und die Ruhrindustriellen – ein Vertrauensverhältnis?

von RALF STREMMEL

I.

Im November 1879 eilten viele Ruhrindustrielle zur Generalversamm- lung des Langnam-Vereins, genauer des »Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen«, und am Ende schickten die Anwesenden auch ein Telegramm an Bis- marck: Dem an »Thaten und Gedanken gewalltigen Kanzler« richte der Verein seinen »ehrerbietigsten Dank« aus, schrieb der Vorsitzende Thomas Mulvany.1 Die Ruhrindustriellen grüßten Bismarck, sie dank- tem ihm, sie ehrten und verehrten ihn. So scheint es jedenfalls, wenn man die öffentlichen oder halb-öffentlichen Äußerungen besonders aus den Jahren nach der Entlassung des Reichskanzlers liest. Doch handelt es sich tatsächlich um eine dauerhaft enge Beziehung, eine Vertrauens- beziehung? Seit einiger Zeit diskutiert die Geschichtswissenschaft intensiver über das Phänomen des Vertrauens,2 doch der Begriff erscheint kaum operati- onalisierbar, ja austauschbar. Wenn man ihn nicht nur als Teil unserer Alltagssprache, sondern als analytische Kategorie verwenden will, bedarf es einer handhabbaren Defintion. Vertrauen wird hier verstanden als das freiwillige Erbringen einer riskanten Vorleistung unter Verzicht auf expli- zite Sicherungsmaßnahmen und in der Annahme, dass sich der Vertrau- ensnehmer den Erwartungen des Vertrauensgebers entsprechend verhält.3

1 Thomas Mulvany an Otto von Bismarck, 12.11.1879: Bismarck-Archiv, Fried- richsruh, Bestand B, 80/34. 2 Zur Geschichte der Vertrauens-Forschung vgl. Ute Frevert, Vertrauen in histo- rischer Perspektive, in: Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hrsg.), Politi- sches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation. Baden-Baden 2002, 39-59. Beispiele für neuere Interpretationen: Dies. (Hrsg.), Vertrauen. Histori- sche Annäherungen. Göttingen 2003. 3 In der Literatur gibt es zahlreiche Definitionsversuche; hier wichtig Tanja Rip- perger, Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips. Tübin- 202 Ralf Stremmel

In aller Regel liegt Vertrauensverhältnissen kein »Akt expliziter Reflexi- on« zugrunde.4 Das heißt: Wer vertraut, denkt nicht lange über Nutzen oder Nachteil des eigenen Tuns nach. Er kann schneller handeln. Im ide- altypischen Fall ist Vertrauen – so bereits Niklas Luhmann – ein »Mecha- nismus der Reduktion sozialer Komplexität«.5 Man kann z. B. darauf verzichten, das Gegenüber aufwendig zu kontrollieren, oder darauf, nach anderen Verbündeten zu suchen. Man muss nicht lauernd nach Schwach- stellen bei Gesprächspartnern suchen, um sie auszunutzen, man muss keine formellen Verträge aushandeln usw.. Auf Vertrauen rekurriert die Korrespondenz der Ruhrindustriellen mit Bismarck wiederholt. Alfred glaubte sich 1884 »des Fürsten Vertrauens« sicher,6 sein Sohn dankte, als ihm der Titel eines Geheimen Kommerzienrats verliehen worden war, aus- drücklich für das Vertrauen Bismarcks, das er »als die höchste Ehre« ansehe, die ihm »überhaupt widerfahren« konnte. Es sei sein »heiligs- tes Bestreben«, sich »hochderen Vertrauens im Interesse des Kaiser- hauses und des Vaterlandes würdig zu erweisen«.7 Solche Vertrau- enssemantik zeugt bereits davon, wie asymmetrisch die Beziehung zwischen den Beteiligten war: Vertrauen wird als Akt der Gnade in- terpretiert, dem sich der Industrielle würdig zu erweisen habe und der ihn auf ein bestimmtes Verhalten festlege. Um konkreter zu prüfen, ob Bismarck und die Ruhrindustriellen eine Vertrauensbeziehung verband, wie diese zu charakterisieren ist und ob sich im Lauf der Jahrzehnte Veränderungen abspielten, sollen im Folgenden zehn exemplarische Interaktionsfelder ausgemessen werden, um am Ende einige systematischere Überlegungen anzu- schließen. Verallgemeinerungen sind dabei indes bloß mit gewissen Vorbehalten möglich, weil es an ausreichenden Quellen mangelt. Nur wenige Ruhrindustrielle, noch dazu meist die bedeutenderen, haben Aufzeichnungen, Briefe oder andere Ego-Dokumente hinterlassen.

gen 1998, 45. Zum Begriff der »riskanten Vorleistung« siehe schon Niklas Luh- mann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 3., durchges. Aufl. Stuttgart 1989 (ursprgl. 1968), 23. 4 Einleitung von Michael Hartmann in: Ders./ Claus Offe (Hrsg.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt/New York 2001, 7-34, hier 25. Luhmann, Vertrauen (wie Anm. 3), 76 betont jedoch vorsichtiger, Vertrauen schließe das Moment der Reflexion ein. 5 Luhmann, Vertrauen (wie Anm. 3). 6 Alfred Krupp an die Prokura der Firma Krupp, 27.9.[recte: 12.]1884: Histori- sches Archiv Krupp, (im Folgenden: HAK), FAH 2 C 22. 7 Friedrich Alfred Krupp an Otto von Bismarck, 22.10.1887: HAK, FAH 3 C 59.