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HANS JÖRG HENNECKE

Regieren in Koalitionen seit 1949. Bilanz und Perspektiven

Welche Bilanz lässt sich aus den Beiträgen dieses Bandes ziehen? Drei Entwick- lungslinien sind besonders markant. Zum einen gibt es – aus zunächst wenig ge- festigten Anfängen in der Ära Adenauer – einen sehr deutlichen Trend zur Formalisierung von Koalitionsverhandlungen durch bestimmte Verhandlungsfor- mate und Entscheidungsverfahren sowie zur umfassenden Verschriftlichung von Absprachen bis hin zur Veröffentlichung und Inszenierung der Ergebnisse. Die- ser Trend geht einher mit einem zunehmenden Gewicht von Partizipationsmög- lichkeiten innerhalb der beteiligten Parteien. Zum zweiten hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein breites Arsenal an Möglichkeiten des alltäglichen Koalitionsma- nagements herausgebildet, deren Verfahren und Formate jedoch je nach Konstel- lation verschieden funktionstüchtig und durchsetzbar waren und die immer Neuerungen oder Variationen erfuhren. Drittens lässt sich beobachten, dass die Richtlinienkompetenz des Kanzlers immer mehr durch eine kollektive Richt- linienkompetenz der beteiligten Parteivorsitzenden überlagert wurde, bis schließ- lich die Kanzler sich nur noch in besonderen Krisensituationen und mit beacht- lichem politischen Risiko über diese etablierte Erwartungshaltung hinwegsetzen konnten. Vier Fragen sollen im Folgenden aufgegriffen werden. Erstens: Wie stilprägend war Adenauers Koalitionsführung und -management für die Bundesrepublik? Wie haben sich die Variationen und Innovationen des Koalitionsmanagements seit Adenauer herausgebildet? Lässt sich aus den bisherigen Koalitionen vielleicht auch etwas über die Anforderungen guten und erfolgreichen Regierens lernen? Und zu guter Letzt der Blick voraus: Welche Veränderungen sind künftig möglich?

I. Wie stilprägend war Adenauer?

Adenauer hat durch seine Regierungstechnik einige Strukturmerkmale des Regie- rens in der Bundesrepublik bis heute tief geprägt. In mancher Hinsicht gab er zumindest Leitmotive vor und bot durch seine Amtsführung ein Muster, dem manche, aber keineswegs alle Nachfolger nacheiferten. Schließlich fallen in seine Amtszeit auch manche Experimente, die nicht schulbildend wirkten, weil er selbst oder spätere Kanzler und Koalitionen über sie hinweggegangen sind. Fragt man zunächst nach der Prägekraft Adenauers, so ist zwar einzuräumen, dass die starke verfassungsrechtliche Stellung des Bundeskanzlers nicht allein

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Adenauers Werk war. Wohl aber demonstrierte der erste Kanzler durch seine Amtsführung, dass er die rechtlichen Möglichkeiten des Amts voll auszuschöpfen wusste, und setzte damit Maßstäbe für all seine Nachfolger. Adenauer führte vor, dass ein einmal gewählter Kanzler ziemlich fest im Sattel sitzt und dass man ihn am ehesten unmittelbar vor seiner Wahl packen und ihm verbindliche Zugeständ- nisse abringen kann. Diese Erfahrung prägte bereits die Koalitionsverhandlungen von 1953 und führte – wenngleich nicht stetig und linear – zur allmählichen For- malisierung, Verschriftlichung und Inszenierung von Koalitionsverhandlungen. Von nachhaltiger Wirkung war auch die Flurbereinigung im Parteiensystem in der Ära Adenauer. Nicht nur fielen der hohen Integrationskraft von Adenauer und Erhard bis auf die FDP sämtliche bürgerlichen Kleinparteien zum Opfer, sondern auch den extremistischen Parteien wurde durch die bemerkenswerte Stabilisierungsleistung sehr schnell und gründlich der Boden entzogen. Infolge- dessen blieb die Zahl der arithmetischen und der politischen Koalitionsmöglich- keiten im auf Jahrzehnte bis heute ausgesprochen überschaubar. Dies hat zu einer keineswegs selbstverständlichen Stabilität des Parteiensystems und der Koalitionen geführt. Auch ernstzunehmende Koalitionskrisen traten in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten auf und gingen meist glimpflich aus. Ablesbar war und ist diese Stabilität im internationalen Vergleich an den langen Amtszeiten der Kanzler und der Kabinettsmitglieder und der recht langem Ver- weildauer im jeweiligen Ressort. Es ist schon bemerkenswert, dass die Bundesre- publik seit 1949 erst acht Kanzler, vier Wechsel der Kanzlerpartei und gar erst einen vollständigen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition erlebt hat. Auch die personelle Stetigkeit innerhalb der Kabinette ist trotz mancher unruhiger Phasen beachtlich: Nur drei Männer – , Franz Josef Strauß und der weithin vergessene – haben in der Geschichte der Bundesrepublik mehr als drei verschiedene Kabinettspositionen inne gehabt. Schon in der Ära Adenauer lassen sich einige strukturelle Fragen des Regierens und des Koalitionsmanagements beobachten, auf die die Kanzler jeweils eigene Antworten finden mussten. Da ist zu allererst das Verhältnis zur eigenen Partei zu nennen. Adenauer machte vor, dass der Kanzler, wenn er die Möglichkeiten seines Amts ausschöpfen will, ein starker Parteiführer sein muss. Die Kanzler Erhard, Schmidt und Schröder zeigten auf je eigene Weise, dass Kanzler sich nicht mehr lange im Amt halten können, wenn ihnen diese Machtressource fehlt oder entgleitet. Und es ist kein Zufall, dass mit Kohl und Merkel diejenigen Kanzler an die lange Amtszeit Adenauers heranreichten oder sie sogar übertrafen, die als Parteiführer konkurrenzlos und fest im Sattel saßen. Ein ähnlich wichtiges Thema, für das Adenauer das Leitmotiv vorgab, war das Verhältnis zur eigenen Fraktion. Die längste Zeit konnte er sich auf eine loyale Fraktion und mit und auch auf loyale Fraktionsvorsitzende verlassen. Sein langer Abschied von der Macht begann 1959, als er in der »Präsidentschaftsaffäre« diese Loyalität über Gebühr strapazierte.

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