Goethe-Jahrbuch 2010 Band 127

Goethe- J a h r b u c h

Im Auftrag des Vorstands der Goethe-Gesellschaft herausgegeben von Werner Frick, Jochen Golz, Albert Meier und Edith Zehm

einhundertsiebenundzwanzigster Band der Gesamtfolge

2010

Wallstein Verlag Redaktion: Dr. Petra Oberhauser Mit 6 Abbildungen

Gedruckt mit Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

© Wallstein Verlag, Göttingen www. wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Sabon Umschlag: Willy Löffelhardt Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN (print) 978-3-8353-0940-1 ISBN (eBook, pdf) 978-3-8353-2200-4 I issn 0323-4207 Inhalt

11 Vorwort

13 Symposium junger Goetheforscher

13 Stephan Pabst Das Bild der Idylle. Goethes Kritik an Salomon Geßners Idyllen und ihre Spuren im Werther-Roman

25 Sebastian Kaufmann Der Dichter auf dem Gipfel der Welt. Goethes »Harzreise im Winter« als poetologisches Gedicht

39 Marie Wokalek Die Krise der Phantasie zwischen Kalokagathia und Vereinigungsphilo­sophie. Zur Funktion Prinzessin Leonores in Goethes »«

48 Gerrit Brüning Unglückliches Ereignis. Goethes Erfindung und sein Verhältnis zu Schiller

57 Lars Korten »Wälzen und Rollen«. Goethes jambische Trimeter

70 Julia S. Happ Goethes Pandorengeschenke: »Gestalten Umgestalten« oder Metamorphosen­ der Pandora

82 Abhandlungen

82 Dieter Borchmeyer Goethe im Widerspiel von »Nationalitäts-Wahnsinn« und »ökumenischer Internationalität«. Stationen in der Geschichte der Goethe-Gesellschaft

95 Robert Krause Die Architektur des Genies. Zu Goethes Essay »Von deutscher Baukunst«

107 Norbert Mecklenburg »geistliche Mittel zu irdischen Zwecken«. Goethes Projekt einer Tragödie über Mohammed 6 Inhalt 122 Brigitte Kaute Die durchgestrichene Aufklärung in Goethes »Iphigenie auf Tauris«

135 Nina Birkner »Ein ganzer ›Tasso‹! Das ist doch was!« Zum Regietheater und zur Aktualität des Künstlerdiskurses in Goethes »Torquato Tasso«

154 Hans Joachim Kreutzer Die »Zauberflöte« in Weimar

170 Bettina Fröhlich Sokratischer Heroismus und platonische Pietät. Goethes Platon-Rezeption

186 Rainer Hillenbrand Klassische Mystik in Goethes »West-östlichem Divan«

195 Detlef Döring Goethe und der Leipziger Kaufmann Wilhelm Gerhard. Zwei Weimarer Be- gegnungen in den Jahren 1814 und 1818

215 Ill-Sun Joo »natürlich und zugleich übernatürlich« – die Simultanität der Selbst- und Fremdreferenz als Goethes Konzept von der Autonomie der Kunst

222 Peter Gülke Christian August Vulpius – Umrisse eines Lebensbildes

234 Katerina Kroucheva »nicht Goethe-reif, sondern Goethe-morsch«. Abriss einer Begriffsgeschichte

249 Dokumentationen und Miszellen

249 Bettina Zschiedrich »Falck wird mir heute zu Tische sehr angenehm seyn« – fünf unbekannte Briefe Goethes an Johannes Daniel Falk

261 Siegfried Seifert »Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden«. Über das Generalregister zur Chronik »Goethes Leben von Tag zu Tag«

281 Franziska Schulz Goethes Leser auf einen Klick. Die Aufnahme der Weimarer und Jenaer Aus- leihbücher in eine Datenbank Inhalt 7 285 Gerhard Sauder Enthusiasmus und Bürgersinn. Anmerkungen zur Geschichte des Freien Deutschen Hochstifts

292 Rezensionen

292 Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers u. Elke Richter [GB]. Bd. 6, I: Anfang 1785 – 3. September 1786. Texte. Hrsg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Su- sanne Fenske u. Yvonne Pietsch. Berlin 2010, 305 S. Bd. 6, II: Anfang 1785 – 3. September 1786. Kommentar. Hrsg. von Volker Giel unter Mit­ arbeit von Susanne Fenske u. Yvonne Pietsch Besprochen von Ulrike Leuschner

296 Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch- kritische Ausgabe. Hrsg. u. kommentiert von Norbert Oellers unter Mitarbeit von Georg Kurscheidt. Bd. 1: Text. Bd. 2: Kommentar Besprochen von Terence James Reed

298 Roland Krebs: Johann Wolfgang Goethe Besprochen von Albert Meier

299 Pierre Hadot: N’oublie pas de vivre. Goethe et la tradition antique des exer- cices spirituels Besprochen von Christine Maillard

300 Bernd Hamacher: Johann Wolfgang Goethe. Entwürfe eines Lebens Besprochen von Benedikt Jeßing

302 Terence James Reed: Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung Besprochen von Wolfgang Albrecht

304 Eva Hoffmann: Goethe aus Goethe gedeutet Besprochen von Jochen Golz

307 Ernst-Gerhard Güse, Hermann Mildenberger (Hrsg.): Johann Wolfgang ­Goethe. Landschaftszeichnungen Besprochen von Johannes Grave

309 Günter Niggl: »In allen Elementen Gottes Gegenwart«. Religion in Goethes Dichtung Besprochen von Claus-Dieter Osthövener 8 Inhalt 311 Norbert Miller: »Die ungeheure Gewalt der Musik«. Goethe und seine Kom- ponisten Besprochen von Hans Joachim Kreutzer

313 Jan Büchsenschuß: Goethe und die Architekturtheorie Besprochen von Hans-Georg von Arburg

315 Neue Einblicke in Goethes Erzählwerk / Nouveaux regards sur l’œuvre nar- rative de Goethe. Genese und Entwicklung einer literarischen und kulturellen Identität / Genèse et évolution d’une identité littéraire et culturelle. Zu Ehren von / En l’honneur de Gonthier-Louis Fink. Hrsg. von Raymond Heitz u. Christine Maillard Besprochen von Stefan Keppler-Tasaki

317 Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer, Carl Pietzcker (Hrsg.): Freiburger Lite­ raturpsychologische Gespräche. Jb. für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 29: Goethe Besprochen von Achim Geisenhanslüke

319 Volker Hoenerbach (Hrsg.): »Diesem viehischen Trieb ergeben« – J. A. Schlett- weins Kritik an Goethes »Werther« Besprochen von Karin Vorderstemann

321 Günter Saße: Auswandern in die Moderne. Tradition und Innovation in ­Goethes Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre« Besprochen von Klaus-Detlef Müller

323 Peter Schneider: Der Elefant. Goethe über Recht, Staat und Gesellschaft in »Faust II«. Mit Zeichnungen des Autors und einem Vorwort von Bernhard Schlink. Aus dem Nachlass hrsg. von Dr. Gabriela Wettberg Schneider Besprochen von Udo Ebert

324 Annette Johanna Schneider: Idylle und Tragik im Spätwerk Goethes Besprochen von Christine Rühling

326 Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Kar­riere Besprochen von Monika Schmitz-Emans

329 Renate Carstens: Durch Asien im Horizont des Goethekreises. Neue Facetten im Wirken Goethes Besprochen von Jochen Golz

331 Norbert Leithold: Graf Goertz. Der große Unbekannte. Eine Entdeckungs- reise in die Goethezeit Besprochen von Marcus Ventzke Inhalt 9 333 Klaus Langenfeld: Wilhelm Tischbein. Goethe-Maler in Rom und herzoglich olden­burgischer Hofmaler Besprochen von Hermann Mildenberger

334 Ingrid Dietsch: »… ich wart auf meine Zeit«. Allwina Frommann. Buchillus- tratorin, Malerin und Zeitbeobachterin der Revolution von 1848 Besprochen von Ariane Ludwig

336 »Weimars Pflichten auf der Bühne der Vergangenheit«. Der Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Walther Wolfgang von Goethe. Hrsg. von René Jacques Baerlocher u. Christa Rudnik Besprochen von Angelika Pöthe

338 Eckart Kleßmann: Goethe und seine lieben Deutschen. Ansichten einer schwie­rigen Beziehung Besprochen von Sabine Doering

340 Andreas Ay: »Nachts: Göthe gelesen«. Heinrich Wölfflin und seine Goethe- Rezeption Besprochen von Martin Dönike

342 Manfred Riedel: Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne Besprochen von Andreas Urs Sommer

344 Katrin Schmeißner: »Goethe è tedesco ma è anche nostro«. Die Goethe- Rezeption in Italien 1905-1945 Besprochen von Jutta Linder

346 Astrida Ment: Goethe zwischen den Kriegen. Gedenkreden in der Weimarer Republik (1919-1933) Besprochen von Barbara Beßlich

348 Katarzyna Norkowska: Ein vereinnahmter Klassiker? Das Goethebild im Werk Gottfried Benns Besprochen von Friederike Reents 10 Inhalt

351 Aus dem Leben der Goethe-Gesellschaft

351 In memoriam

360 Bericht über die Jahrestagung der deutschen Goethe-Gesellschaften vom 13. bis 16. Mai 2010 in Halle

363 Bericht über den 6. internationalen Sommerkurs der Goethe-Gesellschaft vom 14. bis 28. August 2010

366 Veranstaltungen der Goethe-Gesellschaft im Jahr 2010

368 Stipendiatenprogramm im Jahr 2010

369 Dank für Zuwendungen im Jahr 2010

371 Dank für langjährige Mitgliedschaften in der Goethe-Gesellschaft

373 Tätigkeitsberichte der Ortsvereinigungen für das Jahr 2009

396 Ausschreibungstext zur Vergabe von Werner-Keller-Stipendien

397 Die Mitarbeiter dieses Bandes

400 Goethe-Bibliographie 2009

462 Liste der im Jahr 2010 eingegangenen Bücher

464 Siglen-Verzeichnis

466 Abbildungsnachweis

467 Manuskripthinweise Vorwort

Im Leben einer literarischen Gesellschaft stellen Jubiläen festliche Höhepunkte dar. 2010 wurde die Goethe-Gesellschaft 125 Jahre alt. Goethe-Gesellschaft, Klassik Stiftung Weimar und Freundeskreis des Goethe-Nationalmuseums erinnerten an dieses Datum in einer gemeinsamen Veranstaltung am 19. Juni 2010 in der Weimar­ halle. Am 20. und 21. Juni 1885 hatten sich Repräsentanten des deutschen Geistes- lebens in Weimar zu den Gründungsfeierlichkeiten eingefunden. In den Wochen vorher hatte Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar und Eisenach im Aus- tausch mit ihren gelehrten Beratern das geistige Fundament für die Gründung ge- legt. Hinfort sollte Goethes Erbe weltweit gepflegt und verbreitet, die nationale und internationale Goethe-Forschung von Weimar aus gefördert werden. Öffentlich zugänglich geworden war dieses Erbe erst nach dem Tod des letzten Goethe-Enkels Walther Wolfgang von Goethe am 15. April 1885, der in seinem Testament ­Goethes handschriftlichen Nachlass in das Eigentum der Großherzogin gegeben, das Haus am Frauenplan mit seinen Sammlungen der Obhut des Staates Sachsen-Weimar anvertraut hatte; im selben Jahr noch wurden ein Goethe-Archiv (seit 1889: Goe- the- und Schiller-Archiv) und das Goethe-Nationalmuseum – Kernbereiche der heutigen Klassik Stiftung – gegründet. Den Ausschlag für die im Testament des Enkels fixierte Entscheidung gab dessen vertrauensvolles Verhältnis zum Weimarer Großherzogspaar. Walther Wolfgangs Briefwechsel mit Großherzog Carl ­Alexander, 2010 in den Schriften der Goethe-Gesellschaft veröffentlicht, legt davon Zeugnis ab. Carl Alexander übernahm die Schirmherrschaft über die Goethe-Gesellschaft und versäumte kaum eine ihrer Hauptversammlungen. Im Wesentlichen sind die damals formulierten Aufgaben der Goethe-Gesellschaft bis heute unverändert geblieben. Im Wirken der Gesellschaft hat sich freilich stets auch »der Herren eigner Geist« gespiegelt. Zeitweise erwies sich das Attribut ›goethe­reif‹, wie in diesem Jahrbuch nachgewiesen, als Signum geistig-ästhetischer Makellosigkeit und Vorbildlichkeit fernab vom Zeitgeschehen. Doch ist dies nur eine Farbe in einem breiten kulturhistorischen Spektrum. Dieter Borchmeyer hatte am 19. Juni 2010 seine Jubiläums-Festrede, die im vorliegenden Band nachzulesen ist, dem thematischen Widerspiel von »Nationalitäts-Wahn« und »ökumenischer Internationalität« zugeordnet. Aufs Ganze gesehen erweist sich die Geschichte der Goethe-Gesellschaft – in ihren Krisen und Widersprüchen – als Teil der deutschen Gesellschaftsgeschichte insgesamt. Aufmerksamen Beobachtern bleibt nicht verborgen, dass Gesellschaftsgründung und Jahrbuchzählung auf den ersten Blick in keinen logisch schlüssigen Zu­ sammenhang zu bringen sind. Tatsächlich ist das Goethe-Jahrbuch bereits 1880 von dem deutsch-jüdischen Germanisten Ludwig Geiger ins Leben gerufen worden. Quellenveröffentlichungen vor allem machen den wissenschaftlichen Wert der frü- hen Jahrgänge aus, so dass sie mittlerweile zu begehrten Sammlerobjekten ge­ worden sind. Präsident und Vorstand haben es seit 1885 verstanden, das Goethe- Jahrbuch zunächst in das ›Organ‹ der Gesellschaft zu verwandeln und in einem 12 Vorwort späteren Schritt Ludwig Geiger am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Jahre 1913, aus seiner Herausgeberposition zu verdrängen – Letzteres kein Ruhmesblatt in der Geschichte unserer Gesellschaft. Kriegs- und Notzeiten haben im 20. Jahrhundert das Erscheinen des Jahrbuchs entweder nur sporadisch (unter wechselnden Titeln) erlaubt oder gänzlich verhindert, so dass die heutige Zählung in gewisser Weise auch als Resultat deutscher Geschichte anzusehen ist. Seinen Doppelcharakter, Spiegelbild gegenwärtiger Forschungsentwicklung und Chronik des gesellschaftsinternen Lebens zu sein, hat das Jahrbuch bis heute be- wahrt. Diesmal enthält es im ersten Teil die im Rahmen der Hauptversammlung 2009 gehaltenen Vorträge vom Symposium junger Goetheforscher. In einem der Beiträge wird ein gemeinhin als ›glücklich‹ apostrophiertes Ereignis prononciert ›unglücklich‹ genannt – ob diese mit dem Mut der Jugend formulierte These zu- trifft, mögen die Leser entscheiden. Uneingeschränkt glücklich hingegen ist die Konstellation zu nennen, wenn sich alle zwei Jahre junge Wissenschaftler zu Vor- trag und Gespräch auf einem Goethe-Podium zusammenfinden. Thematische Vielfalt, wie sie in diesen Vorträgen anzutreffen ist, kennzeichnet auch die Beiträge im zweiten Teil, ob sie nun quellenkundliche Aspekte, Probleme der Goethe-Rezeption – seien sie historisch auf die Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts oder aktuell auf das Regietheater bezogen – oder Goethes Orient- Affinität in den Mittelpunkt stellen. Dass in solchem Kontext Stimmen aus der weltweiten Goetheforschung genau wahrgenommen werden sollten, bedarf keiner eigenen Begründung. Die Auseinandersetzung mit Goethe, wie sie sich nicht nur in den Abhandlungen des Jahrbuchs, sondern insbesondere auch im Rezensionsteil und in der periodischen Bibliographie in allein schon statistisch beeindruckender Größe dokumentiert, ist heute Teil eines grenzüberschreitenden kulturellen Dis­ kurses – ein Zeichen nicht zuletzt für Goethes Aktualität.

Die Herausgeber Symposium junger Goetheforscher

Stephan Pabst

Das Bild der Idylle. Goethes Kritik an Salomon Geßners Idyllen und ihre Spuren im Werther-Roman

Werthers Geschichte endet nicht gut; es ist die Geschichte eines Selbstmörders. Die- ses Ende ist umstellt von unterschiedlichen Zeichen des Scheiterns – der immer weiter sich verlierenden Sprache Werthers, dem verzweifelten Versuch, einen gött- lichen Vater zu imaginieren, oder dem Versiegen der künstlerischen Ambitionen. Eines dieser Zeichen ist Werthers im Verlauf des Romans sich verändernde Natur- wahrnehmung. Erfährt Werther Natur am Anfang idyllisch und unmittelbar, so tritt sie ihm am Ende als negierende Gewalt und fremd gegenüber. Diese Fremdheit widerfährt ihm im Bild eines Bildes: »[…] o wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiert Bildgen« (MA 1.2, S. 266 f.). Die folgenden Überlegungen versuchen zwei Fragen zu beantworten. Warum erfährt erstens Werther die Fremdheit der Natur in der Metapher eines Bildes? Diese Frage wird sich aus dem gattungspoetologischen Zusammenhang von Bild und Idylle beantworten lassen. Dazu wird ein genauerer Blick auf Goethes Ausein- andersetzung mit Salomon Geßners Poetik der Idylle zu werfen sein. Und zweitens: Ist die veränderte Naturwahrnehmung Werthers tatsächlich nur eine stimmungsab- hängige Verschiebung der Projektionen, wie nahezu jede Interpretation des Ro- mans behauptet, oder lässt sich die Differenz in der Naturwahrnehmung vor dem Hintergrund der Idyllenkritik nicht auch anders auffassen? Kein Jahrhundert hat sich so widersprüchlich zur literarischen Gattung der Idylle verhalten wie das achtzehnte. Einerseits stößt die Gattung mit Salomon Geßners Idyllen in den 1750er Jahren noch einmal auf ein enormes Publikumsinteresse. Der Leser des 18. Jahrhunderts glaubt darin den Naturzustand anzuschauen, den ­Rousseau in seiner Geschichtsphilosophie eher abstrakt entworfen hat. So schreibt Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste: Was Rousseau mit seiner bezaubernden Beredsamkeit nicht ausrichten konnte, die Welt zu überzeugen, daß der Mensch durch übelausgedachte, unnatürliche Gesetze, lasterhaft und unglüklich werde, das kann der Hirtendichter [Geßner] uns empfinden lassen.1

1 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alpha- betischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Repro- grafischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792. Zweyter Theil. Hildes- heim 1967, S. 584. 14 Stephan Pabst Und so wie Sulzer in Geßners Idyllen Rousseau erkennt, scheint auch Rousseau in ihnen etwas von sich erkannt zu haben, da er sie mit Begeisterung las.2 Andererseits provoziert gerade diese Unterstellung von Natürlichkeit verstärkt den Vorwurf der Künstlichkeit und der Konventionalität der Idyllendichtung. Die Idylle ist zwar schon immer ein hochartifizielles Spiel mit einem eng begrenzten Repertoire bestimmter Topoi gewesen und wurde von ihren Autoren und Lesern als solches auch verstanden. Erst vor dem Hintergrund des Ideals der Natürlichkeit tritt diese Eigenschaft aber als Widerspruch hervor und deshalb will man sich im 18. Jahrhundert mit dem ewig gleichen schattigen Wäldchen, rauschenden Bäch- lein, bemoosten Felsen und flötenden Hirten häufig nicht mehr begnügen. Goethe gehört zu denen, die die Künstlichkeit der Idylle scharf angreifen. Man kann sich das leicht an seiner Rezension der Moralischen Erzählungen und Idyllen von Denis Diderot und Salomon Geßner vergegenwärtigen, die 1772 anonym in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen erscheint und sich ausschließlich mit den ­Idyllen Geßners befasst. Seine Kritik setzt genau bei diesem Widerspruch zwischen dem Ideal der Natürlichkeit und der Künstlichkeit der Darstellung an. Die Natur, die Geßners Idyllen als Ideal behaupten, so Goethes Kritik, verfehlen sie in der Form ihrer Darstellung. Diese Verfehlung äußert sich im Eindruck, den die Idyllen auf den Leser machen. Die Natur in Geßners Idyllen, so Goethe, wirke statisch. Nicht dass es in Geßners Idyllen keine bewegte Natur gäbe, aber die Bewegung bleibt den Idyllen fremd und äußerlich: »Der Sturm ist unerträglich daher« (MA 1.2, S. 348). Menschen erschei- nen als bloße ›Staffage‹ (ebd.), das heißt, sie haben lediglich die Funktion, die Land- schaft zu animieren, und werden vom Leser in dieser ausschließlich darstellungs- strategischen Motivierung auch durchschaut. Ein weiteres Argument entwickelt Goethe gewissermaßen aus der Dialektik des idyllischen Bewusstseins: Wir kennen die Empfindungen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Ein- samkeit führen, aufs Land, wo wir dann nur zum Besuch sind, nur bei einer ­Visite die schöne Seite der Wohnung sehn, und ach! nur sehn, der geringste An- teil, den wir an einer Sache nehmen können! (MA 1.2, S. 346 f.) Als Ort der Sehnsucht konstituiert sich die Idylle allein unter der Voraussetzung des Verlustes der Natur. Ähnlich ist ja Goethes Dialoggedicht Der Wanderer angelegt, in dem der Wanderer die Natur verloren hat, aber dafür ein Bewusstsein von der Idylle besitzt, während die Frau, der er begegnet, natürlich ist, dafür aber kein Be- wusstsein von der idyllischen Qualität ihrer Umgebung hat. Idyllisches Bewusstsein wäre demnach zugleich Bewusstsein von der Differenz zwischen Mensch und Natur. Auch dieses Argument kulminiert in einem Wirkungsaspekt. Offensichtlich verbindet Goethe hier den Gesichtssinn mit einem Defizit der Wahrnehmung und

2 »Je suis aussi charmé, Monsieur, des Idilles de M. Guesner que je l’ai été de son Abel, j’y trouve une touchante et antique simplicité qui va au cœur; quand l’ouvrage entier ­paroitra moi qui ne lis rien, je le lirai surement« (Jean Jacques Rousseau au ministre Leonhard Usteri, 13.9.1761. In: Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau. Édition cri­ tique. Établie et annotée par R. A. Leigh. Tome IX: juin – décembre 1761. Genève 1969, S. 124-126; hier S. 124). Das Bild der Idylle 15 lehnt sich an Herders wahrnehmungspsychologische Hierarchisierung der Sinne an, wonach der Tastsinn der unmittelbarste, Wahrheit verbürgende Sinn ist, der Gesichtssinn hingegen immer schon aus der Distanz und unter der Bedingung des Verlustes physischer Unmittelbarkeit agiert. »Wir sehen und studieren nur Er­ scheinungen«,3 heißt es in Herders früher Abhandlung Zum Sinn des Gefühls. Diese Entfernung des bloßen Sehens von der Natur reinterpretiert Goethe als Index des idyllischen Bewusstseins und der diesem immanenten Entfremdung. Der Ge- sichtssinn ist gewissermaßen der ›Besuchssinn‹. Die Natürlichkeit der Idyllen Geßners wird mithin auf der Ebene der Wirkung untergraben, insofern sie ja darin bestünde, den Leser das Gemacht-Sein, die Künst- lichkeit des Kunstwerks vergessen zu lassen: Der Vorhang hebt sich, wir sehen in ein Theater, das für uns, von der Seite zu beschauen, eben so künstlich hintereinander geschoben, so wohl beleuchtet ist, und wenn wir einige Minuten Zeit haben, A! zu sagen, dann treten Junggesellen und Jungfrauen herein, und spielen ihr Spiel. (MA 1.2, S. 347) Die kritischen Einwände Goethes haben alle denselben systematischen Ausgangs- punkt: die Nähe der Idylle zum Bild. Das gilt auf der biographischen Ebene, denn Geßner ahme keine Natur nach, sondern lediglich »seines Herrn Schwehervaters Kupferstichsammlung« (ebd.). Das gilt auf der Ebene der Figurendarstellung, für den Goethe den Begriff der ›Staffage‹ verwendet, der dem kunsttheoretischen Dis- kurs der Zeit entstammt und dort die Ausgestaltung der Landschaft mit Personen bezeichnet.4 Und das gilt auf der Ebene der Wahrnehmungspsychologie, indem die Bildlichkeit der Idyllen eben auch nur dem Modus der reduzierten sinnlichen Wahr- nehmung entspricht, dem Gesichtssinn. Wenn Goethe Geßner als »malenden Dich- ter« bezeichnet, dann verdichtet sich in dieser Formel die Kritik an ihm.5 Seit Les- sings Laokoon ist die ›malende Dichtkunst‹ ja ohnehin kritisch indiziert, weil sie von einer medialen Gleichartigkeit der Künste ausgehe und derart nicht nur ihre Mittel der Nachahmung, sondern auch ihren wahren Gegenstand verkenne.6 Zwar

3 Johann Gottfried Herder: Zum Sinn des Gefühls. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold u. a. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774-1787. Hrsg. von Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994, S. 235- 242; hier S. 236. 4 So schreibt Hagedorn: »Es kann auch zu Bevölkerung oder sogenannten Staffierung der Landschaft nur eine Art die wohlgewählteste seyn« (Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1762. Bd. 1. Hildes- heim, Zürich, New York 1997, S. 348). 5 Dass diese Formel der zentrale Punkt ist, um den die Rezension kreist, verdeutlicht auch Johann Jakob Engels Verteidigung Geßners gegen Goethe. Sie versucht zu zeigen, dass Geßner erstens nicht nur ›male‹ und das zweitens ›Malen‹ in seiner Dichtung einen Abstrak­ tionsvorgang bezeichne, wie er letztlich jeder Dichtung zugrunde liegen müsse (vgl. Johann Jakob Engel: Salomon Geßners Schriften. Fünfter Band. Zürich 1772. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 14 (1773) 1, S. ­80-105). 6 Wie Osterkamp gezeigt hat, zeichnen sich aber gerade die Bildbeschreibungen des jungen Goethe durch ein eminentes Bewusstsein von dieser Differenz aus. Sie wird in dem Mo- ment offensichtlich, in dem man Kunstwerke als Einheit des Gegenstands der Darstellung und der Mittel ihrer Realisation zu definieren beginnt. Deshalb kann die pikturale 16 Stephan Pabst merkt Goethe an, dass man Lessing nicht gelesen haben müsse, um an Geßners Gleichsetzung von Malerei und Dichtung Anstoß zu nehmen, doch verweist er da- mit eben auch auf seine Übereinstimmung mit der kritischen Autorität Lessings. Die strategische Pointe von Goethes Rezension besteht darin, dass er die Bezeich- nung des ›malenden Dichters‹ nicht einfach von außen an Geßner heranträgt. Viel- mehr greift er mit dieser Formel Geßners dichterisches Selbstverständnis auf und wendet es gegen ihn. Geßner hat seinen Idyllen ja einen Brief über die Landschafts- mahlerey beigegeben, der zunächst einmal das leistet, was sein Titel verspricht. Geßner rekapituliert seine Entwicklung als Landschaftszeichner und leitet aus sei- ner persönlichen Bildungsgeschichte allgemeine künstlerische Grundsätze ab. Sie betreffen das Verhältnis von Nachahmung der Natur und Nachahmung anderer Maler, das Verhältnis von Detail und Ganzem und das Verhältnis von Nachahmung und Erfindung. Erst der Schluss des Briefes enthüllt, warum ein Brief über die Landschaftsmalerey in einen Band mit Idyllendichtungen gehört. Dieselben künst- lerischen Grundsätze nämlich, so Geßner, die für die Landschaftsmalerei gelten, gelten auch für die Dichtung: »Die Dichtkunst ist die wahre Schwester der Mahlerkunst«.7 Und die Beispiele, die Geßner im Folgenden wählt, verraten, dass er dabei vor allem die Poesie der Idylle im Auge hat. Er bezieht sich auf James Thomsons The Seasons und deren Übersetzer Barthold Heinrich Brockes: Der Landschaftsmahler muß sehr zu beklagen seyn, den zum Exempel die Ge- mählde eines Thomson nicht begeistern können. Ich habe in diesem grossen Meister viele Gemählde gefunden, die ganz aus den besten Werken der grösse- sten Künstler genommen scheinen, und die der Künstler ganz auf sein Tuch übertragen könnte.8 Wichtig ist, dass Geßner hier nicht nur die eigene künstlerische Entwicklungs­ geschichte rekapituliert. Der Brief ist zunächst als Teil der Vorrede zum dritten Band der Geßner gewidmeten Geschichte der besten Künstler in der Schweitz9 von Johann Caspar Füssli erschienen und beansprucht in diesem Kontext exempla­ rische Geltung. Diese Geltung reklamiert Geßners Brief dadurch für sich, dass sich letztlich in seiner individuellen Biographie gleich mehrere ästhetische Paradigmen realisieren. Zwei davon betreffen das Verhältnis von Malerei und Literatur. Das eine betrifft ganz allgemein die horazische Ut pictura poesis-Formel, in die sich Gessner ebenso einschreibt, wie er von Füssli in sie eingeschrieben wird, der ihn als »größte[n] mahlerischen Dichter der neuern Zeit«10 anpreist. Das andere betrifft konkreter die Idylle.

Repräsen­tation nicht einfach sprachlich übersetzt werden. Vgl. Ernst Osterkamp: Im Buch­stabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, S. 9 ff. Zum Eindruck, den Lessings Laokoon auf Goethe gemacht hat, vgl. ­Goethe: (MA 16, S. 341). 7 Salomon Geßner: Brief über die Landschaftsmahlerey [1770]. In: ders.: Idyllen. Kri­ tische Ausgabe. Hrsg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 170-200; hier S. 190. 8 Ebd., S. 191. 9 Johann Caspar Füssli: Geschichte der besten Künstler in der Schweitz. Nebst ihren Bild- nissen. Bd. 3. Zürich 1770, S. XXXVI-LXIV. 10 Ebd., S. XXXVI. Das Bild der Idylle 17 Das Wort eidyllion, von dem sich die Idylle herleitet, übersetzt man im 18. Jahr- hundert mit ›kleines Bild‹, so zu lesen etwa in Joseph Freyherr von Penklers ­Abhandlung von dem Schäfergedichte und auch in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Idylle, so er- fährt man dort, heiße »eigentlich ein kleines Bild, ein angenehmes Gemählde«.11 Geßner wird also in doppelter Hinsicht als künstlerisches Muster ausgewiesen. In der Idylle erfüllt sich zum einen in ausgezeichneter Weise das horazische Para- digma, weil die Idylle eben qua Gattungsdefinition Bildlichkeit einfordert. In Geß- ners künstlerischer Autobiographie erfüllt sich zum anderen die Gattungsdefinition der Idylle, weil er, von der Zeichnung kommend, zur Idylle findet. Goethe plaziert seine Kritik also genau im dichterischen Selbstverständnis Geß- ners, indem er von dieser Gleichsetzung der Idyllendichtung mit der Landschafts- malerei ausgeht und Geßners eigene ästhetische Grundsätze kritisch gegen ihn wendet. Er macht die von Geßner reklamierte Nähe malerischer und dichterischer Darstellung für die künstliche und statische Wirkung der Idyllen verantwortlich. Bis in einzelne Formulierungen hinein lässt sich erkennen, dass Goethe Geßner ge- gen Geßner ausspielt. Ist bei Geßner noch positiv davon die Rede, dass James Thomsons dichterische Gemälde oft »ländlich staffiert«12 seien, so greift Goethe die Vokabel »staffiert« (MA 1.2, S. 347) auf, um die Leblosigkeit und bloße ästhe- tische Funktionalität der Menschen in Geßners Idyllen zu bezeichnen. Spricht Geß- ner voller Verehrung von »meines sel. Herrn Schwehervaters fürtreffliche[r] Samm- lung«, die er »täglich zu sehn«13 Gelegenheit gehabt habe, so gewinnt »seines Herrn Schwehervaters Kupferstichsammlung« (ebd.) bei Goethe eine polemische Bedeutung, indem Geßner in der Nachahmung der Kupferstichsammlung die Nach- ahmung der Natur versäume. So wie Geßner in seiner individuellen Geschichte geradezu die Gattungsdefini- tion der Idylle nachzuvollziehen meint, so richtet sich umgekehrt Goethes Kritik an Geßner letztlich gegen die Gattung der Idylle. Nicht allein greift er in Geßner deren wichtigsten Vertreter im 18. Jahrhundert an. Indem er seine Kritik auf der Nähe der Idylle zum Bild aufbaut, richtet er sich eben nicht nur gegen einen individuellen Fehler Geßners, sondern gegen den Begriff der Gattung, der sich ja durch diese Nähe zum Bild auszeichnet. Aus diesem Grund kann Goethe sagen: »In dieser Dichtungsart ist der Fehler unvermeidlich« (MA 1.2, S. 348).

11 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyter Theil. Leipzig 1796, Sp. 1352. Dass das wohl falsch oder we- nigstens nicht die einzig mögliche etymologische Herleitung ist, stellt man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest. Der Altphilologe Wilhelm von Christ zeigt in einem Aufsatz aus dem Jahr 1869, dass die Bedeutung ›kleines Bild‹ schwerlich zutreffen könne und man vielmehr sowohl in einem quantitativen als auch in einem qualitativen, d. h. die Tonlage und den Gegenstand der Dichtung betreffenden Sinne, von der Be­ deutung ›kleines Gedicht‹ ausgehen müsse. Vgl. Wilhelm von Christ: Verhandlungen der sechsundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Würz- burg vom 30. September bis 3. October 1868. Leipzig 1869, S. 49-58. 12 Geßner (Anm. 7), S. 191. 13 Ebd., S. 179. 18 Stephan Pabst Die Ableitung der Idylle vom Bild bezeugt also nicht nur Geßners mangelndes Bewusstsein für die mediale Differenz der Künste, sondern verweist auch auf einen defizitären Begriff von seinem Gegenstand. Denn offensichtlich geht er ja davon aus, dass dieser so beschaffen ist, dass er sich der bildlichen Darstellung ohne wei- teres fügt, was sich wenigstens im Fall der Menschen und des Sturmes als Irrtum erweist. Deren Darstellung misslingt, gerade weil die Dichtung von der Malerei abgeleitet wird. In dieser medialen Verfehlung der Natur wird die Idylle selbst zum Zeichen der Entfremdung, deren Aufhebung sie in Aussicht stellt. Sie zeigt nun ih- rerseits an, dass wir in der Natur eben nur zu ›Besuch‹ sind. Im Grunde wird Schil- ler diesen medientheoretischen Befund etwa zwanzig Jahre später geschichtsphilo- sophisch reformulieren, indem er die Idylle zu den sentimentalischen Gattungen rechnet, die durch den Verlust der Natürlichkeit definiert sind. Damit nimmt er zwar die Kritik der Gattung insofern zurück, als sie lediglich die Entfremdungs­ geschichte der Menschheit mitvollzieht. Ihren Verfall als literarische Gattung treibt trotzdem auch Schiller voran, indem die Reflexion auf ihre Uneigentlichkeit eine Aufhebung der Gattung zur »Empfindungsweise«14 nach sich zieht.

Dass sich Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers, der zwei Jahre nach der Geßner-Rezension entsteht, mit der Idyllendebatte des 18. Jahrhunderts eng be- rührt, ist mehrfach festgestellt worden.15 Werthers Naturwahrnehmung ist bis ins Detail durch die Topoi der Idylle präfiguriert und schon der dritte Brief des Romans versammelt alle Attribute eines locus amoenus: das »klarste Wasser aus Marmor- felsen«, das »Mäuergen«, die »hohen Bäume« (MA 1.2, S. 199). Vor diesem topi- schen Hintergrund inszeniert der Roman Werthers Begegnung mit einem Bauern- mädchen am Brunnen als alttestamentarisch patriarchales Idyll mit sozialutopischer Färbung. Auch das Leben auf der Landpfarrei, die Werther und Lotte besuchen, trägt die Züge einer Idylle, und der Roman The Vicar of Wakefield von Oliver Goldsmith, der Gegenstand der ersten Unterhaltung zwischen Werther und Lotte ist, wird von Goethe später als »moderne Idylle« (MA 16, S. 458) bezeichnet. Die erste Begegnung mit dem in seine Herrin verliebten Bauernburschen, meint Werther, ergäbe »rein abgeschrieben die schönste Idylle von der Welt« (MA 2.2, S. 360, 2. Fassung). Teilweise finden sich auffällige motivische Ähnlichkeiten mit geßner- schen Idyllen im Roman. Das Ende der berühmten Ballszene gleicht Geßners Idylle Damon. Daphne. So wie Damon und Daphne nach einem Gewitter Hand in Hand aus ihrer Höhle treten, um mit den Worten »Wie herrlich!«16 ihren Schöpfer und einander im Gleichklang ihrer Empfindungen zu erkennen, so treten Werther und Lotte nach dem Gewitter ans Fenster des Ballsaals und erkennen einander in dem Ausruf »Klopstock!« (MA 1.2, S. 215).17

14 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (SNA 20, S. 466). 15 Vgl. u. a. Joachim von der Thüsen: Das begrenzte Leben. Über das Idyllische in Goethes »Werther«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes­ geschichte 68 (1994) 3, S. 462-489. 16 Salomon Geßner: Damon. Daphne. In: ders.: Idyllen. Hrsg. von E. Theodor Voss. Stutt- gart 1973, S. 32-33; hier S. 32. 17 Auf diese Parallele verweist der Werther-Kommentar von Waltraud Wiethölter in FA I, 8, S. 952. Das Bild der Idylle 19 Dass diese idyllischen Momente in Goethes Roman kritisch indiziert sind, ist evident. Es ergibt sich fast notwendig aus der Gattungsdifferenz von Idylle und Roman. Dass Geßners Hirten ein idyllisches Bewusstsein in der Idylle haben, macht ja genau ihre gattungstypische ›Einfalt‹ aus. Werther hingegen hat ein idyllisches Bewusstsein im Roman. Daraus ergeben sich Asymmetrien, die die Idylle sprengen. Während die Welt der Idylle aber genauso groß ist wie das Bewusstsein der in ihr lebenden Schäfer, ist die Welt des Romans größer als das idyllische Bewusstsein Werthers, das somit in seiner Beschränktheit sichtbar wird. Deshalb kann der Ro- man eine Außenperspektive auf seinen Helden etablieren, in der die Unangemessen- heit seiner idyllischen Weltwahrnehmung zur Welt, in der er lebt, erkennbar wird. Diese Nichtentsprechung zeigt sich nicht nur im unglücklichen Ende Werthers. Denn natürlich ist ein Selbstmörder kein Gegenstand einer Idylle. Hirten, so hat etwa Gottsched geschrieben, »beklagen sich über die Unempfindlichkeit ihrer Schö- nen; henken sich aber deswegen nicht auf«.18 Die Nichtentsprechung des idyl­ lischen Bewusstseins und der Welt des Romans zeigt sich auch in der Rücknahme einzelner idyllischer Motive. Spätestens im zweiten Teil sind sie alle kassiert, die Nussbäume auf der Landpfarre sind gefällt, der Bauernbursche ist zum Mörder geworden, eines der Kinder, die Werther anfangs zeichnete, ist verstorben und der Vater der Kinder kehrt krank von seiner Reise in die Schweiz zurück. Ausgerechnet im Land Hallers, Rousseaus und Geßners, das auf der moralischen Landkarte des 18. Jahrhunderts eine Ausnahme von der Verfallsgeschichte der Menschheit ­machen soll, haben ihn egoistische Verwandte um sein Erbteil betrogen.19 Oft tragen schon einzelne Szenen des Romans Zeichen dieser Differenz zwischen der Welt der Idylle und der Welt des Romans. Wo Geßners Damon und Daphne die Natur empfinden, da bedürfen Werther und Lotte der literarischen Vorlage, um die Natur und einander im gemeinsamen Naturgefühl zu erkennen. Der Ausruf »­Klopstock!«, der Werther und Lotte für einen problematischen Moment vereint, trennt sie zugleich von der Natur, indem er das Naturgefühl als Literaturgefühl kenntlich macht. Was bei Geßner das Zeichen der Natürlichkeit ist, ist bei Werther das Zeichen ihres Verlustes. Zu den Szenen, durch die der Riss zwischen idyllischer Wahrnehmung und Wirk- lichkeit verläuft, gehört auch die erste Szene, in der Werther als Zeichner auftritt. Werther beobachtet zwei Knaben, die auf ihre Mutter warten, und arbeitet, was er sieht, zu einer Genreszene aus:

18 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Unveränderter photo­ mechanischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage. Leipzig 1751. Darmstadt 51962, S. 585. 19 Zur Kritik des verklärten und selbst idyllisierenden Bildes der Schweiz, die in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre einsetzt und in den 1780er Jahren ein größeres Publikum er- reicht, vgl. Gonthier-Louis Fink: Die Schweiz im Spiegel deutscher Zeitschriften (1772- 1789). Bild und Wirklichkeit. In: Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770-1830. Hrsg. von Hellmut Thomke, Martin Bircher u. Wolfgang Proß. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 57-78; bes. S. 64-73, und Günter Oesterle: Die Schweiz – Mythos und Kritik. Deutsche Reisebe- schreibungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In: ebd., S. 79-100; bes. S. 84-88. 20 Stephan Pabst […] ich fügte den nächsten Zaun, ein Tennentor und einige gebrochne Wagen­ räder bei, wie es all hintereinander stund, und fand nach Verlauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeste von dem meinen hinzuzutun. (MA 1.2, S. 205) Aus diesem bescheidenen künstlerischen Erfolg zieht er die grundsätzliche Kon­ sequenz, sich »künftig allein an die Natur zu halten« (ebd.). Aber an welche Natur eigentlich und wie fragt sich der Leser, der den Brief bis zum Ende liest. Ist es die ländlich beschauliche Natur der kindlichen Szene, die Werther en détail kopiert, ohne dabei den mindesten Anspruch auf Originalität zu erheben? Oder ist es der ›Strom des Genies‹, den Werther am Ende des Briefes hymnisch preist? Ein Strom, der ›ausbricht‹, ›hereinbraust‹, ›erschüttert‹ und die ›Gartenhäuschen‹ der braven Bürger fortspült. In ihrer zerstörerischen Gewalt hat diese Natur mit der idyllischen Natur des Anfangs nichts zu tun. Und die Haltung, die Werther als Zeichner ein- nimmt, trennt ihn von der regellosen Natur des Genies.20 Schon der Eingang des Briefes zeigt Werther eher als lesenden Kaffeehausbesucher denn als naturberausch- tes Genie: »So vertraulich, so heimlich hab ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin laß ich mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und meinen Stuhl, und trinke meinen Kaffee da, und lese meinen Homer« (MA 1.2, S. 204). Er ist, wie Goethe in der Geßner-Rezension schreibt, eben ›nur zum Besuch‹ auf dem Land und er ist, darauf kommt es hier an, als Zeichner zu Besuch. Werthers Zeichenkünste stehen also im Zeichen einer Verfehlung der Natur. Das hängt zunächst mit Werthers künstlerischem Dilettantismus zusammen, den der Roman bis zur Komik kenntlich macht. Schon die erste Erwähnung Werthers als Zeichner fällt ambivalent aus: »Ich bin so glücklich […], so ganz in dem Gefühl von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken« (MA 1.2, S. 199). Man mag Werthers Vermutung, er sei vor allem dann ein großer Maler, wenn er vor lauter Gefühl zu zeichnen nicht im Stande sei, zunächst noch als Ausdruck emotionaler Authentizität ernst nehmen.21 Spätestens wenn Werther das dritte Mal an Lottes Porträt gescheitert ist und statt eines Porträts einen Schattenriss von ihr hergestellt hat, blamiert sich die emo­

20 Grathoff hat Werthers ästhetische Verklärung an einem anderen Detail ausgemacht: Werther zeichnet, auf einem landwirtschaftlichen Nutzgegenstand, einem Pflug, sitzend. Diesem Detail scheint tatsächlich eine größere Bedeutung zuzukommen, denn im Brief vom 27. Mai erinnert Werther nochmals an ›meinen Pflug‹. Die soziale und praktische Dimension, die zudem Teil der Realismusforderung ist, mit der etwa Maler Müller die Gattung der Idylle zu erneuern bemüht ist, wird so als potentieller Widerspruch zur Ästhetisierung Werthers inszeniert. Vgl. Dirk Grathoff: Der Pflug, die Nussbäume und der Bauerbursche. Natur im thematischen Gefüge des Werther-Romans. In: Hans Peter Herrmann (Hrsg.): Goethes »Werther«. Kritik und Forschung. Darmstadt 1994, S. 384 ff. 21 Zum Anschein der Unmittelbarkeit, die sich bei näherem Hinsehen doch als irreversible Trennung von den Objekten erweist, vgl. Ilse Appelbaum Graham: Minds without ­Medium. Reflections on »Emilia Galotti« and »Werthers Leiden«. In: Euphorion 52 (1962), S. 3-24; hier S. 13 f. Das Bild der Idylle 21 tionale Emphase jedoch am technischen Unvermögen.22 Der Schattenriss ist ja das Gegenteil einer originellen künstlerischen Leistung, da er seine Popularität im 18. Jahrhundert gerade dem Fehlen subjektiver Darstellungsintentionen und seiner rein mechanischen Herstellbarkeit verdankt. Auch Karl Wilhelm Jerusalem, das Vorbild der Werther-Figur, trägt in Goethes Erinnerung die Züge eines Dilettanten: Jerusalems blaue Augen seien »mehr anziehend als sprechend«, seine »Äußerungen […] mäßig, aber wohlwollend« und seine Zeichnungen »ohne eigentliche Technik« (MA 16, S. 578 f.) gewesen. Hier wird das künstlerische Mittelmaß sogar physio­ gnomisch indiziert. Aber nicht nur die individuellen künstlerischen Defizite sind der Grund für Werthers Verfehlung der Natur. Vielmehr lässt ihn sein idyllisches Naturverständ- nis, das wie bei Geßner wesentlich mit der Landschaftszeichnung zusammenhängt, die Natur verfehlen.23 Auch hier geben Goethes Erinnerungen aus Dichtung und Wahrheit noch einmal einen wichtigen Hinweis. Es ist nämlich Teil der Cha- rakterzeichnung Jerusalems als Dilettant, dass er ein großer Bewunderer und Nach- ahmer der »Gesnerschen Radierungen« gewesen sei. Nicht nur um ihrer selbst willen habe Jerusalem Gefallen an ihnen gefunden, sondern weil sie die »Lust und den Anteil an ländlichen Gegenständen [vermehrten]« (MA 16, S. 579). Die Natur- wahrnehmung ist mithin abkünftig von der Landschaftszeichnung. Mit der Er­ innerung an Jerusalems­ Vorliebe für Geßners Radierungen stellt Goethe den ar­ gumentativen Zusammenhang der Geßner-Rezension, die die Beschränktheit des Naturverständnisses aus seiner rein bildlichen Fundierung abgeleitet hat, noch ein- mal her. Auch der Werther-Roman vollzieht den argumentativen Gang der Geßner-­ Rezension noch einmal nach, indem er die Wahrnehmung der Natur als Idylle und

22 Aurnhammer hat eine Vielzahl von Bezügen zur zeitgenössischen Kunstliteratur herstel- len können, die zeigen, dass Werthers ästhetische Ansichten keine privaten Grillen und Nebensächlichkeiten sind, sondern zentrale Elemente des Romans, die im Kunstdiskurs der Zeit ihren Ort haben. Ob man den Roman deshalb schon als »Malerroman« (Achim Aurnhammer: Maler Werther. Zur Bedeutung der bildenden Kunst in Goethes Roman. In: Literaturwissenschaftliches Jb. 36 [1995], S. 84) bezeichnen kann, ist freilich frag- würdig. Für Aurnhammer ist Lotte primär ein male­rischer Gegenstand Werthers (ebd., S. 100 f.) und der Selbstmord eine Konsequenz des künstlerischen Scheiterns (ebd., S. 103). So führt die Generalisierung des Malerei-Themas doch eher zu einer Verzerrung als einer Erhellung des Romans. 23 Johannes Grave liest die Unmittelbarkeit, die der Brief vom 10. Mai unter dem Begriff ›Malerei‹ beschwört, als impliziten Einwand gegen das Bild- und Naturverständnis des Landschaftszeichners, als der Werther andernorts im Roman auftritt. Landschaft, so der historisch-systematische Hintergrund dieser Argumentation, konstituiere sich nämlich erst aus der Distanz zur Natur und ist insofern eine Weise subjektiven Naturerlebens und zugleich Index einer Trennung. Damit schließt Grave an Joachim Ritters Einsicht an, dass Natur als ›Landschaft‹ einer reflexiven Bewegung erst entspringt und dieser nicht vorausgeht (vgl. Joachim Ritter: Landschaft. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974, S. 141-164). Strukturell, so ließe sich auf das hier verfolgte Thema anfügen, gliche also die Konstitutionsgeschichte der ›Landschaft‹ derjenigen der Idylle. Vgl. Johannes Grave: Diesseits und Jenseits der Landschaft. Naturerlebnis und Land- schaftsbild bei Goethe. In: Euphorion 103 (2009), S. 427-448. 22 Stephan Pabst die Nachahmung der Natur in der Zeichnung in ein Abhängigkeitsverhältnis zu­ einander setzt. Werther zeichnet nicht nur die Natur, die er als Idylle wahrnimmt; er nimmt auch die Natur als Idylle wahr, die er zeichnet − das eine bedingt das an- dere. Noch zwei Stunden, nachdem er die beiden Knaben gezeichnet hat, sitzt er vertieft in ›malerische Empfindungen‹, die sich derart vom Akt des Zeichnens lösen. Ganz im Sinne der Rede, dass der größte Maler wohl der sei, der überwältigt von seinen Empfindungen zum Zeichnen nicht im Stande sei, bezeichnen die ›maleri- schen Empfindungen‹ eher einen bestimmten Modus der idyllischen Naturwahr- nehmung als eine künstlerische Tätigkeit. Am deutlichsten aber wird der Zusam- menhang zwischen Zeichnung und idyllischem Bewusstsein ex negativo. In dem Maße, in dem die idyllischen Szenerien verfallen, verfallen auch Werthers künst­ lerische Ambitionen. Im zweiten Teil des Romans sinkt das Zeichnen zunächst her­ab zur bloßen Kompensation der Unlust, die Werther als Gesandtschaftssekretär empfindet, und spielt schließlich gar keine Rolle mehr. Das Bild der Idylle versagt vor einer Natur, die im zweiten Teil des Romans in ganz anderer Weise zur Erfahrung wird als im ersten: Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht, da alles mit der Wetter- schnelle vorüber rollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird. […] Mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. […] Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Un­ geheur. (MA 1.2, S. 239 f.) Diese Naturerfahrung ist nicht, wie es die meisten Lesarten des Romans wollen, ihrerseits eine Projektion, die Werthers Unglück in die Natur überträgt, so wie zu- vor die idyllische Wahrnehmung sein Glück übertrug. Meines Erachtens erhebt die zweite Naturerfahrung aus drei Gründen einen ganz anderen Geltungsanspruch: Erstens hat sie im Roman eine gewisse Kontinuität. Sie löst wörtlich ein, was Werther als Natur des Genies eingefordert hatte. Sie strömt, sie überschwemmt, sie zerstört. Indem die Natur hier buchstäblich vernichtet, entlarvt sie Werthers Rede als bloße Rhetorik eines Naturbegriffs, dessen Wirklichkeit er nicht gewachsen ist. Zweitens bedeutet ihre Negativität vor allem, dass sie sich gegen Übertragungen, Sinnzuweisungen, Projektionen und ästhetische Synthetisierungen sperrt. Sie ist in der Negation wahrhaftig. Und drittens entspricht die zweite Naturerfahrung im Werther-Roman, dies wäre ein textexternes Argument, bis in einzelne Formulie­ rungen hinein der Natur, die Goethe selbst gegen die ›schöne Natur‹ der zeitgenös- sischen Ästhetiken eingeklagt hat. In seiner Rezension von Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste schreibt er: »Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt nichts gegenwärtig alles vorübergehend, tausend Keime zertreten jeden Augenblick tausend geboren« (MA 1.2, S. 400). Die zweite Naturerfahrung wird von Goethe also nicht nur als fiktionales Element, sondern auch als Argument in diskursiven Zusammenhängen gebraucht. Sie beansprucht mithin in ganz an­ derer Weise Geltung. Das Bild der Idylle 23 Zwar ist es also so, dass in beiden Fällen die Naturerfahrung mit Werthers Zu- stand korrespondiert. Aber nur im ersten Fall der idyllischen Naturwahrnehmung kann man von einer Übertragung dieses Zustands in die Natur sprechen. Im Fall der zweiten, erhabenen Naturerfahrung beruht die Korrespondenz auf der miss­ lingenden Übertragung. Werthers unglückliches Bewusstsein entspricht einer Na- turerfahrung, die sich den Zuschreibungen des Subjekts verweigert. Im ersten Fall ist die gelingende Projektion der Grund der Entsprechung, im zweiten Fall ist die misslingende Projektion deren Grund. Vor dieser Natur versagt das Bild der Idylle. Es versagt als Idylle, weil es die Negativität der Natur nicht darzustellen vermag, und es versagt als Bild, weil es die Bewegung der Natur nicht darzustellen vermag. Wenn Werther in einem seiner letzten Briefe die »herrliche Natur so starr« erscheint »wie ein lackiert Bildgen« (MA 1.2, S. 266 f.), dann spricht sich darin nicht allein die melancholische Aus­ höhlung des Subjekts aus, das nichts mehr zu empfinden vermag.24 Der Vergleich ist ein später Reflex der ästhetischen Überzeugungen, die Werther am Anfang ver- trat, so wie der gesamte Brief vom 3. November das Scheitern als Konsequenz der eigenen Schwärmerei deutet. Bildlichkeit ist nicht nur das Dispositiv der Natur­ aneignung, sie führt in dieser Aneignung immer auch die Distanz zwischen der Natur und ihrer Repräsentation mit. Das Bild der Idylle, in dem sich Werther die Natur anzueignen versuchte, ist am Ende des Romans selbst zum Zeichen seiner Entfremdung geworden. In dieser Entfremdung zeigt sich aber nicht nur Werthers individuelle Ent­ fremdung. Es ist zugleich die Abnutzung der idyllischen Natur im 18. Jahrhundert, die hier in der Wiederkehr der eigenen bildlich-idyllischen Naturwahrnehmung zur Erfahrung wird. Damit ist nicht allein ihre ideelle Abnutzung gemeint, die der ­Roman in der Konfrontation der beiden Naturbegriffe vollzieht, sondern ihre ästhe­ tische. Das ›lackiert Bildgen‹, das in keinem der Stellenkommentare der diversen Werkausgaben eines Eintrags gewürdigt wurde, bezieht sich wohl auf die soge- nannte Lackkunst, die in Europa im 18. Jahrhundert in Mode kam und in Deutsch- land seit den 1760er Jahren vor allem mit der Manufaktur des Braunschweiger Fabrikanten Johann Heinrich Stobwasser einen Aufschwung erlebte.25 Gemeint sind Miniaturbilder, die mit einem klaren Lack überzogen wurden und die der Ver- zierung vor allem von Gebrauchs- und Einrichtungsgegenständen dienten: Schnupf- tabakdosen, Becher, Tabletts, Etuis, Möbel etc. Zu den bevorzugten Motiven dieser Lackbilder gehörten »allerlei beliebte Gegenstände der Zeit«, wie sich Stobwassers Sohn erinnert. Das waren neben Historien, Porträts und Genreszenen »Figuren und Landschaften«.26 In den 1770er Jahren spielten Landschaften wohl eine heraus­ ragende Rolle.27 Das Bild der Idylle ist damit in den Stand dessen eingetreten, was

24 Auf diese Bedeutung reduziert Aurnhammer das Bild. Vgl. Aurnhammer (Anm. 22), S. 103 25 Vgl. Franz-Josef Christiani, Sabine Baumann-Wilke: Führer durch die Sammlung Braun- schweiger Lackkunst. Braunschweig 1993; Detlev Richter: Stobwasser. Lackkunst aus Braunschweig und Berlin. 2 Bde. München u. a. 2005. 26 Christian Heinrich Stobwasser: Die merkwürdigsten Begebenheiten aus der Lebens­ geschichte von Johann Heinrich Stobwasser. Braunschweig 1830, S. 23. 27 Richter (Anm. 25), Bd. 1, S. 70. 24 Stephan Pabst man heute als Kitsch bezeichnen würde, die schematische Verfertigung des schönen Scheins zu kommerziellen Zwecken. Goethes Roman stellt einen Zusammenhang zwischen Werthers früheren Landschaftszeichnungen und der protoindustriellen Verkitschung der Landschaft her. Die Harmlosigkeit und Statik des empfindsam- idyllischen Naturbildes eines Geßner und die damit korrelierende Ästhetik dis­ poniert es geradezu für einen Gebrauch wie dem auf den Lackbildern.28 Insofern stellen die Lackbilder eine Aussage über die Naturästhetik dar, die ihnen zugrunde liegt. Der programmatische Individualist Werther schaut also im modischen Acces- soire, im Kitsch das vormals eigene Naturbild an. Auch das vernichtet ihn.

28 Eine der wenigen Verwendungen ähnlicher und zeitlich dem Werther nahestehender Wortbildungen stammt aus einer Rezension Goethes einer Neuausgabe von Joachim Sandrarts Teutscher Akademie der Bau-Bildhauer und Malerkunst in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Darin werden u. a. dessen Darstellungen von Ovids Meta­morphosen besprochen, die Goethe für misslungen hält. Dass sie ihm inzwischen auch als »Lackier- bildchen« begegnet sind, hält er wegen der minderen Qualität der Bilder für angemessen: »Wir haben sie zu Lackierbildchen nachgestochen, auf Teebretten figurieren sehn, da waren sie an ihrem Platz« (MA 1.2, S. 377). Auch hier wird die Form der Verwertung zur Aussage über die Sache, wenngleich die Sache in diesem Fall nicht ein bestimmter Natur- begriff, sondern künstlerisches Unvermögen ist. Sebastian Kaufmann

Der Dichter auf dem Gipfel der Welt. Goethes »Harzreise im Winter« als poetologisches Gedicht

Das während bzw. kurz nach Goethes Reise durch den Harz im Dezember 1777 entstandene freirhythmische Gedicht Harzreise im Winter1 hat die Forschung in besonderem Maße beschäftigt. Als einer der bedeutendsten und schwierigsten ly­ rischen Texte des Autors forderte es schon seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder zu neuen Auslegungsversuchen heraus und Anfang der 1980er Jahre wurde es sogar zum Gegenstand einer regelrechten Deutungskontroverse zwischen Alb- recht Schöne und Jochen Schmidt, die wiederum eine große Zahl weiterer Beiträge nach sich zog.2 Bei aller Unterschiedlichkeit der Ergebnisse zeichnet sich indessen eine Gemeinsamkeit ab, die fast sämtliche Interpretationen verbindet: der bio­ graphische Ansatz. Das Gedicht gilt gemeinhin, auch wenn der Ausdruck ver­ mieden wird, als ein Fall von ›Erlebnislyrik‹, genauer: als poetischer Reflex der seelischen Verfassung Goethes während der Entstehungszeit. Dabei besagt das von den meisten Interpreten favorisierte Deutungsmuster, ­Goethe sei damals keineswegs so »glücklich« gewesen, wie er im Rückblick seines 1821 erschienenen Selbstkommentars3 behauptet (FA I, 21, S. 133), sondern habe

1 Am 29. November 1777 bricht Goethe auf, am 1. Dezember notiert er in seinem Tage- buch die erste Zeile des Gedichts: »= Dem Geyer gleich =« (WA III, 1, S. 55). Wann Goethe die weiteren Strophen geschrieben bzw. das Gedicht fertiggestellt hat, lässt sich nicht ge- nau sagen. Manche Interpreten mutmaßen, dass er die letzte Strophe am 10. Dezember auf dem verfasst haben könnte; stichhaltige Belege gibt es dafür aber nicht. Am 30. Dezember, also fast zwei Wochen nach seiner Rückkehr nach Weimar (am 16. Dezem- ber), schreibt Goethe an Charlotte von Stein: »und bitte Sie um meine Gedichte dass ich was einschreiben kan« (WA IV, 3, S. 204) – vermutlich die Harzreise. Das könnte aller- dings auch bedeuten, dass Goethe das Gedicht erst nach seiner Rückkehr aus dem Harz vollendet, also nicht etwa »›im Sattel‹ verfaßt« hat (Harry Mielert: Das innere Gesetz der »Harzreise im Winter«. In: GJb 1941, S. 168-181; hier S. 168). 2 Vgl. Albrecht Schöne: Götterzeichen: »Harzreise im Winter«. In: ders.: Götterzeichen – Liebeszauber – Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München ²1982, S. 15- 52; Jochen Schmidt: Goethes Bestimmung der dichterischen Existenz im Übergang zur Klassik: »Harzreise im Winter«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen- schaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 613-635. Zur Kontroverse zwischen Schöne und Schmidt sowie allgemein zur Forschungslage während der 1980er Jahre vgl. auch Jörg Schönert: »Aber […] wer ists?« – Die Referenz der Aktoren in »Harzreise im ­Winter« als Deutungsproblem. In: Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen. Hrsg. von Gerhard Sauder. München, Wien 1996, S. 89-99. 3 Es handelt sich um die sog. Kannegießer-Rezension. Karl Ludwig Kannegießer, Philologe, Übersetzer und Rektor des Prenzlauer Gymnasiums, hat 1820 die erste Interpretation von Goethes Harzreise im Winter veröffentlicht (wiederabgedruckt in: GJb 1962, S. 228-235) 26 Sebastian Kaufmann die »heimliche Reise«4 – wie knapp ein Jahrzehnt später auch seine ›Flucht‹ nach Italien – unternommen, um eine existentielle Krise zu bewältigen. Von ihr und ihrer Überwindung zeuge das Gedicht, was Goethe im Nachhinein allerdings zu ver- schleiern trachte.5 Indizien für diese Krise sieht die Forschung vor allem in den zahlreichen Briefen, die der Harzreisende an Charlotte von Stein geschrieben hat. In ihnen präsentiert sich Goethe zunächst als ein zwischen den Gefühlen »reine[r] Ruh und Sicherheit« (WA IV, 3, S. 192) und innerer Unruhe (WA IV, 3, S. 196) hin und her gerissener ›Wanderer‹, bis er dann schließlich im Brief vom 10. Dezember 1777 seine gelungene Brockenbesteigung als ein »befestigungs Zeichen« (WA IV, 3, S. 199) verkündet. Doch ganz abgesehen davon, dass die Briefe an Charlotte von Stein poetische Selbstinszenierungen sind,6 mithin keineswegs als authentische »Belege für Goethes innere Befindlichkeit zum Zeitpunkt der Reise«7 gelten können, zeigt sich, dass das im Gedicht dargestellte Erleben des lyrischen Ichs nicht ohne weiteres mit dem vom Briefschreiber geschilderten kompatibel ist: Während dieser lediglich von der Über- windung einer recht unspezifischen psychischen Labilität berichtet, geht es im Ge- dicht um den mit Hilfe der Poesie vollzogenen Übergang eines »Dichters« (V. 65)8 vom schmerzlichen Zustand solipsistischer Selbstisolation zur glückhaften Erfah- rung des Göttlichen in der Natur – ein Transformationsprozess, der zugleich erst als Aufstieg zum wahren Dichtertum erscheint. Statt als Erlebnisgedicht, das das Seelenleben des Autors wiedergibt, ist die Harzreise im Winter von daher – so die

und Goethe auch seinen Aufsatz (mit einem Begleitbrief vom 21. November desselben Jahres) zugesandt. Goethe bedankt sich mit einem Brief vom 28. November für die Schrift, auf die er in seiner Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum demnächst öffentlich zu ant- worten verspricht (vgl. WA IV, 34, S. 26 f.). 4 Tagebuch, 16.11.1777 (WA III, 1, S. 54). 5 Vorbehalte gegenüber dem goetheschen Selbstkommentar, der »nichts von den tieferen Momenten« enthalte, welche dagegen »die unmittelbaren Zeugnisse jener Tage ahnen« lassen und die »von den späteren Erinnerungen wohl nicht ohne Absicht unter dem de- ckenden Schleier gelassen« worden seien, äußert bereits Aloisia Pfennings: Goethes »Harzreise im Winter«. Eine literarische Studie. Münster 1904, S. 10-12. 6 Vgl. auch Wolfgang Riedel: Bergbesteigung/Hadesfahrt. Topik und Symbolik der »Harz- reise im Winter«. In: GJb 2003, S. 58-71; hier S. 59, der feststellt, dass die Briefe »einer Logik des ›Imaginären‹ kaum weniger folgen als genuin literarische Texte«. Allerdings meint Riedel gerade daraus ableiten zu können, dass das Gedicht und die Briefe bzw. die entsprechenden anderen autobiographischen Zeugnisse »für die Analyse kompatibel sind«; und schließlich geht er dann doch wieder davon aus, dass zumindest die während der Harzreise verfassten Briefe und Tagebucheinträge einen adäquaten Einblick in ­Goethes damaliges Gefühlsleben geben. So bescheinigt er ein paar Seiten später der »Orakel- und Schicksalsmythe der Briefe an Charlotte von Stein den lebensgeschichtlichen Ernst, den sie beansprucht und den man ihr als Außenstehender attestieren muß, wenn man sie nicht als abergläubischen Galimathias zu den Akten legen oder gar als narzißtische Farce ver- werfen will« (S. 68). 7 Bernd Leistner: Goethes Gedicht »Harzreise im Winter«. Versuch einer Interpretation. In: Impulse 4 (1982), S. 70-117; hier S. 75. 8 Die Harzreise im Winter wird unter Angabe der Verszahlen zitiert nach FA I, 1, S. ­322-324. Der Dichter auf dem Gipfel der Welt 27 im Folgenden zu explizierende These – als poetologisches Gedicht zu lesen,9 das Goethes Dichterideal auf der Basis seiner pantheistischen ›Weltanschauung‹ gleich- sam narrativ entfaltet.10 Darüber, dass hier keine schlichte autobiographische ›Bekenntnisdichtung‹ vor- liegt, darf auch der Gedichttitel, der den Ort und die Jahreszeit des dargestellten Geschehens anzeigt, nicht hinwegtäuschen.11 Freilich war Goethe, als er diesen Text oder zumindest Teile davon schrieb, selbst im winterlichen Harz unterwegs; er hat jedoch das Besondere des eigenen Erlebens ins Allgemeine der Literatur über- führt – gemäß dem Verfahren einer ›symbolischen Gelegenheitsdichtung‹, wie er sie (ironischerweise) zu Beginn seiner autobiographischen Selbsterläuterung der Harz- reise im Winter mit den Worten charakterisiert: Was von meinen Arbeiten durchaus, und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgend eines Gegenstandes verfaßt worden, deß- halb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bey besondern äußeren, oft gewöhnlichen Umständen ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte. (FA I, 21, S. 132)

9 Ansätze zu einer poetologischen Lektüre der Harzreise finden sich vor allem bei Jochen Schmidt (Anm. 2); allerdings verschränkt Schmidt aufgrund seiner Orientierung an der Autorbiographie die poetologische Bedeutung des Textes mit einer vermeintlich existen- tiellen, wenn er festhält, bei der Niederschrift des Gedichts sei es Goethes Anliegen ge- wesen, »des eigenen Wesensgesetzes und der daraus resultierenden Bestimmung inne­ zuwerden. In der Situation der frühen Weimarer Jahre kann das nur heißen, daß Goethe in einer klärenden poetischen Reflexion seines Grund-Dilemmas Herr zu werden ver- sucht: der Spaltung zwischen der von seinem Amt geforderten praktischen Weltzuwen- dung und seiner dichterischen Existenz« (S. 618). Im Gedicht ist zwar von der dichte­ rischen Existenz, keineswegs aber von einem politischen Amt die Rede. 10 Zu narrativen Strukturen in der Lyrik vgl. Peter Hühn und Jörg Schönert: Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jörg Schönert, Peter Hühn u. Malte Stein. Berlin, New York 2007, S. 1-18. Hühn und Schönert gehen generell von einer potentiellen Strukturanalogie von lyrischen und epischen Texten aus, die sich darin zeigt, dass »die spezifisch narratologischen Katego- rien der Sequentialität und […] Medialität« zwar nicht auf alle, aber doch auf zahlreiche Gedichte anwendbar sind. Lyrische Texte dieser Art »beziehen sich […] auf eine zeitliche Folge von Geschehnissen (meist mentaler oder psychischer, aber auch äußerer, etwa so- zialer Art), vermitteln diese – Kohärenz und Relevanz herstellend – aus einer spezifischen Perspektive (vielfach auch über differenzierte oder gestaffelte Rede-Instanzen) und ver- weisen dabei – implizit oder explizit – auf den Äußerungsakt, in dem sich diese Ver­ mittlung vollzieht« (S. 2). Wie die Interpretation ergeben wird, trifft dies geradezu exem- plarisch auf Goethes Harzreise-Gedicht zu. 11 In der Abschrift von Goethes Sekretär Philipp Friedrich Seidel lautet der Titel nicht Harzreise im Winter, sondern Auf dem Harz im Winter 1778 (vgl. FA I, 1, S. 1040). Abgesehen vom Irrtum bei der Jahreszahl scheint dieser Titel noch viel mehr eine Deu- tung des Textes als ›Erlebnisgedicht‹ zu legitimieren. Doch hat Goethe sich (in allen Drucken zu Lebzeiten) wohl nicht ohne Grund für den allgemeineren Titel entschieden, in dem der Bezug auf die Entstehungsumstände zugunsten der inhaltlichen Referenz zu- rücktritt. 28 Sebastian Kaufmann Auch auf die Harzreise trifft demzufolge zu, was Goethe einmal gegenüber Ecker- mann mit Bezug auf die Wahlverwandtschaften geäußert hat: »daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden« (17.2.1830; FA II, 12, S. 385). Dass das Gedicht trotz seines Erlebnisbezugs kein Erlebnisprotokoll, sondern ein fiktionaler Text ist, hat bereits die Interpretation der Verse 1-5 zu beachten, in der das lyrische Ich von seinem »Lied« (V. 5) spricht und sich damit implizit als ›­Sänger‹ zu erkennen gibt, bevor es dann später (in Strophe IX) auch explizit als »Dichter« (V. 65) hervortritt. Zwar mag es auf den ersten Blick so scheinen, als sei jenes »Lied« einfach mit der Harzreise im Winter und das Dichter-Ich folglich mit deren Verfasser, also mit Goethe selbst, gleichzusetzen.12 Das Lied bezeichnet jedoch, wie noch näher zu sehen sein wird, keineswegs das vorliegende Gedicht als geschrie­ benen Text, sondern ein innerhalb des Gedichts – auf der Ebene der Fiktion – ›ge- sungenes‹ Lied; entsprechend handelt es sich bei dessen Dichter auch nicht etwa um Goethe als den Gedichtautor, vielmehr um eine von diesem geschaffene literarische Figur. Von daher gilt es, grundsätzlich zwischen dem Dichter im Gedicht und dem Dichter des Gedichts sowie zwischen dem Lied im Gedicht und dem Gedicht selbst zu unterscheiden.13 Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung wird nicht zuletzt dadurch evident, dass das Lied erst ab Strophe III in der in Strophe I ge- wünschten Form beginnt. Diese ergibt sich aus dem Optativ der umrahmenden Verse 1 und 5: »Dem Geier gleich / […] / Schwebe mein Lied«. Der Geier, zu Goethes Zeiten ein Sammelbegriff für große Raubvögel, dient dem Dichter-Ich als Vergleichsbild, um die Beschaffenheit seines geplanten Liedes zu bestimmen: Es drückt damit den Wunsch aus, dass sich sein Produkt von ihm lösen und sich wie ein Vogel in die Lüfte erheben möge.14 Mit dieser ›unwahrscheinlichen‹ Assoziation von Geier und Lied weist sich die Harzreise als eine Dichtung aus, die »selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht, und von einem Jeden fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was […] dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte« (Dichtung und Wahrheit; FA I, 14, S. 58).

12 Vgl. Michael Mandelartz: »Harzreise im Winter«. Goethes Antwort auf Petrarca und die Naturgeschichte der Kultur. In: GJb 2006, S. 86-99; hier S. 87: »Das ›Ich‹ des Ge- dichts meint nicht etwa das lyrische Ich als perspektivische Instanz, die vom Autor fest- gelegt wird, sondern denjenigen, der das Gedicht […] verfaßt«. 13 Vgl. hierzu Klaus Weimar: Goethes »Harzreise im Winter«. Zur Auslegung sprachlicher Bilder. In: David E. Wellbery, Klaus Weimar: Johann Wolfgang von Goethe. Harzreise im Winter. Eine Deutungskontroverse. Paderborn u. a. 1984, S. 15-44. Weimar unter- scheidet in seiner sehr anregenden Interpretation ebenfalls »die drei Positionen Autor, Lied und ›Dichter‹« (S. 37) und erkennt, dass es sich bei dem Lied um einen »Text im Text« (S. 39) handelt. Zugleich greift Weimar jedoch in etwas selbstwidersprüchlicher Manier auf das – den Dichter im Gedicht mit Goethe gleichsetzende – biographische Deutungsverfahren zurück, indem er meint, dass er mittels seiner Auslegung der Harz- reise die »Lücke in der Biographie füllen kann: die unbekannte Bedeutung, die Goethe seinem winterlichen Gang auf den Brocken zugeschrieben hat« (S. 36). 14 Vgl. dagegen Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung. Mün- chen 1972, S. 63, der zwar »[d]ie überraschend kühne Verbindung von Geier und Lied« hervorhebt, allerdings zu Unrecht meint, dass diese »das zu verbildlichende Lied nicht weiter erklärt«. Der Dichter auf dem Gipfel der Welt 29

In Strophe II, die mit der Konjunktion »Denn« (V. 6) beginnt, liefert der Sänger zunächst die zweckbezogene Begründung für das gewünschte Schweben seines Lie- des. Er spricht über die Glücklichen und Unglücklichen, denen jeweils »ein Gott« (V. 6) ihre »Bahn / Vorgezeichnet« (V. 7 f.) habe. Diese streng deterministische An- sicht über Glück und Unglück als den beiden Grundmöglichkeiten menschlicher Existenz schließt jede Veränderung aus: Einmal vorherbestimmt, steht das Schick- sal des Menschen demnach unumstößlich fest, so dass sich der Unglückliche »ver- gebens / […] gegen die Schranken« seiner Lebensbahn »sträubt« (V. 14 f.). Den »ehernen Faden«, der die mythische Vorstellung der Parzen evoziert, »lös’t« nie der Gott im Leben des Unglücklichen, sondern stets nur der Tod, verbildlicht durch die »bittre Schere« von Atropos, die den Lebensfaden abschneidet (V. 16-18). Mit welcher Intention der Dichter sein Lied nach oben schickt, wird nun deutlich, so- fern man bemerkt, dass er selbst zu den Unglücklichen gehört, von denen in ­Strophe II die Rede ist. Dies legt – neben der übergreifenden Winter- und Gebirgs­topik, die auf existentielle Not deutet15 – schon sein größeres Interesse am un­glücklichen Schicksal nahe und wird denn auch durch den Fortgang des Gedichts bestätigt. Gemäß dem vorausgesetzten Schicksalsverständnis geht es dem Dichter folglich darum, mittels des schwebenden Liedes Gewissheit über sein vorgezeich­netes Un- glück zu erlangen, gegen das er sich nicht länger »vergebens« »sträuben« will.16 Zwischen Strophe II und III findet ein abrupter Wechsel der Perspektive und auch der sprechenden Instanz statt. War bisher der Blick von unten nach oben ge- richtet, vom Sänger zum »Geier«, so verhält es sich ab jetzt umgekehrt: Der eigen- tümliche Wunsch des lyrischen Ichs ist stillschweigend in Erfüllung gegangen; sein Lied hat sich von ihm gelöst und schwebt bereits, vogelgleich Ausschau haltend, am Himmel. Und wie zuvor der Dichter über sein Lied gesprochen hat, so spricht im Folgenden das Lied über seinen Dichter. Dabei führt allerdings die Reflexion des von seinem Urheber abgespaltenen Produkts zu einer grundsätzlichen Revision dessen, was jener bisher über den Gott und das entweder glücklich oder unglück- lich verlaufende Schicksal gesagt hat. Das Lied ›verselbständigt‹ sich als Erkenntnis­ medium gegenüber seinem Sänger so sehr, dass es auch eine völlig andere Funktion

15 Vgl. Rudolf Drux: Des Dichters . Bemerkungen zu ihrer Gestaltung bei Mar- tin Opitz und in Gedichten von Goethe, W. Müller und Heine/Biermann. In: Geschicht- lichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hans Esselborn und Werner Keller. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 229-241; hier S. 230, der darauf hinweist, dass sich im Blick auf die Tradition literarischer Win- terreisen und Gebirgswanderungen seit der Antike »mit der Darstellung frostiger Land- striche und einer leblosen Natur der Gedanke an eine […] krisenhafte Lage ein[stellt], in der sich der Sprechende oder Erlebende befindet«. Vgl. hierzu auch Riedel (Anm. 6), S. 64-66. 16 Keineswegs geht es darum, in indifferenter Haltung in Erfahrung zu bringen, ob dem Dichter eine glückliche oder unglückliche Lebensbahn vorgezeichnet ist, wie zahlreiche Interpreten mutmaßen. Vgl. z. B. Heinrich Henel: Der Wanderer in der Not: Goethes »Wandrers Sturmlied« und »Harzreise im Winter«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), S. 69-94; hier S. 83: »Weil der Mensch nicht weiß, welches Schicksal ihm beschieden ist, ziemt es sich ihm, auf ein Zei- chen der Götter zu warten. Das Wort ›Denn‹ bezieht sich also zunächst auf die Frage, ob der Wanderer zu den Glücklichen oder den Unglücklichen gehört«.