Ausgabe Nr. 68 (2/2017) · Tamus 5777 · € 4,50 · www.nunu.at

Pamela Rendi-Wagner: Shalom, Frau Ministerin

Leitartikel

Analyse statt Empörung MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER MILAGROS ©

Wenn diese Zeilen erscheinen, hat sich die eine Aufregung Aber es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei den längst gelegt und wurde von hunderten anderen Ereignissen mehr als dreißig Studierenden nicht um einen Ausreißer. Nein, überlagert. Jeden Tag gibt es einen Grund sich zu erregen, die wir müssen doch davon ausgehen, dass hier ein System sicht- Welt untergehen zu sehen, den größten vorstellbaren Skan- bar wird. Und mit ihm wird klar, dass die Aufklärung über die dal zu diagnostizieren. Die Aufregung der diversen Blasen ist Schoa, wie sie heute betrieben wird, nicht mehr funktioniert. ebenso allgegenwärtig wie flüchtig. Die ruhige Analyse bleibt Mit hunderten Gedenkvereinen, mit Denkmälern, mit dem Prä- auf der Strecke, denn schon muss sich neu erregt werden, geht sentieren hundertjähriger Opfer lässt sich die junge Elite unse- die Welt aufs Neue unter. res Landes nicht überzeugen. Die Geschichte ist vermutlich bekannt. Eine Woche vor den Anne Frank, so dachten wir, wäre das große Symbol für erlit- jüngsten Wahlen zur österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) tenes Leid und Unrecht. Mit ihr würden sich heutige Jugendli- im Mai informierte der Falter über menschenverachtende Ein- che identifizieren. Wer ihr Versteck in Amsterdam besucht, wer tragungen einer geschlossenen Facebook-Gruppe von Vertre- ihr Tagebuch gelesen hat, der würde ein für alle Mal davor gefeit tern der ÖVP-nahen Studentenorganisation AG an der juridi- sein, Minderheiten töten und zu Asche machen zu wollen. schen Fakultät. Es waren Fotos mit grauslichen Kommentaren, Wenn selbst Studierende der Rechtswissenschaften den die uns da bekannt wurden. Massenmord in ihrer Spaß-Ecke abfeiern, dann braucht es einer Ein junger Mann mit Trisomie 21 (Down-Syndrom), der im neuen, einer grundsätzlichen Überlegung. Wir dürfen uns nicht Wasser schwimmt, wird als „Poseidown“ verspottet. Ein klei- mit der Aufregung über eine singuläre Erscheinung zufrieden- nes Mädchen im Outfit des „Bund Deutscher Mädel“ wünscht geben. Zumindest muss überprüft werden, ob sich nicht eine den „Männern und auch Pussys dieser illustren Gruppe“ frohe allgemeine Stimmung breitmacht. Die Generationen wechseln Ostern. Neben ihr ein Osterkorb mit Nazifahnen und haken- rasch und was heute stimmt, kann morgen völlig anders sein. kreuzbemalten Eiern. „Frohe Ostern, Nigga“, schreibt einer Vielleicht ist auch für junge Menschen die Zeit der Schoa ein drunter. Und schließlich Anne Frank. Sie hat es ihnen beson- so weit zurückliegendes historisches Ereignis, dass sie keinen ders angetan. Da sieht man das Foto eines Häufchens Asche Zusammenhang mit ihrem Leben herstellen können. und darüber die Aufschrift „Leaked Anne Frank nudes!“, die Wir brauchen jetzt einen großen gesellschaftlichen Diskurs „Nacktbilder von Anne Frank geleakt!“. Die Kommentare dazu darüber, wie wir verhindern, dass junge Leute Massenmord lesen sich ähnlich entsetzlich: „Wenn Anne Frank das erfah- lustig finden. Wie kann die Herzensbildung in Zeiten der Ver- ren würde, würde sie sich im Grab umdrehen“ – „Du meinst im einzelung und krankhaften Konkurrenz funktionieren? Wirkt Aschenbecher umdrehen“, „Ach fuck it: wo ist das verdammte emotionale Betroffenheit überhaupt nachhaltig, kann man mit Schornstein-Emoji?“ Beispielen aus der Nazi-Zeit jemanden überzeugen? Warum Die unmittelbar folgende Aufregung war groß. Die AG for- sind zwar durchaus viele Kids imstande, die Wirkungen von derte den Austritt aller, die sich „an solchen Inhalten beteiligt Unrechtssystemen zu erkennen und zu verurteilen, andere of- haben“. Die Junge ÖVP, in der einige der Studentenvertreter fensichtlich aber nicht? Was tun wir, damit sich angehende Ju- aktiv sein sollen, teilte per Twitter mit, dass die Gruppenmit- risten und andere Jugendliche nicht zu Spießgesellen im Geiste glieder „sofort und einstimmig“ aus der Jungen ÖVP ausge- von dumpfen Altnazis und islamistischen Terroristen machen, schlossen worden seien. die wie sie das Judenvernichten toll finden? Klingt hart, ist hart. Viele Menschen verlangten in großer und verständlicher Wenn die Menschenverachtung vieler Mitglieder der AG Jus Empörung, die Staatsanwaltschaft solle prüfen, ob die Nazi- uns nicht aufrüttelt, uns nicht zeigt, dass grundsätzlicher Hand- Buberln Tatbestände des Strafgesetzbuchs verletzt hätten. Man lungsbedarf gegeben ist, dann haben wir die Verantwortung für forderte, dass sie vom Studium ausgeschlossen würden und das Funktionieren unserer demokratischen Gesellschaft auf- niemals Richter, Staatsanwälte oder Anwälte werden dürften. gegeben. Vor dem „Nie wieder“ muss analysiert werden, wo wir Zwei, drei Tage lang beherrschte die Causa das Empörungsfeld, heute stehen und was wir besser machen müssen. Ein Rezept dann wurde sie von neuen Aufregern überlagert. könnte sein, die Förderungen für die unzähligen NGOs, die sich Alexia Weiss schrieb vierzehn Tage später in der Wiener mit Gedenkkultur befassen und in Vereinsmeierei versinken, Zeitung, dass der Skandal ohne Konsequenzen bleiben dürfte. durch Geld für moderne sozialwissenschaftliche Forschung zu Die AG hatte kaum nennenswerte Verluste bei der ÖH-Wahl er- ersetzen, die sich mit der Gegenwart und Zukunft befasst. Die litten. Zumindest ein Mitglied der Facebook-Gruppe übernahm AG Jus ist auch ein Versagen der antifaschistischen Arbeit – angeblich sein AG-Mandat, als ob nichts geschehen wäre. irgendwann, lieber früher als zu spät, werden wir das akzeptie- Die große Empörung hatte stattgefunden, die antifaschisti- ren und neue Wege suchen müssen. nu sche Blase hatte gezeigt, wie sie einig gegen das Böse zu kämp- fen bereit ist. Und dann – nichts. Ihr Peter Menasse, Chefredakteur

2 | 2017 3 Memos

UNS SCHMEICHELT Spera betont, die Museumsmitarbei- tut ihm leid. Re- dass gleich zwei Geschichten aus terinnen und -mitarbeiter hätten zwar solut betritt er der letzten NU-Ausgabe von anderen auch zu den anderen von der Gruppe die Konditorei Zeitschriften übernommen wurden. behandelten Themen etwas zu sagen, mit einem lauten Unter dem Titel „So erlebte eine jü- würden sich bei dem Workshop aber ,Gutn Morgn, dische Familie in Wien den Sechsta- auf ihr Kernthema und ihre Kernkom- Frau Wo..‘, aber gekrieg und den Sieg Israels“ hat der petenz beschränken. Das Jüdische stockt sofort, Kurier den Artikel von Martin Engel- Museum Wien sei davon überzeugt, denn die be- berg „Der Sechstagekrieg in Wort und dass ein solcher Kurs nicht schaden wußte Frau Won- Bild“ veröffentlicht. Das wöchentlich könne. Mehr dazu im nächsten NU. drak ist offenbar erscheinende serbische Nachrich- nirgendwo im Geschäft zu sehen.“ tenmagazin NIN, das in Belgrad her- WIR LESEN ausgegeben wird, hat das Interview eine Kriminalgeschichte aus Wien WIR HÖREN von Ida Salamon mit Oscarpreisträger von NU-Autor Peter Weinberger. Der eine CD mit dem Titel Muzik, heraus- Branko Lustig unter dem Titel „Ich Hund der Frau Wondrak erschien im gebracht von Roman Grinberg. Unsere habe vergeben, aber nicht vergessen“ Österreichischen Literaturforum mit Freude gilt nicht nur der wunderbaren publiziert. Illustrationen von Julia Logothetis. Musik, die er gemeinsam mit „KlezMe- Wie auch in seinen früheren Büchern tropol“, dem „Chamber String Quartet“ WIR BEGRÜSSEN benützt Weinberger die alte Recht- und „Bessarabian Taraf“ spielt, son- dass das Jüdische Museum Wien das schreibung. Ein Auszug: „Eines Tages dern auch den jiddischen Texten, die „FVJUS Männerkollektiv“ und andere in der Früh, als er gerade im Begriff im Begleitheft ins Deutsche übersetzt AG-WhatsApp-Insider-Gruppen auf- ist, langsam über den Max Winter- sind. Probe gefällig: „Ikh bin a zinger, a grund ihrer antisemitischen Postings Platz heimzugehen, bemerkt er vor muzikant. Ikh bin a klezmer, ikh bin an zu einem nachhelfenden Workshop der Konditorei am Park den Hund von muzikant, die gantse velt iz mir bakant. zu jüdischer Religion, Kultur und Ge- der Frau Wondrak auf sie wartend Klezmorim shpiln, klezmorim zingen, schichte einlädt. Direktorin Danielle sitzen. Der vor sich hin jaulende Hund un naye lider veln far aykh derklingen“.

4 2 | 2017 Inhalt & Impressum

IMPRESSUM © OURIEL MORGENSZTERN OURIEL © MARTÍNEZ-FLENER MILAGROS © NU – Jüdisches Magazin für Shlomit Butbul Seite 22 August Zirner Seite 48 Politik und Kultur Erscheinungsweise: 4 x jährlich Auflage: 4.500 Nächste Ausgabe: September 2017 Leitartikel Jüdisches Leben

HERAUSGEBER UND MEDIENINHABER Analyse statt Empörung 3 Wer ist Jude? Arbeitsgemeinschaft jüdisches Forum Gölsdorfgasse 3, 1010 Wien Ein Streitgespräch 36

KONTAKT Aktuell Prince Charles – ein König Tel.: +43 (0)1 535 63 44 Fax: +43 (0)1 535 63 46 für die Juden 40 Pamela Rendi-Wagner – E-Mail: [email protected] Frau Ministerin Tausendsassa 6 Internet: www.nunu.at Stockholms jüdische Gemeinde 44 BANKVERBINDUNG Antisemitismus ohne Eifer 10 IBAN: AT78 1100 0085 7392 3300 JSUD – die junge jüdische Stimme BIC: BKAUATWW Yonatan Nissenbaum – Deutschlands 46 SIE SIND AN EINEM ein israelischer Forscher in Wien 12 NU-ABONNEMENT INTERESSIERT? Jahres-Abo (vier Hefte) inkl. Versand: Bret Stephens, Kolumnist der Kultur Österreich: Euro 15,– NYT zu Donald Trump 15 Europäische Union: Euro 20,– Außerhalb der EU: Euro 25,– Schauspieler August Zirner im Trump: Abrissbirne der Interview zu Ella Zirner-Zwieback 48 ABO-SERVICE, VERTRIEB & ANZEIGEN amerikanischen Demokratie? 19 [email protected]

STÄNDIGES REDAKTIONSTEAM Rezension Richard Kienzl (Artdirector), Peter Menasse Unterwegs mit (Chefredakteur), Vera Ribarich (Lektorat) Ida Salamon (Chefin vom Dienst) ... der Sängerin und Kulturschaffenden Michael Laczynski: TITELBILD Shlomit Butbul 22 Fürchtet euch und folgt uns – © Milagros Martínez-Flener Die Politik der Populisten 51 SATZ & LAYOUT Wiener Zeitung GmbH, Maria-Jacobi-Gasse 1, Nahost 1030 Wien, www.wienerzeitung.at Standards DRUCK Die „Drei-Religionen-Tour“ des Wallig Ennstaler Druckerei neuen Mannes im Weißen Haus 26 und Verlag Ges.m.b.H. Telegramm aus Netanja und Mitterbergstrasse 36, 8962 Gröbming Kohnversationen 39 Das Start-up- und OFFENLEGUNG GEMÄSS MEDIENGESETZ Hightech-Land Israel 29 Verein Arbeitsgemeinschaft jüdisches Engelberg 43

Forum mit Sitz in 1010 Wien, Gölsdorfgasse 3 Das schwierige Verhältnis Obmann: Martin Engelberg Rätsel 52 Obmannstellvertreterin: Danielle Spera Israel-EU 32

Kassiererin: Ida Salamon In eigener Sache 53 Grundsätzliche Richtung: NU ist ein Informationsmagazin für Juden in Zeitgeschichte Österreich und für ihnen nahestehende, an Autoren 54 jüdischen Fragen interessierte Menschen. Wer war Fritz Reichl? Spurensuche NU will den demokratischen Diskurs fördern. nach dem Architekten 34 Dajgezzen & Chochmezzen 55

2 | 2017 5 Aktuell

6 2 | 2017 Frau Ministerin Tausendsassa

Eine Ministerin mit enor- Alltagssprache war. Selbst dort, wo wir Diese Entscheidung war auch von mem Fachwissen, politi- gewohnt haben, gab es viele Israeli, die den Emotionen rund um das Ableben sehr gut Englisch konnten. meiner Vorgängerin Sabine Oberhau- schem Verstand, hervorra- ser beeinflusst. Das war keine einfache genden Sprachkenntnissen Sie haben bei diesem Empfang, der im Situation. Aber, was die rein fachliche und stets freundlichem Auf- Semperdepot stattgefunden hat, einen und sachliche Seite dieser Entschei- medizinischen Einsatz geleistet. Wie dung betrifft, so war es für mich schon treten. Peter Menasse hat kam das? klar, dass ich das gerne machen will. ein Gespräch mit Pamela Kurz nach den Reden, gerade als Die Themen aus dem Gesundheitsbe- Rendi-Wagner, der Ressort- das Buffet eröffnet wurde und die reich sind dieselben, mit denen ich als Botschafterin und ich noch fotogra- Beamtin gearbeitet, die ich zum Teil chefin für Gesundheit und fiert wurden, ist es passiert. Ich habe selbst initiiert habe. Wenn man dann Frauen, geführt. plötzlich schräg hinter mir eine ältere die Chance nicht annimmt, diese Dinge Dame liegen gesehen und bin im verin- politisch umzusetzen, dann würde das nerlichten medizinischen Reflex sofort so sein, als ob man vor der Ziellinie hingeeilt. Ein zufällig anwesender Sa- Halt macht. Aus dieser Ambition her- FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER nitäter und ich haben Erste Hilfe gelei- aus habe ich letztendlich entschieden, stet. Wir konnten die Frau stabilisieren wobei mir auch nicht viel Zeit blieb. Ich und der Rettung übergeben. Ich habe hatte genau 24 Stunden Zeit zu überle- inzwischen mit der Frau korrespon- gen und die Frage mit meiner Familie NU: Beim Empfang zum israelischen Un- diert, auch mit ihrer Tochter und ihrer zu besprechen. Mein Mann war klar abhängigkeitstag haben Sie Ihre Rede in Enkeltochter. Es geht ihr besser, aber dafür, die Kinder eher skeptisch, aber Iwrit begonnen, bevor Sie ins Englische sie ist altersentsprechend nach die- wir haben uns dann eben auf ein Ja und dann ins Deutsche gewechselt sind. sem Vorfall noch schwach und befin- geeinigt. Wie gut haben Sie die Sprache denn det sich derzeit in Rehabilitation. während Ihrer Zeit in Israel erlernt? Sie haben zwei Töchter? Rendi-Wagner: Mein Mann und ich Sie haben seit Ihrer Promotion vor etwas Ja, eine davon ist in Israel geboren. haben fast ein halbes Jahr vor sei- mehr als zwanzig Jahren als Forscherin Damit ist sie eine Zabarit, das heißt zu nem Antritt als österreichischer Bot- gearbeitet, waren Universitätsprofesso- Deutsch Kaktus. So werden Menschen schafter in Israel im November 2007 rin, Frau des Botschafters, Spitzenbe- genannt, die in Israel geboren worden mit Hebräisch-Stunden begonnen. Da amtin und sind jetzt Ministerin. Das sind sind. haben wir drei bis vier Mal die Woche vermutlich alles spannende Jobs, aber vor der Arbeit Unterricht genommen, welcher ist der spannendste? Sie haben beide anspruchsvolle Berufe, um dann in Israel von Anfang an ein Alles war gut zur richtigen Zeit. Mir Sie als Ministerin und ihr Mann, der ak- paar Worte sprechen zu können. Dort geht heute keine der früheren Tätigkei- tuell Kabinettchef bei Bundesminister angekommen haben wir das an den ten ab. Es war immer alles zu dem Zeit- Thomas Drozda ist. Wie funktioniert Wochenenden fortgesetzt. Insgesamt punkt richtig, als es stattgefunden hat. denn da das Familienmanagement? habe ich fast vier Jahre lang meine Retrospektiv gesehen war alles span- Einfach ist bei uns kein Tag. Es geht Hebräisch-Stunden absolviert, aber nend – und wer weiß, was die Zukunft aber durch partnerschaftliches Zusam- zum flüssigen Sprechen im Alltag bin noch bringen wird. menarbeiten. Wir planen gemeinsam ich nie wirklich gekommen. Das liegt jeden Tag durch. Nichtsdestoweniger wohl daran, dass wir dort meist von Sie werden möglicherweise nur knapp braucht es aber auch systemische Rah- der englischsprachigen diplomati- ein Jahr Bundesministerin gewesen menbedingungen. Ich bin da sicher in schen Community umgeben waren sein. War es ein Fehler, sich trotz des einer besonderen Situation, die nicht und dann auch an der Uni Englisch die Risikos berufen zu lassen? mit der von vielen anderen Frauen

2 | 2017 7 vergleichbar ist. Deswegen ist es mir als für Frauenfragen zuständige Mini- sterin wichtig, die ganztägige Kinder- betreuung in Österreich auszubauen und zu verbessern, damit sich Frauen mit gutem Gewissen für eine Karriere entscheiden können, ohne dass es zu Lasten der Kinder geht. Heute gibt es in Österreich noch große regionale Unter- schiede. In manchen Landesteilen sind die Kindergärten im Sommer zwei Mo- nate lang geschlossen oder sperren ge- nerell um 13 Uhr. Da kann keine Mutter wirklich einem Beruf nachgehen.

Noch einmal zurück zu Israel. Sind Ihnen aus Ihrer Zeit dort persönliche Kontakte geblieben? Ja natürlich, sowohl berufliche als auch private. Das war doch eine lange Zeit. Ich habe dort nicht nur die Aufga- ben als Frau des Botschafters wahrge- nommen, sondern auch mein eigenes berufliches Leben geführt. Ich konnte an der Universität Tel Aviv arbeiten. Schon, bevor wir nach Israel gingen, Im Ministerium für Gesundheit und Frauen: Ministerin Rendi-Wagner mit habe ich über die Wissenschafts-Com- Chefredakteur Peter Menasse munity Kontakte zu den Institutionen gesucht, um meine Berufsoptionen lich wie in Österreich. In manchen Be- mehrfach für die „Ehe für alle“ stark ge- auszuloten. Am Ende hatte ich fünf reichen der Wissenschaften ist man macht. Die SPÖ hat hier in den letzten konkrete Berufsangebote in Jerusalem, Österreich sogar überlegen. Auf dem Jahren zwar einiges erreicht, zuletzt in Tel Aviv und vom Weizmann-Insti- Gebiet der Epidemiologie, also dort, die Öffnung der Standesämter, aber tut. Das war ein schönes Willkommen wo es um die Erforschung der Verbrei- der letzte Schritt, jener der kompletten aus der israelischen Berufswelt. Ich tung von Infektionskrankheiten und Gleichstellung ist noch nicht getan. Die habe mich dann für die Tel Aviv Uni- deren Bekämpfung geht, ist man zum legistische Zuständigkeit liegt an sich versität entschieden. Teil weiter, als wir hier in Österreich. bei Justizminister Wolfgang Brand- Da konnte ich mich in Israel wissen- stetter. Von ihm kam aber keine Initia- Israel ist in vielen Wissenschaftsberei- schaftlich gut entfalten und Erfahrun- tive, woraufhin wir uns jetzt entschlos- chen sehr avanciert. Wie ist das in Ihrem gen mitnehmen. sen haben, einen Gesetzesentwurf vor- Fachgebiet, der Medizin und speziell der zulegen, den wir dem Justizminister Immunologie und Tropenmedizin? Sie haben soeben einen Gesetzesvor- und dem ÖVP-Obmann Sebastian Kurz Ich habe Israel, was den medizini- schlag vorgelegt, der die Ehe von gleich- übermittelt und das auch öffentlich schen Sektor betrifft, als wirklich fort- geschlechtlichen Partnern ermöglichen verkündet haben. Die Zeit ist reif, die schrittlich empfunden, auch was die soll. Ist es nicht so, dass da bei Ihrem Diskriminierung zu beenden. Was die Versorgung der Patientinnen und Pa- Koalitionspartner die junge, jetzt bestim- Strömungen in der ÖVP betrifft, konnte tienten betrifft. Ich habe dort ein Kind mende Fraktion einen sehr alten Stand- man in den letzten Monaten registrie- zur Welt gebracht und, wie das mit klei- punkt einnimmt? ren, dass es so viele Gruppierungen nen Kindern so ist, auch immer wieder Ich habe diesen Vorschlag in mei- gibt, dass man sie nicht mehr wirklich Mal ärztliche Betreuung gebraucht. ner Rolle als Frauen- und Gleichstel- einordnen kann. Schauen wir mal, wel- Das war vom Niveau der Versorgung lungsministerin vorgelegt. Bundes- chen Weg die neue ÖVP in dieser Frage her immer auf hohem Standard, ähn- kanzler hat sich schon beschreiten wird.

„Einfach ist bei uns kein Tag. Es geht aber durch partnerschaftliches Zusammenarbeiten. Wir planen gemeinsam jeden Tag durch. Nichtsdestoweniger braucht es aber auch systemische Rahmenbedingungen. “

8 2 | 2017 „Mir als für Frauenfragen zuständige Ministerin ist wichtig, die ganztägige Kinderbetreuung in Österreich auszubauen und zu verbessern, damit sich Frauen mit gutem Gewissen für eine Karriere entscheiden können, ohne dass es zu Lasten der Kinder geht. “

Das Gesundheitssystem ist sehr kom- lungspolitik einnimmt, muss man wis- plex. Lassen sich da überhaupt sinnvolle sen, dass man diese Politik nicht über Kompromisse denken – bei so vielen einen Kamm scheren kann. Gerade in Playern und so vielen unterschiedlichen den israelischen Kontexten muss man Interessen? immer genau hinschauen und die Um- In meiner Zeit, in diesen drei Mo- stände sehr differenziert betrachten. naten, bevor die ÖVP die Koalition für beendet erklärt hat, konnten wir viel In der SPÖ gibt es sehr israelkritische erreichen. Wir haben sieben Gesetze Positionen. Viele von uns Juden meinen, in dieser kurzen Zeit umgesetzt, das dass hier versteckter Antisemitismus im ist schon ein Erfolg. Ich höre aber auch Spiel ist. Gibt es interne Diskussionen in jetzt nicht auf weiterzuarbeiten. Wir der Partei, an denen Sie sich auch betei- verhandeln noch weiter zu wichti- ligen? gen Weichenstellungen für das öster- Ich kann Ihnen klar sagen, dass ich reichische Gesundheitssystem, wie solche angeblichen Strömungen nicht zum Beispiel den Ausbau der regiona- verspüre und vernehme. Für mich ist len Gesundheitszentren „Primärver- die Haltung der sozialdemokratischen sorgung neu“. Wir können jetzt nicht Partei durch den jüngsten Besuch von einfach eine Stopptaste drücken, nur Bundeskanzler Kern in Israel sehr gut weil wir in einigen Monaten Neuwah- dargestellt. Er hat klare Worte über die len haben. Rolle Österreichs in der Shoa gefunden, und er war auch als einziger ausländi- Würden Sie auch in einer Koalition Ihrer scher Staatsmann bei der Gedenkfeier Partei mit der FPÖ als Regierungsmit- in Yad Vashem. Wir haben eine beson- glied zur Verfügung stehen? dere Verantwortung, was Israel betrifft, Diese Frage wird oft gestellt, aber und das spielt in unserer bilateralen es gibt richtige Zeitpunkte, um solche Pamela Rendi-Wagner wurde im März 2017 zur Beziehung zu Israel auch eine große Fragen zu beantworten. Und dieser Bundesministerin für Gesundheit und Frauen Rolle. berufen. Die Wissenschaftlerin hat 1996 in Zeitpunkt ist jetzt nicht gegeben. Wien promoviert und wechselte dann an die „London School of Hygiene and Tropical Me- Wenn Sie zehn Jahre nach vorne Glauben Sie, dass Österreich ein Media- dicine“, wo sie ein Masterstudium absolvierte schauen, wo wollen Sie dann sein, was und ein klinisches Diplom in Tropenmedizin tor in Nahost-Friedensgesprächen sein wollen Sie dann sein? erwarb. Sie kehrte 1998 als Universitätsassi- könnte? Wäre heute eine Initiative im stentin nach Wien zurück, wo sie sich 2008 Hmmm. Wo ich sein will? Ich setze Geiste Kreiskys möglich? mit dem Thema „Prävention durch Impfungen“ mich lieber mit dem Hier und Jetzt Außenpolitik ist nicht mein Fach- habilitierte. auseinander. Wir können die Zukunft Anschließend war sie in den Bereichen Infek- gebiet, da kann ich nur meine private tionsepidemiologie, Vakzinprävention und nur zu einem Teil gestalten. Wenn Meinung dazu sagen. Die Rahmenbe- Reisemedizin tätig. In einer ihrer Forschungs- mich jemand vor zehn Jahren, als wir dingungen haben sich seit der Zeit von arbeiten wies sie nach, dass ein Intervall von nach Israel gegangen sind, gefragt drei Jahren für die Zeckenschutzimpfung nicht Bruno Kreisky grundlegend verändert. notwendig ist, sondern dass Folgeimpfungen hätte, was ich einmal machen wollte, Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle fünf Jahre ausreichen. wäre ich nie auf die Idee gekommen, eine Rolle Österreichs bei der Frie- Pamela Rendi-Wagners Mann Michael Rendi dass ich Ministerin für Gesundheit und densvermittlung wie zu seinen Zeiten wurde 2008 zum österreichischen Botschafter Frauen werden würde. Diese Wege und in Israel ernannt (siehe dazu NU 35 vom Jänner vorstellbar ist. Das soll aber nicht hei- 2009). Rendi-Wagner arbeitete in dieser Zeit Optionen, die sich zwischenzeitlich ßen, dass Österreich keine proaktive als Gastprofessorin im „Department of Epide- aufgetan haben, konnte ich damals Rolle im Rahmen von Initiativen der miology and Preventive Medicine“ an der Tel einfach nicht kennen. Ich bin für die Aviv University. Außenpolitik der Europäischen Union Im März 2011 wurde sie zur Leiterin der Zukunft offen. Wenn eine Türe aufgeht spielen könnte. Sektion III für Öffentliche Gesundheit und und es scheint dort der richtige Weg zu Meine vier Jahre in Israel haben medizinische Angelegenheiten berufen. Sechs beginnen, dann soll man durchgehen. mir gezeigt, wie dringend notwendig Jahre später folgte schließlich die Ernennung Ich möchte in zehn Jahren jedenfalls zur Ministerin. eine Friedenslösung ist. Auch wenn Pamela Rendi-Wagner und Michael Rendi genau so viel Freude an meinem Job man eine skeptische Haltung zur Sied- haben zwei Töchter. haben, wie an dem jetzigen. nu

2 | 2017 9 Aktuell Antisemitismus ohne Eifer

Es gibt Judenfeindlichkeit spielt ihren noch stark ausgeprägten Bewegung in Europa so radikal anti- im heutigen Rechtspopu- Antisemitismus herunter und konzen- jüdisch wie der Nationalsozialismus, triert sich auf die Hetze gegen Roma aber auch in Italien, Ungarn, Spanien, lismus, aber es fehlt ihr die und Muslime. Die niederländische Italien und Österreich waren Juden be- emotionale und die ideolo- PVV von Geert Wilders sieht sich über- stenfalls gelitten, dabei aber stets auch gische Grundlage von einst. haupt als Verbündete der Juden und Zielscheibe unablässiger Anfeindun- des Staates Israel gegen die islamische gen. Regime und Bürger waren dann in Gefahr. den meisten Fällen bereit, den mörde- VON ERIC FREY rischen „Rassenhass“ des NS-Regimes Wie antisemitisch sind Europas zu übernehmen. Juden als Vertreter Rechtspopulisten? liberaler, linker, weltoffener oder gar Auch wenn der Aufstieg rechtsna- Viele Beobachter, auch jüdische, avantgardistischer Ideen sowie ihre tionalistischer Parteien nach ihren zweifeln allerdings an der Aufrich- Rolle als wirtschaftliche Modernisierer Niederlagen in Österreich, den Nie- tigkeit dieser Politik und sehen darin gaben dem Antisemitismus im rechten derlanden und Frankreich vorerst ge- Kosmetik. Aber trifft diese pessimi- Lager eine wichtige Funktion zur Mo- stoppt scheint, bereitet die wachsende stische – oder auch nur vorsichtige – bilisierung von Anhängern sowie emo- Anziehungskraft des Rechtspopulis- Einschätzung den Kern dessen, was tionale Nahrung. mus jüdischen Gemeinden in ganz Eu- wir heute in Europa beobachten? „Wie Von diesem Erbe haben sich Eu- ropa ebenso große Sorgen wie der gras- antisemitisch sind Europas Rechtspo- ropas Rechtsparteien schrittweise sierende Antisemitismus in der musli- pulisten?“ ist eine potenzielle Schick- distanziert. Heute dienen andere mischen Bevölkerung. Zwar versuchen salsfrage für Europas Juden, die seit Gruppen als Zielscheibe, vor allem praktisch alle Rechtsparteien in Eur- Jahrzehnten in Sicherheit und Frie- muslimische Einwanderer und Flücht- opa, sich vom Geruch des Judenhasses den auf dem Kontinent leben, aber alte linge, doch antijüdische Vorurteile zu befreien und sich von klar rechtsex- Bedrohungen am Horizont wieder auf- sind in Wähler- und Funktionärskrei- tremistischen Kräften zu distanzieren. tauchen sehen. Sie ist nicht so leicht sen immer noch weit verbreitet. Die Denn dies gefährdet ihre sogenannte zu beantworten. Verurteilung von Verbrechen gegen Salonfähigkeit und schadet sowohl im Historisch ist der europäische Juden im Zweiten Weltkrieg wirkt oft Wahlkampf als auch dem Streben nach Rechtsnationalismus eng mit Antise- angelernt und geht ihnen nicht leicht allfälligen Regierungsbeteiligungen. mitismus verwoben. Die Kräfte, die im von den Lippen, weil sie damit auch So hat Marine Le Pen ihren Vater und 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahr- nationale Schuld eingestehen müs- Front-National-Gründer Jean-Marie hundert das Volk und die Nation zum sen. Auch in den rechtspopulistischen aus der Partei ausgeschlossen, Heinz- Angelpunkt eines ganzen ideologi- Parteiprogrammen und Reden sind oft Christian Strache fährt nach Israel, schen Gebäudes machten, betrachteten Spuren des alten Antisemitismus zu trifft sich dort mit radikalen Siedlern die Juden als bedrohlichen Fremdkör- erkennen: Die Attacken auf die Globali- und bietet sich österreichischen Juden per. Der Faschismus, der noch inten- sierung und die transnationale Europä- als Verbündeter im Kampf gegen mus- siver Feindbilder einsetzte, wollte auf ische Union spiegeln die alten Vorur- limischen Antisemitismus an. Selbst Antisemitismus auch nicht verzichten. teile gegen „heimatlose Gesellen“ wie- die rechtsextreme ungarische Jobbik Zwar war keine andere faschistische der, die Anfeindung von Banken und

Der typische Anhänger oder Funktionär einer rechtspopulistischen Partei mag feste Vorstellungen von der vermeintlichen Macht der Juden, ihrem Reichtum oder überzogenen Privilegien haben, aber das beschäftigt ihn nur am Rande.

10 2 | 2017 © STEFAN BONESS/VISUM/PICTUREDESK.COMSTEFAN ©

Bankern die Diskreditierung des „jü- aber das beschäftigt ihn nur am Rande. reichte, Teil einer umfassenden Welt- dischen Finanzkapitals“, und auch die Viel stärker ist die Ablehnung von Ein- anschauung, die Sozialdarwinismus ständige Vermutung von großen inter- wanderern, Ausländern und vor allem mit Rassentheorien verband. Auch das nationalen Verschwörungen erinnert Muslimen. Selbst ultra-orthodoxe ist heute Geschichte. Außerhalb einer an die Protokolle der Weisen von Zion Juden rufen trotz ihrer Fremdheit im kleinen ultrarechten Szene sieht nie- und andere antisemitische Mythen. Aussehen und Auftreten relativ wenige mand in Europa mehr Juden als min- Und wenn Rechtspolitiker im Namen Aggressionen hervor. Was wir heute derwertige Rasse. des Tierschutzes beziehungsweise des meist sehen, sind antijüdische Vorur- Die neue Ideologie der Rechtspopu- Kindeswohls das Verbot von Schäch- teile aus Gewohnheit, ein Antisemitis- listen beruht auf der Idee eines „Kamp- ten und Beschneidung verlangen mus ohne Eifer. fes der Kulturen“ (Copyright Samuel – und Letzteres gar mit der Genital- Das ist ein grundlegender Unter- Huntington), in dem der radikale Islam verstümmelung bei Mädchen gleich- schied gegenüber der Einstellung in die Demokratie und die westlichen setzen –, dann richtet sich das zwar den meisten europäischen Ländern im Werte bedroht. Diese werden, einer US- vor allem gegen Muslime, aber sie neh- 19. und frühen 20. Jahrhundert bis hin- amerikanischen Tradition folgend, als men die Einschränkung der religiösen ein in die 1960er-Jahre. Für frühere Ge- „jüdische-christliche Kultur“ bezeich- Rechte jüdischer Mitbürger zumindest nerationen war Antisemitismus eine net und mit Humanismus und Auf- in Kauf. Und in den Funktionärsriegen treibende emotionale Kraft und oft der klärung in Verbindung gebracht. Auch sind in den meisten Parteien immer Kern der politischen Weltanschauung, Strache hat diese Diktion übernom- wieder besorgniserregende Querver- in vielen Fällen eine Obsession. Ohne men, so etwa in der Jerusalemer Erklä- bindungen zur rechtsextremen Szene sie wäre die mörderische Dynamik, die rung von 2010 bei einem gemeinsamen zu beobachten, ebenso eine Tendenz Europa in den 1940er-Jahren erfasst Israel-Besuch mit Wilders und anderen zu antisemitischen Ausritten in sozi- hat, nicht möglich gewesen. westeuropäischen Rechtspopulisten. alen Medien. Der zweite große Unterschied zu Zwar ist der FP-Chef jüdischen Werten früher ist das Fehlen einer ideologi- in Wahrheit genauso wenig verbun- Antijüdische Vorurteile schen Grundlage für Antisemitismus. den wie christlichen. Aber indem er aus Gewohnheit Die jahrtausendealte Judenfeindlich- den Begriff verwendet, nimmt er dem Dennoch gibt es gute Gründe, die keit des Christentums beruhte auf fe- Antisemitismus in den Reihen seiner Gefahr nicht überzubewerten. Antise- sten theologischen Vorstellungen von Partei jede Legitimität. mitische Ressentiments mögen in die- den Juden als Christusmörder und Antisemitismus ist in rechtspopu- sen Kreisen weit verbreitet sein, aber Verräter am wahren Glauben. Keine listischen Parteien und Kreisen latent sie sind heute selten intensiv. Der typi- etablierte Kirche in Europa vertritt vorhanden und wird immer wieder sche Anhänger oder Funktionär einer heute diese Thesen auch nur annä- hervorbrechen – genauso wie Homo- rechtspopulistischen Partei mag feste herungsweise. Genauso war der ras- phobie und Sexismus. Das gehört kri- Vorstellungen von der vermeintlichen sistische Antisemitismus, der im 19. tisiert und verurteilt. Aber anders als Macht der Juden, ihrem Reichtum Jahrhundert hochkam und im Natio- früher gibt es für Europas heute wenig oder überzogenen Privilegien haben, nalsozialismus seinen Höhepunkt er- Grund, sich davor zu fürchten. nu

2 | 2017 11 Aktuell

Von Tomaten zu den Mäusen und Menschen

Yonatan Nissenbaum ist der einzige israe- Noch haben ihn weder der „Wien lische Forscher am renommierten Wiener Tourismus“, noch die für Betriebsan- siedlung zuständigen Einrichtungen Institut für Molekulare Biotechnologie. Er der Stadt entdeckt, aber sie sollten ihn arbeitet an Projekten zur Umwandlung von kennenlernen. Yonatan Nissenbaum Zellen, die krankes Gewebe ersetzen sollen. spricht mit so großer Begeisterung von Wien, dass er als Werbeträger wunder- Im NU-Gespräch erzählt er, wie er nach Wien bar einsetzbar wäre. kam und warum er diesen Forschungsstand- Der Mann, der Wien so unwiene- ort seinen Kollegen daheim empfiehlt. risch lobt, ist Israeli. Er forscht am größten Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem VON PETER MENASSE (TEXT) UND Institut für Molekulare Biotechnologie MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS) (IMBA), einer der weltweit führenden

12 2 | 2017 „Es werden einem hier Bedingungen geboten, die es erlauben, sich auf die Forschung zu konzentrieren. Das Leben ist viel einfacher zu managen als in den USA. Vor allem die Ausbildung der Kinder ist deutlich billiger als dort.“

Einrichtungen für biomedizinische wunderbar, in einem funktionierenden Grundlagenforschung. Klingt kompli- Sozialsystem zu leben. Das schätze ich ziert – ist es auch. Aber dazu später. als Vater besonders. Es werden einem Yonatan Nissenbaum kam auf hier Bedingungen geboten, die es er- weiten Umwegen hierher. Noch vor lauben, sich auf die Forschung zu kon- seinem Studium arbeitete er in Hong- zentrieren. Das Leben ist viel einfacher kong. Dort traf er eines Tages in der zu managen als in den USA. Vor allem Synagoge einen Landsmann, einen auf die Ausbildung der Kinder ist deutlich Durchreise befindlichen Universitäts- billiger als dort.“ professor für Landwirtschaft. Nissen- Bei einem gemischten Salat in baum kam mit ihm ins Gespräch und einem Lokal nahe dem Campus frage erhielt eine prägende Anregung: „Er ich ihn, ob er als Israeli Anfeindungen fragte mich, was ich studieren wolle. aus politischen Gründen ausgesetzt ist. Als ich antwortete, dass ich es noch Nein, dem sei nicht so, sagt er: „Als ich nicht wüsste, empfahl er mir sein Stu- herkam, war ich schon darauf vorbe- dienfach, die Landwirtschaft. Es sei reitet, dass es kritische Meinungen zu das ein sich dynamisch entwickelndes „Die israelische Forschung wird hier Israel geben würde. Aber überraschen- Gebiet mit enormen Zukunftsperspek- sehr bewundert“, meint Nissenbaum. derweise kam es nie zu solchen Ge- tiven. Wenn man wie ich China ken- sprächen. Es war eher so, dass immer, nengelernt hat, weiß man, wie viele wenn man von einer Terrorattacke Menschen auf dieser Welt es zu ernäh- Perspektiven bringen, die später seine hörte, mich die Kollegen fragten, ob ren gilt. So begann ich also ein Studium Forschungen daheim befruchten. Auch jemand aus meiner Familie oder aus an der Fakultät für Landwirtschaft der Beiträge in renommierten ausländi- dem Bekanntenkreis betroffen wäre. Hebrew University in Jerusalem.“ schen, wissenschaftlichen Journalen Ich weiß relativ wenig über öster- Gegen Ende des Studiums wech- gehören zum Pflichtprogramm für reichische Politik. Ich meine nur, die selte Nissenbaum das Fach, weg von junge Forscher. Flüchtlingssituation hat hier das Be- der Landwirtschaft hin zur Human- Nissenbaum begann vorerst ein wusstsein dafür geschärft, in welchem genetik oder, wie er es darstellt: „Ich weiteres Post-Doc-Forschungsprojekt Umfeld sich Israel befindet.“ Auch ein wechselte von den Tomaten zu den über Stammzellen an der Hebrew Uni- Boykott einer wissenschaftlichen Zu- Mäusen und Menschen. Obwohl mein versity. Im Jahr 2014 bewarb er sich sammenarbeit mit Israel, auf den ich früherer Professor immer sagte, dass dann bei Professor Penninger in Wien ihn anspreche, ist in Wien kein Thema: der Vorteil, an Tomaten zu forschen, und wurde in dessen Forschungs- „Ja, man hört von eher einzelnen Pro- darin bestünde, dass man das Material gruppe aufgenommen. Jetzt lebt er fessoren, vor allem aus Großbritan- am Ende essen kann.“ mit seiner Frau und drei seiner vier nien, die sich so verhalten. Aber weder Kinder in Wien und scheint rundum in Deutschland noch in Österreich ist Bekämpfung von glücklich zu sein: „IMBA ist so etwas mir so etwas untergekommen. Im Ge- chronischen Schmerzen wie ein Geheimtipp. Die meisten mei- genteil: Die israelische Forschung wird Sein erster Studienabschluss vor ner Studienkollegen sind entweder an hier sehr bewundert, und wo immer rund 15 Jahren führte ihn schließlich das MIT oder die Harvard University sich Kooperationsmöglichkeiten erge- zur Forschung auf dem Gebiet der Be- gegangen, weil sie dort die besten Vor- ben, werden sie auch genutzt.“ kämpfung von chronischen Schmer- aussetzungen zum Forschen vermutet zen. Auf diesem Feld gab es damals haben. Aber die Infrastruktur und die Der Wiener Cherrytomaten-Züchter schon mit Professor Josef Penninger, Förderungen hier bei IMBA brauchen Ein Blick auf die kleinen Tomaten in dem Leiter des IMBA in Wien, eine in- keinen Vergleich zu scheuen. Es gibt seinem Salat bringt Nissenbaum dann ternationale Kapazität. Noch aber stan- hier wirklich gute Laboreinrichtun- auf eine Geschichte, die uns im wei- den familiäre Gründe einem Weggang gen und hervorragende Kollegen. Also teren Gespräch auf sein Forschungs- ins Ausland im Weg. Dabei muss ein Wien ist kleiner als Boston, aber wenn gebiet einbiegen lässt. „Wussten Sie, israelischer Forscher, wenn er denn mehr Israelis von den Bedingungen dass der Mann, der die Cherrytomaten später zu Hause im akademischen hier wüssten, würden auch mehr hier- gezüchtet hat, ursprünglich Wiener Feld arbeiten will, zuerst einmal meh- her wollen. Es gibt eine sehr großzü- war? Er heißt mit seinem israelischen rere Jahre Forschungsarbeit außer- gige Förderung für Forschung, und die Namen Nahum Keidar und wurde halb des Landes leisten. Das soll neue Gehälter sind in Ordnung. Es ist auch als Norbert Kammermann in Wien

2 | 2017 13 „Wir wollen erforschen, was in den ersten zwei Tagen an den Zellen so besonders ist, dass sie die Fähigkeit zur völligen Wiederherstellung haben. Wir untersuchen, welche Gene, welche Proteine in diesem Heilungsprozess mit im Spiel sind.“ geboren. Im Alter von acht Jahren, den Vorstellungen etwa der katholi- nologie noch effizienter zu machen. knapp vor dem sogenannten An- schen Religion kollidiert, die in diesem Die Forschungsgruppe im IMBA, der schluss, kam er nach Dänemark und Stadium schon von einem Lebewesen Nissenbaum angehört, will durch das später nach Schweden, wo er Land- spricht. Israelische Forscher haben Einbringen verschiedener Faktoren wirtschaft studierte. Er emigrierte hier weniger Probleme, weil in der jüdi- erreichen, dass sich mithilfe der neuen dann nach Israel und wurde Professor schen Religion ein Ei erst vierzig Tage Methode („transdifferentiation“) etwa für Feldfrüchte und Landwirtschaft. nach seiner Befruchtung als Lebewe- die Bindegewebszellen des Narbenge- Ihm gelang es, die kleinen Tomaten sen gilt. Zusätzlich besteht das ungelö- webes nach einem Herzinfarkt wieder so zu züchten, dass sie wirtschaftlich ste Problem, dass Stammzellen unkon- zu funktionstüchtigen Herzzellen um- verwertbar wurden. Er und die Hebrew trolliert wuchern können. Ersetzt man wandeln lassen. University sind im Besitz vieler welt- beispielsweise das Narbengewebe, das Am Weg durch das Gebäude von weit geltender Patente zu den verschie- sich nach einem Herzinfarkt gebildet IMBA hin zu seinem Laborplatz zeigt denen Formen von Cherrytomaten.“ hat, durch Stammzellen, kann es zu Yonatan Nissenbaum wieder seine So kommen wir schließlich zur For- Wucherungen und schließlich zu Tu- ganze Freude. Ihm gefällt die Archi- schung an Mäusen und Menschen. moren kommen. tektur, er liebt seinen Arbeitsplatz, er Nissenbaum arbeitet an zwei Projek- schwärmt von den Kollegen – er ist, ten. Das größere betrifft die Regene- Sonniges Wesen und wie es scheint, ein rundum zufriedener ration von Herzzellen. „Wenn jemand brillanter Geist Mann. Oder anders gesagt, er ist ein la- einen Herzinfarkt erleidet, sterben eine Vor kurzem hat nun der japanische chender, freundlicher Israeli mitten in Vielzahl von Zellen ab, die für die Ar- Wissenschaftler Shinya Yamanaka Wien. An der Wand der großen Halle beit des Herzens wichtig sind. Es bildet entdeckt, wie sich reife Zellen in soge- im Erdgeschoss des IMBA-Gebäudes sich dort Narbengewebe, welches das nannte iPS-Zellen umwandeln lassen. prangt eine Aufschrift: „What if God Herz wie ein Schild schützt, aber seine Der Forscher hat dafür den Nobelpreis was wrong“. Ob Gott unrecht haben Funktion nicht unterstützen kann. Da- für Medizin bekommen. IPS-Zellen könne, sei nicht sein Thema, meint der durch lässt die Herzfunktion mehr und sind Zellen, die sich wie Stammzellen Wissenschaftler für Genetik kritisch, mehr nach. Wenn man jedoch ein Baby verhalten, aber aus Körperzellen durch wenn auch freundlich, wie es seine untersucht, sei es ein Mäuse- oder ein die Zugabe bestimmter Gene gewon- Art ist. Es geht also zusammen, in die Menschenbaby, das gerade ein bis zwei nen werden können. Man kann jetzt Grundfesten der Schöpfung einzu- Tage alt ist und aus irgendeinem Grund beispielsweise Hautzellen in Hirnzel- greifen und in der Synagoge zu beten. eine Herzattacke erlitten hat, erkennt len umwandeln, braucht also nicht Yonatan Nissenbaum jedenfalls bringt man, dass das Herz sich voll regenerie- mehr die noch „unbeschriebenen“ ein authentisches Stück Israel nach ren kann. Nach ein paar Wochen ist das Stammzellen. Im Moment wird inten- Wien: ein sonniges Wesen und einen Organ vollkommen wiederhergestellt. siv daran gearbeitet, diese neue Tech- brillanten Geist. nu Das funktioniert allerdings nur ganz am Anfang. Wir wollen erforschen, was in den ersten zwei Tagen an den Zellen Peter Menasse und so besonders ist, dass sie die Fähigkeit Yonatan Nissen- baum vor der Auf- zur völligen Wiederherstellung haben. schrift „What if God Wir untersuchen, welche Gene, welche was wrong“ Proteine in diesem Heilungsprozess mit im Spiel sind.“ Parallel dazu arbeitet Yonatan Nissenbaum an einer zweiten For- schungslinie. Noch vor kurzem war man der Ansicht, dass nur sogenannte embryonale Stammzellen geeignet seien, sich zu jeder anderen Art von Zellen zu entwickeln. Allerdings führt die Arbeit mit Stammzellen zu Proble- men. Das erste ist ein ethisches Pro- blem, weil die Entnahme von Stamm- zellen aus einem befruchteten Ei mit

14 2 | 2017 Aktuell Für einen „intellektuellen Guerillakrieg“

Bret Stephens zählt mit Ich habe keine politische Heimat. Ich seinen 43 Jahren bereits zu fühle mich nicht mehr als Republika- ner. Ich bin aber sicherlich auch kein den renommiertesten poli- Demokrat. tischen Kolumnisten Ame- rikas. Martin Engelberg traf Nur wegen Donald Trump? Ja. Ich kann nicht Teil einer Partei den US-Journalisten in New sein, die sich mit vollem Herzen Do- York, im berühmten Haupt- nald Trump unterworfen hat. Also gebäude der New York momentan bin ich ein Mann ohne Partei. Es ist für die Gesundheit der Times in Manhattan. amerikanischen Demokratie sehr wichtig, eine konservative Partei zu haben, die sich im Zentrum der frei- VON MARTIN ENGELBERG (TEXT) heitlichen, demokratischen Werte UND RACHEL ENGELBERG (FOTOS) bewegt. Damit meine ich den hohen Stellenwert des Rechtsstaates, der Meinungsfreiheit, des Freihandels NU: Sie sind als Neo-Konservativer einer oder der Immigration – und dass die der schärfsten Kritiker des neu gewähl- USA weiterhin die freie Welt anfüh- ten US-Präsidenten Donald Trump. Wie ren. Bei allen Differenzen innerhalb kommt das? der Republikanischen Partei waren Stephens: Es ist tatsächlich bemer- das jene Werte, die den Kern der ame- kenswert, dass die meisten Neocons rikanischen Demokratie bildeten. Wir Gegner von Donald Trumps Kandida- mussten beobachten, dass sich diese tur waren. Die Tatsache, dass Donald Werte in Europa mit dem Aufstieg Trumps Charakter und Ideologie so von Bewegungen wie jener von Le von den besten amerikanischen Tra- Pen, aber auch solcher in Österreich, ditionen abweichen, war der Grund, in den vergangenen Jahren zuneh- warum so viele von uns gegen ihn mend abnützten. Und jetzt erleben waren und sind. Den Neo-Konserva- wir es bei der wichtigsten Demokra- tiven liegen Demokratie, Rechtsstaat- tie der Welt. Das ist sehr beunruhi- lichkeit und Menschenrechte sehr am gend. Wir müssen so etwas wie einen Herzen. intellektuellen Guerillakrieg führen, um die Kontrolle über die Republi- Wie geht es jetzt weiter? Wie gehen kanische Partei wiederzugewinnen. Sie mit der Tatsache um, dass Donald Zumindest müssen wir Konservative Trump der Kandidat der Republikani- davon überzeugen, dass die Präsi- schen Partei war? Wo wird jetzt Ihre po- dentschaft Trumps nicht nur den litische Heimat sein? USA als Ganzem, sondern auch ihrer

2 | 2017 15 Partei und ihren politischen Grund- Gehen wir zurück zur Zeit des großen sätzen schadet. Einflusses der Neocons auf die Präsi- dentschaft von George W. Bush, insbe- Wie erklären Sie sich überhaupt, dass sondere auch hinsichtlich des Irak-Krie- Trump der Kandidat der Republikani- ges. Wie war das rückblickend? schen Partei werden konnte? Die Leute vergessen, dass Saddam Es war eine Kombination mehrerer Hussein 25 Jahre lang eine globale Si- Faktoren: einerseits stagnierende cherheitskrise war. Er selber war eine Einkommen; dazu der Aufstieg von Massenvernichtungswaffe. Saddam Investoren, die sehr von den nied- Hussein war für den Tod von zumin- rigen Zinsen profitierten, während dest einer Million Menschen verant- die Sparer sehr darunter litten; und wortlich. Er war der Initiator des Iran- schließlich die Abwanderung von Irak-Krieges, welcher der tödlichste Produktionsstandorten infolge der in der Geschichte des Nahen Ostens Globalisierung der Märkte. Alle diese war, schlimmer noch als der Bürger- Tendenzen schufen einen wirtschaft- krieg in Syrien. Er führte im Irak ein lich verunsicherten und wütenden Terrorregime, das an die Verbrechen Mittelstand, der Trumps Kandidatur des Stalin-Regimes erinnert. 1991 be- und Sieg begründete. Das ist aber na- setzte er Kuwait und rief damit eine türlich nicht alles. Es gibt auch eine internationale Krise hervor. Er wollte politische Erklärung. Wir haben in tatsächlich Atomwaffen entwickeln. den USA eine zunehmend polarisierte Das erste Mal zerstörte Israel 1981 den Politik, die sich durch bestimmte Fak- Atomreaktor, und als dann 1991 Waf- toren unseres politischen Systems feninspektoren in den Irak kamen, verschärft hat. Es gibt auch eine kultu- „Momentan bin ich ein Mann ohne Partei.“ waren sie überrascht, wie fortge- relle, ja fast philosophische Erklärung: schritten sein Atomprogramm war. Wir haben als Staat die Standards aus Und schließlich stellten wir fest, dass dem Blick verloren, die für den Präsi- Trump nicht die vollen vier Jahren Saddam Hussein mit der Produktion denten der USA angebracht sind. Wir im Amt bleiben kann, sondern schon von Massenvernichtungswaffen be- haben übersehen, dass Demagogie früher zurücktreten muss, ist meiner ginnen wollte, sobald die internatio- ein Faktor in der Politik ist. Es ist fas- Meinung nach eher hoch. Trump hat nalen Sanktionen beendet würden. zinierend, darüber zu sinnieren, dass eine Art, sein eigenes Chaos zu schaf- Und die Sanktionen wurden Schritt gerade jener Mann, der intellektuell fen. Er ist außerordentlich ignorant für Schritt abgebaut, bis zur Invasion die oberflächlichste und am schlech- gegenüber den Gesetzen und Normen, im Jahr 2003. testen informierte Person ist, die je welche die Präsidentschaft bestim- Präsident der USA wurde, Anlass gibt, men, sodass er durchaus in Fallgruben Sie waren damals für diesen Krieg. Den- die tiefsten philosophischen Fragen stolpern könnte. Es gibt etwas Unun- ken Sie noch immer, dass es die richtige über die Natur einer liberalen Demo- terdrückbares in seinem Charakter Entscheidung war? kratie neu zu stellen. – er kann nicht anders. Er lügt auch Es gehört zu den staatsmännischen die ganze Zeit, und das wird seine Aufgaben, Entscheidungen zu treffen, Was erwarten Sie für die Zukunft? Wird Auswirkungen haben. Andererseits ohne zu wissen, was die Zukunft brin- Trump vier, vielleicht sogar acht Jahre läuft die Wirtschaft relativ gut, wir gen wird. Es gab viele Fehleinschät- im Amt bleiben? haben Vollbeschäftigung, die Zahl der zungen. Und es war nicht so sehr die Ich habe gelernt, dass es unklug ist, Arbeitsplätze steigt. Stellen wir uns Frage des Krieges, sondern die Umset- Voraussagen zu machen, zumal ich vor, dass sich der Aufschwung weiter zung des Friedens ging daneben. Das sicher war, dass er nie der Kandidat fortsetzt, die Wirtschaft floriert, eine ist die Realität. Jeder, der heute sagt, der Republikaner werden könne, ganz Krise in Europa oder auch Asien eine dass es kein Fehler war, ist ein Idiot. zu schweigen vom Präsidentenamt Kapitalflut in die USA verursacht und Wenn man intelligent und intellektu- der Vereinigten Staaten. Der dänische die USA immer mehr prosperieren. ell ehrlich ist, dann war es viel kom- Physiker Niels Bohr hat dazu einmal Dann werden die Leute sagen: O.K., er plizierter. Natürlich hat sich meine gesagt: „Vorhersagen sind schwierig, ist ein bisschen krass, aber es ist ganz Ansicht geändert. Ich war der Über- besonders wenn sie die Zukunft be- in Ordnung so. Es ist also wirklich zeugung, dass sich Demokratie leich- treffen.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass schwierig zu sagen. ter umsetzen ließe, als es sich dann

„Es ist für die Gesundheit der amerikanischen Demokratie sehr wichtig, eine konservative Partei zu haben, die sich im Zentrum der freiheitlichen, demokratischen Werte bewegt.“

16 2 | 2017 BEZAHLTE ANZEIGE BEZAHLTE herausstellte. Damals gab es einige Hätten die USA in Syrien intervenieren Beispiele, dass despotische Regime sollen? zu Demokratien werden konnten. Es gab eine Zeit, als der syrische Prä- Wir dachten, wenn sich Demokratie sident Assad extrem angreifbar war. in Ländern wie Polen und Rumänien Als Assad begann, seine Gegner aus einführen lässt, warum nicht auch der Luft zu bombardieren, hätten wir im Irak. Doch die Wahrheit ist: Wenn seine Flugplätze und Flugzeuge zer- Saddam Hussein an der Macht geblie- stören können. Das wäre das Ende von ben wäre – stünden wir dann heute Assad gewesen. Kann ich garantieren, wirklich besser da? Ich denke, nein. dass das Ergebnis in Syrien perfekt Manche Leute sagen, er wäre heute gewesen wäre? Nein, aber die stärkste vielleicht ein Gegengewicht zum Iran. Oppositionskraft war zumindest da- Vielleicht. Oder aber wir hätten jetzt mals die freie syrische Armee – und nicht nur eines, sondern zwei Krisen- nicht die islamistischen Milizen, die zentren in der gleichen Region. Man- zu dieser Zeit noch gar nicht existier- che sagen, wir hätten heute den IS ten. Es ist schwer vorstellbar, dass das statt Saddam. Aber das stimmt nicht. Ergebnis schlimmer gewesen wäre als Der IS entstand, nachdem die USA das, was wir jetzt haben. ihre Truppen aus dem Irak abgezogen hatten. Es war die Abwesenheit der Halten Sie weiterhin an der Vorstellung Macht der USA, nicht deren Anwesen- fest, dass die USA die Rolle eines Welt- heit, welche die Krise im Irak hervor- polizisten beibehalten sollte? rief. Was ist die Alternative? Bevorzugen Sie Russland? Oder die Vereinten Na- In Europa herrscht die Meinung, dass tionen? Ist die Europäische Union zu der Irak-Krieg ein großer Fehler war einem gemeinschaftlichen Vorgehen und dass die Europäer heute unter den bereit? Die Vereinigten Staaten sollten Folgen der amerikanischen Interventio- nicht der Priester der Welt sein. Die nen leiden, weil diese die gegenwärtige Aufgabe eines Priesters ist es, Seelen Flüchtlingskrise auslösten. zu retten. Wir sollten lediglich gutes Verzeihung, die Flüchtlingskrise Benehmen entwickeln und unterstüt- wurde ausschließlich durch das zen. Die Rolle eines Polizisten ist eine Nichteingreifen im syrischen Bürger- andere: Ich stehe hier und stelle si- krieg ausgelöst – zu einem Zeitpunkt, cher, dass sich gute Bürger sicher füh- wo die Krise noch hätte verhindert len und dass böse Bürger wissen, dass werden können. Untätigkeit hat Kon- sie beobachtet werden. Und wann sequenzen. immer ein Verbrechen verübt wird, ist

Martin Engelberg trifft Stephens im berühmten Hauptgebäude der New York Times.

2 | 2017 17 es wichtig, dass es der gute Mann ist, der die Waffe hat. Weil die Alternative ist, dass der böse Mann die Waffe hat, und wir wissen, wohin das im Jahr 1939 geführt hat.

Sie sprechen auch immer wieder von einer Zunahme des Antisemitismus in den USA. An welchen Indikatoren ma- chen Sie das fest? Es gibt eine Gefahr von links und von rechts. Auf der Linken ist es der Aufstieg der BDS-Bewegung (die Boy- kott-Bewegung gegen Israel), die eine antisemitische Bewegung ist, auch wenn ihre Anhänger das nie zugeben werden – nur einen Staat herauszu- greifen und so zu agieren, dass man sich an die Nazis und deren Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte er- innert fühlt. Gleichzeitig gibt es einen steigenden Antisemitismus auf der Rechten. Dort hat es viel mit Ver- schwörungstheorien zu tun. Die Rech- ten sagen: Es ist nicht nur, dass die Juden böse und degeneriert sind, sie beherrschen die Welt. Trump ist ein Verschwörungstheoretiker. In seinem Wahlkampf gab es eine Kampagne gegen internationale Banker, gegen die Medien, gegen die Globalisierung. Ich glaube nicht, dass Trump dabei nur eine Sekunde an Juden denkt. Er ist nicht antisemitisch. Aber jeder An- Die Dinge werden schlimmer wer- Bret Stephens war 2002-2004 Chefredakteur tisemit denkt sich: Er ist auf dem rich- den. Europa hat nicht die politischen der englischsprachigen Tageszeitung Jerusa- lem Post in Israel. Danach arbeitete er zwölf tigen Weg, denn am Ende des Weges Mittel, um sich aus seiner Krise zu Jahre lang bei der führenden konservativen US- stehen die Juden. befreien. Wo ist heute eine Margret Tageszeitung Wall Street Journal als außenpo- Thatcher in Europa? litischer Kolumnist und stellvertretender Leiter Es ist doch unvorstellbar, dass Anti- der Kommentarseiten. Für viele überraschend semitismus in den USA Teil des politi- Mit den heurigen Wahlen in verschiede- wechselte er im April 2017 zur liberalen New schen Diskurses wird. nen europäischen Ländern könnte auch York Times, wo er mit seinen Kommentaren für heftige Debatten sorgt. Er erhielt im Jahr 2013 Dasselbe hat man im Deutschland eine positive Entwicklung entstehen. den begehrten Pulitzer-Preis, den „Oscar“ der der 1920er-Jahre gesagt. Wenn sie ein Bleiben wir hoffnungsfroh, aber leider Medienbranche. Deutscher im Jahr 1925 waren, hätten bin ich nicht optimistisch. Auch was Stephens gilt politisch als „Neocon“ (Neo- sie sich vorstellen können, was einige den Antisemitismus betrifft. Da gibt es Konservativer). Diese politische Denkrichtung Jahre später geschah? Ich sage nur, ja jetzt auch noch dazu einen neuen hat – was oft vergessen wird – historische dass es gewisse Entwicklungen gibt, Antisemitismus. Der Unterschied zu Wurzeln in der Demokratischen Partei bzw. die beunruhigend sind. den USA: Gibt es in den USA einen der Linken in den USA der 1960er-Jahre. Gro- ßen Einfluss hatten neo-konservative Denker Ort, wo ich Angst hätte, eine Kippa zu besonders in der Administration des US-Präsi- Was wird in Europa Ihrer Meinung nach tragen? Nein, kein einziger, außer in denten George W. Bush. Sie befürworteten die passieren? einer Reform-Synagoge. nu Invasion im Irak im Jahr 2003.

„Trump hat eine Art, sein eigenes Chaos zu schaffen. Er ist außerordentlich ignorant gegenüber den Gesetzen und Normen, welche die Präsidentschaft bestimmen, sodass er durchaus in Fallgruben stolpern könnte.“

18 2 | 2017 Aktuell Die Abrissbirne der amerikanischen Demokratie?

Trumps erste hundert Tage Noam Chomsky hat noch nie mit Das „Islam-Dekret“ sind vorbei, eine Gelegen- harten Worten zur amerikanischen Das Einreiseverbot für Angehörige Politik gespart, die zu Donald Trump von sieben „islamistischen“ Staaten, heit, um in seiner Welt von fielen allerdings besonders kräftig aus: das von ihm gleich nach seiner Amts- „alternative facts“ und „fake Er spricht von einer „Talibanisierung“ übernahme verhängt und sofort von news“ nach tatsächlichen der amerikanischen Gesellschaft und einem Bundesrichter aufgehoben behauptet, dass der rechte Flügel der wurde, ist sicher noch vielen in Erin- Fakten zu fragen. Republikaner nur eine einzige Agenda nerung. Das Dekret sollte eines seiner habe, nämlich „alle Teile des Staates vielen Wahlversprechen, nämlich das aufzulösen, die für das Allgemeinwohl der Ausrottung islamistischen Terrors VON PETER WEINBERGER verantwortlich sind und der Profitma- in den USA, einlösen. Die Faktenlage ximierung von Großkonzernen und ist allerdings, wie die Statistik verübter den Reichen in der Gesellschaft im Kapitalverbrechen zeigt, eine ganz an- Wege stehen“. dere als von ihm vorgegeben. Und es

„I am the least antisemitic person you have ever seen in your entire life“ © EVAN VUCCI © / EVAN AP / PICTUREDESK.COM

2 | 2017 19 dauerte nur ein paar Tage, bis die New rikanisch-mexikanischen Grenze er. Damit leugnete er nicht nur den York Times bzw. die Washington Post dem derzeitigen Budget nach bereits Stand der wissenschaftlichen Er- herausfanden und genüsslich berich- in weite Ferne gerückt ist. Geschätzte kenntnisse bezüglich des Klimawan- teten, warum z.B. Ägypten oder Saudi- Errichtungskosten von 25 bis 30 Mil- dels, sondern stellte auch die Weichen Arabien von diesem Dekret nicht be- liarden Dollar sowie die notwendige für einen Kahlschlag bei Umweltauf- troffen waren: Dort betreiben nämlich Beschäftigung von rund 1600 Juri- lagen. Bekanntlich hatte Trump den Trump-Firmen Golfplätze. Das Resul- sten für die Behandlung anhängiger Klimawandel im Wahlkampf als eine tat seiner ersten Anordnung ist auch Besitzansprüche haben bisher sogar „chinesische Erfindung“ bezeichnet. bestens bekannt: Chaos auf interna- Teile der Republikaner abgeschreckt. Wissenschaft und Wissenschaftlern tionalen Flugplätzen und heftige De- „Illegale“ kommen, wie sich belegen die Wissenschaftlichkeit abzuspre- monstrationen am JFK Airport, in Los lässt, vor allem mit Containerschiffen chen, scheint ein Markenzeichen Angeles und anderen großen Städten. und Gütertransporten ins Land und von Trumps Administration zu sein. nicht durch den Grenzzaun gekro- Obamas mehr als 300 Wissenschaft- Immigration & Mexiko-Mauer chen; der Drogentransport – ein wei- ler umfassende Beratungsagentur für Natürlich hat es auch unter Obama terer Grund für den Mauerbau – wird wissenschaftlich-technische Angele- Abschiebungen von kriminell gewor- zur Zeit einfach mittels tieffliegender genheiten verwaltet jetzt eine einzige denen illegalen Emigranten gegeben, Drohnen bewerkstelligt. Trumps im Person. aber noch nie war die Forderung, vor Wahlkampf immer wieder ausgespro- allem vom rechten Lager der Republi- chene Drohung, für die Mauer Mexiko Außen- und Verteidigungspolitik kaner, nach einer generellen Abschie- zahlen zu lassen, hat sich angesichts Die zweitgrößten Kürzungen bung aller „undocumented persons“, der Tatsache, dass Mexiko der bei (minus 19 Prozent) im neuen Budget- also von ausländischen Staatsbürgern weitem wichtigste Abnehmer land- vorschlag betreffen das Außenmini- ohne entsprechende Aufenthaltsbe- wirtschaftlicher Produkte aus den sterium, da Trump (bisher) Diplomatie willigung (Visum, Green Card, etc.), USA ist (Importvolumen rund 20 Mil- für entbehrlich hält. Der neue Außen- derart forsch in der Öffentlichkeit zu liarden Dollar), in heiße Luft aufgelöst. wünscht überdies die frei ge- vernehmen. Trump versprach, die Die vielzitierten Strafzölle hätten z.B. wordenen Posten mit Managern statt Nationalgarde dazu einzusetzen und bewirkt, dass der vom Maisanbau ge- mit Diplomaten zu füllen. Nach wie vor drohte sogar, nicht kooperativen Städ- prägte „Corn Belt“ im Mittleren Westen sind im Außenministerium hunderte ten wie New York oder Los Angeles fi- der USA, in dem Trump bei der Wahl Stellen unbesetzt, und so fehlt die Ex- nanzielle Mittel zu streichen. Seriösen den größten Zuspruch hatte, innerhalb pertise in der diplomatischen Vertre- Schätzungen zufolge ist die Anzahl von Monaten bankrott gewesen wäre. tung, z.B. für die Neuverhandlung des der „Illegalen“ inzwischen auf etwa elf Freihandelsabkommens NAFTA zwi- Millionen angewachsen. Umwelt schen den USA, Kanada und Mexiko. Dazu muss man wissen, dass es Dem Budgetentwurf nach sollen Absprachen zwischen dem Weißen in den USA keine Meldepflicht gibt, künftig die finanziellen Mittel für die Haus und dem Außenministerium daher „Illegale“ brav Steuern zahlen, Umweltschutzbehörde EPA (Envi- sind übrigens bisher ausgeblieben. ihre Kinder in die Schule schicken ronmental Protection Agency) um 31 Trump führt Telefongespräche mit an- und sogar in sozial gehobenen Be- Prozent (2,6 Milliarden Dollar) gekürzt deren Staatschefs, ohne davon vorher rufen, wie z.B. als Anwalt, tätig sind. werden. Geplant ist auch, Schutzbe- irgendjemanden zu informieren. Trumps forsches Vorgehen bewirkte, stimmungen für Nationalparks und Das Verteidigungsministerium dass nun Hunderttausende, die seit Indianerreservate zu lockern und eine ist dagegen voll ausgelastet mit dem vielen Jahren in den USA leben, Wende in der Energiepolitik durchzu- Ausfüllen von Bestelllisten, da es Angst davor haben, irgendwann auf- setzen. Sofort nach Amtsantritt ver- einen massiven Budgetzuwachs er- gegriffen und wie Verbrecher abge- anlasste Trump, dass Informationen wartet. Nach der Einigung mit den schoben zu werden. Ein großer Teil über Umweltprobleme aus den Daten- Demokraten Anfang Mai wurden statt der „Illegalen“ stammt übrigens aus sätzen des Weißen Hauses gelöscht des erwarteten Zuwachses von 21 den mittelamerikanischen Staaten, wurden. Der neue Direktor der Um- Milliarden Dollar (plus zehn Prozent) eine simple Abschiebung von nicht- weltschutzbehörde, ein ehemaliger übrigens „bloß“ 15 Milliarden beschlos- mexikanischen Staatsbürgern über Anwalt der Kohlenbergwerke, erklärte, sen. Es scheint sich eine „Send the die Grenze nach Mexiko ist daher dass er nicht glaube, Kohlendioxid marines“-Diplomatie abzuzeichnen, schon legal gar nicht möglich. Dazu sei die Ursache für den Klimawandel. die seinerzeit äußerst erfolgreich in passt, dass Trumps Traum von einer Dazu reiche die wissenschaftliche Mittelamerika angewendet worden ist: gigantischen Mauer entlang der ame- Evidenz bei weitem nicht aus, meinte Nicaragua, zum Beispiel, wurde in der

Vor allem in den großen Städten regt sich massiver Widerstand gegen Trumps chaotische Politik: Hunderttausende Frauen gingen auf die Straße, um gegen sein Macho-Gehabe zu protestieren.

20 2 | 2017 Was auch immer Trump persönlich darstellt („I am the least antisemi- tic person you have ever seen in your entire life“), Tatsache ist, dass diese Einstellung nicht unbedingt für den Rest seines Kabinetts gilt.

Vergangenheit 22-mal von amerikani- bei einem Treffen der NRA (National Antisemitismus & Antiislamismus schen Truppen besetzt. Rifle Association), die mit großem Ende Februar meinte Trump noch, Erfolg seit Jahren verhindert, dass die jüngste Welle von antisemitischen Budget & Steuerreform der Gebrauch von Waffen in den USA Bombenalarmen und das Umstürzen Die weiteren vorgesehenen Kür- eingeschränkt wird. Klarerweise war von Grabsteinen auf jüdischen Fried- zungen im Haushalt betreffen u.a. die dieses Treffen ein willkommener An- höfen könnten, wie schon von einem Landwirtschaft (-21%), den Arbeits- lass, wieder einmal gegen die „Lügen- Trump-Berater auf Twitter behauptet, markt (-21%), das Justizministerium medien“ zu reiten. CNN und BBC, die politisch „koordiniert“ sein, um „Leute (-20%) und die Bildung (-14%). Die ein- New York Times und die Washington schlecht aussehen zu lassen“. Das zigen Gewinner außer dem Verteidi- Post sind seine bevorzugten Feinde, Wort „koordiniert“ ist wohl auf seine gungsministerium sind das Ressort die, wie er behauptet, „Lügen“ über die politischen Gegner, die Demokraten, für Veteranenangelegenheiten (+6%) großartigen Erfolge seiner Präsident- gemünzt, die er damit anpatzen will. und das Innenministerium (+7% für schaft verbreiteten. „Fake news“ ge- Die ADF (Anti-Defamation League) gab „homeland security“). Ein republikani- hört zu den Lieblingsworten in seiner sich ob dieser Wortwahl erstaunt und scher Wunschtraum wurde wahr. Von „reduced code“-Twitter-Sprache. verlangte eine Klarstellung. den versprochenen Milliardeninve- Anlässlich des Holocaust-Gedenk- stitionen in die Infrastruktur – „I will Erwachen der Zivilgesellschaft tages fand er dann, vielleicht nach make America great again“ – war üb- Während die Landbevölkerung in einem Hinweis seines Schwieger- rigens keine Rede mehr: Kein einziger den USA in der Zeit zwischen 1995 sohns, doch noch klare Worte: „Wir Dollar steht dafür zur Verfügung, ob- und 2015 nahezu konstant geblieben versprechen: nie wieder“ und „Leugner wohl die amerikanische Infrastruktur ist (etwa 60 Millionen), ist die Zahl der des Holocaust sind dessen Kompli- heute vielfach der eines Dritte-Welt- Stadtbewohner von 205 auf 262 Millio- zen“. Was auch immer Trump persön- Landes entspricht. nen gestiegen. Vor allem in den großen lich darstellt („I am the least antisemi- Von den Auswirkungen eines Städten regt sich massiver Widerstand tic person you have ever seen in your neuen Steuergesetzes ist relativ gegen Trumps chaotische Politik: Hun- entire life“), Tatsache ist, dass diese wenig bekannt, obwohl es vom Fi- derttausende Frauen gingen auf die Einstellung nicht unbedingt für den nanzminister bereits als die größte Straße, um gegen sein Macho-Gehabe Rest seines Kabinetts gilt. Steuererleichterung in der Geschichte zu protestieren, Zehntausende zogen Genau auf diesen Aspekt konzen- der USA gepriesen worden ist. Prä- durch Washington, um ihren Missmut trierte sich Michelle Goldberg in der sentiert wurde bisher nicht mehr als über das Ableugnen des Klimawandels New York Times mit einem eindrucks- eine Absichtserklärung in Form einer und die Abschaffung von Umweltauf- vollen Kommentar. „Die verschiede- Punktation auf einem einzigen Blatt lagen zu zeigen, und ebenso viele Wis- nen Formen der wiedererwachten Papier. Außer einer Senkung der Un- senschaftler demonstrierten für ihr Bigotterie in Trumps Amerika sind ternehmenssteuer auf etwa 20 Pro- Anliegen: dass Fakten und Ergebnisse alle miteinander verzahnt. Antisemi- zent scheint sich eine gewaltige Um- wissenschaftlicher Forschung zur tismus ist nur ein Teil davon. … Das verteilung zugunsten der obersten 5 Kenntnis genommen werden. Unzäh- Paradoxe im heutigen Amerika ist, Prozent anzubahnen. Oder, wie es ein lige kleinere Initiativen wenden sich dass ,kodierter‘ Antisemitismus ein demokratischer Senator ausdrückte: gegen den Umstand, dass das Weiße größeres Tabu darstellt als offene Isla- „Das ist keine Steuerreform, sondern Haus wie ein Familienunternehmen mophobie. … Ein amerikanischer Mus- ein gigantisches Steuergeschenk an geführt wird und der Präsident nach lim zu sein oder braune Hautfarbe zu die sehr, sehr Reichen, das die Schul- wie vor seinen Geschäften nachgeht. haben, muss heutzutage im Vorhinein denlast explodieren wird lassen.“ Ein Sie bekämpfen die Plutokraten, die bereits Angst hervorrufen.“ anderer meinte, Trump müsse zuvor nunmehr die Regierung bilden, ein Ka- Auch weil Trump anlässlich einer seine Steuererklärungen veröffentli- binett von politisch unerfahrenen Mil- Wahlveranstaltung sagte: „Das Wich- chen, damit man sehen kann, wie viel liardären. Innerhalb kürzester Zeit ist tigste ist, das Volk (‚the people‘) zu er selbst von dem von ihm vorgeschla- eine Zivilgesellschaft hervorgetreten, einen, weil die anderen Leute (‚the genen Steuergesetz profitiere. die selbst die seinerzeitigen Proteste other people‘) nichts bedeuten“. „An- gegen den Vietnamkrieg in den Schat- dere Leute“ zu sein, ist in der jüdischen Presse, „fake news“ und ten stellt. Das zeigt sich nicht zuletzt Geschichte wohlbekannt. Die Geister, öffentliche Lügen am Aufschwung des Papierwarenhan- die er rief, wird Trump offensicht- Aus Anlass der ersten hundert Tage dels: Die Nachfrage nach Utensilien zur lich nicht mehr los, wie die Welle von im Amt hielt Trump eine Rede vor Herstellung von Transparenten und Hass-Postings in den sozialen Medien ihm zujubelnden Freunden, nämlich Plakaten ist exponentiell gestiegen. zeigt. nu

2 | 2017 21 Unterwegs mit

Raunzen ist etwas sehr Jüdisches

Danielle Spera war unter- Die Frage, wo wir uns treffen, ist in- Dass sie oft als Tochter von Jazz- wegs mit der Sängerin und nerhalb von Sekunden geklärt: Es muss Gitti etikettiert wird, stört sie überhaupt etwas mit Israel zu tun haben, sagt die nicht. „Ich bin die Tochter von Jazz- Kulturschaffenden Shlomit Sängerin, Entertainerin und Schauspie- Gitti. Ich habe einen tollen Namen, ich Butbul. lerin Shlomit Butbul. Das „Hungry Guy“ heiße Shlomit Butbul. Wenn man mir Ecke Rotenturmstraße/Fleischmarkt noch einen Untertitel geben will, dann ist dafür genau richtig. Es duftet nach bitteschön! Ich bin sehr stolz auf meine frischem israelischen Fladenbrot, aber Mutter. Sie ist für mich eine einzigar- FOTOS: OURIEL MORGENSZTERN am späten Nachmittag möchte Shlo- tige Entertainerin. Manchmal geht sie mit bei den Pitot nicht mehr zugreifen, mir auf die Nerven. Aber bei welcher sondern bleibt diszipliniert bei einem Tochter ist das nicht der Fall?“ kühlen Minzegetränk. „Israel ist mein Baum, denn dort sind meine Wurzeln“, Unglaubliche Familiengeschichten sagt die 52-jährige dreifache Mutter, 1965 wird Shlomit Butbul in Israel deren Familiengeschichte und Auf- geboren. Schon ihre Mutter, die spätere wachsen alles andere als einfach war. legendäre Jazz-Gitti, mit bürgerlichem

22 2 | 2017 „An das Burgenland habe ich Kindheitserinnerungen, an die seltenen Ausflüge mit meiner Mama – zum Kirschenstehlen oder an den Nacktbadestrand. Meine Mutter hat das geliebt.“

Namen Martha (Margit) Butbul, war Für Shlomit ein Schock. Sie sprach jüdischen Wurzeln ihrer Schülerin be- dort mit einem schweren emotiona- ausschließlich Hebräisch und fand hutsam um. „Sie waren sehr lieb zu mir, len Rucksack hingekommen. Den Ur- sich als Sechsjährige in einer völlig ich hatte also auch da Glück. In der da- sprung bildete eine Rabbinersfamilie fremden Umgebung wieder. „Wir sind maligen Stimmung in Österreich galt aus Galizien, die sich Anfang des 20. am 21. Juni 1971 in Wien angekom- ich als Ausländerin, ich war quasi ein Jahrhunderts in Wien ansiedelte. Shlo- men und ich sollte im September mit schwarzes Kind, denn in Israel war ich mits Großmutter Frieda heiratet einen der Schule beginnen. Es war schwer. viel in der Sonne, jeden Tag am Strand. nichtjüdischen Mann namens Ferdi- Ein völlig anderes Leben, eine andere Das heißt, ich war eine Außenseiterin, nand. Er ist Chauffeur bei der SS, der Sprache. Meine Mutter hat bei der IKG auch in der jüdischen Jugendorganisa- sich aber für die Rettung des jüdischen um Hilfe gebeten, aber ohne Erfolg. Da tion Haschomer Hatzair, denn unsere Teils der Familie und anderer Jüdin- kam eine polnische Jüdin mit einem Familie hat nicht in das konservative nen und Juden einsetzt. Wegen ihrer marokkanischen Kind, ohne Geld, und Schema der damaligen Zeit gepasst.“ Ehe wurde Frieda allerdings vom Rest brauchte Hilfe. Als meine Mama dann der Familie mehr oder weniger versto- berühmt war, hat man ihr quasi eine Die Weltbürger ßen. Nach dem Krieg eröffnete sie das Ehrenmitgliedschaft angeboten. Sie Shlomits Mutter schaffte es irgend- erste Geschäft für „Waren aller Art“ am hat nur gesagt, damals, als ich Hilfe wie, Lokale zu gründen und war auf Mexikoplatz. „In meiner Familie gibt es brauchte, wolltet ihr mich nicht haben. dem Weg zur legendären Jazz-Gitti. Als wirklich unglaubliche Geschichten“, so Warum also jetzt?“ sie krank wurde, ging Shlomit nach der Shlomit Butbul. „Meine Großeltern hat- Eine nichtjüdische Tante springt Schule dort aushelfen, oft bis vier Uhr ten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ein und nimmt Shlomit bei sich auf. früh. So manche Dinge hätte sie gern eine Tochter, die an einem 13. Mai ge- Die Tante sprach kein Wort Hebräisch, geändert, die Mutter wollte aber von boren worden war. Sie wurde krank Shlomit kein Wort Deutsch. Dennoch der Tochter keine Ezzes. „Sie hat sich und starb, weil es nicht die richtigen wird sie zu einer engen Bezugsper- von mir nichts sagen lassen. Wir sind Medikamente gab. Neun Jahre später son, fordert allerdings, dass Shlomit beide sehr emotionell. Daraufhin habe kam meine Mutter Gitti auf die Welt, an getauft wird, aus Angst, dass es wie- ich mich mit 17 entschieden, nach Is- einem 13. Mai, genau wie ihre verstor- der einmal zum Nationalsozialismus rael zu ziehen.“ bene Schwester.“ kommen könnte. Shlomits Mutter Sie absolviert dort den Militärdienst Die Angst um dieses zweite Kind stimmt zu. Nach der Taufe landet Shlo- und trifft ihren Vater, den sie als Kind war überbordend, Gitti wurde ver- mit in einem katholischen Internat. kaum je gesehen hat. Ganz nebenbei wöhnt und mit Essen vollgestopft, er- Die Klosterschwestern gehen mit den erfährt sie, dass sie einen Halbbruder zählt Shlomit Butbul. Und erst im Alter hat, der eigentlich der Scheidungs-

von 14 Jahren, als ihre Mutter starb, © PRIVAT grund der Eltern war. „Er hat mich erfuhr Gitti, dass sie Jüdin ist. Mit 16 behandelt wie die reiche Schwester wurde Gitti zur Hochzeit ihrer Cousine aus Europa, das ist mir auf die Nerven nach Israel eingeladen, dann ging alles gegangen. Dennoch bin ich froh, dass recht schnell. Gitti lernte einen Israeli ich meinen Vater getroffen habe, ich kennen. „Übrigens der erste Sefarde in wollte ihn kennenlernen.“ Das war gut der Familie“, und es wurde geheiratet. so, denn wenig später starb der Vater Wenig später kam Shlomit zur Welt. im Alter von 42 Jahren. Die Ehe der Eltern stand allerdings von Eigentlich wollte Shlomit in Israel Anfang an unter keinem guten Stern. einen jüdischen Mann heiraten. „Das Der Vater fuhr zur See und war kaum war mir so wichtig, doch ich habe kei- zu Hause. Die Mutter musste arbeiten nen gefunden. Ich dachte, dass ich und so kam Shlomit als Baby zu Ziehel- dadurch mehr Stabilität bekommen tern nach Kiryat Haim bei Haifa. Diese würde. Das hielt das Leben aber nicht „Ersatzeltern“ sind bis heute wie ihre für mich bereit. Irgendwann habe ich Familie. Trotz der Kriegssituationen, das auch eingesehen und akzeptiert, ständiger Bedrohungen und oftmali- denn ich war ja Jüdin und konnte das gem Schutzsuchen im Bunker erinnert daher auch meinen Kindern weiterge- sie sich an viel Geborgenheit. Das alles ben. Ich wusste, da kann ja nichts pas- ändert sich abrupt, als sich ihre Mutter sieren.“ 1971 entscheidet, nach Wien zurückzu- Ohne Matura studiert sie Schauspiel kehren. Shlomit Butbul im Jahr 1970 und Gesang in Wien, Frankreich und

2 | 2017 23 Dänemark, überall mit Auszeichnung; sie spricht fünf Sprachen und erklärt voller Stolz, sie sei das beste Beispiel, dass man es im Leben auch ohne Ma- tura schaffen kann. Dann tritt ein Mann in ihr Leben, nicht jüdisch, aus Luxemburg. Jahre- lang betreiben die beiden ein Kultur- café in Luxemburg, ein Kindertheater, Shlomit geht mit einer Band auf Tour- nee. Drei Kinder (heute neun, zwölf und 15 Jahre alt) werden geboren. Es zieht sie zurück nach Österreich, doch Wien ist ihrem Mann zu groß, man einigt sich auf . „An das Burgen- land habe ich Kindheitserinnerungen, an die seltenen Ausflüge mit meiner Mama – zum Kirschenstehlen oder an den Nacktbadestrand. Meine Mut- ter hat das geliebt.“ Doch die Ehe hält nicht, Shlomit lebt heute in Scheidung Wo sich Spera und Butbul treffen, ist innerhalb von Sekunden geklärt: Es muss und hat in der Zwischenzeit einen etwas mit Israel zu tun haben und das „Hungry Guy“ ist dafür genau richtig. jüdischen Mann gefunden. Auch er stammt aus Luxemburg, lebt aber in Jüdin, alles an mir ist jüdisch, ich bin sach und Ostern, Chanukka und Weih- New York und unterrichtet dort eine eine jiddische Mamme. Ich möchte, nachten. Den Kindern liest sie viel spezielle Form von lateinamerikani- dass meine Kinder starke, soziale Men- über das Judentum vor. Anfangs hat scher Percussion. „Ich kann nicht von schen werden, die Werte haben, die sie Hebräisch mit ihnen gesprochen. ihm verlangen, dass er sein Leben auf- auch ich teile.“ Dann war es aber zu viel, denn sie sind gibt. Er heißt Jerome Goldschmidt und Wie es um die Religion steht? Mit mit vielen Sprachen aufgewachsen: mit jüdischem Namen Yitzhak ben ihrer Mutter gab es keine religiösen Deutsch, Luxemburgisch, Französisch, Levi, wie mein Vater. Das kann auch Feste, dafür mit ihren Zieheltern in Is- aber alle haben israelische Namen: kein Zufall sein. Ich bin eine richtige rael. Shlomits Kinder feiern alles, Pes- Noam, Nava und Naima. Sie leben und erleben alles, sie sollen Weltbür- ger werden. „Wir sind für den Frieden „Ich bin eine Israelin, ich diskutiere über alles oder nichts, ich bin schnell, ich kämpfe.“ selbst verantwortlich. Scholem ist mir wichtig, ich möchte auch in meiner Fa- milie Scholem haben.“

„Wien ist ein charmantes Dorf“ Shlomit Butbul kennt das Leben in den verschiedenen Ländern. Am Burgenland liebt sie das mediterrane Klima, die Ästhetik des Neusiedler Sees, dort hat sie das Gefühl, sie sei am Meer und die Menschen seien netter, freundlicher, hilfsbereiter, ganz abge- sehen von der jüdischen Geschichte des Burgenlandes. Die Synagoge und der Friedhof von Eisenstadt sind wich- tige Plätze für sie. Was verbindet sie mit Wien? „Wien ist ein charmantes Dorf geblieben. Und ich habe es gern, dass die Leute so

„Ich bin eine richtige Jüdin, alles an mir ist jüdisch, ich bin eine jiddische Mamme. Ich möchte, dass meine Kinder starke, soziale Menschen werden, die Werte haben, die auch ich teile.“

24 2 | 2017 „Es ist nicht gut, wenn man sein eigenes Nest beschmutzt, es ist doch viel besser, wenn man es sich schön gestaltet und das Gute aus seinen Wurzeln herausholt. Was man anfeindet, kommt zu einem selbst zurück.“ raunzen, das ist etwas sehr Jüdisches. Allerdings: die Juden raunzen, aber sie gehen weiter. “ Ihre Konzerte mit Lie- dern in hebräischer Sprache sind nicht nur in Wien begehrt. Und in ihrer bur- genländischen Wahlheimat hat sie den Kulturverein SHIR-Music gegründet. „Als ich begonnen habe, hebräische Lieder zu singen, war kein Platz dafür. Dieses Genre war ganz klar besetzt von Timna Brauer, mehr Platz gab es nicht. Unlängst kam nach einem Konzert eine Frau zu mir und sagte: ,Es macht gar nix, dass ma ihre Liada net versteht ...‘ Was mir so gefällt, ist, dass die Men- schen mir ganz verschieden begegnen. Es gibt ein großes Interesse am Juden- tum. Noch immer fühlen sich viele schuldig. Ja, es gibt Antisemiten, aber noch viel mehr Menschen, die ganz anders denken, daran soll man sich orientieren.“ Der Platz, an dem sie sich am mei- sten zu Hause fühlt, ist Israel. „Ich bin in Israel ein anderer Mensch, ich bin eine Israelin, ich diskutiere über alles oder nichts, ich bin schnell, ich kämpfe, ich bin tough. In Israel wird alles getan, dass die Frauen stark, aktiv und klug sind. Sie können aus jeder Si- tuation etwas machen. Gib mir ein Zelt und ich mach dir ein Schloss daraus. Die Menschen fahren in die Karibik, nach Asien, an die schönsten Strände, „Wir sind für den Frieden selbst verantwortlich.“ aber mein Strand ist der von Kiryat איך אומרים …? -Haim, wo meine Zieheltern leben. Der Fehler einer Mutter, die schönen Sei Geruch, die Limonadenverkäufer, das ten, aber auch die Gemeinheiten. Weil ist meine Heimat.“ ich auch Mutter bin. Eine Tochter ver- Prof. (FH) Mag. Julius Dem, MBA Apropos Familie: Ich frage Shlo- sucht immer, es besser zu machen – ob Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter mit, wie es sich mit einer so starken es mir gelingt, weiß ich nicht, aber ich Dolmetscher für Hebräisch Mutter lebt? „Ich war viel allein, heute bemühe mich jeden Tag. Manchmal ist יוליוס דם ,liebe ich sie, bewundere sie, wie sie meine Mutter ungerecht, emotional מתורגמן מוסמך לשפה העברית -alles geschafft hat. Sie ist, wie sie ist.“ laut. Ich gebe nicht auf, denn irgend Frieden zu machen, geht das mit ihr? wann wird sie nicht mehr sein. Ich will „Ihr Herz ist stärker als ihr Widerstand, dann nicht sagen, hätte ich nur ... Jede ÜBERSETZUNGEN – DOLMETSCHUNGEN ihre Liebe ist stärker als ihr Schmerz, Familie hat ihre Geschichte, ich glaube DOKUMENTE, VERTRÄGE, BEGLAUBIGUNGEN, ETC. DEUTSCH – HEBRÄISCH / HEBRÄISCH – DEUTSCH sie fühlte sich verlassen von ihrer Mut- nicht, dass es in anderen Familien bes- תרגומים ter, sie hatte eine schwere Kindheit ser ist. Es ist nicht gut, wenn man sein תעודות, חוזים, אימותים, וכו‘ und Jugend, sie war wurzellos. Heute eigenes Nest beschmutzt, es ist doch גרמנית – עברית / עברית – גרמנית bin ich selber Mutter und sage, das ist viel besser, wenn man es sich schön טל‘: nicht meine Geschichte, sondern deine gestaltet und das Gute aus seinen Wur- Mobil: +43 0699 11788119 דוא“ל: Geschichte. Es geht darum, dass wir zeln herausholt. Was man anfeindet, E-Mail: [email protected] uns die Hände reichen. Ich kenne die kommt zu einem selbst zurück.“ nu

25 2 | 2017 25 2 | 2017 Nahost „Drei-Religionen- Tour“ des Neuen im Weißen Haus

Mit einer „Drei-Religio- Bereits sein Auftritt in Saudi-Ara- worden. Der Präsident fand eine Spra- nen-Tour“ begann der 45. bien wurde von Israel aus genau beob- che, die die Straße versteht. Mit Blick achtet. Das Königreich bereitete dem auf den islamistischen Terror sagte er: Präsident der Vereinigten im Westen viel belächelten Geschäfts- „Barbarismus wird nie Herrlichkeit er- Staaten von Amerika seine mann einen Empfang, wie er nur wirken. Hingabe an das Böse wird keine Auslandsreisen. Demon- „einem König gebührt“. Einen Monat Würde bringen. Wenn Sie den Weg des lang hatte der 81-jährige König Salman Terrors wählen, wird Ihr Leben leer und strativ besuchte er die bin Abdulaziz Al Saud Asien bereist, kurz sein. Ihre Seele wird Verdammnis Zentren der drei großen mo- um führende Repräsentanten von 55 erleiden.“ notheistischen Religionen: muslimischen Ländern, praktisch die Der Abschluss eines 110-Milliarden- gesamte sunnitische Welt, in Riad zu US-Dollar-Waffendeals mit dem ölrei- Judentum, Christentum und versammeln. Offen fragten sich Israe- chen, aber erzkonservativen Wahha- Islam. Im Tross der etwa lis, warum der US-Präsident mit dem bitenkönigreich verursachte in Israel 600 Begleiter von Donald Namen „Hussein“ das nicht geschafft Stirnrunzeln. hatte? J. Trump waren neben Sofort bemerkten israelische Be- Freundschaftsdemo seiner Frau Melania auch obachter, dass Melania und Ivanka in Als der Trump-Tross in Israel eintraf, noch seine Tochter Ivanka Saudi-Arabien keine Kopfbedeckung überschlugen sich die Kommentato- trugen. Dass die beiden Trump-Frauen ren: „Ganz anders“ sei die Atmosphäre und deren Ehemann Jared beim Papstbesuch ein paar Tage spä- im Vergleich zu allen vorangegange- Kushner. ter im Vatikan eine schwarze Kopfbe- nen Besuchen amerikanischer Präsi- deckung trugen, macht diese Tatsache denten. Der bekannte TV-Journalist zu einer Demonstration. Belustigt be- Oren Nahari meinte: „Das ist kein Be- VON JOHANNES GERLOFF merkte man, dass der amerikanische such, sondern eine Demonstration der Präsident in den arabischen Medien Freundschaft!“ bald nur noch „Abu Ivanka“ genannt Vor Trumps Abschiedsrede im Is- wurde, während die sozialen Netz- raelmuseum in Jerusalem begrüßte werke Filmausschnitte herumreichten, Benjamin Netanjahu seinen Gast mit die unverhohlen lüsterne Blicke von der programmatischen Ansage: „Ge- altehrwürdigen saudischen Scheichs meinsam müssen wir diejenigen ver- auf die beiden Trump-Damen zeigten. nichten, die den Tod verherrlichen, und diejenigen schützen, die das Leben Präzedenzlos klar schätzen.“ Trump antwortete mit einer Trumps Worte vor dem erlauchten Ansprache, der – so stellten israelische Forum des „Arabisch-islamisch-ameri- Kommentatoren fest – „jede Ausgewo- kanischen Gipfels“ waren präzedenzlos genheit fehlte“. Der 45. US-Präsident klar. So offen war in den königlichen unterstrich „die Verbindungen des jü- Prunkhallen von Riad wohl noch nie dischen Volkes mit dem Heiligen Land“ „die Unterdrückung der Frauen, die als „uralt und ewig“. Er erzählte, dass er Verfolgung von Juden und das Ab- an der Westmauer Gott um Weisheit schlachten von Christen“ angeprangert gebeten habe. Und in Israels zentraler

26 2 | 2017 © EVAN VUCCI © / EVAN AP / PICTUREDESK.COM Holocaustgedenkstätte gelobte Trump das obligatorische „Nie wieder!“

Stehende Ovationen Trump brachte weiter seine „Ehr- furcht vor den Errungenschaften des jüdischen Volkes“ zum Ausdruck, um dann zu versprechen: „Meine Admini- stration wird immer zu Israel stehen!“ Die Erklärung: „Irans Führer rufen immer wieder zur Vernichtung Israels auf. Nicht mit Donald J. Trump!“ wurde von den anwesenden israelischen Ho- noratioren mit stehenden Ovationen quittiert. Noch nie, hörte man immer wieder, ist ein US-Präsident so früh in seiner Amtszeit nach Israel gekommen. Das Das Königreich bereitete Trump einen Empfang, wie er nur „einem König gebührt“. gilt übrigens auch für den Vatikan und wurde dort ebenfalls bemerkt. Als er- ster amtierender US-Präsident über- Haus zu hören bekommen hat. „Terro- ror, die aus dem Mund seines Vorgän- haupt besuchte Trump Ostjerusalem, risten und Extremisten, sowie alle, die gers nie zu hören waren. In deutlichem die Altstadt und die Westmauer. Begei- ihnen Hilfe und Trost zuteil werden Gegensatz zu Obama sieht Trump stert erinnerten Israels Journalisten lassen, müssen für immer aus unserer einen Zusammenhang zwischen Islam daran, dass „Ivanka zum Judentum Gesellschaft vertrieben werden.“ Und: und weltweitem Terrorismus. Anders übergetreten“ sei und jetzt eigentlich „Friede kann niemals Wurzeln schla- als in seinen früheren Wahlkampfan- „Jael“ heiße. gen in einem Umfeld, in dem Gewalt sagen bemühte er sich aber um eine Kritisiert wurde in Oppositionskrei- toleriert, finanziert oder belohnt wird.“ Unterscheidung zwischen der Weltre- sen, dass sich Trump weder mit Ver- ligion Islam und dem „Islamismus“, der tretern der Zivilgesellschaft noch mit Terrorismus und Islam politischen Ideologie, als Ursache des Oppositionsführer Jizchak Herzog ge- Dan Shapiro, Botschafter der Ob- Terrors. troffen habe. Herzog wurde ein kurzer ama-Administration in Tel Aviv, be- Händedruck bei der offiziellen Begrü- obachtete, dass just in dem Moment, Erzfeind Iran ßung auf dem Ben-Gurion-Flughafen als Trump in Bethlehem mit Abbas „Niemals wird der Iran eine Atom- zuteil. zusammentraf, die Nachricht von dem bombe besitzen.“ Donald Trump wurde Selbstmordattentat in Manchester nicht müde, diesen Refrain zu wieder- In Bethlehem: Friede unmöglich, die Runde machte. Der amerikanisch- holen, der allen seinen Gastgebern aus wenn Gewalt toleriert wird jüdische Diplomat bemerkte: „Netan- dem Herzen gesprochen war. Die Rei- Trumps zweiter Besuchstag im Hei- jahu hatte nicht ganz Unrecht, wenn seroute von Riad über Jerusalem und ligen Land begann in Bethlehem mit er darauf verwies, dass die Familie des Bethlehem bis in den Vatikan konnte einem Treffen mit Mahmud Abbas, dem Terroristen eine lebenslange Rente be- als unmissverständliche Botschaft Präsidenten der palästinensischen Au- anspruchen könnte, wäre der Selbst- gegen die schiitische Front verstan- tonomiebehörde. Kritisch beobachte- mordattentäter Palästinenser und die den werden, die sich vom Libanon über ten Israelis, dass Trump offensichtlich Opfer Israelis gewesen.“ Fünf Prozent Syrien und den Irak bis nach Teheran das Narrativ Obamas übernommen hat, des Gesamthaushalts der palästinen- etabliert hat. das den israelisch-palästinensischen sischen Autonomiebehörde werden Ganz offensichtlich bemüht sich Konflikt für den Kern aller Konflikte im für Zuwendungen an Terroristen und Trump um eine Rückkehr Amerikas in Nahen Osten hält. deren Angehörige ausgegeben. den Nahen Osten. Er will das Vakuum Dann sagte er „Abu Mazen“, wie Auf seiner gesamten Reise, vor mus- wieder füllen, das sein Vorgänger hin- Abbas im arabischen Volksmund ge- limischen wie jüdischen Zuhörern glei- terlassen hat, und in das vielerorts der nannt wird, aber in aller Öffentlichkeit, chermaßen, in Riad und Bethlehem Iran unter dem Schirm Russlands ein- was er so wohl noch nie von einem ebenso wie in Tel Aviv und Jerusalem, gerückt ist. „Ganz abgesehen von Is- westlichen Politiker in seinem eigenen wagte Trump Aussagen über den Ter- rael“, so Professor Eugene Kontorovich

Der Abschluss eines 110-Milliarden-US-Dollar-Waffendeals mit dem ölreichen, aber erzkonservativen Wahhabitenkönigreich verursachte in Israel Stirnrunzeln.

2 | 2017 27 Die „Zweistaatenlösung“ oder ein „palästinensischer Staat“ wurden genauso wenig erwähnt wie die Forderung an Israel, seine Siedlungstätigkeit einzuschränken. © EVAN VUCCI © / EVAN AP / PICTUREDESK.COM vom Kohelet Policy Forum, „besaßen die USA zur Zeit der Obama-Admini- stration weniger Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt als je zuvor.“

Und der Friedensprozess? Kontorovich meint, dass unter Trump die Karten völlig neu gemischt werden könnten. „Bislang hat man von Israel erwartet, etwas zu bringen. Ent- sprechend konnte Israel beschuldigt werden, wenn etwas nicht funktioniert hat.“ Diese Denkweise sei Trump völlig fremd. „Seit er im Amt ist, hat die is- raelische Friedensbewegung ‚Schalom Achschav‘ mindestens vier oder fünf Berichte darüber veröffentlicht, was Is- rael alles falsch macht. Keiner hat das Ivanka und Melania Trump trugen in Saudi-Arabien keine Kopfbedeckung. Weiße Haus interessiert.“ Trump hat Erwartungen im Blick US-Botschaft nach Jerusalem würde weise Trumps Rede vom Weißen Haus auf die arabische Welt. Er wurde nicht ihnen signalisieren, dass sie etwas mit dem Standort „Jerusalem, Israel“ müde, König Salman von Saudi-Ara- zu verlieren haben“, ist Kontorovich angekündigt, was später zu „Jerusalem“ bien als „wirklich weisen Mann“ zu überzeugt. Das, was man bislang unter korrigiert wurde. Ebenso wurde das ur- preisen. Mehrfach betonte er, die Pa- „Friedensprozess“ verstanden hat, sprüngliche „Palestine“ während seines lästinenser wünschten Frieden. Al- wurde vor dem „Arabischen Frühling“ Bethlehem-Besuchs zur „Palestinian lerdings – und das unterscheidet ihn und vor dem Aufstieg der schwarzen Authority“. maßgeblich von anderen westlichen Flagge des Islamischen Staats konzi- Der Status Jerusalems ist innerhalb Politikern – will er Israel offensichtlich piert. „Israel würde einen großen Fehler der US-Regierungsbürokratie umstrit- keine Vorschriften machen. begehen, würde es Langzeitpläne mit ten. So könnte es durchaus passiert Abbas schmieden. Er ist alt …“ – und sein, wie ein Kommentator der Jeru- Nicht Träume, sondern Tachles keineswegs populär bei seinem Volk. salem Post anmerkte, dass Präsident Trump spricht weniger über Träume Trump, abgesehen von den kurzen Zwi- und Werte, sondern als Geschäftsmann Was nicht erwähnt wurde schenstopps bei der Ankunft und beim über das, was ausgehandelt werden Für eine Beurteilung von Trumps Abflug auf dem Ben-Gurion-Flughafen, kann. Er scheint bemerkt zu haben, erster Auslandsreise vielleicht wichti- bei diesem Besuch überhaupt nicht of- dass sich in der arabischen Welt in ger als die Statements könnte das sein, fizielles Staatsgebiet Israels betreten den vergangenen Jahren vieles grund- was er nicht gesagt hat. Trump hat mit hat – je nachdem, wie ernst man ste- legend verändert hat. Länder wie der keinem Wort „die Grenzen von 1967“ hende Definitionen nimmt. Jemen oder der Libanon haben aufge- erwähnt, niemals von einem „Rückzug hört zu existieren. aus besetzten Gebieten“ oder einem Alles offen Trump scheint auch bemerkt zu „Ende der Besatzung“ gesprochen. Die Alle diese Beobachtungen soll- haben, dass die Hauptsorge der ara- „Zweistaatenlösung“ oder ein „palä- ten allerdings nicht zu vorschnellen bisch-sunnitischen Länder heute der stinensischer Staat“ wurden ebenso Schlussfolgerungen verführen. Es ist Iran ist. Kontorovich glaubt: „Wenn wenig erwähnt wie die Forderung an zu früh, den Kurs der Regierung Trump Trump einen härteren Kurs gegen den Israel, seine Siedlungstätigkeit einzu- einschätzen zu wollen. Gewiss ist, dass Iran einschlägt, kann er seine Botschaft schränken. vieles anders wird. Gleichermaßen auf den Tempelberg verlegen und die Offensichtlich hat der Geschäfts- berechtigt ist aber die Warnung des Saudis würden ihn noch immer zu mann, der so breitspurig daherkommt, ehemaligen US-Botschafters Shapiro, ihrem Mann des Jahres ernennen.“ Bewegung in das amerikanische di- Trump sei unberechenbar: „Niemand So bleibt es spannend. „Die Palästi- plomatische Corps gebracht, was sich kann sich darauf verlassen, dass eine nenser haben gelernt: Je mehr man auch am Sprachgebrauch offizieller gute Beziehung zu ihm bis morgen hält Nein sagt, desto mehr bekommt man Medien während des Präsidentenbe- – und falls sich etwas ändert, erfährt künftig angeboten. Eine Verlegung der suchs zeigen lässt. So wurde beispiels- man es womöglich über Twitter.“ nu

28 2 | 2017 Nahost

© EDDIE GERALD / LAIF / PICTUREDESK.COM Von Jaffa-Orangen zu Mobileye

Das Start-up- und Hightech- In meiner Kindheit war ich ganz Die süßsauren Früchte waren der Ex- stolz, wenn ich in einem Supermarkt portartikel und ein erstes Zeichen für Land Israel. in Wien Jaffa-Orangen aus Israel die wirtschaftliche Kraft des jungen fand. Und als unsere Lehrerin sagte, Staates. im Winter müsse man wegen der Vi- Heute wird Israel wirtschaftlich VON RENÉ WACHTEL tamine viele Orangen essen, brach- als Hightech- und als „Start-up“- ten alle meine Mitschüler immer Land anerkannt. Das wurde gerade Jaffa-Orangen in die Klasse. Bei mei- in letzter Zeit durch drei interessante ner ersten Reise nach Israel mit acht Wirtschafts-News bestätigt. Im März Jahren zeigte mir dann unser Onkel 2017 wurde bekannt, dass Intel, der aus Kfar-Sava voller Stolz die riesigen weltgrößte Chip-Hersteller, das israe- Orangenhaine südlich von Tel Aviv. lische Start-up-Unternehmen Mobi-

2 | 2017 29 leye um die sagenhafte Summe von telligenten Produkten Erfolg haben. ein Drittel mehr als in den USA und 15 Milliarden Dollar gekauft hat. Das Exportartikel Nummer eins sind zwar zehnmal so viel wie in Europa. ist der größte jemals durchgeführte noch immer verarbeitete Diamanten Verkauf eines Unternehmens in der (Volumen 2015: um die 14,8 Milliarden Forschung und Entwicklung. Geschichte des Staates Israel und bis Dollar), aber der Dienstleistungssektor Auch die Unterstützung des Staa- zum Zeitpunkt Mai 2017 die größte und damit die „Brain-Industries“ ma- tes für Forschung und Entwicklung ist Unternehmensübernahme des Jah- chen schon mehr als 70 Prozent des beispielhaft. So werden 4,1 Prozent des res weltweit. Im April wurde berich- BIP aus. Bruttoinlandsproduktes in diesen Sek- tet, dass Israel Aerospace Industries tor investiert, mehr als in jedem ande- (IAI) einen Vertrag im Wert von fast Wirtschaft im Wandel ren Industrieland. Israelische Univer- zwei Milliarden Dollar mit Indien über Die großen Orangen- und Grape- sitäten sind international sehr ange- die Lieferung von Raketenabwehrsy- fruithaine sind fast verschwunden. sehen. Nirgendwo am europäischen stemen für die indische Armee abge- Wenn man heute durch Israel fährt, Kontinent kann man, wie im Technion schlossen hat – der größte Einzelauf- sieht man viele Industrieparks und in Haifa, den Vorlesungen von vier trag in der Geschichte der israelischen Businessstandorte. Noch bis Ende Nobelpreisträgern beiwohnen. Das Rüstungsindustrie. Gleichzeitig unter- der 1980er-Jahre lebte Israel von der Weizmann-Institut wurde 2011 vom zeichnete die israelische Regierung Landwirtschaft und von traditioneller amerikanischen Magazin The Scien- mit Italien, Griechenland und Zypern Industrie. Mit dem Zusammenbruch tist als bester akademischer Arbeitge- eine Absichtserklärung über den Bau der UdSSR im Jahr 1991 kam von dort ber weltweit eingestuft. Auch hier ist einer unterirdischen Erdgas-Pipeline, innerhalb kürzester Zeit mehr als eine die Verzahnung von Forschung und die alle bisher bestehenden Anlagen Million Menschen nach Israel, darun- Entwicklung einerseits und der Pri- dieser Art an Größe übertreffen soll. ter viele Wissenschaftler und Inge- vatwirtschaft andererseits sehr stark. Die Pipeline wird Gas vom israelischen nieure. Die Wirtschaft konnte diese Viele Start-ups entwickeln sich direkt Förderfeld Leviathan nach Europa große Anzahl von Menschen nicht an den Universitäten und bringen den transportieren und soll bis 2025 fertig- auf einmal integrieren. So beschloss Universitäten durch Patente auch das gestellt werden. Die Kosten des Pro- die Regierung in Jerusalem Mitte der nötige Geld, um mehr in die Forschung jekts werden mit sechs bis sieben Mil- 1990er-Jahre ein Förderprogramm für investieren zu können. Die Techno- liarden Euro beziffert. Wieso hat sich Unternehmensgründungen, das vor logietransfergesellschaft „Yeda“ des die israelische Wirtschaft so verändert allem Einwanderer beim Weg in die Weizmann-Instituts gehört zu den und woher kommt dieses Wunder? Selbständigkeit unterstützen sollte – weltweit erfolgreichsten Firmen für und dieses Inkubatorenprogramm hat die Vermarktung von Patenten und Der Ausgangspunkt sich zur treibenden Kraft des Start- Forschungsergebnissen. Von den 25 Normalerweise macht ein Land die up-Booms entwickelt. Wer ein Unter- wichtigsten Biotech-Medikamenten besten Geschäfte mit seinen Nach- nehmen gründen will, benötigt nur auf dem Weltmarkt basieren nicht we- barn. Da aber die Nachbarstaaten von 15 Prozent Eigenkapital, die restlichen niger als sieben auf Entdeckungen, die Israel am liebsten alle Juden in Israel 85 Prozent können über ein staatliches an diesem Institut gemacht wurden. ins Meer werfen wollen, ist diese Art Darlehen finanziert werden. Heute gibt Und damit wurden schon zweistellige von Wirtschaftsbeziehungen nicht es in Israel etwa zwei Dutzend staatli- Milliardenumsätze gemacht. Alle Uni- möglich, sondern auf die Länder be- che Inkubatoren, bei denen junge Fir- versitäten in Israel haben eigene Ver- schränkt, mit denen Israel einen men Startkapital beantragen können, wertungsgesellschaften, die das gei- Friedensvertrag abgeschlossen hat – das nur bei Erfolg zurückgezahlt wer- stige Eigentum am Markt wirtschaft- Ägypten und Jordanien. Daher sind den muss. Pro Jahr vergibt der Staat lich verwerten. Mehr als 70 Prozent die USA Israels größter Exportmarkt. 31 Israel um die 800 Millionen Dollar an der jährlichen Patentanträge in Israel Prozent des Gesamtausfuhrvolumens solche Start-ups. Auch die Privatwirt- werden von diesen Universitätsfirmen entfallen auf Amerika, und die Fokus- schaft ist eingestiegen: Sie investiert beantragt. sierung auf die transatlantischen Ex- in die israelische Start-up-Szene das porte stellt besondere Anforderungen Fünf- bis Sechsfache der staatlichen Die militärische Ausbildung an die israelische Wirtschaft. Israel Förderungen. Im Jahr 2015 wurde in Ein weiterer wichtiger Baustein für kann dort und auch bei anderen ent- Israel mehr als eine Milliarde Dollar Ri- das Unternehmertum in Israel ist das wickelten Industrieländer nur mit in- sikokapital investiert – pro Einwohner Militär. Dort werden schon ganz junge Mitte der 1990er-Jahre beschloss die Regierung in Jerusalem ein Förderprogramm für Unternehmensgründungen, das vor allem Einwanderer beim Weg in die Selbständigkeit unterstützen sollte – und dieses Inkubatorenprogramm hat sich zur treibenden Kraft des Start-up-Booms entwickelt.

30 2 | 2017 Dass der Start-up-Boom auch Schattenseiten hat, zeigt sich in der israelischen Gesellschaft. Die Schere zwischen Reich und Arm geht ständig weiter auf.

Frauen und Männer zu selbständigem und Cyberspionage zu sein. Viele der und erkennt nicht, welche Vorteile die Handeln erzogen. Junge Soldaten und jungen Israelis, die durch die Einheit daraus resultierenden neuen Arbeits- Soldatinnen müssen schon mit 18, gegangen sind, haben sich erfolgreich methoden, wie Homeworking mithilfe 19 Jahren Verantwortung für ganze mit Start-ups wie Check Point oder ICQ neuer Technologien für ihre Com- Einheiten übernehmen und sie auch selbständig gemacht. munity bringen könnten. Viele Wirt- richtig motivieren, schulen, leiten und Dass der Start-up-Boom auch schaftswissenschaftler machen sich dirigieren. Das hilft später in der Arbeit Schattenseiten hat, zeigt sich in der Sorgen um die klassische Industrie. in Unternehmen. Und natürlich ist die israelischen Gesellschaft. Die Schere Es wird in Israel zwar viel geforscht, Ausbildung in den diversen Einheiten zwischen Reich und Arm geht stän- entwickelt und erfunden, aber die Um- der Armee auch das Sprungbrett für dig weiter auf. Den gut bezahlten, setzung im Land selber ist eher gering. viele in der Hightech-Industrie. Ein wohlhabenden jungen Leuten in der Die meisten Entwicklungen werden Beispiel dafür ist die sagenumwobene Hightech- und Start-up-Industrie ste- im Ausland zur Serienreife gebracht, Hightech-Einheit 8200. Diese Einheit hen die Arbeiter und Angestellten in sodass Arbeitsplätze aus Israel hin- für elektronische Aufklärung beschäf- traditionellen Wirtschaftsbereichen ausverlagert werden. tigt sich seit Jahren unter anderem gegenüber. Vor allem Tel Aviv ist ein Trotzdem hat Israel ein neues Wirt- auch mit Cyber-Sicherheit. In diesem sehr teures Pflaster geworden, die schaftsfeld entwickelt – unter dem Bereich ist die israelische Armee be- Wohnkosten sind (ähnlich wie im Si- Titel „Brain Industries“ zeigt es der reits seit über 15 Jahren aktiv, und der licon Valley in Kalifornien) deutlich Welt, wie ein kleines Land ohne viele so entstandene internationale Wis- gestiegen. Die rückwärtsgewandte, natürliche Ressourcen sich in der mo- sensvorsprung ist beträchtlich und fast 20 Prozent der Bevölkerung aus- dernen Zeit zu einem Wirtschaftswun- hat Israel den Ruf eingetragen, welt- machende Orthodoxie wiederum ver- derland entwickeln kann. nu weit Nummer eins in Cyberabwehr steht dieses Wirtschaftswunder nicht

Der Intel-Mobileye-Deal

Intel, der weltgrößte Chiphersteller gründet von Ziv Aviram und Amnon sollte. Der Markt für herkömmliche mit mehr als 100.000 Mitarbeitern Shashua, beschäftigt das Unter- Chipprozessoren, wie sie auch Intel und einem Umsatz von 55 Mrd. nehmen aktuell 600 Mitarbeiter herstellt, schrumpft, ähnlich wie Dollar pro Jahr, hat seit langem und hat seinen Sitz in Jerusalem. der PC-Markt; und auch der Markt gute Erfahrungen mit Israel und Mobileye ist auf die Entwicklung für Mobiltelefon-Chips ist hart israelischen Unternehmen. Im Jahr von Technologie für autonomes umkämpft. Intel rechnet ab 2025 2014 errichtete Intel in Israel eine Fahren, samt Kamerasystemen, mit einem jährlichen Umsatz im Chipfabrik um sechs Milliarden Algorithmen und speziellen Chips, Segment „autonomes Fahren“ von Dollar, die bis zu ihrem kompletten spezialisiert. Die Kameras erfassen 70 Mrd. Euro und will ganz vorne Ausbau mehr als tausend neue Ar- die Gefahren auf der Straße, die Re- dabei sein. Daher gab es die stra- beitsplätze schaffen wird. Intel und chentechnologie (Chip) steuert die tegische Entscheidung, Mobileye das israelische Start-up-Unterneh- Elektronik und reagiert dann, um um die astronomische Summe von men Mobileye kamen durch eine Unfälle zu vermeiden (im Gegen- 15 Milliarden US-Dollar zu kaufen. Kooperation mit BMW zusammen. satz zum Beispiel zu Google, das bei Israels Ministerpräsident ver- Im Sommer 2016 gab BMW bekannt, seinen selbstfahrenden Autos auf sprach, dass der Kauf allen Israelis dass man gemeinsam mit Intel und die Laser-Radar-Technologie setzt). zugutekommen werde, weil dank dem Kameraspezialisten Mobileye Durch die gemeinsame Arbeit am der Steuereinnahmen aus dem Deal bis 2021 selbstfahrende Autos auf BMW-Projekt erkannten die Mana- (rund zwei Milliarden Dollar) in den die Straße bringen wolle. Mobileye ger von Intel bald, dass ihr Unter- nächsten Jahren die Einkommens- ging 1999 aus einem Start-up der nehmen gemeinsam mit Mobileye steuer in Israel gesenkt werden Universität Jerusalem hervor. Ge- in eine Zukunftsvision investieren kann.

2 | 2017 31 Nahost Das schwierige Verhältnis Israel-EU

Israel und die Europäische Mit einem Handelsvolumen von nen. Argumentiert wird mit internatio- Union sind eng verflochten. € 34,3 Mrd. im Jahr 2016 sind die EU-28 nalem Recht. der wichtigste Handelspartner Israels. Doch die Daten und Zahlen Seit dem Jahr 2000 ist ein Assoziie- Vermittler im Israel-Palästina- blenden: Es knirscht im rungsabkommen in Kraft, das die Im- Konflikt Gebälk der Beziehungen porte und Exporte regelt. Es brachte Es ist ein seit Jahren immer wieder- Freihandel für die meisten Industriegü- kehrendes Spiel: Die unnachgiebige zwischen Brüssel und Tel ter und Vorzugsbehandlung für Agrar- Haltung der israelischen Regierung an- Aviv. Die Vertrauensbasis produkte. Das 2013 abgeschlossene gesichts der Verurteilungen nervt die hat einen Riss, und das Open-Skies-Abkommen ließ die Ti- Brüsseler Institutionen, allen voran die cketpreise schrumpfen und erhöhte EU-Parlamentarier. Israel wiederum ist schon seit Jahren. Michael das Flugangebot, 2018 wird der Flug- von Brüssel enttäuscht. Die Position Reinprecht hat sich für NU verkehr EU-Israel völlig liberalisiert der Europäischen Union zur Lösung das schwierige Verhältnis sein. Israel nimmt am EU-weiten Aus- des Nahostkonflikts ist dabei zu einem tauschprogramm für Studierende Eras- immer wieder heruntergebeteten Israel-EU näher angesehen mus plus teil und ist – für ein High- Mantra verkommen, das nichts Neues und in seinen Erinnerun- tech-Land wie Israel besonders wichtig bringt. „Israel verzichtet auf die EU als gen als ehemaliger Leiter – seit 1996 an den EU Forschungs-Rah- Vermittlerin“ schrieb Die Zeit Ende No- menprogrammen assoziiert, seit Juni vember 2015, als die EU die Kennzeich- der Nahostabteilung des 2014 auch Teil des mit € 80 Mrd. dotier- nungspflicht für israelische Produkte Europäischen Parlaments ten Horizon 2000, des neuen und in- aus Siedlergebieten einführte. Und gekramt. novativen EU-Forschungsprogramms. dabei geht es um mehr als nur um die Darüber hinaus nimmt Israel seit Jah- Kennzeichnung von Obst und Gemüse, ren an der EU-Mittelmeer-Partner- das von Feldern und Gärten der als il- schaft teil und ist in die Europäische legal betrachteten Siedlungen stammt. Nachbarschaftspolitik integriert. Auch Kofinanzierungen (etwa aus den Also doch alles eitel Wonne? In den Forschungstöpfen) sind dann für et- ökonomischen Beziehungen wohl eher waige Start-ups aus Gebieten israeli- ja, im Politischen hingegen stagnieren scher Siedlungen in den besetzten Ge- die Beziehungen. Brüssel kritisiert Is- bieten nicht drin. rael, nimmt vor allem am Ausbau der Dabei hat es von europäischer Seite Siedlungen im Westjordanland, an der immer wieder Versuche gegeben, als Abriegelung von Gaza, an den mehr Vermittler im Israel-Palästina-Konflikt als 750 km langen Sperranlagen zwi- aufzutreten. Nicht nur vonseiten des schen den besetzten Gebieten und Nahost-Quartetts (ja, das gibt es noch), Israel Anstoß. Dass es wegen des Si- des Europäischen Auswärtigen Dien- cherheitszauns kaum mehr Attentate stes, der Außenbeauftragten Federica in Israel gibt (erinnern wir uns an die Mogherini, ihres Sonderbeauftragten Anschläge auf Busse und Sammeltaxis Fernando Gentilini – sondern auch Anfang der Nullerjahre), schützt nicht vonseiten des Europäischen Parla- vor Kritik vonseiten der EU-Institutio- ments. So versuchte der vormalige

32 2 | 2017 © JIM HOLLANDER/EPA/PICTUREDESK.COM

Israel-EU: Es herrscht Nervosität und gegenseitiges Misstrauen. Im Bild: Federica Mogherini und Benjamin Netanjahu

Präsident des Europaparlaments Hans- der Europaparlamentarier vom 18. Mai fung einer Zweistaatenlösung“, hatten Gert Pöttering vergeblich, als „ehrlicher genießt die Zweistaatenlösung Prio- Europaabgeordnete vor der Abstim- Makler“ in Israel aufzutreten – und rität. So weit, so gut – und wohl auch mung im Herbst 2012 argumentiert. scheiterte. Die Stimmung bei seinem im langfristigen Interesse der Israelis, Besuch in Israel und den palästinen- auch wenn dies die Regierung Netan- „Der Feind meines Feindes …“ sischen Gebieten im Februar 2009 war jahu nicht so sehen will. Die Vertrau- Innovation in Sachen Nahostpro- äußerst angespannt; „Wir Israelis lassen enskrise, das schwierige Verhältnis blem ist die Sache Europas nicht. Und uns von euch Europäern nichts vor- EU-Israel ist nicht dem europäischen bisweilen keimt der Verdacht, ein schreiben“, war hinter vorgehaltener Interesse an einer Friedenslösung neuer Antisemitismus verstecke sich Hand zu hören – von einem deutschen in Nahost durch Schaffung eines le- hinter Israelkritik. Das ist natürlich Politiker schon gar nicht, ließe sich bensfähigen Staates Palästina, der in schwer fassbar. Denn der neue Anti- ergänzen. Das musste Martin Schulz Frieden und Sicherheit Seite an Seite semitismus tritt nicht offen auf, auch fünf Jahre später erfahren, als er, einer mit Israel und den anderen Nachbarn wenn er sich festzusetzen scheint bei Falschinformation aufgesessen, in leben soll, geschuldet. westlichen Eliten. Die BDS-Bewegung einer Rede vor den Knesset-Abgeord- Allein Maßnahmen Israels, die aus („Boycott, Divestment, Sanctions“ – neten behauptete, den Palästinensern EU-Sicht eine Zweistaatenlösung er- Boykott, Abzug von Investitionen, (im Westjordanland) stünden pro Kopf schweren, werden von Brüssel nicht Sanktionen) gewinnt an Boden, und nur 17 Liter Wasser pro Tag zur Verfü- nur kritisiert, sondern bisweilen auch der Vorwurf, Israel sei ein Apartheid- gung, während Israelis 70 Liter täglich bestraft. Vorreiter dabei ist das Euro- Staat, ist auf dem Wege, salonfähig zu verbrauchen könnten. Eine Reihe von päische Parlament, dessen 750 Man- werden. Abgeordneten verließ den Plenarsaal datare in großer Mehrheit Ramallah Während Donald Trump mit seiner noch während Schulz’ Rede. mit Wohlwollen gegenüberstehen. So Nahostreise Ende Mai de facto einen hatten die Europaparlamentarier jah- fragwürdigen regionalen Ansatz als Ein neuer Antisemitismus relang die Zustimmung zu einem für neue Strategie der USA zur Lösung Es herrscht Nervosität und gegen- die pharmazeutische Industrie Isra- des Nahostproblems präsentiert, im seitiges Misstrauen. Israel wirft der els wichtigen Abkommen verweigert. Konflikt Schiiten/Sunniten für die EU vor, die palästinensische Autono- Dieses sogenannte ACAA-Agreement, konservativen Monarchien der Golf- miebehörde bei der Aufnahme in die das die Einfuhr hochwertiger Medika- staaten und Saudi-Arabien Partei er- UNESCO 2011 unterstützt zu haben. In mente und Generika aus Israel in die greift und dabei hofft, mit der alten einer Entschließung vom Dezember EU ermöglicht, trat schließlich 2013 in Gleichung „der Feind meines Feindes 2014 empfahl das Europaparlament Kraft. „Sofern es keine Fortschritte in ist mein Freund“ eine Lösung der Palä- den Mitgliedstaaten die völkerrechtli- den Friedensverhandlungen gibt (...), stinenserfrage herbeizuführen, tritt die che Anerkennung Palästinas als Staat. wäre ein Aufschub politisch klüger, das EU auf der Stelle. Die Vertrauenskrise Auch in der jüngsten Entschließung wäre ein weiterer Anreiz für die Schaf- EU-Israel harrt weiter einer Lösung. nu

Innovation in Sachen Nahostproblem ist die Sache Europas nicht. Und bisweilen keimt der Verdacht, ein neuer Antisemitismus verstecke sich hinter Israelkritik. Das ist natürlich schwer fassbar.

2 | 2017 33 Zeitgeschichte Dem Architekten ein Gesicht geben

„Wer war Fritz Reichl?“ – „Ich bin in Eisenstadt oft an diesem ‚Visionäre und Vertriebene‘, die 1995 Diese Frage stellten sich Haus aus den 1920er-Jahren vorbei- in der Kunsthalle Wien stattgefunden gegangen – es war einer der ersten hatte. Die Informationen dort über Studenten der TU Wien und Wohnbauten hier – und habe mich Reichl waren jedoch spärlich, es gab machten sich von Eisen- als Architekt natürlich auch für den nicht einmal ein Bild.“ stadt aus auf eine interna- Planer interessiert. So bin ich auf den Namen Fritz Reichl gestoßen“, sagt Architekt ohne Bild tionale Spurensuche nach der Eisenstädter Klaus-Jürgen Bauer, So beschloss Bauer gemeinsam mit einem Architekten, der Architekt und Lektor an der TU Wien. seinem Kollegen Peter Ferschin am durch ihre Arbeit vor dem „Das Haus liegt an der Ecke zur Reichl- Institut für Architekturwissenschaf- Gasse und da dachte ich: Der muss ten der TU Wien, Abteilung digitale Vergessen bewahrt werden bekannt gewesen sein, wenn sie sogar Architektur, ein Seminar über Reichl soll. eine Gasse nach ihm benennen.“ Dass anzubieten. Eine Monografie über den der Namensgeber der Gasse ein ande- Architekten aus dem Jahr 1932, die rer war, nämlich der Mundartdichter Bauer im Zuge der Vorbereitung des VON BRIGITTE KRIZSANITS Joseph Reichl, sollte Bauer erst später Seminars in die Hände fiel, befeuerte (TEXT UND FOTO) erfahren. Dennoch war das Interesse sein Interesse: „Darin haben wir gese- des Architekten an Reichl geweckt hen, was für geniale Entwürfe Reichl und er wollte mehr erfahren – was je- gezeichnet und auch realisiert hat.“ doch nicht so einfach war. „Den Start- Ausgehend davon formierten sich schuss dazu gab dann die Ausstellung schließlich im Zuge des Seminars ver- schiedene Gruppen, die sich mit dem Leben, dem Werk, den Mitakteuren und auch Fritz Reichls Beziehung zu Eisenstadt auseinandersetzten. Und über all den Themenbereichen stand die eingangs gestellte Frage: „Wer war Fritz Reichl?“

Steile Karriere zwischen zwei Kriegen Fritz Reichl wurde am 3. Februar 1890 als zweiter Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien geboren – sein Leben sollte zwei große Brüche erfahren. Nach Kursen an der Wiener Kunstgewerbeschule, dem Vorläu- ferinstitut der heutigen Angewandten, bei namhaften Lehrern wie Berthold Löffler und Michael Powolny, studierte er an der Technischen Hochschule Klaus-Jürgen Bauer vor dem Wien Architektur. 1913 heiratete er Haus Bahnstraße 13-17 in Ella Gartenberg. Als der Erste Welt- Eisenstadt, einem von Fritz krieg ausbrach, musste er einrücken. Reichl und Alexius Wolf Während Fritz Reichl als Bauingenieur entworfenen Wohnbau. in Serbien, Bosnien und Italien tätig

34 2 | 2017 war, kämpften seine zwei Brüder an war im Österreichischen Jagdklub und ten unter der Federführung des Archi- der Front und verloren dort ihr Leben. auch sonst gesellschaftlich gut einge- tekten bekannt. Das gemeinsam mit Laut Bauer waren diese Todesfälle der bunden. 1932 erschien seine Publika- Maxwell Starkman gegründete Archi- erste Bruch in Reichls Leben. Der Krieg tion in der Reihe Wiener Architekten, tekturbüro brachte zwar einen Katalog riss jedoch nicht nur diese Lücke in die die eine Auswahl an Arbeiten und heraus, ob davon jedoch je etwas um- Familie. Letztendlich verlor auch der Entwürfen zeigt. Das Vorwort dazu gesetzt wurde, ist fraglich. Fritz Reichl Vater, der als Versorgungsoffizier tätig schrieb Max Eisler. Zu jener Zeit ent- starb am 23. Januar 1959 an einem war, nach Kriegsende seine Arbeit. standen zahlreiche Wohnbauten wie Herzinfarkt, über seinen Zeichentisch In dieser veränderten Lebenssitua- auch Einfamilienhäuser in Wien, aber gebeugt. tion verdiente Fritz Reichl sein Geld auch in Böhmen. Auch Interieurs ent- vorerst als Arbeiter in einer Metallfa- warf Reichl, sie finden sich teilweise in Ausstellung: „Wer war Fritz Reichl?“ brik. Erst 1925 konnte er wieder sei- dem Buch dokumentiert. All diese Fakten – und noch ei- nem Beruf nachgehen und eröffnete nige mehr – haben die Studenten ein Büro im Wiener Palais Salm. „Seine Flucht: von nach Amerika von Klaus-Jürgen Bauer und Peter Auftraggeber waren wohlhabende, li- Reichls Wirken nach der Publika- Ferschin im Rahmen des Seminars berale Bürger, wohl alle aus seinem tion liegt noch weitgehend im Dun- zusammengetragen. Der Grazer Fil- persönlichen Umfeld. Reichl hatte es keln. „Über die Zeit des Ständestaats memacher Heimo Müller drehte ein geschafft, in einer Zeit der Krise den- wissen wir wenig. Auch die Auftrags- „Making of“ und führte damit die ein- noch ein gutes Auslangen zu finden. Er lage kennen wir nicht“, sagt Klaus-Jür- zelnen Arbeiten filmisch zusammen. baute auf der Höhe der Zeit – nicht ul- gen Bauer. „Reichl hatte wahrschein- Letztendlich wurde daraus eine kleine, traprogressiv, aber man könnte sagen, lich das Pech, dass seine Klientel, die aber feine Ausstellung gestaltet, die er war ein Neoexpressionist“, so Bauer. großbürgerliche Schicht, in jener Zeit noch bis 4. August im Architektur- Der mittlerweile anerkannte Architekt aus der öffentlichen Wahrnehmung raum Burgenland zu sehen ist und für nahm an zahlreichen Wettbewerben verschwand.“ 1938 dann der zweite die es unter anderem gelungen ist, ein teil, unter anderem an der Ausschrei- Bruch in seinem Leben: Hals über Kopf von Fritz Reichl entworfenes Möbel- bung zum Neubau des Landesregie- verlässt er nach der Machtübernahme stück aufzutreiben. rungsgebäudes in Eisenstadt, wo sein der Nationalsozialisten mit seiner Ob es wohl noch möglich wäre, dass gemeinsam mit Alexius Wolf einge- Frau Wien. Er gelangt zunächst nach weitere Bauten in den USA bekannt brachter Entwurf als Dritter gereiht Istanbul, wo er Büroleiter bei Clemens würden und Reichl posthum den Ruf wurde. Und er gewann den wohl pre- Holzmeister wird. Zahlreiche Prunk- eines Rudolf Schindler einbrächten? stigeträchtigsten Wettbewerb seiner bauten für Kemal Atatürk entstan- Klaus-Jürgen Bauer hält dies für eher Zeit: jenen zur Wiedererrichtung des den unter Holzmeisters Planung. Den unwahrscheinlich. Dennoch unter- Justizpalastes. Dennoch wurde dieser Namen Reichl trägt davon jedoch kein streicht er einmal mehr die Bedeutung Entwurf nicht realisiert. In Eisenstadt einziger Entwurf. Reichls, dessen Villa Kral im tsche- entstand indes ein von ihm und Wolf Fritz Reichls Sohn Erich war indes chischen Prachatice eine ähnliche entworfener Wohnbau – eben jener, nach New York ausgewandert, wo er architektonische Qualität wie der Villa der Bauer eigentlich auf die Fährte sich recht und schlecht über Wasser Tugendhat von Ludwig Mies van der Fritz Reichls brachte. Darüber hinaus hielt. 1946 gelang auch Fritz Reichl Rohe zugeschrieben werde – wenn- wurde das Duo mit der Ausarbeitung und seiner Frau Ella die Reise mit dem gleich sie nicht dieselbe Bekanntheit eines Stadtentwicklungsplanes für Schiff über den Ozean. Der Aufbau genießt. Mit der Spurensuche nach die neue Landeshauptstadt beauftragt. eines Architekturbüros in New York Fritz Reichl sei es jedoch gelungen, Vieles davon wurde, zumindest teil- scheiterte, schließlich bot Richard dem Architekten Anerkennung zu zol- weise, umgesetzt. Neutra, der einstige Studienkollege len, und sogar ein Bild von ihm konnte Kein schillernder Adabei, aber in und ebenfalls Emigrant, Reichl eine aufgetrieben werden: Bei Nichten von den führenden Gesellschaften und Stelle an. Dennoch gelang es Reichl Fritz Reichl in Amerika wurden Stu- Vereinen vertreten, so kann Fritz nicht mehr, an seinen einstigen Er- denten fündig. Die beiden Damen erin- Reichl zum Höhepunkt seines archi- folg anzuschließen. Außer dem Apart- nerten sich, in einer Schublade noch „a tektonischen Schaffens um 1930 be- menthaus Leonhard Martin in Beverly picture of uncle Fritz“ zu haben – „Das zeichnet werden. Er war Mitglied in Hills (1949) und dem Wohnhaus Erich war dann auch der Moment, in dem der Zentralvereinigung der Architek- Reichl in Pittsburgh (1955) sind in Fritz Reichl ein Gesicht bekam“, wie ten wie auch des Künstlerhauses, er Amerika bislang keine weiteren Bau- Bauer abschließend sagt. nu

„Reichl hatte es geschafft, in einer Zeit der Krise dennoch ein gutes Auslangen zu finden. Er baute auf der Höhe der Zeit – nicht ultrapro- gressiv, aber man könnte sagen, er war ein Neoexpressionist“, meint Klaus-Jürgen Bauer, Architekt und Lektor an der TU Wien.

2 | 2017 35 Jüdisches Leben

Über die Frage, wer Jude ist, sind sich allerdings auch NU- Herausgeber Martin Engel- berg und Chefredakteur Peter Menasse nicht einig … © CAMILLA© IBER Jüdische Gretchenfrage

Was bisher geschah: Im NU Diese Beschuldigung erfüllte ihrer- ermutigenden Zustimmungen. Über 67 schrieb ein Redakteur seits tatsächlich den Straftatbestand die Frage, wer Jude ist, sind sich al- der üblen Nachrede und Kreditschä- lerdings auch NU-Herausgeber Martin über die Bestellung der bei- digung. Aber auch NU klagte nicht, Engelberg und Chefredakteur Peter den neuen Rabbiner. Die sondern ließ sogar eine Gegendar- Menasse nicht einig. Sie klagen einan- IKG-Führung meinte, dass stellung in der Zeitung zu. Dann aber der aber nicht, weder vor einem zivi- kam im Auftrag der IKG ein Brief von len, noch vor einem religiösen Gericht, es in diesem Beitrag Fehler einem englischen Rabbinatsgericht sondern reden miteinander. Eine Form gebe und verfasste einen an das NU-Team. Chefredakteur Peter des Umgangs miteinander, wie sie bei Brief an alle IKG-Mitglieder. Menasse, der nicht religiös ist, schrieb der IKG-Spitze scheinbar verloren ge- daraufhin im NU 68 einen Leitartikel, gangen ist. Hier das Gespräch. Der Redakteur, gleich auch in dem er seine Sorge ausdrückte, dass der Herausgeber und der nunmehr Rabbiner die Macht in der Engelberg: Dein Leitartikel im NU 67 Chefredakteur hätten sich Kultusgemeinde übernehmen wür- hat mir so manche scharfe Nachfrage den. Wenn das der Fall sei, so seine aus der Gemeinde beschert. Damit strafrechtlich relevanter (!) Meinung, müsste die Konstruktion der haben wir gleich die erste Frage auf Taten schuldig gemacht. IKG als auch politische Vertretung der dem Tisch, nämlich, ich bin Herausge- Klagen wolle man aber Juden neu überdacht wären, denn es ber, du bist Chefredakteur. Wie ist das, gebe viele Mitglieder, die sich nicht wenn du etwas schreibst? Darf ich dir nicht. über die Religion als Juden definier- da dreinreden? ten. Dieser Beitrag wiederum führte zu Menasse: Also nach allen Regeln teilweise wütenden Protesten und zu guten Journalismus redet der Heraus-

36 2 | 2017 derspruch. Ich zum Beispiel habe eine jüdische Mutter, bin aber nicht religiös. Es gab aber dann den Einschnitt durch die Schoa, als auch Menschen als Juden verfolgt wurden, die nicht religiös waren. Es gibt auch heute viele, deren Familien in der Schoa gelitten haben und die daher wissen, dass man verletzlich ist und sich gegen jede Form von Diskriminierung und Ras- senhass wehren muss. Das ist sozusagen ein politischer Auftrag, und so komme ich auf den Be- griff des „politischen Juden“. Ich glaube aber nicht, dass irgendwer sagen kann „He, hallo, ich bin jetzt ein religiöser Jude“, also das habe ich damit nicht gemeint.

Engelberg: Okay. Es gibt ja tatsäch- lich in Amerika den Begriff des „psy- chological Jew“, also von Juden, die aufgrund ihrer ethischen Grundsätze, aufgrund ihres intellektuellen Zugangs geber dem Chefredakteur und auch kommen richtig. Der Herausgeber wird und ihrer Moralvorstellungen und so anderen Redakteuren nicht hinein. Das sich nicht einmischen. Zweitens ist es weiter ein Set von Werten definieren, haben wir zu Zeiten, als Erwin Javor aber so, dass ich in einigen Punkten wo sie meinen, das würde sie jüdisch Herausgeber war, so gehalten, und du nicht deiner Meinung bin. Die wichtig- machen. Der Punkt für eine Gemein- machst es genauso. Gerade bei einem ste und heikelste Frage ist ja eine, die schaft aber ist, es muss eine klare De- Kommentar ist es klar, dass ich hier die jüdischen Gemeinschaften in der finition geben, weil sonst verwässert meine Meinung schreibe. ganzen Welt beschäftigt und immer sich das komplett. Das heißt, wenn wir Ich habe übrigens zwei diametral schon beschäftigt hat, nämlich die keine eindeutige Definition haben – entgegengesetzte Arten von Leser- sogenannte „Mihu jehudi“-Frage, also und die einzige, auf die sich alle geei- briefen erhalten, nämlich total begei- „Wer ist Jude?“ Und das ist doch eine nigt haben, ist, dass Jude zu sein eine sterte und ganz ablehnende. Es gab sehr sensible Frage, die du für mein Ge- jüdische Mutter bedingt – dann wird nichts Lauwarmes dazwischen. Man- fühl vereinfachend beantwortet hast, das vollkommen willkürlich. che meinten, ich würde da jetzt einen wenn du schreibst, dass es eigentlich Chaj-Wahlkampf betreiben, was völlig egal ist, ob jemand eine jüdische Mut- Menasse: Also zur Definition. Nach absurd ist, weil ich nicht für Chaj ar- ter hat. Wenn einer sagt, er sei jüdisch, den Gesetzen der Logik geht es nicht beite. Wir machen mit unserem NU ist er nach deiner Meinung Jude. Und an, dass man in der Definition just eine Zeitung, die nach journalistischen damit kann ich, das muss ich ehrlich jenes Wort verwendet, das zu definie- Grundsätzen funktioniert. Die kennen sagen, nichts anfangen. ren ist, weil damit dreht man sich im aber scheinbar viele nicht. Kreis. Jemand ist ein Jude, wenn die Mir ging es um die Sinnhaftigkeit Menasse: So habe ich es nicht ge- Mutter Jüdin ist. Damit ist aber wie- der Trennung von Religion und Politik. schrieben. Es gab Zeiten, wo alle Men- derum nicht definiert, was eine jüdi- Schon in meinem allerersten Beitrag schen religiös waren, und da konnte sche Mutter ist. Das ist also keine De- für NU vor 16 Jahren habe ich geschrie- man ganz einfach sagen, Jude ist, wer finition. ben, dass es eine voraufklärerische Si- eine jüdische Mutter hat. Dann aber Aber abgesehen davon, nehmen tuation ist, wenn Religion und Politik haben viele begonnen, sich von der wir den Kampf gegen den Antisemi- in der Gemeinde nicht getrennt sind. Religion abzuwenden und alles war tismus. Sollen sich alle, die keine jü- plötzlich anders. Wenn das Judentum dische Mutter, aber vielleicht einen Engelberg: Na gut, aber eines nach sich religiös definiert und aber auf die jüdischen Vater haben, zurücklehnen dem anderen. Also das Erste ist voll- Mutter abzielt, dann entsteht ein Wi- und sagen, „Das sollen die machen mit

Martin Engelberg: „Das Religiöse fängt mit der jüdischen Mutter an und braucht noch etwas darüber hinaus, nämlich ein religiöses, traditionelles Leben, um eine lebendige jüdische Identität aufrecht zu erhalten.“

2 | 2017 37 Peter Menasse: „Wenn das Judentum sich religiös definiert und aber auf die Mutter abzielt, dann entsteht ein Widerspruch. Ich zum Beispiel habe eine jüdische Mutter, bin aber nicht religiös.“ der jüdischen Mutter“? Sollen die in Menasse: Da unterscheiden sich Menasse: Die Kultusgemeinde ist ja Zukunft einem Mob, der antisemitisch unsere Meinungen. Aber wir können per Definition, per Gesetz eine Religi- losrennt, sagen: „Hallo, mich dürft ihr dennoch gemeinsam eine Zeitung onsgemeinschaft. Sie soll anerkennen, nicht verfolgen, weil ich habe keine jü- machen, die vielen Menschen das In- wie sie es für richtig hält. Aber streng- dische Mutter“? teressante, Schöne und Besondere am genommen müsste sie dann auch alle, Judentum zeigt. Das funktioniert seit die sich als nicht religiös deklarieren, Engelberg: Reden wir nicht immer 17 Jahren, weil wir respektvoll mitein- einfach ausschließen. nur von der Verfolgung, sondern gehen ander umgehen. wir in den positiven Fall, dass jemand Engelberg: Aber noch einmal zu- sagt „Okay, ich habe zwar keine jüdi- Engelberg: Deine Position in der rück, ich meine das, was eben das sche Mutter, aber nach meinem Den- Frage der jüdischen Identität ist des- Missverständliche bei deinem Artikel ken, in meinem Wesen, in meiner Art, wegen heikel, weil man befürchten war, dieser Aufruf quasi zur Spaltung. auch in meinem Freundeskreis und kann, dass die Gefahr der Spaltung des Also erstens einmal, dass die, die nach im Halten der Traditionen führe ich Judentums besteht. Was wäre denn Halacha nicht jüdisch sind, auch Teil ein jüdisches Leben.“ Sie müssten deine Lösung? Ich meine, wie stellst du der Gemeinde werden sollten und an- übertreten, wenn sie Mitglied der Ge- dir vor, dass wir in der Kultusgemeinde dererseits, dass die, die nicht religiös meinschaft werden wollen. Und das ist mit Menschen umgehen, deren Vater sind, eigentlich austreten sollten, weil eben das System, auf das wir uns geei- beispielsweise Jude ist, nicht aber die diese Gemeinde religiös ist. nigt haben. Sonst funktioniert es nicht. Mutter? Menasse: Ja, der Ausschluss der Menasse: Du sagst, das System, auf Menasse: Also es geht mir gar Nichtreligiösen wäre eigentlich kon- das „wir“ uns geeinigt haben. Aber nicht so sehr um den Eintritt in die sequent. Dann stellt sich allerdings dieses „Wir“ schließt nicht alle ein. Kultusgemeinde, das ist für mich ein die Frage der politischen Vertretung. Es wäre möglich, dass sich eine neue Randthema. Ich bin zwar Mitglied der Weil der Antisemitismus, aber auch Gruppe bildet, die sich von der Defi- Kultusgemeinde, das bin ich aber eher die jüdische Kultur betreffen nicht nur nition der Religion löst und mit poli- aus politischen Gründen geworden, die religiösen Juden, sondern auch tischen und kulturellen Argumenten als Zeichen, dass ich der Gesellschaft alle, die von der IKG nicht anerkannt ein Jüdisch-Sein für sich beansprucht. zeige, dass ich Jude bin – und es gibt werden. Die Religiösen werden sagen: „Ihr seid keine andere Möglichkeit, das so of- keine Juden“, aber das kann ja den an- fensichtlich zu machen. Engelberg: Ja, ich denke, das ist deren egal sein. Man könnte trotzdem Ich habe eine andere Frage: Was ist schon auch wichtig zu sagen. Dass wir politisch wirksam werden in der Ge- mit den vielen Menschen, die wir zum eben die Kultusgemeinde nicht nur sellschaft. Beispiel für NU interviewen und die als Religionsgemeinschaft sehen, die Diese Idee ist ja bisher nie entstan- uns von ihren Verwandten erzählen, sie laut Statut wohl ist. Ich weiß jetzt den, weil es ein freundschaftliches die verfolgt wurden. Wollen wir sie mit nicht, wie es vor der Schoa war, aber Miteinander von religiösen und nicht- Definitionen zurückstoßen? Das wäre jedenfalls seither war sie schon auch religiösen Mitgliedern der Kultus- eine interessante Diskussion inner- immer eine politische Vertretung der gemeinde gegeben hat. Aber zuletzt halb der Kultusgemeinde. Wie gehen Juden. wollte man mich vor ein Religionsge- wir mit ihnen um? richt zerren. Menasse: Es müsste irgendwann Engelberg: Die entscheidende Frage einmal eine wirklich ordentliche Dis- Engelberg: Also ich bin ja der Letzte, bleibt trotzdem, wie gehen wir mit kussion darüber geben, wie man mit der die Weisheit der derzeitigen IKG- Menschen um, die nach der Halacha diesem Thema umgeht. Was heißt das, Führung verteidigen möchte. Mir ist nicht Juden sind? Ich meine, man dass Menschen als Juden angegriffen aber die Frage ein wichtiges Anliegen: muss das mit großer Menschlichkeit werden könnten, aber nicht religiös „Braucht es einen religiösen Inhalt, und Sympathie abhandeln und auch sind? Was ist mit den vielen, die nicht um das eigene Judentum zu definie- einen Weg finden, gemeinsame For- religiös sind, aber die jüdische Kultur ren?“ Und ich sage ja. Das Religiöse mate zu haben. Nur der Schritt dazu, weitertragen? Dieser Diskussion sollte fängt mit der jüdischen Mutter an und diesen Leuten die Möglichkeit zu sich die Kultusgemeinde stellen, statt braucht noch etwas darüber hinaus, geben, Mitglieder der Kultusgemeinde Religionsgerichte anzurufen, als ob nämlich ein religiöses, traditionelles zu werden und damit per Definition, wir im Iran oder in Saudi-Arabien Leben, um eine lebendige jüdische auch religiöser Definition, Juden zu wären. nu Identität aufrecht zu erhalten. sein, das funktioniert nicht.

38 2 | 2017 Telegramm aus Netanja

Nudnikit

VON ANITA HAVIV-HORINER

Meine Kinder können sich über dass er drohte, unverrichteter Dinge Doch gerade als ich ihr mein Herz aus- nichts einigen, außer dass beide der zurück nach Tel Aviv zu fahren. Beson- schütten wollte, wurde das Essen ser- einhelligen Meinung sind, dass ihre ders schien ihn zu empören, dass ich viert. Mutter eine Nudnikit – auf gut Deutsch – nachdem mein Fundus an rationalen Der Abend verlief auch weiterhin eine Nervensäge – ist. Dieser seltenen Argumenten erschöpft war – die Keule recht unharmonisch, da sich die hit- Harmonie auf meine Kosten konnte ich der mütterlichen Autorität geschwun- zige Diskussion mit Daniel in eisiges mich gestern wieder vergewissern. gen hatte. Das sind israelische Söhne Schweigen gewandelt hatte. Also war Ich habe mich nämlich wegen einer gar nicht gewohnt, daher überraschte ich recht erleichtert, als ich wieder Bagatelle mit meinem Sohn gestrit- es ihn, dass ich nicht einlenkte. Aus nach Hause aufbrechen konnte. ten. Das kleine Familiendrama fand Rücksicht auf die anderen Familien- Im trauten Heim wollte meine Toch- im Auto auf dem Weg zum heiligen mitglieder bestrafte er mich doch nicht ter nun endlich in Erfahrung bringen, Schabbatmahl des Haviv-Clans statt. so hart und blieb bei uns in Netanja. wie ihr Bruder es geschafft hatte, mich Der eher introvertierte und friedfertige Meine Tochter, die schon vorge- dermaßen in Hysterie zu versetzen. Als Junior setzte auf Melodrama, das sonst fahren war, öffnete uns die Tür. Sie ich ihr kleinlaut gestand, dass es um eigentlich mein Terrain ist: „Wir sehen erkannte auf den ersten Blick, dass einen verlorenen Wohnungsschlüssel uns einmal die Woche ein paar Stunden Alarm angesagt war, und manövrierte ging, schaute ausgerechnet sie – die und DU vergeudest sie mit Streit“. Mei- mich auf ihre resolute Art ins Badezim- Drama-Queen par excellence – mich nen Hinweis, dass seine Sturheit un- mer. Am Wannenrand wollte sie Infor- entrüstet an: „Wegen eines Schlüssels serer kostbaren Quality-Time genauso mation über das Geschehen aus mir machst du so ein Theater? Hast du wenig zuträglich sei, überzeugte ihn herausquetschen. Ihre Anteilnahme nicht genug andere Sorgen? Wir leben nicht. Er geriet dermaßen außer sich, löste bei mir einen Tränenschub aus. doch in Israel.“ nu

Kohnversationen

VON RUTH LEWINSKY (ZEICHNUNG) UND CHARLES LEWINSKY (TEXT)

2 | 2017 39 Jüdisches Leben

Anlässlich ihres Wienbesuchs kamen die königlichen Hoheiten Charles und Camilla in das Jüdische Museum Wien.

© JMW/OURIEL MORGENSZTERN Ein König für die Juden

Der britische Thronfolger Es war ganz sicher die Hochzeit des Vater hätte und damit vielleicht Spu- Charles, Prince of Wales, Jahres: Pippa Middleton, die Schwester ren eines jüdischen Familienlebens in von Herzogin Kate, heiratete im Mai das Haus Windsor einziehen könnten. und seine Gemahlin Ca- den Finanzexperten James Matthews. Spätestens nach der Vermählung von milla, Duchess of Cornwall, In einer für ihre Familienverhält- Prinz William und Kate Middleton im besuchten im Rahmen ihres nisse bescheidenen (nicht allerdings, Jahr 2011 erreichten die Spekulationen was das Budget von fast einer Million ihren Höhepunkt. Ein namentlich nicht Wien-Aufenthaltes das Jü- Euro betrifft...), exklusiven Zeremonie genannter sefardischer Rabbiner aus dische Museum Wien. Das gaben sie einander das Ja-Wort. Die Israel wurde zitiert, der die Familienna- britische Königshaus hat Society-Vermählung ließ die Gerüchte men der Vorfahren von Kate und Pippas wieder aufleben, dass Pippa und Kate Mutter, Goldsmith, Temple, Harrison heute einen entspannten eigentlich aus einer jüdischen Familie oder Myers als „jüdisch“ definierte und Umgang mit dem Juden- stammen sollen. Bereits anlässlich der die Familie somit auch kascherte. Diese tum. ersten Begegnungen zwischen Kate Ansage forderte die jüdische Ahnenfor- Middleton und Prinz William wurde schung heraus. Die Namen Goldsmith, darüber spekuliert, dass Kates Mutter, Myers oder Temple kämen durchaus VON DANIELLE SPERA geborene Goldsmith, einen jüdischen auch bei nichtjüdischen Familien vor.

40 2 | 2017 © JUSTIN TALLIS/AFP/PICTUREDESK.COM Die Vorfahren von Kate und Pippa seien zielle Pensionsalter erreicht. Bei Ihnen Minenarbeiter gewesen und stammten ist es wohl realistischer als bei mir ...“ aus Regionen, in denen es keine jüdi- Als erster Vertreter der königlichen schen Gemeinden gab. Die Recherchen Familie wohnte Charles der feierlichen der Jewish Genealogy Society endeten Amtseinführung des neuen britischen mit dem Appell: „Akzeptiert es: Kate ist Oberrabbiners Ephraim Mirvis bei und keine ,Jewish Princess‘“, und die Times trug seine ganz spezielle Kippa aus of Israel schrieb anlässlich der Geburt blauem Samt mit seinem aufgestickten von Prinz George: „Middleton, Schmid- Wappen. Und die Biografin des Prince delton, der neue Erbe ist nicht jüdisch“. of Wales, Catherine Mayer, ist über- zeugt, dass Charles ein guter König für Beschneidung als Tradition die Jüdinnen und Juden in Großbri- im britischen Königshaus tannien sein wird, er sei an Religion Das britische Königshaus hat alles interessiert mit einer Leidenschaft für in allem heute einen entspannten religionsübergreifende Initiativen und Umgang mit dem Judentum. Zwar ist großer Aufmerksamkeit für die Nah- Königin Elizabeth in ihrer 60-jährigen ostpolitik. In einem Interview mit dem Regentschaft noch nie nach Israel ge- Jewish Chronicle sagt Mayer: „I’m sure reist, doch hat sie vor zwei Jahren that Charles will be a King for the Jews.“ Hochzeit des Jahres: Pippa Middleton das ehemalige Konzentrationslager Nach einem Besuch in Polen im Jahr und James Matthews Bergen-Belsen besucht, das einzige 2002 setzte sich der britische Thronfol- Konzentrationslager, das 1945 von bri- ger persönlich für die Schaffung eines Relief hielt er heuer eine Rede, in der er tischen Truppen befreit wurde. In ihrer jüdischen Gemeindezentrums in Kra- feststellte, dass die schrecklichen Leh- Amtszeit hat die Queen zahlreiche kau ein, das er mit seiner Gattin Camilla ren des letzten Krieges zunehmend in Rabbiner und andere jüdische Persön- sechs Jahre später eröffnete. Als Förde- Vergessenheit gerieten. Dem möchte lichkeiten in den Adelsstand erhoben rer der wichtigen britischen jüdischen er entgegenwirken und setzt sich auch bzw. zu Mitgliedern des House of Lords Wohlfahrtsorganisation World Jewish engagiert dafür ein. ernannt. Und Prinzessin Anne ist in zweiter Ehe mit Timothy Laurence ver- Charles und Camilla führten Gespräche mit Schoa-Überlebenden. heiratet, der väterlicherseits jüdische Vorfahren hat. Ganz abgesehen davon gibt es im britischen Königshaus die Tradition, dass jedes männliche Baby von einem Mohel (einem religiös aus- gebildeten Mann, der nach jüdischem

Ritus Beschneidungen vornimmt – im MORGENSZTERN JMW/OURIEL © Fall von Prinz Charles war es der Rab- biner Dr. Jacob Snowman) beschnitten wird. Bisher hatte sich lediglich Prin- zessin Diana geweigert, dies bei ihren Söhnen William und Harry durchfüh- ren zu lassen. Am engsten ist vermutlich Prinz Charles mit der jüdischen Gemeinde verbunden. So pflegt er eine herzliche Bekanntschaft mit dem früheren bri- tischen Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks, der gleich alt ist wie er. Bei des- sen Pensionierung sagte Prinz Charles in seiner Rede mit dem ihm eigenen Humor: „Wie haben jetzt beide das offi-

Die Mutter von Prinz Philip, Prinzessin Alice von Battenberg, die mit Prinz Andreas von Griechenland verheiratet war, arbeitete während des Zweiten Weltkriegs in Athen für das Rote Kreuz. Dort versteckte sie die jüdische Familie Cohen vor den Nazis.

2 | 2017 41 Am engsten ist vermutlich Prinz Charles mit der jüdischen Gemeinde verbunden. So pflegt er eine herzliche Bekanntschaft mit dem früheren britischen Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks, der gleich alt ist wie er.

Eine überraschende Nachricht tannien gerettet wurden, bei den briti- Deutschkenntnisse und unterhielt sich Bei seinem Besuch in Wien im April schen Familien aufgenommen worden mit jedem Einzelnen. Ihn interessierte dieses Jahres suchten sich die könig- waren. Ob die Familien ohnedies nett vor allem, wie die jungen Menschen lichen Hoheiten Charles und Camilla gewesen wären, war eine der Frage, die nach Österreich gekommen waren und ganz bewusst das jüdische Museum er an seine Gesprächspartner stellte. ob sie mit ihrer Familie flüchten konn- als eines ihrer Ziele aus und hatten Für die Organisation der Kindertrans- ten. auch den Wunsch geäußert, Wiener porte nach Großbritannien zeichnete Dass das Jüdische Museum Wien Jüdinnen und Juden zu treffen, die übrigens der 1933 gegründete World und das Jewish Museum London be- die Schoa überlebt hatten. Bei diesem Jewish Relief Fund verantwortlich, der reits zusammengearbeitet haben und Gespräch ließ Charles mit einer überra- heute von Prinz Charles unterstützt in Wien die Ausstellung über Amy schenden Nachricht aufhorchen. Seine wird. Winehouse zu sehen war, freute den Großmutter habe im Zweiten Weltkrieg Bei seinem Besuch im Jüdischen Prince of Wales, der auch als Schirm- Juden gerettet. Während die britischen Museum Wien wollte der britische herr des Jüdischen Museums London Medien, die die königlichen Hoheiten Thronfolger nicht nur über das Thema auftritt. Seine Verbundenheit mit der nach Österreich begleitet hatten, dieses Holocaust sprechen, sondern auch das jüdischen Gemeinde sei so tief, dass weitgehend unbekannte Faktum groß Vermittlungsprogramm des Museums Charles gedenke, innerhalb der näch- berichteten, blieb die Enthüllung in der für muslimische Flüchtlinge kennen- sten drei Jahre zum Judentum zu kon- österreichischen Presse angesichts des lernen und vor allem mit Betroffenen vertieren, schrieb die britische Jewish Trubels um den royalen Besuch unbe- zusammentreffen. Die Gruppe, die an Week am 1. April 2014. Herzogin Camilla achtet. diesem Tag im Museum Erkenntnisse würde das unterstützen, und bereits In bewegenden Worten sprach er über die jüdische Geschichte und Ge- Backkurse für das traditionelle Schab- über den Einsatz seiner Großmutter genwart bekam, bestand aus jungen bat-Brot absolvieren. Auch die Queen väterlicherseits. Die Mutter von Prinz Menschen aus Afghanistan, die seit sei von diesen Plänen ihres Sohnes Philip, Prinzessin Alice von Battenberg, etwa einem Jahr in Österreich leben. sehr angetan. Wer allerdings heuer auf die mit Prinz Andreas von Griechen- Alle sprachen hervorragend Deutsch, die Vollzugsnachricht gewartete hatte, land verheiratet war, arbeitete während aber nicht Englisch. Prinz Charles ent- wurde enttäuscht. Diese Meldung der des Zweiten Weltkriegs in Athen für schuldigte sich für seine mangelnden Jewish Week war ein Aprilscherz. nu das Rote Kreuz. Dort versteckte sie die jüdische Familie Cohen vor den Nazis. Alice von Battenberg war von Geburt Alice von Battenberg, hier mit ihrem Sohn Prince Philip, hat im Zweiten Weltkrieg an taub, und so gab sie vor, nichts zu Juden gerettet. verstehen, als sie dazu von den Nazis befragt wurde. Für ihren Mut und ihr Engagement wurde Prinzessin Alice 1993 posthum von der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem als eine Gerechte unter den Völkern geehrt und ist auch in Jerusalem begraben. „Meine Großmutter war eine einmalige Frau. Sie hat über viele Jahre geheim- gehalten, dass sie eine jüdische Familie gerettet hat. Anlässlich des Begräbnis- ses von Präsident Shimon Peres in Je- rusalem habe ich ihr Grab besucht,“ so Prinz Charles. Die Geschichte seiner Großmut- ter bildete den Auftakt zu seinem Ge- spräch mit Schoa-Überlebenden im Jüdischen Museum Wien. Der britische Thronfolger war dabei besonders daran interessiert, wie jene, die 1938/39 durch einen Kindertransport nach Großbri-

42 2 | 2017 Engelberg

Für eine moderne

© PETER RIGAUD PETER © jüdische Identität

VON MARTIN ENGELBERG

Bekanntlich stehen im Herbst Neu- sicher eine sehr lautstarke Lobby in und das Thema der Integration. wahlen in Österreich an. Das bedeutet der Gemeinde, die heftig gegen eine – sogenannte – gute und schlechte Regierungsbeteiligung der FPÖ prote- Diese Wahl böte also für jüdische Nachrichten für die jüdische Gemein- stieren würde – egal, ob unter den So- Menschen in Österreich eine beson- schaft. Die wichtigste gute Nachricht zialdemokraten oder unter Sebastian ders interessante Gelegenheit, sich po- ist: Mit Christian Kern oder Sebastian Kurz und seiner Liste. Es wird also litisch zu engagieren. Im Rahmen der Kurz haben zwei Persönlichkeiten die keine leichte Aufgabe für die Gemein- Definition einer modernen jüdischen besten Chancen, Bundeskanzler zu deführung. Noch dazu angesichts der Identität ginge es gar nicht mehr um werden, deren Sympathie für die jü- im November anstehenden Kultusge- die Fokussierung auf das Thema An- dische Community und für den Staat meinde-Wahlen. Man wird hier keine tisemitismus und ein Aufschreien bei Israel unbestritten ist. Irritieren wird einzige Stimme verlieren wollen, geht tatsächlichen oder vermeintlichen an- jedoch wohl so manches Gemeinde- es doch auch in der Kultusgemeinde tisemitischen Vorfällen. mitglied die Tatsache, dass die FPÖ möglicherweise um neue Mehrheiten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bei der Wahl der zukünftigen Präsi- Die jüdische Tradition hat so viel Teil der nächsten Regierung sein wird. dentschaft. mehr zu bieten: bewährte und realisti- Egal, ob unter einem Bundeskanzler sche ethische Grundsätze, ein hohes Kern oder Kurz. Die Option einer aktiveren, gestal- Maß an Intellektualität und Klugheit, tenden politischen Beteiligung der die Fähigkeit zu differenzieren, Le- Möglicherweise kommt in dieser jüdischen Gemeinde ist aufgrund der bensfreude und Witz und vieles mehr. Frage der jüdischen Gemeinde und Is- Haltung und der Möglichkeiten der Die jüdische Gemeinde Wien kann rael eine gewisse Bedeutung zu. Dabei derzeitigen Führung nicht zu erwar- wunderbare Beispiele gelungener In- könnte sich die Gemeindeführung in ten und auch gar nicht angeraten. tegration vorweisen. Zuerst die Gene- den zu erwartenden, nationalen und ration der Schoa-Überlebenden, die internationalen Chor der Empörten Für jüdische Menschen, die sich sich hier in den Jahrzehnten nach einreihen und gegen die Regierungs- als Teil der österreichischen Zivil- dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligung der FPÖ protestieren und gesellschaft sehen, sollte es jedoch aus dem Nichts wieder eine lebendige lobbyieren. Die Situation wird sich als Individuen bei dieser Wahl einen und erfolgreiche Existenz erschufen. jedoch grundsätzlich von der Zeit besonderen Anreiz geben, sich ein- Dann die Zuwanderer aus der ehe- der schwarz-blauen Regierung un- zubringen. Schließlich hat die bevor- maligen Sowjetunion, die sich inzwi- terscheiden. Einerseits wird die Auf- stehende Nationalratswahl das Poten- schen ebenfalls bestens integriert regung bei weitem nicht so groß sein zial, besonders spannend zu werden. haben, die Handwerker oder erfolgrei- wie im Jahr 2000. Außerdem könnte Höchstwahrscheinlich wird es ein so- che Geschäftsleute wurden und deren die SPÖ ebenso gut wie die Liste Kurz/ genannter Richtungswahlkampf. Es gut ausgebildete Kinder und Enkel- Volkspartei mit den Freiheitlichen ko- wird um die wichtigsten wirtschafts- kinder inzwischen zunehmend auch alieren. und gesellschaftspolitischen Fragen akademische Berufe ergreifen. zur Zukunft Österreichs gehen: um Es befände sich also in jedem Fall die Höhe der Steuern und Abgaben, Diese Tugenden im gesamtöster- ein beträchtlicher Teil der Gemein- der Pensionen, um die Liberalisie- reichischen Kontext einzubringen demitglieder in Erklärungsnotstand, rung oder Nicht-Liberalisierung vieler wäre ein großartiger Entwicklungs- warum denn eine Koalition der FPÖ Märkte, eine Reform des Bildungssy- schritt für die jüdische Gemeinschaft, mit der jeweils anderen Partei jetzt stems und vieles mehr. Aber auch und den es mit aller Kraft zu unterstützen so verwerflich sein soll. Aber es gäbe nicht zuletzt um die Flüchtlingsfrage gilt. nu

2 | 2017 43 Jüdisches Leben Eine Orgel und die Felix-Gurken

Ein Überblick über die jüdi- Wenn man im Zentrum von Stock- zu. Wie ein Wegweiser steht zwischen sche Gemeinde Stockholms. holm auf der Suche nach der Großen dem Park und der Synagoge das Denk- Synagoge ist, so erkennt man sie gleich mal für Aaron Isaac, den offiziell ersten durch ihre für die Umgebung unge- Juden in Schweden. wöhnliche, orientalische Architektur. Die Führung durch die im Jahr 1870 Sie ist in der Nähe eines öffentlichen errichteten Synagoge beginnt mit einer VON IDA SALAMON (TEXT UND FOTOS) Parks gelegen, und man geht entlang Anekdote: Als Aron Isaac um Aufent- einer Allee von Kirschbäumen auf sie haltserlaubnis beim schwedischen König ansuchte, sagte dieser, er könne in Schweden bleiben, wenn er seine Religion ablege. Isaac antwortete, er sei nicht nach Schweden gekommen, um seine Religion zu ändern. Wenn er seinen Glauben nicht behalten könne, werde er auch nicht bleiben. Schon König Gustav III. war an jü- discher Emigration nach Schweden interessiert. In einem Brief an seine Mutter schreibt er 1771, im Jahr seiner Krönung zum König von Schweden: „Es ist sicher, dass es für das Land sehr vorteilhaft wäre, wenn so ein fleißiges Volk wie die Juden sich hier nieder- lassen würde ...“ Und so wurde ein Gra- veur aus Deutschland namens Aaron Isaac der Gründer der jüdischen Ge- meinde in Stockholm. Er war der erste Jude, der sich im Jahr 1774 in Schwe- den niederließ, ohne konvertieren zu müssen.

Kreiskys Lieblingscousin Auch das 20. Jahrhundert kennt einige jüdische Persönlichkeiten, die einen beträchtlichen Beitrag in Schwe- den geleistet haben, darunter die No- belpreisträgerin Nelly Sachs, der Poli- tiker und Journalist Stefan Szende und der Unternehmer Herbert Felix, der Lieblingscousin von Bruno Kreisky. Die Marke Felix wurde zuerst in Schweden Das Wallenberg-Denkmal, ein Gütezeichen für Gurken und später eingebettet in Pflaster- für Ketchup. Bruno Kreisky, der ab 1938 steine aus dem ehemaligen im schwedischen Exil war, brachte sei- Budapester Ghetto nen Cousin Herbert Felix auf die Idee, mit dem Unternehmen auch nach

44 2 | 2017 In der Großen Synagoge von Stockholm sitzen Frauen und Männer zusammen, da sich das neue konservative Judentum für eine Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzt. Frauen tragen sogar eine Art von Tallit, einen Gebetsmantel.

Österreich zu gehen. Im Jahr 1960 wurde „Felix “ mit Sitz in Mat- tersburg gegründet. Wenn wir schon beim Essen sind: Wer in Schweden koscheres Fleisch kaufen will, muss zu Importware grei- fen. Denn das Schächten, das rituelle Schlachten von koscheren Tieren, ist verboten oder es muss nach einer Se- dierung des Tieres erfolgen. Zvi Pesach Frank, Oberrabbiner von Jerusalem, gab in den frühen 1950er-Jahren die Erlaubnis, dass die Tiere betäubt wer- den können, aber das Fleisch durfte nur von Juden gegessen werden, die in Schweden ansässig waren. In den 1970er-Jahren wurde diese Art von Schächtungen eingestellt. Das Gesetz über die Schlachtung von Tieren trat im Jahr 1938 in Kraft. Kritiker des Gesetzes argumentie- ren, dass es die religiöse Freiheit der Das Innere der Großen Synagoge von Stockholm mit der Orgel schwedischen Bürger, vor allem der Juden und Muslime, verletze. Auf die klärt das SCAA über antijüdische Hass- musik begleitet, die von einem nicht- Frage, ob sich die muslimische Ge- verbrechen und antisemitische Propa- jüdischen Musiker am Freitagabend meinschaft auch daran halte, antwor- ganda auf. und an den großen Feiertagen gespielt tet Kantor Maynard Gerber, der auch wurde. „Ich sang mit der Orgel bis vor als Repräsentant der jüdischen Ge- Frauen-Tallit etwa fünf oder sechs Jahren und habe meinde gilt, diplomatisch: „Ich glaube, Kantor Maynard Gerber, ein gebürti- es sehr genossen“, berichtet der Kantor es gibt moslemische Gruppen, die eine ger Amerikaner, der 1975 nach Schwe- über seine ungewöhnliche Erfahrung. Betäubung anwenden könnten.“ den gekommen ist, bezeichnet sich Beim Seitenausgang der Synagoge Diskussionen und Versuche, das selbst als Mitglied der Masorti-Bewe- liegen, eingebettet in Pflastersteine Gesetz zu ändern, haben bislang viele gung. Es ist eine Bezeichnung für tra- des ehemaligen Budapester Ghettos, Male stattgefunden, aber keine Ände- ditionelle, aber nicht strikt orthodoxe eiserne Schienen. Sie stehen sym- rung wurde umgesetzt. Trotzdem be- Juden – „etwa wie die amerikanischen bolisch für die Züge, die die Juden in zeichnet der Kantor die Beziehungen Konservativen“, meint er. In Stockholm die Konzentrationslager transportiert zwischen der Regierung und der jüdi- gibt es auch zwei orthodoxe Synago- haben und führen bis zum nahegele- schen Gemeinde als gut. gen, die von der jüdischen Gemeinde genen Wallenberg-Denkmal. Eine etwa In Schweden leben zwischen 18.000 unterstützt werden. einen Meter hohe Granitkugel trägt als und 20.000 Juden, die Hälfte davon im In der Großen Synagoge von Stock- Inschrift den Namen des schwedi- Großraum Stockholm. Zur Frage, ob holm sitzen Frauen und Männer zu- schen Diplomaten Raoul Wallenberg, viele Juden aus Schweden nach Is- sammen, da sich das neue konserva- der tausende ungarische Juden vor rael auswandern, sagt Gerber: „Ja, aber tive Judentum für eine Gleichberech- dem Tod bewahrte. Auf der gegenüber- nicht so viele wie in den 1970er- und tigung von Männern und Frauen ein- liegenden, zur Synagoge gerichteten 80er-Jahren“, in der Zeit, als der Anti- setzt. Frauen tragen sogar eine Art von Seite des Denkmals wurde der Name semitismus in Schweden am stärksten Tallit, einen Gebetsmantel. Aaron Isaac eingraviert. Rund um die war. Noch eine Besonderheit schmückt große Kugel steht in 24 verschiedenen Das schwedische Komitee gegen die große Synagoge vom Stockholm: Sprachen: „Der Weg war gerade, als Antisemitismus (SCAA) wurde 1983 als Wie in den deutschen Reform-Syn- Juden in den Tod geschickt wurden. Reaktion auf zunehmenden Antisemi- agogen des 19. und frühen 20. Jahr- Der Weg war voller Kurven, Gefahren tismus gegründet. Durch öffentliches hunderts gibt es hier eine Orgel; früher und Hürden, als die Juden versuchten, Auftreten und in Schulungsseminaren wurden die Gottesdienste von Orgel- ihren Mördern zu entkommen.“ nu

2 | 2017 45 Jüdisches Leben Die junge jüdische Stimme Deutschlands

Am Rande der Bundestags- Es ist früh am Morgen und die Ber- ziehen, damit ich die Möglichkeit habe, wahlen in Deutschland wird linerin beneidet mich um den Wiener jüdisches Leben zu erleben. In Berlin Mokka auf meinem Schreibtisch. Die hat dann meine jüdische Institutio- eine neue, junge, jüdische 22-Jährige ist in Stuttgart geboren. Ihre nenkarriere angefangen“, lacht sie. Aus Stimme laut. Kurz nach Mutter stammt aus Riga und wuchs in dem jüdischen Kindergarten in die jü- ihrer Gründung wählte die Deutschland, Israel und New York auf. dische Grundschule, aus der jüdischen Ihr Vater kommt aus Argentinien. Ken- Oberschule ins jüdische Gymnasium. Jüdische Studierenden- nengelernt haben sich ihre Eltern in Is- Später zog sie nach Heidelberg und union Deutschland (JSUD) rael, von wo aus sie gemeinsam nach studiert dort im Bachelor Politikwis- in Berlin eine Frau an ihre Deutschland auswanderten. „Wir sind senschaften und Jüdische Studien. sehr traditionell, aber nicht unbedingt Ihr bewusstes jüdisches Leben hat Spitze. Präsidentin Dalia religiös. Weil es in Stuttgart so wenig mit ihrem ersten Ferienlager begon- Grinfeld erzählt dem NU jüdisches Leben gab, hat meine Mutter nen, erzählt Dalia. Damals war sie acht von den Zielen ihrer Organi- entschieden, dass wir nach Berlin um- Jahre alt und sei nicht nur singend und

sation, von Kofferjuden und © JSUD gekrümmten Bananen.

VON SAMUEL MAGO

„Sagt man Jeh-Sud oder Jott-es- u-deh?“, frage ich die Präsidentin. „Wir sind doch keine Suppe…“, lacht sie und verweist mich auf Zweite- res. Ihre Stimme rauscht durch die Skype-Verbindung von Berlin nach Wien. „Die JSUD möchte die junge jü- dische Stimme in Deutschland sein. Aber nicht nur irgendeine Stimme, sondern eine politische Stimme. Ich sage immer, wir sind nicht die nächste Schabbes-Organisation oder die neuen Chanukka-Party-Planer. Wir sind auch nicht der Zentralrat, aber wir wollen in der Politik aktiv werden und eine poli- tische Stellung in Deutschland einneh- JSUD-Präsidentin Dalia Grinfeld: „Ich lebe, ich atme, ich lese, ich esse JSUD men“, erklärt Dalia. durch und durch.“

46 2 | 2017 Dass eine junge Frau an die Spitze einer jüdischen Organisation gewählt wird, ist nicht selbstverständlich. Umso mehr will sich Dalia Grinfeld für die Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft einsetzen. schreiend von den jüdischen Liedern Arbeit geleistet, aber er war nie eine den Krümmungsgrad von Bananen. zurückgekommen, sondern auch mit politische Stimme, sondern eine Dach- Dann wird darüber diskutiert und ab- einem Gefühl von Zusammengehö- organisation. Wir sind eine bundes- gestimmt, und der Vorstand muss sich rigkeit mit Leuten, die sie davor noch weite, politische Vertretung jüdischer um die Umsetzung der abgestimmten nie gesehen hätte. „Juden aus ganz Studierender. Es gibt Leute, die fühlen Policies kümmern. Die Politik kommt Deutschland. Und dann jeden Sommer, sich als deutsche Juden oder als Juden nicht von uns. Die Politik wird von der jeden Winter auf Ferienlager gefahren. in Deutschland oder auch als etwas Vollversammlung vorgegeben.“ Dann wollte ich unbedingt selber aktiv ganz anderes. Es hat Zeit gebraucht, werden als Jugendleiterin. Ich war in bis man diese neuen Identitäten ge- Frau Präsidentin sehr vielen jüdischen Initiativen. Und funden hat. Aber Fakt ist, wir haben Dass eine junge Frau an die Spitze das waren die zwei bedeutsamen Sa- ein neues Selbstverständnis, anders einer jüdischen Organisation gewählt chen, die mein Leben geprägt haben: als die Generation unserer Eltern und wird, ist nicht selbstverständlich. einmal Politik und einmal jüdischer Großeltern. Das ist eine Entwicklungs- Umso mehr will sich Dalia Grinfeld für Aktivismus. Seit der Wahl zur Präsi- phase, die wir durchgemacht haben. die Gleichstellung der Frauen in der dentin der JSUD ist nicht viel Zeit ver- Es muss auch weiterhin vielfältige und Gesellschaft einsetzen: „Wir sind noch gangen, aber ich merke jetzt schon, ich inklusive kulturelle und soziale Ange- nicht an einem Punkt in der Welt, wo lebe, ich atme, ich lese, ich esse JSUD bote für Studenten geben, wir fördern alles gleichgestellt ist. Weder für Min- durch und durch. Es ist überall. Es ist das auch. Aber das ist eben die nächste derheiten noch für Frauen. Und meiner auch anstrengend, aber es ist super- Stufe: die Politik.“ Meinung nach ist auch die jüdische Ge- cool“, schwärmt die Präsidentin. In den letzten drei Jahren seien sellschaft mit verantwortlich, junge Jü- Der Grundstein ihrer Identität sei immer mehr Stimmen laut geworden, dinnen zu fördern. Dass man da einen zunächst einmal jüdisch. Sie definiert die eine nationale Vertretung jüdi- Schritt vorangeht und sagt, wir haben sich als eine in Deutschland geborene scher Studierenden-Organisationen noch keine hundertprozentige Gleich- Jüdin mit russisch-argentinisch-israe- in Deutschland forderten. Nach ihrer heit und wir müssen das angehen“, er- lischem Hintergrund. „Ich fühle mich Gründung möchte die JSUD einerseits klärt die Studentin. Auch Koalitionen in einem Flugzeug sehr wohl. Dann mit den regionalen Studierendenver- zwischen verschiedenen Minderheiten bin ich nämlich nicht nur in einem bänden arbeiten und sie mit innovati- seien der JSUD wichtig. „Wir haben uns Staat. Die junge jüdische Generation ven Inputs und Konzepten unterstüt- schon in Verbindung gesetzt mit dem in Deutschland will aber keine neue zen und vernetzen. Außerdem wolle Rat muslimischer Studierender und Generation von ‚Kofferjuden‘ sein. sich die Studierendenunion auch in- Akademiker. Auch mit den Bahai, den Wir wollen uns hier in Deutschland nerhalb der jüdischen Gemeinde ein- Roma und den Armeniern wollen wir ein Leben aufbauen. Damit hier etwas bringen: „Die JSUD vertritt rund 25.000 schauen, wo sind unsere Gemeinsam- weitergeht. Wir haben unsere jüdi- junge jüdische Erwachsene im Alter keiten, wo ist es sinnvoll, zusammen- schen Werte und wir sind auch Teil der von 18-35 Jahren in Deutschland. Das zuarbeiten. Vor allem auch im Bun- deutschen Gesellschaft. Und wir wol- sind eine Menge Stimmen und Ideen. destagswahlkampf. Im AfD-Programm len Teil des politischen Diskurses in Und deswegen wollen wir, dass die steht zum Beispiel: ‚ ... den Multikultu- Deutschland sein.“ junge Stimme innerhalb der Gemeinde, ralismus betrachtet die AfD als ernste in die verschiedenen Organisationen, Bedrohung für den sozialen Frieden Deutsche Juden und mit am Tisch sitzt. Dass wir eben nicht und für den Fortbestand der Nation Juden in Deutschland einfach stumme Studenten sind – ...‘ Ich bin mir sehr sicher, dass wir als Die JSUD sei die erste politische auch wenn diese Organisationen tolle jüdische Studierende nicht die einzi- Stimme jüdischer Studenten in Arbeit leisten. Wir sind die Stimme, die gen sind, die das stört. Die das absolut Deutschland. Andere Studierenden- mitreden und mitgestalten möchte.“ und vollkommen verkehrt finden. Die verbände habe es schon gegeben, Die Politik der JSUD wird von allen JSUD arbeitet gerade an Kampagnen einen Einfluss auf die Innenpolitik Wahlberechtigten in der jährlichen zum Thema Bundestagswahlkampf Deutschlands hätten sie heute jedoch Vollversammlung vorgegeben. „Dort und gegen die AfD. Wir wollen grund- nicht mehr. „Es gab den Bund jüdischer wird über die Policies abgestimmt sätzlich nach innen sagen: Leute, geht Studierender in Deutschland (BJSD). und da kann man auch seine Anlie- wählen! Dann aber auch, warum man Auf Papier existiert er noch, aber er ist gen einreichen. Wenn zum Beispiel nicht AfD wählen sollte, warum wir als faktisch seit zehn Jahren nicht mehr jemand möchte, dass sich die JSUD Juden speziell nicht AfD wählen sollten aktiv. Er war auch anders als wir. Er hat für gekrümmtere Bananen einsetzt. und warum wir als JSUD aktiv gegen in den 80er-Jahren unglaublich gute In der EU Politik gibt es ein Gesetz für die AfD arbeiten werden.“ nu

2 | 2017 47 Kultur „Ich fühl mich sehr wohl in der Heimatlosigkeit“

August Zirner hat für die war ein „Es“. „Es“ ist eine sehr schöne, der in New York, da war sie schon Ausstellung des Jüdischen komplexe Tonart. Ich nehme das so- krank und lag im Bett. Meine Erinne- zusagen als Omen, dass ich mit die- rung an meine Großmutter ist getrübt, Museums „Kauft bei Juden! sem „Es“ auf die Welt gekommen bin. weil meine Mutter sie nicht unbedingt Geschichte einer Wiener Ge- Dann vergingen 40 Jahre und ich war mochte – wie das wahrscheinlich bei schäftskultur“ seine Fami- in Wien wegen dem Stück Der Fall Schwiegertöchtern oft der Fall ist. Furtwängler im Rabenhof. Durch die Mein Vater hat meine Mutter sehr liengeschichte erzählt. Die Proben und durch die Beschäftigung schnell geheiratet und er hat dann Kuratorin der erfolgreichen mit dem Thema bin ich mir über- meine Mutter meiner Großmutter bei Schau, Astrid Peterle, hat haupt erst wieder bewusst geworden der ersten Begegnung vorgestellt mit über die Verstrickung meiner Fami- „Das ist meine Frau“. Und das fand den deutschen Schauspie- lie mit der Schoa. Ich bin tatsächlich meine Großmutter überhaupt nicht lu- ler, Musiker und Enkel der in einem Schockzustand durch Wien stig und hat gemeint, „Ich habe einen Unternehmerin Ella Zirner- spaziert während den Proben und Termin“ und ging. Ich weiß, dass mein habe versucht mir vorzustellen, wie es Vater unter ihrer Regentschaft gelitten Zwieback in Wien getroffen. meinem Vater ging. Und hab mir ge- hat. Aber mein Vater hat sich ja eman- dacht – das war nicht lustig, schon in zipiert, indem er das gemacht hat, was der Zeit vorm „Anschluss“, all die De- meine Großmutter eigentlich machen FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER mütigungen, die meiner Großmutter wollte, nämlich Musik. Das würde und meinem Vater passiert sind. Ich mich wahnsinnig interessieren, wie hab bemerkt, ich bin zutiefst verbun- meine Großmutter den großartigen den mit dem Phänomen der Schoa. Spagat zwischen Künstlerin, Pianistin Wie wir alle. Und ich im Speziellen und Geschäftsfrau geschafft hat. Ich NU: Herr Zirner, lassen Sie uns über Fa- durch familiäre Anbindung an die habe einen ziemlichen Respekt vor miliengeschichten sprechen. Jeder von Opferseite. Jetzt könnte man sagen, dieser Frau inzwischen, die eine rich- uns hat eine, und jeder von uns macht dass ist auch mein Privileg, dass ich tig taffe Frau war, irgendwie aber auch sich wahrscheinlich über seine Fami- Nachfahre einer Opferfamilie bin, die von der gesellschaftlichen Verant- lie einmal Gedanken. Wann haben Sie ja überlebt hat. Mein Vater hat sich wortung geprägt. Sonst hätte sie diese bemerkt, dass Ihre Familiengeschichte fast geniert, dass er es geschafft hat Wälder in Kroatien nicht gekauft. Die vielleicht doch etwas spezieller ist als zu überleben und viele aus seiner Fa- sind ja jetzt zum fünften Mal enteig- viele andere? milie nicht. net worden. Die kroatische Regierung Zirner: Ich glaube, bei meinem ersten ist eine undemokratische Fratze und Schrei. Mein erster Schrei war ein Ton Der Grund, warum wir beide uns kennen- sollte nicht in der EU sein. Ella hat ja und mein Vater hat dazu gesagt „Es“. gelernt haben, ist Ihre Großmutter Ella diese Wälder gekauft, um dort ein Feri- Er hat nicht gesagt „er“, er hat nicht Zirner-Zwieback. Was für Erinnerungen enlager für ihre Angestellten zu bauen. gesagt „sie“, er hat nicht gesagt „ein haben Sie an Ihre Großmutter? Sie war schon vermutlich eine sozial Bub“ oder „ein Mädchen“, er hat ge- Also ich erinnere mich konkret an verantwortliche Großunternehmerin. sagt: „Es“. Also ich war von vornherein zwei Begegnungen. Eine war im Cen- Aber es wäre interessant, mit ihr dar- anscheinend ein Gegenstand, aber ich tral Park – da gingen wir in den Zoo, über zu sprechen, wie es ihr ging mit wusste nicht, dass mein Vater absolu- da war ich glaub ich fünf, und dann dem Sozialismus. Meine Mutter be- tes Gehör hatte – und mein erster Ton ein paar Jahre später waren wir wie- hauptet, meine Großmutter war eine

48 2 | 2017 frühe Sozialistin – ob das stimmt, weiß ich nicht.

Ihr Blick auf Ihre Großmutter scheint sich durch das Wissen über sie, dass Sie sich in den letzten Jahren aneigne- ten, verändert zu haben. Würden Sie sie unter diesen Voraussetzungen gerne nochmals kennenlernen? Ja, unbedingt! So geht es mir aber mit sehr vielen Leuten. Ich würde gerne Wolfgang Amadeus Mozart begeg- nen. Aber ja, ich würde auch gern mit meinem Vater über diese Themen sprechen. Einfach nochmal aus erster Hand etwas erfahren. So geht es ja vie- len Leuten. Man wünscht sich, mit den Toten zu sprechen.

Wissen Sie, ob Ihre Großmutter noch- mals in Wien war nach 1945? Ich glaube nein – nur ihre Asche. Das charakterisiert auch meine Großmut- ter. Mein Vater hat sich geweigert, nochmals nach Wien zu kommen, nochmals zu kämpfen für das Unter- nehmen, um das Café Zwieback – da ging es um die Konzession. Er wollte nicht mehr. Weil mein Vater wollte seine Professur nicht aufgeben, er wollte sich nur noch mit Musik be- schäftigen und ist nicht mehr nach Wien gefahren. Das hat Ella ihm übelgenommen. Dann starb sie. Mein Vater hat erst drei Wochen nach ihrem Tod davon erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr verlet- zend war. Mein Vater fuhr nach New York und musste von Standesamt zu „Ich muss gestehen, dass ich Wien sehr mag. Ich mag auch das Abgründige in Standesamt wandern, um ihre Asche dieser Stadt.“ zu finden und sie dann nach Wien zu- rückzubringen. als ich dann hier war in Wien, war es ich nur eins: Ich wollte so Deutsch gar nicht so groß und ich war erstaunt sprechen, dass kein Mensch merkt, Sie sind als junger Mann zum Studium – ich hatte kaum Geld –, dass man dass ich einen Wiener Einschlag in am Max Reinhardt Seminar aus den USA für 17 Schilling ein Menü bekommt. meiner Sprache habe. Und mein Tri- nach Wien gekommen. Wie war Ihre Be- Ich war total überfordert. Ich konnte umph war dann, nach eineinhalb ziehung zu Wien damals? ja nicht Deutsch lesen, das habe ich Jahre Schauspielstudium, als ich Als ich auf die Schauspielschule ging erst in Wien gelernt. Inzwischen kann meine übliche Wurstsemmel kaufen vor 40 Jahren, war Wien für mich ich ganz gut Deutsch lesen. Ich war in ging und die Verkäuferin beim Julius wie ein zweites New York, es war die Wien sehr fleißig. Irgendwann, nach Meinl gesagt hat „der Deutsche“. Da zweite Großstadt, die ich kannte. Und einem Jahr Schauspielstudium, wollte wusste ich, ich habe es geschafft.

„Mein Triumph war dann, nach eineinhalb Jahre Schauspielstudium, als ich meine übliche Wurstsemmel kaufen ging und die Verkäuferin beim Julius Meinl gesagt hat ,der Deutsche‘. Da wusste ich, ich habe es geschafft.“

2 | 2017 49 „Ich fühl mich sehr wohl in der Heimatlosigkeit, es ist wie ein Zuhause geworden. Manchmal ist es anstrengend, keine Heimat zu haben, aber ich habe Familie, ich habe Freunde, ich habe meinen Beruf, ich habe die Musik.“

Und wie geht es Ihnen heute in Wien? Ich würde das auf jeden Fall beja- tern des demokratischen Experiments Ich muss gestehen, dass ich Wien sehr hen. Aber es steht mir in dem Sinne fasziniert mich. Trump ist ja nicht das mag. Ich mag auch das Abgründige in nicht zu, aufgrund meiner Mutter. Problem, sondern die Leute, die ihn ge- dieser Stadt. Und ich fühle mich hier Wie Woody Allen es formulierte: „You wählt haben, die immer noch zu ihm zuhause wie in keiner anderen Stadt. don’t have to be Jewish to be trauma- stehen. Ich bin Amerikaner. Ich habe Berlin mag ich sehr, aber dort werde tized but it helps.“ Mein Wesen oder einen Pass. Ich wähle. Ich nehme teil ich mich nie zuhause fühlen. Ich meine Person ist zutiefst geprägt von an der amerikanischen Politik. Ich kenne hier das Idiom der Sprache. Die der jüdischen Kultur. Und das hat na- fühle mich in Amerika fremder als in Zwischentöne, auf die es so ankommt türlich mit meiner Familie zu tun und Wien. Ich hab mich aus Amerika ir- – und es gibt im Österreichischen irr- es ist von mir selbst aus auch eine gendwie heraus entwickelt, obwohl ich sinnige Zwischentöne, die man hören Wahl dazu da. Ich bin ja kein religiöser zutiefst amerikanisch bin in meinem kann, die man beantworten kann. Es Mensch, aber ich bin auf jeden Fall Denken. Ich meine, 17 Jahre Kindheit gibt ein sehr lautes Schweigen, ein ein Ergebnis der Diaspora. „Ach dieses sind sehr prägend. Auch meine mu- sehr differenziertes Schweigen, ein Wien [Anm.: eigentlich „diese Stadt“] sikalische Orientierung stammt aus sehr neurotisches Schweigen, ein sehr ist nicht fürs Alpenglühen da. Sondern Amerika, meine ganze Jazz-Affinität verbergendes Schweigen, aber ich sie lebt, wie ich, längst in Diaspora.“ stammt aus Amerika. Ich bekomme kann es relativ laut hören. Ich besitze Ein Satz von Robert Schindel. Der Satz aber eine Wut, wenn ich in Amerika keinen Dialekt, das ist auch ein Nach- passt auf mich auf jeden Fall. Dass bin und sehe, wie viele Leute mit einer teil. Ich besitze keine wirkliche Heimat mein ganzes Wertesystem mit Sicher- Waffe herumlaufen. Ich bekomme eine der Sprache. Aber ich fühl mich sehr heit jüdisch geprägt ist, ist einfach Wut, wenn ich in der Zeitung lese, dass wohl in der Heimatlosigkeit, es ist wie nicht zu verleugnen, es spricht auch schon wieder Leute hingerichtet wor- ein Zuhause geworden. Manchmal aus allem, was ich tue. den sind. Ein Land, das die Todesstrafe ist es anstrengend, keine Heimat zu immer noch als gerechtes Instrument haben, aber ich habe Familie, ich habe Welche Verbindung haben Sie heute zu zur Aufrechterhaltung der Gesetze Freunde, ich habe meinen Beruf, ich Ihrem Heimatland USA? Wie beurteilen hält, ein Land, das sich illegal Giftsprit- habe die Musik. Ich habe viele Behei- Sie die aktuelle Situation? zen besorgt, um legal Menschen hin- matungen. Jeden Morgen lese ich die neuesten zurichten, ist für mich ekelerregend. Meldungen aus Washington – das Ich bekomme so eine Wut über die Würden Sie sagen, dass Sie eine jüdi- hab ich früher nicht gemacht. Mich Dummheit der Trump-Administration. sche Identität haben? regt diese Regierung auf, das Schei- Bei Trump denke ich mir immer: „Kann ihn nicht jemand erlösen?“ Ich glaube, der will längst aufhören. Der würd lie- Ausstellungskuratorin Astrid Peterle im Gespräch mit August Zirner. ber Golf spielen und seine Firmen füh- ren. Das Weiße Haus ist ja auch nicht seine Architektur – wo sind die gol- denen Wasserhähne? Ich habe meine Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Inso- fern bin noch immer ein naiver Ameri- kaner, der hofft, dass sich das nochmal irgendwie regeln wird.

Möchten Sie am Ende unseres Ge- sprächs noch etwas für NU sagen? Da sage ich Ihnen und dem Jüdischen Museum nochmals Dank, dass ich jetzt meine Großmutter tatsächlich kenne. Und richtig froh darüber bin, dass sie meine Großmutter ist. Mir geht es jetzt darum, dass Ella Zirner-Zwieback und Ludwig Zwieback und das Unterneh- men gewürdigt werden. Damit werde ich nicht aufhören. nu

50 2 | 2017 Rezension

Politische Notwehr der Unterlegenen

Michael Laczynski hunderte Millionen Menschen aus scher Räume verbunden. Die heutige untersucht in seinem Buch, der Armut befreit. Tatsache ist aber Herausforderung besteht darin, Demo- auch, dass diese Entwicklung in den kratie und Menschenrechte unter den warum die Populisten so westlichen Industriestaaten Verlie- Bedingungen weltwirtschaftlicher Ver- erfolgreich sind. rer produziert, weil die Gewinne aus netzung zu erhalten und weiter zu ent- der Globalisierung nicht bei den Ar- wickeln. Das benötigt aber Zeit, weil der beitnehmern ankommen und die Un- wirtschaftliche auch einen kulturellen VON HERBERT VOGLMAYR gleichheit zunimmt. Einkommenszu- Wandel braucht und dabei emotionale wächse und Vermögen konzentrieren Bindungen und vertraute politische sich in Europa und den USA zusehends Identitäten in Frage stehen. Die Krise bei den reichsten zehn Prozent der der EU ist auch Ausdruck dieser Über- In Frankreich kursiert folgender Haushalte, am Arbeitsmarkt wird die gangsschwierigkeiten zu größeren po- Witz: Lage für einen wachsenden Teil der litischen Einheiten, der Nationalstaat „Wer ist der typische Wähler des Bevölkerung prekär und Wohnraum wird jedoch die drängenden Probleme rechtspopulistischen wird immer unerschwinglicher. Dazu (globale Wirtschaftskrisen, Migration, Front National?“ – kommt die Aussicht, dass mit fort- Ökologie) nicht lösen können. „Ein ehemaliger Kommunist, schreitender Digitalisierung mittelfri- Die Sorge, von der Globalisierung dem zweimal die Geldbörse stig viele bis dato gut bezahlte Tätig- überrollt zu werden, mag für viele be- gestohlen wurde.“ keiten vermutlich wegfallen. Die Poli- rechtigt sein, man muss aber nicht den tik hat zu wenig getan, um den interna- Parteien folgen, die das demagogisch Was verbindet die FPÖ mit Frank- tionalen Handel fairer zu gestalten, galt ausschlachten und damit autoritä- reichs Front National, Deutschlands doch in fast allen Industrieländern das ren Nationalismus und Kleinstaate- AfD, Großbritanniens Brexit-Befürwor- wirtschaftspolitische Credo: Der Markt rei befördern. Laczynskis Buch zeigt tern, Viktor Orbán und Donald Trump? wird’s schon richten. Tat er aber nicht, auf, dass die populistischen Parteien Sie wollen die Eliten ablösen, verspre- weil sozialer Ausgleich nicht zu seinen so gut wie keine wirksamen Rezepte chen einfache Lösungen für komplexe Aufgaben gehört. Selbst der ehemalige gegen die genannten Probleme haben, Probleme und nutzen die Sorgen ihrer US-Präsident Obama äußerte Ver- sondern mit den Aufputschmitteln na- Anhänger, um das Rad der Zeit zu- ständnis dafür, „dass viele dem Argu- tionalistischer Phrasen und fremden- rückzudrehen. Laczynski sieht den Er- ment Glauben schenken, das System feindlicher Parolen dealen, dass sie die folg populistischer Parteien vor allem sei zu ihren Ungunsten manipuliert“. falsche Antwort auf eine richtige Frage in der Angst vor gesellschaftlichem sind. nu Wandel und materiellem Abstieg, die Falsche Antwort auf eine sich in der Unterschicht und unteren richtige Frage Mittelschicht bei jenen ausbreitet, die Populismus ist eine Art politische sich durch Veränderungen gefährdet Notwehr der Unterlegenen, wobei die sehen und dem Wohlfahrtsverspre- Linkspopulisten eher internationa- chen moderner Gesellschaften nicht listisch orientiert sind, während die mehr glauben. Rechtspopulisten das Heil in natio- naler Isolation sehen. Dabei ist der Globalisierung und Ungleichheit Nationalstaat gerade deswegen in der Die Hauptrolle spielen dabei die Krise, weil er zu schwach ist, um der Auswirkungen der Globalisierung, Dynamik der Globalisierung wirksame verschärft durch massive Flüchtlings- Rahmenbedingungen zu setzen. Po- bewegungen. Große Teile der Welt- litischer Akteur vormoderner demo- bevölkerung haben von vernetzten kratischer Verfassungen war – nicht Michael Laczynski Märkten und offenen Grenzen profi- nur in der Antike – der Stadtstaat, die Fürchtet euch und folgt uns – Die Politik der Populisten tiert, besonders in den aufstrebenden Entwicklung moderner Demokratien Kremayr & Scheriau 2017 Entwicklungsländern wurden dadurch ist mit der Schaffung größerer politi- 224 Seiten, EUR 24,--

2 | 2017 51 Rätsel Suchbild auf Jiddisch …

Der Nobelpreisige Bob Dylan mit sieben Veränderungen.

VON MICHAELA SPIEGEL

7) DER ALTE HUT STAMMT VON DAMALS VON STAMMT HUT ALTE DER 7)

6) DYLAN VERTRITT EINEN DICKEN MITSCHÜLER DICKEN EINEN VERTRITT DYLAN 6)

5) DYLAN VERTRITT NOCH EINEN MITSCHÜLER EINEN NOCH VERTRITT DYLAN 5)

4) DYLAN VERTRITT EINEN MITSCHÜLER EINEN VERTRITT DYLAN 4)

WIEDER ANDERS ÜBERLEGT MIT DER RELIGION DER MIT ÜBERLEGT ANDERS WIEDER

3) ZWEI DAVIDSTERNE MUSSTEN SEIN, DAMIT ER SICHS NICHT NICHT SICHS ER DAMIT SEIN, MUSSTEN DAVIDSTERNE ZWEI 3)

2) JOAN BEAZ JOAN 2) 1) NOBELPREIS 1)

52 1 | 2017 In eigener Sache

Vor 15 Jahren im Warum wir wurden und wie wir waren

VON PETER MENASSE

In der 8. Ausgabe von NU aus dem Juden Epstein, das der Ringstraßenar- Juni 2002 zu lesen, kann einen traurig chitekt Theophil Hansen mitten in der stimmen. Auf dem Cover ein nach- Gründerzeit baute.“ denklicher Bürgermeister Michael Die „Diskussion ohne Ende“, über Häupl mit der Bildunterschrift: „Kämpfe die wir 2002 schrieben, geht weiter, weiter für ein Haus der Geschichte“. denn ein Haus der Geschichte gibt es Damals schon titelten wir in einem bis heute nicht, auch wenn es so aus- Info-Kasten zu diesem Projekt, dass es schaut, als ob das Projekt jetzt tatsäch- sich um eine „Diskussion ohne Ende“ lich an anderem Ort realisiert würde. handle. Dabei waren gerade einmal Zwanzig Jahre nach Geburt der Idee – drei Jahre vergangen, seit der dama- und selbst das wird vermutlich davon lige Wissenschaftsminister Caspar abhängen, welche Regierung das Land Einem eine Studie in Auftrag gegeben im Herbst 2017 bekommen wird. hatte, die zum Ergebnis kam, dass das Ein anderer traurig stimmender Bei- Palais Epstein, davor Sitz des Wiener trag stammt von Margaretha Kopeinig. Stadtschulrats, der ideale Standort für Sie hatte den Künstler Georg Chaimo- ein solches Haus der Geschichte wäre. wicz porträtiert und interviewt. Anlass Aber bereits 1999 beschlossen sämt- Dasselbe Thema behandelt eine war eine Wanderausstellung mit dem liche Parlamentsparteien, angeführt Geschichte und ein Interview von He- Titel „Aufstand der Anständigen – Quo vom damaligen Nationalratspräsiden- lene Maimann mit dem im Jahr 2007 vadis Austria?“, die in Deutschland lief. ten Heinz Fischer, dass sie dieses Haus verstorbenen Leon Zelman. Auch da Das Ende der Reise dieser Ausstellung für Parlamentszwecke verwenden ging es um das Epstein. Denn der große in Frankreich 2003 hat Chaimowicz wollten. Michael Häupl sprach im In- Versöhner zwischen den vertriebe- nicht mehr erlebt. Er starb ein Jahr terview mit Petra Stuiber davon, dass er nen Juden und ihrer früheren Heimat zuvor. Chaimowicz war ein großer Kri- mit allen Kräften für das Haus kämpfen war der Motor des Projekts. Maimann tiker des „schlagobersübertünchten Ge- werde. Es dürfe das Epstein nicht zu schreibt über Zelmans Empörung: „Dass schichtsmülls“, voll Zorn auf die „klein- einem „Haus der Sekretäre“ werden. Es ihm, dem alten Sozi, der sozialdemo- bürgerlichen Dummköpfe, die auf alle gebe so etwas wie einen Genius loci, so kratische Nationalratspräsident so was leeren tagespolitischen, rassistischen, der Bürgermeister, der dieses Gebäude antun kann! Das Haus der Geschichte ausländerfeindlichen und wirtschaft- zum idealen Symbol für Österreichs wäre die Krönung von Leons Lebens- lich neoliberalen Parolen hereinfallen“. Geschichte mache. Wie wir wissen, ist werk, es kann, es soll, es muss dort und Es waren große Männer, die wir da- Michael Häupl in diesem Fall geschei- nur dort entstehen, auf geschichts- mals porträtiert hatten – ein wirkliches tert. trächtigem Boden, in jenem Haus des Stück Geschichte im NU Ausgabe 8. nu

Leserbrief Gratulation zur letzten Ausgabe. Der Leitartikel ist phantastisch 10. Kammermusikfestival und spricht mir sehr von der Schloss Laudon Seele, wirklich toll geschrieben. 21.8.-27.8.2017 Das ganze Heft ist sehr interes- Wien 14., Mauerbachstrasse 43 sant und ich habe wieder einmal alle Beiträge gelesen.

Liebe Grüße, Leserbrief zu Ausgabe 67 Katharina Schrottenbacher

Tickets: € 40 oe1/unter 26 J.: € 37 Festivalpass (7 Konzerte): € 200 Internet: www.schlosslaudonfestival.at Email: [email protected] Tel/Fax.: +43-1-971 74 49

2 | 2017 53 Autorinnen und Autoren

Martin Engelberg Ouriel Morgensztern Der NU-Herausgeber ist Betriebswirtschafter, Der in Frankreich geborene freischaffende Künstler Psychoanalytiker, Coach und Consultant. studierte Fotografie und Multi-Media. Anschließend ging Er ist Autor einer ständigen Kolumne in der er nach New York, wo er zunächst etablierten Fotografen Tageszeitung Die Presse. assistierte. Unterdessen studierte er an der renommierten Film School der New York University.

Rachel Engelberg Rainer Nowak studiert Arts and Entertainment Management sowie Art an Der Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung der Pace University in New York und fotografiert. Die Presse ist ständiger NU-Mitarbeiter.

Eric Frey Astrid Peterle ist Chef vom Dienst bei der Wiener Tageszeitung Der ist Kuratorin am Jüdischen Museum Wien und auf Standard, Österreich-Korrespondent der Londoner Kulturgeschichte, zeitgenössische und Performance- Wirtschaftszeitung Financial Times und der Londoner Kunst spezialisiert. Wirtschaftszeitung The Economist sowie Buchautor.

Johannes Gerloff Michael Reinprecht hat in Tübingen, Vancouver und Prag evangelische ist Diplomat, war zuletzt European Union Fellow an Theologie studiert und lebt seit 1994 mit seiner Familie der USC in Los Angeles, davor Leiter der Nahostab- in Jerusalem. teilung des Europäischen Parlaments in Brüssel und Direktor des Informationsbüros des EU-Parlaments in Wien.

Anita Haviv-Horiner Ida Salamon In Wien geboren, 1979 Einwanderung nach Israel. Die NU-Chefin vom Dienst ist in Belgrad geboren, Bildungsexpertin mit Schwerpunkt deutsch- wo sie Ethnologie, Kultur- und Sozial- israelischer Dialog. anthropologie studierte. Sie ist im Jüdischen Museum Wien in den Bereichen Sponsoring, Marketing und Veranstaltungsmanagement tätig.

Brigitte Krizsanits Danielle Spera studierte Germanistik und Geschichte an der Universi- Das NU-Gründungsmitglied ist Direktorin des tät Wien und war anschließend in Wien und Prag in der Jüdischen Museums Wien. Davor war sie Erwachsenenbildung tätig. Seit 2010 ist sie freie Journali- ORF-Journalistin und Moderatorin. Sie studierte stin und publizierte unter anderem die Bildbände Das Publizistik und Politikwissenschaft. Leithagebirge. Grenze und Verbindung und Eisenstadt.

Charles Lewinsky Michaela Spiegel ist Schriftsteller. Sein jüngster Roman schildert das Leben Die NU-Rätseltante studierte Malerei an der des Schauspielers und Regisseurs Kurt Gerron. Angewandten in Wien und der École nat. sup. Ruth Lewinsky des Beaux Arts in Paris. Sie zählt sich zur Schule begann als Grafikerin, wurde dann Cranio-Sacral-Thera- des feministischen Irrealismus. Zahlreiche peutin. Sie veröffentlichte 2011 einen ersten Gedichtband. Ausstellungen und Publikationen.

Samuel Mago Herbert Voglmayr Der Linguistik-Student ist in Budapest geboren und Nach dem Studium der Sozial- und Wirtschaftswissen- hat jüdische und Roma-Wurzeln. schaften berufliche Tätigkeit an der Universität und in der Er ist freier Journalist und engagiert sich als Roma- Erwachsenenbildung. Seit 2004 freiberuflicher Publizist. Aktivist im Verein Romano Centro. Neben seiner Tätigkeit für NU verfasst er Kultur- und Wein- reiseführer durch italienische Weinregionen.

Peter Menasse René Wachtel Der NU-Chefredakteur ist selbstständiger lebt in Wien, ist selbständig und Kultusrat in der IKG. Kommunikations- und Organisationsberater in Wien und im Burgenland.

Milagros Martínez-Flener Peter Weinberger wurde in Lima geboren, wo sie Geschichte studierte. war bis 2008 Professor für Allgemeine 1991 kam sie nach Wien und schloss ihr Doktorats- Physik an der TU Wien und ist seitdem studium in Geschichte hier ab. Auch den Lehrgang Gastprofessor an der New York University. für Pressefotografie absolvierte sie in Wien. Er ist auch literarisch tätig.

54 2 | 20172016 Dajgezzen und Chochmezzen* Fröhliche Pippi- Langstrumpf-Politik

Rainer Nowak und Peter Menasse dajgezzen über das albanische Wappen, die Dreifaltigkeit der Staatsführer und über die Viererkette in der politischen Fußball-Taktik.

Menasse: Ich muss sagen, ich bin ihn nur mitmachen ließen. Du hast Herrn Lugar vom Team Stronach von deinem Büro beeindruckt. Auf der Menasse: Ich denke eher, dass die vergessen. einen Seite der obligate Nitsch, um auf Blauen ein Leiberl bekommen. Wobei mir Menasse: Stronach hat bei mir längst progressiv zu machen, auf der anderen auffällt, dass Strache sich zurücknimmt ausgedient. Er ist sogar daran zerbro- Seite ein Plakat zu „100 Jahre Democra- und Kickl schwadroniert. Gedacht hat chen, den österreichischen Fußball zu zia Christiana 1848 bis 1948“. Sehe ich da Kickl ja immer schon für ihn, aber jetzt zerstören, obwohl er sich heftig bemüht vielleicht eine widersprüchliche Haltung lässt er Strache auch nicht mehr reden. hat. Lugar läuft unter meiner Wahrneh- zum Katholizismus? Nowak: Strache ist einfach mit seiner mungsschwelle. Ich bin nicht für den Nowak: Das ist kein Jubiläumsplakat, neuen Brille vollauf beschäftigt. Schutz aller Minderheiten zuständig. sondern ein Wahlplakat dieser Partei, Menasse: Die Menschen reden jetzt Nowak: Als nächstes fürchtest du die im Übrigen schon untergegangen dauernd über die kommenden Wahlen – dich sicher, dass Mateschitz die ist. Sie setzt hier 1948 ihren Feind, den und jeder weiß heute schon das Ergebnis. und den Wiener Sportklub übernimmt, Kommunismus, mit der österreichisch- Wie siehst du das? fusioniert und in die australische Pre- ungarischen Monarchie gleich. Gegen Nowak: Ich bin da anders. Ich weiß mier League bringen will. Sei doch froh, beide soll Italien einen Freiheitskampf es nicht. Amüsant ist nur, dass aus heu- wenn alte Männer ihr Geld verprassen. führen. Die eigentliche Pointe daran ist, tiger Sicht von allen Parteien die FPÖ Würdest du doch auch gern. dass die Kampagnenleiter dieser Partei die besten Chancen hat, der nächsten Menasse: Mateschitz ist im Fußball statt des österreichisch-ungarischen Regierung anzugehören. Anders formu- wenigstens mega-erfolgreich. Übrigens, Doppeladlers das albanische Wappen er- liert: Nachdem wir uns jahrzehntelang hast du noch kein Angebot von seiner wischt haben. darüber unterhalten haben, welcher Poli- neuen Internet-Wahrheitsplattform „Quo Menasse: Ich lese hier auf dem Plakat tiker diese Partei stoppen könnte, haben vadis veritas“, oder nimmt er nur erfolg- „Allora contra lo straniero“, also so viel wir nun zwei, die das könnten, aber um reiche Presse-Chefredakteure wie Mi- wie: „Auf gegen den Fremden“. Dieser die Gunst der FPÖ buhlen. chael Fleischhacker an Bord? Wahlspruch könnte von der neuen Drei- Menasse: Ich fürchte mich ohnehin Nowak: Das ist mir zu schmal. Im Netz faltigkeit Kern, Kurz, Strache stammen. schon so sehr. Regierungen mit FPÖ- muss man groß denken. Ich überlege, die Nowak: Viel Heiligkeit entdecke ich Beteiligung kommen uns Steuerzahler Plattform „In vino veritas“ zu gründen, als bei diesen drei Politikern nicht. Bist du immer so teuer. Ach, gäbe es nur Alter- Chefredakteur werde ich Michael Jean- eigentlich noch immer ein Kern-Altgrou- nativen. née an Bord holen. pie? Nowak: Sei nicht so ängstlich, alter Menasse: Das wäre wirklich super, Menasse: Also bei dieser Dreifaltigkeit Mann. Mit Ingrid Felipe und Martin Strolz weil dir dann so viele Menschen dank- bildet er schon die Spitze des Dreiecks. haben wir endlich zwei Politiker, die bar wären, dass sie dieser Mensch nicht Aber was soll das ewige Politiker-Kriti- fachgerecht Bäume umarmen können mehr pausenlos aufs Gemeinste an- sieren. Sag mir doch einmal einen Poli- und für fröhliche Pippi-Langstrumpf- schüttet. Aber verrate das bitte nicht, tiker, den du schätzt. Politik stehen. sonst nimmt er mich auch noch in die Nowak: Du wirst lachen, wenn ich an Menasse: Mach mir nur Pippi nicht Mangel. die Dreierkette aus Alt-Django Mitterleh- schlecht, sie ist urstark und klug. Über- Nowak: Du bist schon wieder so ernst. ner, müder Glawischnig und eingebun- all tauchen jetzt Namenswitze mit Kern Angeschüttet werden kann auch ganz kertem Faymann denke, bin ich bei Kern, und Kurz auf. Das ist zu trivial. Mir würde lustig sein, Hauptsache, dein Name ist Kurz und Lunacek fast euphorisch. imponieren, wenn jemand so was auch richtig geschrieben. Menasse: Im modernen Fußball spielt mit Strache, Strolz, Sobotka oder Felipe Menasse: Also ich weiß schon, dass man jetzt mit der Viererkette in der De- schaffte. man deinen Namen mit „v“ schreibt. fensive. Da müssen wir noch wen dazu Nowak: Letztere geht natürlich mit Nowak: Und Rainer mit „ei“. nu nehmen. dem spanischen Königshaus. Und im * Dajgezzen: sich auf hohem Niveau Sorgen machen; Nowak: Stimmt, nehmen wir Strolz, Übrigen bist du ein antidemokratischer, chochmezzen: alles so verkomplizieren, dass niemand der würde auch nackt spielen, wenn sie fast miniatur-faschistischer Ignorant. – einschließlich seiner selbst – sich mehr auskennt.

2 | 2017 59 P.b.b. • Verlagspostamt 1010 Wien • Zulassungsnr.: 02Z033113M