonsum – und auch Degas' Gemälde „Femme dans un café“ nutzt die Kulisse des Athènes. Die Skizzen entstehen direkt vor Ort, der Rest im Atelier – und um möglichst authentisch arbeiten zu können, behelfen sich die Maler mit Tricks: Manet etwa besitzt in seinem Atelier genau so einen eckigen Marmortisch, wie man sie im Nouvelle Athènes findet. Gelegentlich schaut auch Paul Cézanne im Nouvelle Athènes vorbei – und wenn, dann bringt er gerne den Musiker Ernest Cabaner mit: Cabaner ist einer der originellsten Bohemiens seiner Zeit. Nicht nur, weil er Arthur Rimbaud das Klavierspielen beibringt und sich von Käsebrötchen und Milch ernährt, die er am liebsten auf der Straße verzehrt. Auch, weil er ungewöhnliche Formen der Komposition entwickelt, den Tönen Farben zuordnet und Unmengen an Opium und Absinth konsumiert: Nicht umsonst nennt Paul Verlaine ihn „Jesus Christus nach drei Jahren Absinth“. Ein exzentrisches, aber ungesundes Leben. Ende der 1870er Jahre erkrankt Cabaner an Tuberkulose und muss, wenige Tage, nachdem Manet ein Porträt von ihm vollendet hat, ins Sanatorium eingeliefert werden. Seine Künstlerfreunde versteigern ihre Werke, um die Kosten für Cabaners Behandlung zu übernehmen – doch sie können nicht verhindern, dass der Komponist 1881 stirbt.

Leider ist keine einzige Aufnahme von Cabaners Kompositionen verfügbar. Also hören wir ein Lied seines Nouvelle-Athènes-Kollegen , „L'ile heureuse“, die glückliche Insel.

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M 06: Emmanuel Chabrier: 3'15 L'ile heureuse I: Felicity Lott (Gesang), Graham Johnson (Klavier) CD: Musique adorable, Hyperion CDA67133/4, LC 07533

Ein Liebeslied von Emmanuel Chabrier, Stammgast im Café de la Nouvelle Athènes, gesungen von Felicity Lott, begleitet von Graham Johnson am Klavier.

Eine Bohème, wie sie sich im Nouvelle Athènes trifft, findet sich auch in anderen Pariser Cafés – etwa im Café Momus. Fünf stattliche Billardtische besitzt das Momus, es wirbt mit einer Vielzahl von Zeitungen, vor allem aber mit seinen günstigen Preisen. Ein Pariser Kaffeehaus- Führer des 19. Jahrhunderts verrät, dass es sich im Winter lohne, ins Momus zu gehen, denn dort koste eine Tasse Kaffee nicht mehr als 5 Sous und man könne den ganzen Tag in der Wärme sitzen bleiben, ohne etwas Weiteres bestellen zu müssen. Das lassen sich die Künstler natürlich nicht zweimal sagen. Charles Baudelaire und Gustave Courbet treiben sich im Momus herum – und vier sehr berühmte, allerdings fiktive Gestalten, entsprungen aus Henry Murgers Roman „Scènes de la vie de bohème“. Es sind der Philosoph Colline, der Maler Marcel, der Musiker Schaunard und der Dichter Rodolphe, gerne auch einfach die vier Musketiere genannt. Sie treffen sich nicht nur im Café Momus, sondern belagern es und beschlagnahmen einen ganzen Raum für sich: Sämtliche Zeitungen bunkern sie dort ebenso wie das Tricktrackspiel, andere Gäste verscheuchen sie mit frechen Sprüchen und den Kellner ärgern sie so lange, bis er, wie es im Roman heißt, „in der Blüte seiner Jahre dem Idiotismus“ verfällt. Marcel stellt seine Staffelei im Café auf und verstreut seine Farben überall, Schaunard deponiert sein Klavier zwischen den Tischen und unterrichtet seine Schüler dort – und da den Künstlern irgendwann der Kaffee zu teuer ist, bringen sie schließlich auch noch ihre eigene Kaffeemaschine mit. Da platzt dem Wirt dann doch die Hutschnur. Und so beginnt die erste Szene von Ruggiero Leoncavallos Vertonung des Bohème-Stoffs mit einer Standpauke. Doch den Künstlern gelingt es, den Wirt einzuwickeln – und schon kurz darauf bestellt die gesamte Bohème erst einmal ein Festmahl: Champagner, Hummer, Roastbeef und vieles mehr werden im Café Momus aufgetragen ... und auch Mimí und Musetta sind bei dem fürstlichen Gelage dabei.

M 07: Ruggiero Leoncavallo: 3'55 Ausschnitt (1. Akt) aus der “La Bohème“ I: Lucia Popp, Alexandrina Milcheva, Franco Bonisolli, Bernd Weikl, Alan Titus, Raimund Grumbach (Solisten), Münchner Rundfunkorchester, ML: Heinz Wallberg CD: La Bohème, Orfeo C 023 822 H, LC 8175

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Champagner, Roastbeef und anderes – wer diese Rechnung wohl bezahlen wird ...? Das waren Lucia Popp, Sofia Lis, Franco Bonisolli, Bernd Weikl, Alan Titus und Raimund Grumbach als Bohème in Leoncavallos gleichnamiger Oper, begleitet vom Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Heinz Wallberg. Leoncavallo war es übrigens auch, der Puccini auf das Sujet „La Bohème“ aufmerksam gemacht hat – zu Unrecht steht seine Vertonung heute im Schatten von Puccinis Version.

Café Momus, Café Procope, Café Anglais, Café Nouvelle Athènes – diese vier Cafés bilden gerade mal einen Bruchteil der Pariser Kaffeehäuser um die Jahrhundertwende. Da gibt es noch das Le Zimmer, La Rotonde, die Closeries de Lilas – unmöglich, alle zu erwähnen. Verlassen wir also Paris und werfen stattdessen einen Blick nach Madrid, wo die Kaffeehaus- Kultur ebenfalls blüht – auf besondere Weise, denn in Madrid wimmeln die Cafés von Tertulias. Eine Tertulia ist einerseits ein Stammtisch, andererseits ein geistiges Zentrum, ja, eigentlich ein ganzer Lebensstil, nicht weniger wichtig als der Beruf oder der Ehepartner. In einer Tertulia spricht man über Theater, Musik, Literatur, Malerei, über den Stierkampf oder die Wissenschaften und man tut das nicht irgendwie – sondern mit Phantasie, Witz, Geist. Eine Tertulia, die etwas auf sich hält, ist kreativ, verrückt, originell – und gibt sogar eigene Zeitschriften heraus. Der Philosoph und Schriftsteller Miguel de Unamuno jedenfalls weiß: „Die wahre Universität des spanischen Volkes war immer schon der Marktplatz und das Kaffeehaus.“

M 08: Francisco Alonso: 3'15 Ouvertüre / Pascalle aus der Zarzuela “La Calesera” I: The Royal Philharmonic Orchestra CD: La Danza de los Corcelos, Epic, EPC 491747 2, LC 00199

Jeder Künstler, der etwas auf sich hält, führt im Spanien der Jahrhundertwende eine Tertulia an. Die Cafés auf der Puerta del Sol, dem pulsierendsten Platz von Madrid, sind so beliebt bei den Stammtischlern, dass einige Geschäfte sich mit Sanktionen behelfen und Schilder mit dem lakonischen Hinweis aushängen: „No se permiten tertulias“ – Stammtisch-Treffen verboten. Das kann nicht passieren im Café Gijon, dem Tempel der Tertulias. 1888 eröffnet, ist das Lokal schon nach kürzester Zeit so unentbehrlich für Madrid wie der Prado oder der Rastro – ja, manche Stammgäste pflegen gar zu behaupten, das Gijon sei ein Lokal „mit einer Stadt drumherum“. Im Gijon bestellen die Künstler einen Kaffee für ein paar Peseten und bleiben stundenlang davor sitzen. Ist der Kaffee leer, trinken sie Wasser, das in Krügen mitgeliefert wird. Und die

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Kellner notieren in einem Büchlein, welche Gäste bis zum Monatsende auf Kredit trinken. Die Bezahlung erfolgt dann irgendwann mit Geld – oder aber mit Zeichnungen, Gemälden, signierten Büchern. Oder in einer noch anderen Währung: Der Schnorrer Carlos Oroza bezahlt einen Caffè con leche mit einem Lächeln. Unter den vielen Künstlern, die sich im Café Gijon herumtreiben, sitzen auch Emilio del Castillo und Luiz Martinez Román, zwei Schriftsteller, die unter anderem das Libretto zu „La Calesera“ schreiben, einer 1925 uraufgeführten Zarzuela von Francisco Alonso. Die Handlung von „La Calesera“ beginnt, wie sollte es anders sein, in einem Madrider Café, wo sich die Schauspieler vor der Vorstellung treffen und auf eine Kollegin warten, „La Calesera“. Und einer erwartet sie besonders sehnsüchtig: Der in sie verliebte Rafael.

M 09: Francisco Alonso: 3'30 Romanze des Rafael: Agua que rio abajo aus der Zarzuela “La Calesera” I: Plácido Domingo, Orquestra de la Comunidad Madrid, ML: Miguel Roa CD: The Placido Domingo story, Deutsche Grammophon 477933, LC 00173

Das war die Romanze des Rafael aus Francisco Alonsos Zarzuela „La Calesera“ gesungen von Plácido Domingo.

Im Café Gijón treffen sich auch die Dichter der Generacion del 27, allen voran Federico García Lorca. In Granada geboren, zieht er eigentlich nach Madrid, um sein Jurastudium zu beenden – stattdessen aber schlägt er sich lieber im Kaffeehaus die Nächte mit Dalí und Bunuel um die Ohren, schreibt Gedichte und macht Musik. Die Musik liebt er von klein auf, sicherlich auch beeindruckt durch die Persönlichkeit Manuel de Fallas, den er in Granada kennen lernt. Neben der Dichtung übt Lorca sich im Tonsatz, sammelt alte spanische Volkslieder und harmonisiert sie selbst. Eines dieser Lieder handelt vom Café de Chinitas und von einem Gespräch, das dort über den Stierkampf geführt wird. Wie es klingt, wenn der große spanische Dichter García Lorca nicht nur komponiert, sondern auch selbst am Klavier sitzt und die Flamenco-Sängerin La Argentinita begleitet, hören wir jetzt:

M 10: Federico Garcia Lorca: 2'45 El café de Chinitas aus den Canciones espanolas antiguas I: La Argentinita (Gesang), Federico García Lorca (Klavier) CD: Colección de Canciones Populares Espanolas, Sonifolk 20105, LC 12395

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Bisweilen geht Federico García Lorca – gerade mit der Sängerin La Argentinita am Klavier zu erleben – dem Café Gijon aber auch fremd und landet dann einige hundert Meter weiter im Café de Pombo. Im Pombo tummeln sich ebenfalls viele Künstler, vor allem aber residiert dort einer: der Dichter Ramón Gómez de la Serna. Seine Tertulia ist legendär, denn er nutzt sie wie eine Bühne: Doziert er vor seinen Stammtischgenossen über Bonaparte, ist er wie Napoleon gekleidet, redet er über Goya, verwandelt er sich in eine Figur des 18. Jahrhunderts, berühmt auch sein Vortrag über El Greco mit Halskrause. Sein Stammtisch und der dazugehörige Raum erhalten schon bald den Spitznamen „Die heilige Krypta“. Manuel Abril, Tomás Borrás, José Bergamín, José Cabrero gehören der Gruppe an – und der Maler Gutierrez Solana, der den Stammtisch in einem Gemälde verewigt, das bis heute im Museum Reina Sofia zu sehen ist: „La Tertulia del Café de Pombo“.

Gomez de la Serna ist ein absoluter Verfechter des Kaffeehauses als schöpferischem Ort. „Am Schreibtisch sind wir zu sehr allein und könnten maniriert werden“, warnt er. „Im Kaffeehaus schreibt man in jeder Hinsicht und über alle Fragen besser. Das starke Licht der Kaffeehäuser – ein Theaterlicht, in dem man schreiben kann – fällt auf das weiße Papier und gibt ihm ein höheres Bewusstsein, denn in diesem Licht der Kaffeehäuser liegt ein Abbild der Seelen der anderen, verschmolzen zu einem angenehmen, lebendigen Agglomerat.“ Das Leben im Kaffeehaus ist für Gomez de la Serna eine Form der ästhetischen Praxis: Er schreibt dort nicht nur auf Papier, sondern auch mit Milchkaffee auf die Tischplatten. Seine Dichtung ist eine Poetik des Alltags, kurze Sentenzen, die Haikus ähneln: „Das Krokodil ist ein Koffer, der allein reist“ heißt es da etwa oder: „Die Giraffe ist ein durch Neugier verlängertes Pferd.“ Greguerías nennt sich Gomez de la Sernas poetische Form, „Kauderwelsch“ oder „Durcheinanderreden“ in der Übersetzung. Greguerías werfen einen leichten, humorvollen, schrägen Blick auf die Dinge des Lebens, verfremden sie, nobilitieren das scheinbar Nebensächliche im Vers. Eine solche Poesie des Alltags entdeckt auch der Theatermacher Enrique Jardiel Poncela, wenn auch auf gänzlich andere Weise. Egal, ob er gerade im Café Gijon oder im Pombo sitzt, immer zeichnet er fleißig Bühnenbilder und packt nach einigen Stunden seine Skizzen mit den Worten ein: „Ich gehe jetzt auf die Gran Vía und schaue mir schöne Hintern an.“

Doch auf der Gran Via, der größten Einkaufsstraße Madrids, gibt es nicht nur schöne Hintern, sondern auch tanzende Ratten, zumindest in der Zarzuela „Gran Vía“ von Federico Chueca und Joaquín Valverde.

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M 11: Federico Chueca / Joaquín Valverde: 2'20 Jota de las Ratas aus der Zarzuela „Gran Vía“ I: English Chamber Orchestra, ML: Antoni Ros-Marbà CD: El Madrid de Chueca, Ensayo, ENY-CD-9715

Die tanzenden Ratten auf der „Gran Vía“, entsprungen aus der gleichnamigen Zarzuela der Komponisten Federico Chueca und Joaquín Valverde. Das English Chamber Orchestra spielte unter der Leitung von Antoni Ros-Marba.

Das Café de Pombo zieht noch viele viele andere Künstler an: Picasso, Miró, Ortega y Gasset, aber auch Ausländer wie Diego de Rivera, Pablo Neruda, Marc Chagall oder Tristan Tzara. Während des Bürgerkriegs wird das Pombo, dieser Hort des Kreativen, zerstört. Traurig schreibt Gómez de la Serna bereits wenige Monate vor Beginn des Kriegs: „Ich werde die Tertulia schließen müssen, die Spanier wollen einander umbringen.“ Im selben Jahr, 1936, wird García Lorca von den Faschisten getötet. Gomez de la Serna wandert nach Buenos Aires aus – gefolgt von vielen anderen spanischen Künstlern. Sie alle stranden auch in Buenos Aires früher oder später im Kaffeehaus, vor allem im Café Tortoni, dem ältesten noch existierenden Café der Stadt. Im Keller des Tortoni sind Samstagabends „actos publicos“ zu erleben, Konzerte mit Klavier und Gesang, ganze Kammeropern werden dort aufgeführt. Vor allem aber wird im Tortoni Tango getanzt und gesungen – und als 1927 der italienische Dichter und Nobelpreisträger Luigi Pirandello ins Tortoni kommt, singt Carlos Gardel persönlich ihm dort einen Tango. Und so endet die heutige Musikstunde mit einem der schönsten Tangos von Gardel, „Por una cabeza“, gesungen von Marcelo Alvarez. Morgen reisen wir ins Mekka der Kaffeehäuser, nach Wien. Bis dahin eine gute Zeit wünscht Sylvia Roth.

M 12: Carlos Gardel: 3'10 Por una cabeza I: Marcelo Alvarez (Tenor), Ensemble Jorge Calandrelli CD: Marcelo sings Gardel, Sony Classics SK 61840, LC 06868

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