Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet Goethe aus Goethe gedeutet

Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet

2. Auflage Titelbild: Fresko von Stabia/ Flora, Der Frühling Museo Archeologico Nazionale, Neapel

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2., durchgesehene Auflage 2011 1. Auflage 2009

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Satz: Satzpunkt, Bayreuth Druck und Bindung: Hubert&Co., Göttingen Printed in Germany

ISBN 978-3-7720-8413-3 MAGISTRIS TRIBUS PATRI · PAULO · POETAE

Inhaltsverzeichnis

1. „Warum ist Wahrheit fern und weit?…“ ...... 5 2. Trilogie der Leidenschaft ...... 15 3. Pandora ...... 101 4. Der Bräutigam...... 138 5. Namen, Parechese und Paronomasie, Buchstaben...... 157 6. „Vergangenheit und Gegenwart in Eins“ ...... 165 7. Die Zahl Sieben. Harzreise im Winter ...... 185 8. Sonette ...... 210 9. Das geopferte Mädchen ...... 249 10. Helena ...... 258 11. Andere Grenzüberschreitungen in Faust II...... 270 12. Śakuntalā. Indisches Vor-Bild ...... 298 13. Das Nußbraune Mädchen ...... 318 14. Makarie...... 341 15. Wandrer und Pächterin ...... 353 16. Das Märchen ...... 370 17. West-östlicher Divan ...... 421 18. Chaos ...... 471 19. Kästchen und Schloß; Schlüssel und „Schlüssel“...... 560 20. Himmel: Firmament und Paradies ...... 586

Abkürzungen ...... 612 Goethe-Ausgaben ...... 613 Benutzte Primär- und Sekundärliteratur ...... 613 Personenregister...... 626 Danksagung ...... 630

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1. „Warum ist Wahrheit fern und weit? …“

Dieses Buch geht, wie der Titel sagt, von Goethe aus. Es versucht, seinen Intentio- nen nachzudenken. Über alles von ihm in Worte Gefaßte liegt eine unübersehba- re Menge von Literatur vor. Sollte man – dies nun eine Frage, die sich gleich zu Beginn dieser Arbeit vor über dreißig Jahren stellte – sollte man, wenn man einem Dichter auch als Person gerecht zu werden sucht und seine Absichten zu beden- ken trachtet, das, was er bewußt nicht klar ausgesprochen oder worüber er geschwiegen1 hat, im Zwielicht belassen oder könnte es in mehrfachem Sinne das Rechte sein, aufzugreifen, was zwischen den Zeilen steht? Den Ausschlag geben die unzähligen und vielfältigen Andeutungen und Hinweise von Goethe selbst, die über das gesamte Werk verstreut sind und, einmal als solche wahrgenommen, den „Enkeln“2 eine Botschaft bereitgelegt haben: jene von der Nachwelt immer wieder zitierten und dennoch nie befriedigend zusammengefügten „Bruchstücke einer großen Konfession“. In zwiefachem Wortsinn3 verstanden, wird sich diese „Konfession“ auf Goethes Leben wie auch auf seine Religiosität beziehen lassen, vorausgesetzt, man nimmt die leisen Zeichen auf, die er zu geben nicht müde wurde. Ihre Relationen untereinander fügen sich zu einem Netzwerk, das die ganze Dichtung durchzieht, unleugbar vorhanden für jeden, dem es, einmal gewahr geworden, eine neue Dimension in Goethes Leben und Werk aufschließt. Dabei muß festgehalten werden, daß diese Arbeit ihren eigenen, auf Wegweiser des Dichters ausgerichteten Pfad geht und dabei keinerlei Versuch macht, An- dersmeinende bzw. gängige Überlieferungen zu widerlegen. Daß aufgenommene Erkenntnisse anderer Autoren unter allen Umständen angegeben werden, ver- steht sich von selbst. Grundsätzlich soll Goethe vor allem aus Goethe selbst erklärt werden. Dementsprechend gilt es als eine der wesentlichen Voraussetzungen dieser Stu- die, daß Goethe nach eigenen Aussagen schrieb, was er erlebt, wenn auch nicht eben so, „wie er es erlebt“ habe4, und nichts, das ihm nicht „auf die Nägel brannte und zu schaffen machte“5, wie er ja auch „Liebesgedichte nur gemacht [habe], wenn [er] liebte“6. Ja, er geht so weit, von „der neuesten Ausgabe meiner Lebens- spuren“ zu sprechen, „welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt.“7 Daß für Goethe die Identität von ‚lyrischem Ich’, ‚dramatischem Ich’ (auch aufgeteilt auf Personen, ja gerade auf Antagonisten), ‚Erzähler-Ich’, mit dem ‚auktorialen Ich’ legitimerweise für sein Schaffen durch alle Lebensabschnit-

1 Vgl. Josef Pieper, Über das Schweigen Goethes, München 1951. 2 „Erwachsne gehn mich nichts mehr an, / Ich muß jetzt an die Enkel denken“. („Ist denn das klug“, Zahme I; FA 2, S. 621.) 3 Vgl. „Bekenntnis heißt nach altem Brauch / Geständnis wie man’s meint; / […]“ FA 2, S. 726. 4 Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Vollständiger Text nach dem 24. Band der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Johann Wolfgang Goethes, Zürich 1976. 17. Februar 1830. S. 395. 5 Eckermann, 14. März 1830; a. a. O., S. 733. 6 Ebd. 7 An Zelter, 23. Januar 1815. FA 34, S. 400.

5 te hindurch angenommen werden darf, hat er selbst insofern nahegelegt, als er in späten Jahren in bereits hinsichtlich der Leipziger Zeit (1765–1768) schreibt: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extre- me in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.8

Aber obwohl alles von Goethe Mitgeteilte auf Lebenserfahrung beruhte9, wie er in einem wichtigen Brief festhält, geschah solche Mitteilung, wie erwähnt, in ihrem „Wie“ verändert, geschah sie auf mannigfache Weise verschlüsselt. Fragen wir, welche Mittel der Dichter einsetzte, um auf ein im Mitgeteilten Verborgenes hin- zuweisen, so finden wir eine Vielzahl von Praktiken, die dem Zweck dienen, Geheimnisse zu umkreisen. Eine wesentliche, immer wieder angewandte Metho- de, ist die der Analogie. So stellt Goethe fest: Mittheilung durch Analogieen halt ich für so nützlich als angenehm; der Ana- loge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen, er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden: Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft die immer mehr anregt als giebt.10

Wieder spricht Goethe hier von „Mitteilungen“, von Erlebtem. Dieser Verhalten- heit der Vermittlung von Inhalten entspricht auf der Ebene des Stils die Litotes oder Untertreibung. Ein Brief an Schiller klärt darüber auf: […] Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gern incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbe- kannten, den unbedeutendern Gegenstand oder doch den weniger bedeuten- den Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin […].11

Gemäß seinem Analogie-Denken suchte und fand Goethe auch in Leben und Werk früherer Dichter der verschiedensten Zeiten und Zonen Parallelen zu sei- nem eigenen Leben, was er zuweilen bloß mit Zitaten anzeigte, die der Leser

8 DuW II, 7; FA 14, S. 309 f. 9 An Carl Jacob Ludwig Iken, 27. Sept. 1827; HA Briefe 4, S. 250. 10 Sprüche in Prosa; FA 13, S. 77 (1.521; H 1247), s. auch: „Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; […]” ebd., S. 44 (1.282; H 532). 11 9. Juli 1796; Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann, Frankfurt a. M. / Wien / Zürich 1964. S. 179 f.

6 erkennen sollte. Auf diese Weise konnte Goethe problemlos an bereits vorgegebe- ne Situationen anknüpfen. Meist ließ er es aber nicht dabei bewenden, sondern überbot in solchen Fällen die Haltung des Vorgängers oder setzte einer negativen Einstellung eine eigene, positive, entgegen. Selber sprach er von „Wiederholten Spiegelungen“ (von denen später noch die Rede sein wird) oder er nannte solche Sichtweise in eigener Wortschöpfung „symphronistisch“12, um mit dieser Bezeich- nung das rein Gedankliche, ‚Logische’ der Analogie durch den Einschluß des Gemütes (φρήν) zu erweitern. Analogie oder, eben umfassender, Symphronismus gab Goethe auch die Möglichkeit, sich selbst oder geliebte Mitmenschen in mythi- sche, allegorische oder Figuren der Literatur zu projizieren und so aus der Zeit zu heben. Des weiteren konnte er, Petrarca nachfolgend, Namen verschlüsselt in seine Dichtung übernehmen oder sie in parechetischer Abwandlung in Teile trennen, um sie so in verschiedenster Variation, auch übersetzt, als Chiffren zu verwenden. Er spielte etymologisch mit Namen seiner Umwelt, holte aus Wortfeldern, denen sie angehören, Chiffren zu seinem Gebrauch, gelegentlich auch hier in Überset- zung in eine andere Sprache. Zudem wurden ihm in der Nachfolge Dantes und Petrarcas auch gewisse Zahlen bedeutsam. Geheimes sollte verhüllt bleiben, aber dennoch die Möglichkeit seiner Aufdek- kung bieten. Fingerzeige auf ‚verborgene Wahrheit’ hat Goethe immer wieder gegeben, und im folgenden seien einige wenige seiner Hinweise auf Thesen und Methoden herausgegriffen: Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten. (Aus: Makariens Archiv 13.) Es ist nicht immer nötig daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glok- kenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt. (Aus: Betrachtungen im Sinne der Wanderer 14)

Die beiden Aphorismen aus den Wanderjahren von 1829 verhelfen zu einem bes- seren Verständnis des folgenden, wesentlich früher entstandenen Gedichts, in dem Goethe auf kleinstem Raum Einblick in einige seiner immer wieder ange- wandten sprachlichen Kunstmittel gewährt. Dabei handelt es sich um Anklänge an Schriften, die als bekannt vorausgesetzt werden können, wie um heimliche Wortspiele, um eine immer wieder thematisch mittels Buchstabenkombinationen eingesetzte Sprachmusik, besonders auch um Metrik als Ausdrucksmittel und um bezeichnete wie auch um unausgesprochen belassene Symbole: „Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Gründe?“ Niemand verstehet zur rechten Zeit! – Wenn man zu rechter Zeit verstünde;

12 WMWJ, 2, 2; FA 10, S. 425, Z. 7. 13 FA 10, S. 746, Nr.3; auch in Sprüche in Prosa, FA 13, S. 53, (1. 333; H 619). 14 FA 10, S. 561, Betrachtungen im Sinne der Wanderer, Nr. 26; auch FA 13, S. 40 (1. 250; H 466).

7 So wäre Wahrheit nah und breit, Und wäre lieblich und gelinde. (West-östlicher Divan, Buch der Sprüche15)

Das Gedicht scheint Aussagen der Sprüche schon vorwegzunehmen und poetisch darzustellen. Seine Frage setzt die Existenz der Wahrheit nicht in Zweifel, sondern gilt dem Grund ihrer Verborgenheit, entsprechend der etymologischen Deutung von ἀλήθεια als der ‚Unverborgenheit’! Ihre Existenz wird also a priori vorausge- setzt und, indem sie vermißt wird, auch ihr wohltuendes Wesen. Die Antwort, die der Dichter gibt, weist auf mangelndes Verständnis der Menschen und klingt an den Vers des Johannes-Evangeliums an: „Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.“16. Im Gedicht liegt jedoch der Akzent auf dem Zeitpunkt: „Niemand versteht zur rechten Zeit!“ Und eben diese Zeitbestim- mung wird in leichter Variation, ins Allgemeine gehoben, in der nächsten Zeile noch wiederholt, in Form der Protasis eines potentialen Konditionalsatzes: „Wenn man zu rechter Zeit verstünde“. Der Doppelpunkt danach hat starken Verwei- sungscharakter und leitet über zu der die Möglichkeitsform weiterhaltenden Apo- dosis mit ihrem hoffnungsvollen „So“. Die wenigen Verse sind mit einer ganzen Reihe von Wortspielen durchsetzt, die die „Wahrheit“ musikalisch umkreisen. Bereits der Beginn des Gedichts bringt im „Warum“ einen Vorklang mit Assonanz und Alliteration, so daß dem Wort „Wahr- heit“ schon phonetisch der Weg bereitet scheint. In von ‚a’ zu ‚ä’ abgeschwächter Variation wiederholt sich der Vorgang in der fünften Zeile: „So wäre Wahrheit[…]“, mit einem Nachklang in der sechsten und letzten, wo „wäre“ wieder die gleiche Position in Vers und Metrum innehat, jetzt aber ohne das Wort „Wahrheit“: Die Verborgenheit hat sich also auf der sprachlichen Ebene noch intensiviert. Und dennoch verstärkt sich die Gewißheit ihrer tröstlichen Eigenschaften. Vom Gehalt und von den Phonemen angeregt, stellt sich, als von einem möglichen Keimpunkt des Gedichts die klangliche Assoziation eines Verses aus den Psalmen ein: „Denn der Herr ist freundlich und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für.“17 Aber es gibt mehr zu entdecken: die im Sprachgebrauch gängigen Wortfol- gen von ‚nah und fern’, und ‚weit und breit’ erscheinen hier gegenseitig verstellt zu „fern und weit“ (v. 1) und „nah und breit“ (v. 5). Im Leser klingt das erwartete Partnerwort ohne eigenes Zutun auf. Das fehlende ‚nah’ (zu „fern“) im tautologi- schen „fern und weit“ reflektiert in seinem Ausbleiben intensivierend die Abwe- senheit der Wahrheit. Im fünften Vers geschieht das Umgekehrte: zu „nah“ asso- ziieren wir unwillkürlich das „fern“ der ersten Zeile; vor „breit“ fügt sich das oben ebenfalls schon genannte „weit“, wobei die Wortpartner sich im Vergleich zu Vers 1 gewandelt haben und nun nicht mehr auf Trennung weisen, sondern auf universelle Gegenwart: „nah und breit”, eine an sich ungelenke und daher Auf- merksamkeit fordernde Wortverbindung, vereint verheißungsvoll nun beides: „nah und fern“ und „weit und breit“. Es ist, als schwinge der Klöppel einer Glocke leise hin und her.

15 FA 3/1, S. 64; (hier Z. 4 des Gedichts zitiert nach der minimal veränderten Version im Brief an Sulpiz Boisserée vom 1. Mai 1818, HA Briefe 3, S. 429, an Stelle der buchstabengetreuen Wieder- holung der Zeitbestimmung von Z. 3). 16 Joh. 1. 5. 17 Psalm 100, 5.

8 Auf der Ebene des Satzes vollzieht sich ein Ähnliches. Zunächst einmal wandelt sich das negierende Pronomen „niemand“ der dritten Zeile zum positiven „man“ der vierten. Sodann wechseln Prädikat und Zeitbestimmung in diesem Verspaar ihren Ort; aus „Niemand versteht zur rechten Zeit! –“ wird „Wenn man zu rechter Zeit verstünde“ – auch hier die Bewegung des ‚Glockenklöppels’ diesmal im Platz- tausch von Verb und Adverbiale. Dabei wandelt sich das klanglich blasse, wenn auch durch seinen Indikativ bestimmtere, jedoch negierte „versteht“ zum immer- hin potentialen „verstünde“, das mit seiner volleren Intonation, der stärkeren Akzentuierung am Versende und seinem auf die utopisch-klimaktische Schlußzei- le hinzielenden Reim Hoffnung erweckt. Der „Glockenton, der ernst-freundlich durch die Lüfte wogt“ – man denke an das befreiende Läuten der Osterglocken in Faust – manifestiert sich auch im Metrum. Der ansteigende Klang der vierhebigen Jamben, den der erste Vers zunächst modellhaft kirchenlied-ähnlich darstellt (etwa wie in „Ein’ feste Burg ist unser Gott“) wird unterbrochen. Die Verse 2 bis 4 kennzeichnet ein anderes Metrum: sie setzen jeweils mit einem Choriambus ein, ehe sie das jambische Vers- maß weiterführen. Eine zweite Glocke scheint sich dazugesellt zu haben. Zu Ende des Gedichts stellt sich der steigende rein jambische Rhythmus des Beginns wieder her, die beiden Endverse sind von ihm getragen, das ‚Wogen’ hat aufgehört, bevor das Gedicht nun in Ruhe ausklingt. Wenn man sich nun den einzelnen Lauten zuwendet, bemerkt man das allite- rierende ‚w’, das im ersten Vers mit „Warum“ und „weit“ das Wort „Wahrheit“ umrahmt, mit „Wenn“ den vierten einleitet, dann im fünften in „wäre Wahrheit“ wieder aufscheint, innerlich ergänzt durch das ‚w’ in ‚weit’, das wir bei „breit“ mitdenken, und letztlich nochmals aufgenommen im nur wenig betonten „wäre“ des letzten Verses. Es ist, als nähme man anfangs und am Ende, da die Jamben ihren regulären Ablauf nehmen und das ‚Wogen’ noch nicht oder nicht mehr erklingt, das Wehen des Luftstroms wahr, den die Glocke erzeugt. Ferner: wenn von der Wahrheit, ihrem Tun oder Sein, die Rede ist, taucht der helle ‚i’-Laut auf, eingeführt durch den Diphthong ‚ei’, der phonetisch ja ‚a’ und ‚i’ vereint. In „Birgt sich hinab in tiefste Gründe“ bestimmt das ‚i’ den Vers fast ausschließlich, (denn auch das ‚ü’ von „Gründe“ wird zuletzt seinen Reimrespons in einem ‚i’-Wort fin- den), aber der helle Vokal kommt noch nicht zum Tragen und bleibt, dem Inhalt der Zeilen entsprechend, verhalten. Noch fehlt ihm der Konsonant, der vor dem letzten Vers im ganzen Gedicht kein einziges Mal vorkommt: das ‚l’. Mit dem drei- mal erklingenden und, wie man später immer wieder sehen wird, von Goethe als Chiffre intensiver Bejahung, ja Beglückung, eingesetzten Phonem „li“18 in „lieb- lich und gelinde“ erreicht das Gedicht seinen Höhepunkt und seinen Ausklang. Zurück bleiben, nachschwingend, klangliche Assoziationen von Lindheit, Licht und Liebe als Erscheinungsformen der Wahrheit, ihren Hypostasen. Aber sie wer- den nur verhalten genannt. Der Konjunktiv wird nicht aufgehoben, das „wäre“ bleibt in Doppelung unvermindert bestehen, und dennoch wurde mögliche Erfül- lung gewiß. Denn: „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“

18 Zu Goethes Sprachmusik und ihrer Auslegung siehe S. 35–37.

9 Dies ist ein Leitsatz Goethes, gültig auch für die Interpretation seiner Werke, wobei es sehr darauf ankommt, daß man „zur rechten Zeit“ verstehe, daß man nicht hinweglese über scheinbar Unbedeutendes, das sich oft erst sehr viel später als relevant erweisen wird. So läßt sich z. B. die von der Handlung her gänzlich unmotivierte doppelte Einführung einer Person in Goethes Novelle entdecken als Fingerzeig auf die Formstruktur der Wiederholung, die diesem Werk zugrunde- liegt.19 Und hinsichtlich der Lehrjahre verriet Goethe Eckermann gegenüber: Den anscheinenden Geringfügigkeiten des Wilhelm Meister liegt immer etwas Höheres zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Welt- kenntnis und Übersicht genug besitze, um im Kleinen das Größere wahrzu- nehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genügen.20

Zuletzt das wohl Wichtigste, das beim zitierten Gedicht bereits gezeigt, aber nicht benannt wurde: die Symbolik. „Das Wahre“, im zweiten der beiden Aphorismen umschrieben als Vergleich „wie Glockenton“, wird als Symbol in dem Gedicht als ‚geistig umherschwebend und Übereinstimmung bewirkend’ fühlbar und so, bei all seiner Verborgenheit, unausgesprochen erfahrbar gemacht. In gleichem Sinne lesen wir in Wilhelm Meisters Lehrbrief: […] Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt.21

Dieser Lehrsatz greift über das Gedicht hinaus, weist aber ebenfalls die Richtung zu einer von Goethe nahegelegten Interpretation seiner Schriften, also, gegebe- nenfalls auch über das geschriebene Wort hinauszudenken. In diesem Sinne soll einigen von den zahlreichen in seiner Dichtung angelegten ‚Geheimnissen’ nach- gegangen werden, wobei die folgenden Aphorismen aus Wilhelm Meisters Lehr- brief als Leitsätze gelten sollen: Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat.

Und, folgend: Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln, und nähert sich dem Meister.22

Noch konkreter wirkt Goethes Wunsch, […] daß [der Erklärer] nicht gerade beschränkt seyn soll, alles was er vorträgt aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern daß es uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt. […]23

19 Vgl. Peter Höfle in seinem Nachwort zu Goethe, Novelle, Frankfurt a. Main 2000. S. 14 und S. 16. 20 Eckermann, 25. Dezember 1825; a. a. O., S. 166 unten f. 21 WMLJ 7, 9; FA 9, S. 875. 22 Ebd. 23 Über Goethe’s Harzreise im Winter, in Kunst und Altertum III (1821); FA 21, S. 139.

10 Dabei sollte – sit venia verbo – in Goethes eigener behutsamer Weise vorgegangen sein. Wenn der Versuch glückt, könnten in anteilnehmendem Lesen die Ent- deckungen, die Verf. gemacht zu haben glaubt, nachvollzogen und jene Prämissen geprüft werden, welche zu ungewohnten Perspektiven führen. Dazu ist aber nötig, Goethes Texte bzw. diejenigen anderer Autoren, auf die er sich bezieht, auch vor Augen zu haben, weshalb diese Studie lieber zitiert, statt zu paraphrasieren oder sich auf bloße Stellenangaben zu beschränken. Darüber hinaus wird, was zur Unterbauung der Argumentation wichtig ist, meist im Text selbst aufgeführt, anstatt es in die Fußnoten zu verbannen. Der Versuch geht von der späten Dichtung Trilogie der Leidenschaft24 aus, in der, wie in einem geschliffenen Kristall, Leuchtkraft und Glut eines ganzen Lebens gesammelt und in vielen Facetten wieder ausgesprüht erscheinen. So wird von hier aus „ein frisches Licht“25 auch auf andere Werke des Dichters fallen, die, nun ihrerseits rückstrahlend, wiederum die Trilogie erhellen, gemäß der bekannten programmatischen Äußerung gegenüber Iken, darin der alte Goethe anhand der Helena-Dichtung eine seiner wichtigsten Kompositionsmethoden darlegt: Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfah- rungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit lan- gem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.26

Der „geheimere Sinn“, das ist die innere Wahrheit des Gedichts oder Werks. Da Goethe in „hohen Kunstwerken […] zugleich die höchsten Naturwerke“27 sah, so wandte er in der Kunst sein Konzept der Wirklichkeit an. Darin folgte er wesent- lich Platons Ideenlehre, doch übernahm er sie vielfach in der differenzierteren Form, wie sie der Neuplatoniker Plotin (205–270) weiterentwickelt hat. Nicht als Schatten, die sich an der Rückwand einer dunklen Höhle abzeichnen28, erfaßte Plotin die dem Menschen mögliche Wahrnehmung der Welt der Ideen , sondern als deren Bild in einem Spiegel, in einem „schaffen- den Spiegel.“ Alles Seiende, das in seinem Sein und Wesen verharrt, bringt aus sich selbst mit Notwendigkeit ein Wesen hervor, das an die gegenwärtige Kraft desselben geknüpft ist, gleichsam ein Abbild des Urbildes, aus dem es entstanden ist 29.

24 FA 2, S. 456 ff. 25 Vgl. wieder Brief an Carl Jakob Ludwig Iken v. 27. Sept. 1827. HA Briefe IV, S. 250. 26 Ebd. 27 Goethe, Italienische Reise, 6. Sept. 1786: „Die hohen Kunstwerke sind sogleich die höch- sten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“ MA 15, S. 478. Vgl. auch Wolfgang Schadewaldt, Goethe-Studien, Zürich 1963. S. 300 u. Anm. 28 Vgl. Platon, Staat, 514 A–515 B. 29 Enneaden V 1, 6. Vgl. Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 83. Goethes Lektüre von Plotins Enneaden, höchstwahrscheinlich in der Übersetzung Marsilio Ficinos, ist dokumentiert für August und September 1805; s. Rose Unterberger, Die Goethe-Chronik, Frankfurt 2002, S. 259.

11 Und weiter: […] die Natur des Weltalls bildet mit wunderbarer Kunst alle Wesen nach dem Bilde der Begriffe, die sie besitzt, in jedem ihrer Werke ist der Begriff vereinigt mit der Materie, da er das Abbild des Begriffes ist, welcher vor der Materie war, mit dem göttlichen Geist verknüpft, nach welchem er erzeugt wurde und auf welchen die Weltseele blickte bei ihrem Schaffen.30

In Quintessenz bringt Franz Koch Plotins Konzept unserer Erfassung der wahr- nehmbaren Welt: Nach Plotin ist die Sinnenwelt nichts anders als die Welt der Ideen im Spiegel des Stoffes, der Materie, an der sich das Licht des Geistes bricht und von der es reflektiert wird. Dabei liegt besonderes Gewicht auf dem Umstande, daß diese Spiegelung zugleich Weltschöpfung ist, und daß erst das Dasein dieser Spiegel- wand, der Materie, […] Ursache der Entstehung dieser Welt wird […].31

Die Kunst nun vollzieht das kosmische Geschehen im kleinen. In Zusammenfas- sung einer These zur Kunsttheorie von Carl Philipp Moritz formuliert Goethe: „Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen, im Ganzen der Natur.“ (WA I, 47, S. 86)32 Während der Renaissance entwickelte, in Nachfolge von Plotins Lehre, Marsi- lio Ficino (1433–1499) das Konzept weiter und entwarf eine ganze Stufenfolge von Phasen, in welchen der „Geist“ für den Menschen wahrnehmbar wird: so als würde ein Künstler zuerst eine lebensähnliche Statue seiner selbst verfertigen, diese dann in einem Gemälde porträtieren, dieses Bild wieder in einem Spiegel auffangen und projizieren33, wobei diese letzte Stufe normaler Wahrnehmung entspräche. Aber während bei Platon, Plotin und Ficino das dem Menschen Vor- behaltene stufenweise immer mehr verblaßt, läßt Goethes Konzept durchaus auch eine Steigerung zu34. Goethes Vertrautheit mit Ficinos Werken hat Bernhard Buschendorf in seiner Interpretation der Wahlverwandtschaften entlang deren Handlung und mit vielen Zitaten nachgewiesen.35 Die Form, in der Goethe solche ‚Spiegelung’ Ficinos als eigene Schaffensme- thode übernahm36, bekundet sich darin, daß er Konstellationen aus Mythos und

30 Enn. IV. 3. 11; Franz Koch, Goethe und Plotin. Leipzig 1925, S. 83 f. 31 Ebd., S. 84 mit Nachweis der zusammengefaßten Plotin-Stellen, S. 241, Anm. 4. 32 Vgl. Karl Pestalozzi, „…dieses Ganze // ist nur für einen Gott gemacht“ in Von der Pansophie zur Welt- weisheit, hrsg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg, Tübingen 2004. S. 120. 33 Ebd., S. 117. 34 Vgl. Aus Makariens Archiv, Aphorismen 17–25 (FA 10, S. 748 f.), welche eine in einem Brief an Zelter vom 29. 8. 1805 gesandte Übersetzung Goethes aus Ficinos lateinischer Plotin-Übertragung aus Enn. V. 8. 1 (Basel 1515) darstellen, während die drei folgenden Aphorismen 26–28 (FA 10, S. 749) Plotins Aussage modifizieren, indem statt einer von Plotin angenommenen Abschwä- chung der Bilderfolge auch eine Steigerung gewährleistet ist. Vgl. Kommentar FA 10, S. 1257. 35 Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der „Wahlverwandtschaf- ten“, Frankfurt a. M. 1986. 36 Ein Hinweis auf Ficino expressis verbis findet sich bei Goethe in diesem Zusammenhang nicht, doch scheint der Name bereits in den Ephemerides (1770–1771) auf. Der junge Goethe, neu bearbei- tete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963. Bd. 1, S. 426–440. Zu Goethes Vertrautheit mit Ficinos Lehre vgl. auch Franz Koch a. a. O., S. 23 f.

12 Geschichte, die er als seinem Schicksal gleichend befand, als Spiegelbilder seines eigenen Lebens, eines hinter dem anderen, aufscheinen läßt. Die jeweils verän- derte Rolle wahrzunehmen, bleibt dabei dem poetischen Gespür des Lesers oder oft auch seinem Erkennen hinweisender Zitate überlassen. Ohne seine philosophischen Quellen preiszugeben, bezog sich Goethe, um seine künstlerische Methode anschaulich zu machen, auf ein Gleichnis aus der Optik, auf das Phänomen der „wiederholten Spiegelung“, wie er es benannte, wobei er aber, im Gegensatz zur neuplatonischen Lehre, wie bereits erwähnt, eine stete Steigerung der einzelnen Bilder in diesem Spiegelungsvorgang betonte und in einem Aufsatz37 beschrieb. Demnach intensivieren sich die Bilder eines beleuchteten Kristalls in zwei einander gegenübergestellten geschwärzten Spiegeln farblich mit jeder Spiegelung38. Im Aufsatz Wiederholte Spiegelungen von 1823 (dem Jahr der Elegie39) sieht Goethe diese optische Erscheinung als Analogon zu historischen Abläufen: Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor stei- gern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleich- falls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, […]40

Den Gedanken solcher Steigerung, nun psychologisch formuliert, überliefern die Aufzeichnungen Friedrich von Müllers vom 4. November 1823. Ein Toast, der auf die Erinnerung ausgebracht werden sollte, habe Goethe mit Heftigkeit in die Worte ausbrechen lassen: Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins wer- den, ein neues beßres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangnes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres erschaffen.41

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37 Entoptische Farben, FA 25, S. 710 f. 38 HA Briefe 4, S. 320. 39 Hier, wie im folgenden, gilt Goethes eigener, Exempel statuierender Titel „Elegie“ für den Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft, der gewöhnlich als ‚Marienbader Elegie’ bezeichnet wird. 40 [Wiederholte Spiegelungen] Jan. 1823, WA I. 42/2, 56 f. 41 Kanzler Friedrich von Müller, 4. November 1823, in: Unterhaltungen mit Goethe, a. a. O., S. 102. Vgl. hierzu Gerhard Kaiser, zum Erlebnisgedicht, in Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine, Erster Teil, Frankfurt /Main 1988. S. 67: „Erinnerung erweist sich hier ganz allgemein als paradoxe Möglichkeit, Nähe durch Abstand zu vergrößern. Um den Preis, daß die reale Wechsel- wirkung abgeschnitten ist, kann die erinnerte Geliebte gegenwärtiger sein als die gegenwärtige. […] Im Kreisen der Erinnerung kann schließlich das Gefühl bedacht, artikuliert, auf alle seine Schwingungen hin durchspürt werden, das im Augenblick der Unmittelbarkeit einfach da war, unter Umständen überwältigte. Es kann tiefer werden im reflexiven Rückbezug darauf, der schon im Verhältnis des Wortes ‚er-leben’ zu ‚leben’ steckt.“

13 In Goethes Leben zeigen sich Konstanten, die so grundsätzlich sind, daß dort, wo sie wirken, der Entstehungszeitpunkt einzelner Werke für ihren gedanklichen Inhalt nicht wesentlich ist. Wenn sich diese Arbeit um einer klareren Vermittlung solcher konstanter Inhalte willen wiederholt über die Chronologie von Entste- hungs- oder Erscheinungsdaten hinwegsetzt, kann sie sich auf Äußerungen des Dichters berufen, nach welchen er manche Sujets jahrzehntelang im stillen mit sich herumgetragen habe42, ehe er sie aufzeichnete. Dementsprechend bekennt er auch in Dichtung und Wahrheit: Ein Gefühl […], das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wunder- sam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegen- wart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, Jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte.43

42 FA 1, S. 1233; ferner Brief an Zelter, 29. März 1827; an Nees von Esenbeck, 24. Mai 1827. 43 DuW III, 14; FA 14, S. 678.

14 2. Trilogie der Leidenschaft

1. Die Trilogie im ganzen

Aus einem immer weiter und höher entwickelten Kontinuum des Erlebens, wie Goethe es Kanzler von Müller gegenüber darlegte, nahm die Trilogie der Leiden- schaft ihren Ursprung. Die äußeren Anstöße für die Entstehung der einzelnen Teile der Trilogie1 sind so oft behandelt und nachgezeichnet worden2, daß ich mich damit begnüge, auf vor- handene Kommentare hinzuweisen, ohne ihnen jedoch grundsätzlich zu folgen. Die Dichtung sprengt den Rahmen der traditionellen biographischen Einordnung, weil sie, im wahrsten Sinne des Wortes, Goethes Lebenslied darstellt. So wie er ihr Kernstück, die Elegie, in die Hüllen der umrahmenden Gedichte gebettet hat, so ist er auch äußerlich mit ihrem Text verfahren: er hat ihn eigenhändig in lateinischer, korrekturfreier Schönschrift auf Velin-Papier abgeschrieben, hat sie mit einer sei- denen Schnur in rotes Maroquin gebunden und sie einem der wenigen, die sie zunächst zu Gesicht oder Gehör bekamen, Johann Peter Eckermann, mit geradezu liturgischer Feierlichkeit, zwischen brennenden Kerzen dargeboten.3 Als Goethe im Dezember krank lag, mußte ihm Zelter, der eben zu Besuch in Weimar weilte, das Gedicht wieder und wieder vorlesen. An ihn, den vertrautesten der späteren Freunde, schreibt er nach Berlin im Januar 1824: Daß Du mir die Mitteilung des Gedichtes durch innige Teilnahme so treulich wiedergabst war eigentlich nur eine Wiederholung dessen was Du durch Deine Kompositionen mir so lange her verleihest; aber es war doch eigen daß Du lesen und wieder lesen mochtest, mir durch Dein gefühlvolles sanftes Organ mehrmals vernehmen ließest was mir in einem Grade lieb ist den ich mir selbst nicht gestehen mag, und was mir denn doch jetzt noch mehr angehört da ich fühle daß Du Dir’s eigen gemacht hast. Ich darf es nicht aus Händen geben, aber lebten wir zusammen so müßtest Du mir’s solange vorlesen und vorsingen bis Du’s auswendig könntest.4

Hier ist eine Rezeption gefordert, die sich den Gegenstand innigst anverwandelt, so daß er auswendig – par cœur, by heart – gewußt wird, als ein Lebendiges, das weiterwirken und sich auch im Leser weiter entfalten soll. In diesem Zusammen- hang nochmals ein Wort aus dem oben zitierten Brief an Iken (vgl. S. 11): Da alles, was von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder erle- ben wolle und werde.

1 FA 2, S. 456 ff. 2 Vgl. FA 2, S. 1050 f. 3 Vgl. Eckermann 27. Oktober 1823; a. a. O., S. 60 f. 4 An Zelter, 9. Januar 1824; HA Briefe 4, S. 99 f.

15 Im Sinne dieser Forderung soll das Werk unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden, in der Hoffnung, daß die Untersuchung die ursprüngliche Wir- kung von Gefühlsausdruck und Klangfülle nicht nur nicht mindern, sondern ihr zu einer zusätzlichen, von Goethe selbst vorgesehenen Teilhabe verhelfen möge.

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Als erstes entstand der dritte Teil der Trilogie, das Gedicht Aussöhnung: Dank an die polnische Pianistin Marie Szymanowska, deren in Karlsbad veranstaltete Konzerte Goethe tief ergriffen hatten und die ihn auch persönlich bezauberte. Nach Kon- zerten später in Weimar kam es zu einem für Goethe schmerzlichen Abschied in seinem Hause, bei dem jene oben zitierten Worte über eine kreative Erinnerung fielen, die Kanzler von Müller überliefert hat. Dieses Gedicht scheint in der Ausgabe letzter Hand zweimal auf: als Schluß- gedicht der Trilogie mit dem Titel Aussöhnung in Band 3 und im vierten Band als Nr. 38 der Inschriften, Denk- und Sendeblätter mit der Überschrift An Madame Marie Szymanowska5. Damit ist ausgedrückt, daß die Verse auf zwei verschiedenen Funk- tionsebenen ihre Gültigkeit haben: Der Anlaß ihres Entstehens, der Dank des Dichters an die begabte Künstlerin und liebenswürdige Frau, behält sein Gewicht. Auf der anderen Seite aber werden sie einem größeren Ganzen einverleibt, das in seinen zeitlichen, räumlichen, biographischen und literarischen Bezügen weit über den Anstoß hinausgreift. Goethe hat solches selbst im Inhaltsverzeichnis durch einen Zusatz zur eben erwähnten Fußnote festgehalten, die er dem Gedicht An Madame Marie Szymanowska mitgab: Auch ist hier wohl der Ort, noch mehrere Wiederholungen einzelner Gedichte wo nicht zu rechtfertigen doch zu entschuldigen. Das erstemal stehen sie im Allgemeinen unter ihres Gleichen, denen sie nur überhaupt durch einen gewis- sen Anklang verwandt sind; das zweitemal aber in Reih’ und Glied, da man sie denn erst ihrem Gehalt und Bezug nach erkennen und beurteilen wird. Wei- tersinnenden und mit unsern Arbeiten sich ernstlicher beschäftigenden Freun- den glauben wir durch diese Anordnung etwas gefälliges erwiesen zu haben.6

Nachträglich läßt sich dieses an den Schluß gesetzte Gedicht auch als eine Keim- zelle, ein „Ur-Ei“7, der Trilogie erkennen, in dem bereits die ganze Dichtung keim- haft angelegt ist. Hier offenbart sich Goethes Tendenz, in seiner Kunst dem Schaf- fen der Natur nachzueifern, besonders klar, denn hier zeigen sich schon alle jene Grundstimmungen, von denen die ganze Trilogie in wechselnder Abfolge getragen ist: Trauer, Sehnsucht, Verzweiflung an der Welt und der eigenen Person; Tröstung

5 FA 2, S. 594. Goethe hat das Gedicht mit folgender Fußnote versehen: „Dieses Gedicht, die Leiden einer bangenden Liebe ausdrückend, steht schon im vorigen Band […] ; hier durfte es nicht feh- len, weil es ursprünglich durch die hohe Kunst der Madame Szymanowska, der trefflichsten Pia- nospielerin, zu bedenklicher Zeit und Stunde aufgeregt und ihr ursprünglich übergeben wurde.“ 6 Ebd. Die eminente Wichtigkeit dieses so schlichten Fingerzeigs wird sich im Verlauf dieser Studie noch vielfach erweisen. 7 Mutatis mutandis analog zu Goethes Vergleich der Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ey“ der Grundarten der Poesie, in Ballade, Betrachtung und Auslegung (1821), in: Über Kunst und Altertum III, 1; FA 21, S. 39.

16 durch Gewahrwerden eines Höheren, „Überirdisch“-Schönen; und endlich dank- bare Hingabe an den Augenblick erlebter Epiphanie. Auch das Versmaß der fünfhebigen Jamben ist in diesem erstentstandenen Schlußgedicht schon vorgegeben, sowie Strophen- und Reimschema des großen Mittelteils. Einzelne Reimpaare wie „verloren“ – „erkoren“ und „Sehnen“ – „Trä- nen“ aus den beiden späteren Gedichten sind bereits hier vertreten. Mit solchen und anderen sprachlichen Mitteln, auf die bald näher hingewiesen werden soll, werden die einzelnen Gedichte innigst miteinander verflochten. Auf diese Weise und durch die von Goethe ja selbst dokumentierte biographische Verankerung der umrahmenden Gedichte bezeugt sich die Identität des lyrischen oder Autor-Ich der Elegie mit dem der beiden letzteren. Das Gedicht Aussöhnung wird im Kontext der Stelle, die es in der Trilogie innehat, genau besprochen.

2. Das Gedicht An Werther

Das Eingangsgedicht, die Kanzone An Werther8, entstand ein halbes Jahr nach der Elegie und acht Monate nach Aussöhnung, wobei sich äußerer Anstoß und kompo- sitorische Verarbeitung verbanden: das fünzigjährige Jubiläum der Ersterschei- nung des Werther-Romans und durch dessen lyrische Verknüpfung mit der Elegie seine Einbindung in die Lebenstotalität des Dichters. Hierzu äußerte er sich, wie Eckermann berichtet, folgendermaßen: Weygand [wollte] eine neue Ausgabe meines Werthers veranstalten und bat mich um eine Vorrede, welches mir dann ein höchst willkommener Anlaß war, mein Gedicht an Werther zu schreiben. Da ich aber immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte, so gestaltete sich das Gedicht wie von selbst als Introduktion zu jener ‚Elegie’.9

Zur neuen Ausgabe gab es also erstmals seit der zweiten Auflage von 1775 wieder einen Vorspruch zum Roman. Seinerzeit hatte Goethe, beunruhigt durch die Selbstmordwelle, die sein Werk ausgelöst hatte, dem ersten Buch die Verse voran- gestellt: Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben, Jedes Mädchen so geliebt zu sein. Ach, der heiligste von unsern Trieben, Warum quillt aus ihm die grimme Pein?10

Und dem zweiten Buch: Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele, Rettest sein Gedächtnis vor der Schmach:

8 Tagebuch-Eintrag vom 25. 3. 1824: „War das Gedicht zur neuen Ausgabe von Werther fertig geworden;“ 9 Eckermann, 1. Dezember 1831; a. a. O., S. 764. 10 FA 8, S. 917.

17 Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle: Sei ein Mann und folge mir nicht nach.11

Abschnitt 1 Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten, Hervor dich an das Tageslicht, Begegnest mir auf neu beblümten Matten Und meinen Anblick scheust du nicht. Es ist als ob du lebtest in der Frühe, Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt, Und nach des Tages unwillkommner Mühe Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt; Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.

Eine gewisse Distanz, die Goethe im zweiten Vierzeiler des Vorspruchs zur Gestalt Werthers dokumentieren möchte und dem Leser nahelegt, wie auch später noch häufig, finden wir im Eingangsgedicht der Trilogie nicht mehr. Die Ironie am Schlusse ist Selbstironie. Die Rede wendet sich nicht mehr an den Leser, sondern an den nach einem halben Jahrhundert wieder erschienenen „Schatten“, dessen Identität mit dem Dichter, insbesondere während der drei mittleren Abschnitte, immer stärker zutagetritt. Sie ist ausgedrückt im „Wir“ und in der dritten Person Singular, die gleich gilt für Sprecher und Angesprochenen. Zu Beginn des Gedichtes sieht sich der Dichter mit seiner eigenen Jünglingsge- stalt konfrontiert und weist, um sich, wie es zunächst den Anschein hat, zu distan- zieren, die Erscheinung zurecht: „Und meinen Anblick scheust du nicht.“ Das klingt streng, der jugendliche Revenant scheint damit gerügt, doch ließen sich die Worte auch umgekehrt verstehen und würden, so verstanden, andeuten, daß für Werther kein Grund bestehe, sein am Leben gebliebenes Alter Ego zu scheuen, befinde es sich doch in einer der seinen ganz ähnlichen Lage. Der junge wie der gereifte Mann haben denselben Erlebnishintergrund. Werther darf sich wohl des Verständnisses seines Gegenübers gewiß sein. Der „vielbeweinte Schatten“, dessen Auftreten zunächst als ungehörige Eigenmächtigkeit erscheint, gewinnt im fol- genden trotz, oder vielleicht gerade wegen, seiner Wortlosigkeit immer mehr an selbstverständlicher Präsenz. Der Vers: „Es ist, als ob du lebtest in der Frühe“, legt ungeachtet seiner durch das „als ob“ geprägten Irrealität der syntaktischen Fügung, den Akzent auf Leben. Der nächste Vers „Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt“, weist unter Einspiegelung des später zitierten Werther-Briefes vom 10. Mai auf die biographische Identität. Das Folgende hebt den stummen jugendlichen Partner und den Sprechenden immer mehr in die Sphäre gemeinsamer Erfahrung. Die beiden Schlußverse des ersten Abschnitts: Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.

11 Ebd.

18 fallen geradezu zugunsten von Werthers kurzer Existenz aus und machen aufhor- chen, sagen sie doch nicht mehr und nicht weniger, als daß alles, was nach der Werther-Zeit kam, dem Dichter „nicht viel“ bedeutete. Mit „erkoren“ ist ausge- drückt, wie nahe am Abgrund er selber damals stand. Darüber hinaus gibt hier auch die Sprache Aufschluß, die mit ihren Wortkörpern das Bild von zwei Waag- schalen vor Augen ruft: „Zum Bleiben ich“ hält sich mit „zum Scheiden du“ zunächst genau in der Schwebe durch das anaphorische „zum”, durch den Paral- lelismus der substantivierten Infinitive mit ihrer Assonanz der Diphthonge, bis hin zu den beiden Pronomina „ich“ und „du“, wobei die Diärese beide Kola scharf trennt. Nun aber zieht das Schlußwort „erkoren” die Waagschale Werthers schon rein äußerlich optisch oder akustisch, jedenfalls metrisch, durch sein Gewicht nach unten. Der nachfolgende Vers gibt genau diesen Befund, in Worte gefaßt, wieder: was zurückbleibt, wiegt leichter.

Abschnitt 2 Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los: Der Tag, wie lieblich, so die Nacht, wie groß! Und wir gepflanzt in Paradieseswonne, Genießen kaum der hocherlauchten Sonne, Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung; Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt, Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick, Da steht es nah – und man verkennt das Glück.

Die auf den ersten Abschnitt folgenden Abschnitte der Kanzone heben sich vom ursprünglichen Reimschema (ababcdcdee) markant durch den Paarreim ab. Damit ist eine Trennungslinie gezogen, hat ein Tonartwechsel eingesetzt. Der neue Ton ist einfacher, spontaner, Werther gemäßer. In den drei folgenden Abschnitten vollzieht sich die Rückverwandlung des alten Dichters. „Du“ und „Ich“ sind einem umgreifenden „Wir“ oder dem in die Allgemeingültigkeit gehobenen „Er“ gewi- chen. Nur einmal, in der vorletzten Zeile, taucht das Possessivum „mein” fast wie ein unversehens unterlaufener Lapsus auf, vom Dichter kunstvoll als Bekundung seiner Identität mit Werther eingeschmuggelt. (Erst im Schlußabschnitt scheint der Dualismus wieder auf, ohne daß jedoch die durch den Paarreim bedeutete Tonart aufgegeben würde.) Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los: Der Tag wie lieblich, so die Nacht wie groß!

Mit solchem überwältigten Staunen des Kindes über die Schönheit der Welt hebt der Abschnitt an. Die Polarität von Tag und Nacht wird als wunderbar harmonisch wahrgenommen. Wieder liegt hier ein Vers vor, der mit seinen von einer starken Mittelzäsur getrennten Hälften einer Waage gleicht, die sich jedoch diesmal völlig im Gleichgewicht hält. Aussage und Versstruktur sind eins. Welt und Seele wissen sich in Einklang. Aber der Moment der noch von keiner unliebsamen Erfahrung getrübten „Paradieseswonne“ ist gleich vorbei. Die Gegensätzlichkeit im mensch-

19 lichen Bereich, in der sich das Kind findet, wird als Kampf, als „verworrene Bestre- bung“, als Zustand des Mangels erlebt. Die Polarität von Tag und Nacht scheint wieder auf, übersetzt in die Hell-Dunkel-Metaphorik seelischer Befindlichkeit: „Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, / Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick“. Die Polarität der Vershälften wird gerade durch deren teilweise Par- allelität bei asymmetrisch gesetzten Aussagen beunruhigend fühlbar, ebenso das Verlangen nach Harmonisierung. Das vorhandene Glück bleibt unerkannt: „Da steht es nah – und man verkennt des Glück.“ Der Gedankenstrich und die drei auf ihn folgenden ganz schwach betonten Silben nach der Diärese bilden eine längere Stille wie ein tiefes Atemholen, ehe die Schlußworte fallen. Fast wörtlich im Tasso aus dem Munde der Prinzessin dieselbe Klage: Es gibt ein Glück, allein wir kennen’s nicht: Wir kennen’s wohl, und wissen’s nicht zu schätzen.12

Abschnitt 3 Nun glauben wir’s zu kennen! Mit Gewalt Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt: Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor, Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan? Er schaut umher, die Welt gehört ihm an.

Ein neuer Rhythmus weht durch diese Verse, dynamisiert im scharf konturierten Enjambement, treibt er die Worte an und hin zum Versende. Den Eindruck ver- stärken die vielen Frikative, die sich hier wie auch im nächsten Abschnitt häufen. Unversehens hat sich das Kind zum Jüngling gewandelt, den ein neues Gefühl durchpulst, ein neues Erstaunen, das nun ihm selber gilt. Das ist das seelische Substrat des Werther-Briefs vom 10. Mai und der -Hymne: Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist, wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Daseyn versunken, daß meine Kunst darunter leidet, […]. Wenn das liebe Thal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strah- len sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fal- lenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mück- chen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmäch- tigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das

12 , v. 1912 f.; FA 5, S. 788.

20 einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, da es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!13

GANYMED (frühe Fassung) Wie im Morgenrot Du rings mich anglühst Frühling Geliebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl Unendliche Schöne! Daß ich dich fassen möcht In diesen Arm! Ach an deinem Busen Lieg ich, schmachte, Und deine Blumen dein Gras Drängen sich an mein Herz Du kühlst den brennenden Durst meines Busens Lieblicher Morgenwind! Ruft drein die Nachtigall Liebend nach mir aus dem Nebeltal. Ich komme! Ich komme! Wohin? Ach wohin? Hinauf hinauf strebts! Es schweben die Wolken Abwärts die Wolken, Neigen sich der sehnenden Liebe. Mir! Mir In eurem Schoße Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts An deinem Busen Alliebender Vater!14

Werther und Ganymed sind ein und derselbe. Wie verwandt der Hymne ist aber auch Werthers Gebet vor seinem Tod, aus dem zugleich Ganymed und der Verlo- rene Sohn der Parabel sprechen! […] Vater den ich nicht kenne! Vater! der sonst meine ganze Seele füllte, und nun sein Angesicht von mir gewendet hat! rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese dürstende Seele nicht aufhalten – Und

13 FA 8, S. 15. 14 FA 1, S. 205.

21 würde ein Mensch, ein Vater zürnen können, dem sein unvermuthet rückkeh- render Sohn um den Hals fiele und riefe: Ich bin wieder da, mein Vater! Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerley, auf Mühe und Arbeit, Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur wohl wo du bist, und vor deinem Angesicht will ich leiden und genießen. – Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen?15

Indem in Goethes Umdeutung des Ganymed-Mythos sich das passive Objekt der gewaltsamen Entführung zum sehnenden Subjekt wandelt, rückt der aus sich und über sich hinaus strebende Jüngling in die Nähe von Ikarus und Phaeton, die in ihrem Höhenflug auch ihren Untergang finden, wie später der Euphorion der Helena-Tragödie in Faust II. Lebensgefühl und Intensität des Erlebens sind jeweils die des jungen Werther: In’s Weite zieht ihn unbefangene Hast, Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast: Wie Vögelschar um Wäldergipfel streift, So schwebt auch er, der um die Liebste schweift, Er sucht vom Äther, den er gern verläßt, Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest. (An Werther, v. 26–32)

Auch hier ein zunächst zielloses Wegstreben, dann ein allmähliches Innewerden einer Richtung, ein Gipfelflug um einen Mittelpunkt, die Liebesbindung letztlich an eine liebende Seele. Die Bilder von „Mauer“ und „Palast“ passen weder auf Werther noch auf den jungen Goethe; warum setzt sie der Dichter hier ein als Symbole der Beschränkung und Einengung des zur Liebe erwachten Jünglings? Die dreifache Negation des Verbs, das im Vers an erste Stelle gesetzte „Nichts“ deuten auf gewaltige Hindernisse. „Mauer“ und „Palast“ werden aus dem alles umfassenden „Nichts“ herausgehoben und, jedes für sich, nochmals negiert. Was ist damit angezeigt? Die Antwort liegt in Goethes Methode der Einspiegelung. Das Bild der Mauer weist auf die von Ovid erzählte (in Shakespeares Sommer- nachtstraum parodierte) Geschichte von Pyramus und Thisbe aus Babylon, die einander von Kindheit an lieben, denen aber, da sie herangewachsen sind, von den Vätern die Heirat verwehrt wird. Eine Mauer zwischen den beiden aneinan- dergebauten elterlichen Häusern trennt die jungen Liebenden, ermöglicht aber durch einen schmalen Spalt ihr Geflüster. So wird die Trennung immer quälen- der und die Sehnsucht immer mehr angefacht, bis beiden schließlich die heimli- che Flucht gelingt, die dann aber nicht in der erträumten Verbindung endet. Unglückliche Zufälle und voreilige Schlußfolgerungen treiben, in unseliger Ver- wicklung, jeden der beiden Liebenden in den um des Anderen willen selbstver- hängten Tod.16

15 Brief vom 30. November; FA 8, S. 191. 16 Ovid, Met. IV, v. 55–161; mit Hinweis auf Ovid nacherzählt in Newe und vermehrte Acerra Philologica, Das ist Sechs Hundert auserlesene / nützliche / lustige und denckwürdige Historien von Discursen auß den berümbtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammengetragen, Cleve M.DC.LXVI. Das dritte Hundert 5; a. a. O., S. 375.

22 Shakespeare hat die Motivik der antiken Fabel im Schicksal der jugendlichen Liebenden Romeo und Julia im Drama nachgezeichnet, wie man sogleich als wei- tere Spiegelung assoziiert, für welche „Palast” das Stichwort liefert. Auf diese Weise sind der Jüngling der Werther-Kanzone und seine im Gedicht fast ganz aus- gesparte Gefährtin eingereiht unter die berühmten jugendlichen Liebespaare, die durch ihren tragischen, aus dem Verhalten ihrer Umgebung resultierenden Unter- gang in die Weltliteratur eingegangen sind. Der folgende Vermerk Goethes stammt schon aus der Zeit der Ephemerides (1770–1771): „Romeo und Julie ist eben das Sujet von Pyramus und Thisbe.“17 Wie sehr bewußt das Bilderpaar von „Mauer“ und „Palast“ in der Werther-Kanzone eingesetzt wurde, läßt sich daraus ersehen, daß es auch schon im Gedicht Dauer im Wechsel18 (Erstdruck 1806) als Symbol auf- scheint, und zwar dort an erster Stelle, wo nach den an der Umwelt wahrgenom- menen Veränderungen die Wandlungen des Menschen selber zum Thema werden und die Reflexion seinem Blick auf Welt und Leben gilt: „Du nun selbst! Was fel- senfeste / Sich vor dir hervorgetan, / Mauern siehst du, siehst Paläste / Stets mit andern Augen an.“ Mit dem verschlüsselten Verweis auf die literarischen Vorbil- der ist die Richtung, in welcher das Geschick seinen Weg nehmen wird, in der Kanzone vorgegeben, auch wenn hier der Liebende noch, aufgeteilt in viele sehn- suchtsvolle Gedanken, einer Vogelschar gleich, die Geliebte umkreist, bis ihr „treu- er Blick“ ihn ihrer Gegenliebe versichert und festhält. Der Höhepunkt menschli- chen Lebensgefühls ist hier erreicht, eine Phase der Steigerung aller Fähigkeiten, der Beflügelung, ja Vergöttlichung, dargestellt im Bild des inkarnierten Frühlings19, in Ganymeds überbordender Sehnsucht, im Gipfelflug des Liebenden.

Urworte. Orphisch

Spätestens hier tritt eine deutliche Parallelität zu einer anderen Dichtung Goethes zutage, zu Urworte. Orphisch.20 Darauf ist näher einzugehen. Das Gedicht bietet sich förmlich an zum Vergleich, da es ebenfalls einen Überblick über das Leben, und wiederum vorwiegend über das Leben des jungen Menschen, vermittelt, hier jedoch ins Mythisch-Allgemeingültige gesteigert. Die auffallende Analogie zur Kanzone beglaubigt Urworte jedoch auch als autobiographisches Destillat, das sei- nerseits Licht in dunkle Stellen der ersteren zu werfen geeignet ist. In Anlehnung an antike Lehre21 werden hier jene Schicksalsmächte veran- schaulicht, die von außen wie von innen bestimmend auf das Leben Einfluß neh- men. Jeweils eine der fünf Stanzen ist einer der Mächte zugeordnet. Da ist zunächst ΔΑΙΜΩΝ, Dämon der im Bilde der astrologischen Konstellation den innersten Wesenskern mit seinen unveränderbaren charakterlichen Zügen und Verhaltens- weisen festlegt: „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“. ΤΥΧΗ, Das Zufällige erscheint als nächste Macht. Sie versinnbildlicht die Lebensumstände, in

17 Hanna Fischer-Lamberg, Hrsg., a. a. O., Der junge Goethe, Bd. 1, S. 427.) („eben” steht hier für ‚ebendasselbe’.) 18 FA 2, S. 78 f. (Str. 3). 19 Vgl. Ovid, Met. II, v. 27. 20 FA 2, S. 501 f. 21 Entstanden am 8. 10. 1817. Vgl. Karl Eibl im Kommentar, FA 2, S. 1092 ff., insbesondere zu den antiken Quellen S. 1095.

23 die ein Mensch hineingeboren wird, und wirkt sich am stärksten in der Kindheit aus, die, ähnlich wie in Abschnitt 2 der Kanzone, als beengend und enttäuschend erfahren wird. Die Stanze schließt mit den Versen: Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.

Hierauf folgt:

ΕΡΩΣ, LIEBE Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder, Wohin er sich aus alter Öde schwang, Er schwebt heran auf luftigem Gefieder Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang, Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang. Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das edelste dem Einen.

Im Lichte des oben besprochenen erhöhten und von Erdenschwere befreiten Zustands des Menschen am Beginn des Erwachsenseins weist auch die Eros-Stan- ze auf eine Apotheose, sowohl durch ihre Sprache als auch durch ihre Symbolik. Im Titel ist das grammatische Genus der waltenden Macht mit ΕΡΩΣ, Liebe, nicht festgelegt. Das Pronomen „Er“, mit dem der erste Vers der Strophe in seiner zwei- ten Hälfte scharf pointiert einsetzt und das man zunächst wohl auf Eros bezieht, kann aber ebenso den Jüngling meinen, der „den Äther […] verläßt“, wie es in der Kanzone heißt. Sprachlich ist in dieser Ambivalenz eine Verschmelzung vollzogen. Eros, der Gott, nimmt Gestalt an im Jüngling, der sich plötzlich einer vorher unge- ahnten Schöpferkraft bewußt wird, wie der oben zitierte Werther-Brief es dar- stellt. Davon sagen die Erläuterungen nichts, mit denen Goethe die Stanzen 1817, im Jahr ihrer Erstveröffentlichung, an anderer Stelle nochmals publizierte.22 Doch deutet die Symbolik des „Schwebens“, des „luftigen Gefieders“, des „Frühlings- tags“23 auch hier auf eine normales Menschenmaß kurzfristig übersteigende Trans- formation. Die Stanze findet im beschließenden Verspaar ihren Höhepunkt: Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das edelste dem Einen.

Dazu sagt Goethe in seinen Erläuterungen: […] nun zeigt sich erst, wessen der Dämon fähig sey; er, der selbständige, selbst- süchtige, der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß empfand wenn Tyche, da oder dort, in den Weg trat, er fühlt nun daß er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sey; jetzt wird er in seinem Innern gewahr daß er sich selbst bestimmen könne, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, sondern auch sich

22 Über Kunst und Altertum IIl / 3; FA 20, S. 491 ff. 23 Hes. Thgn. 1275 ff.

24 aneignen und, was noch mehr ist, ein zweytes Wesen, eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung umfassen könne.24

Urworte. Orphisch werden, zusammen mit Goethes Erläuterungen, sich noch mehr- fach als aufschlußreich für die Werther-Kanzone erweisen. Doch zunächst noch ein Blick auf die Form der letzteren. Dabei fällt auf, daß die in den Abschnitten 1 und 2 gesetzte Norm der zehnzeiligen Strophe erstmalig in Abschnitt 3 durchbro- chen ist. Das Übermaß an Gefühl sprengt die Form und erweitert sie hier um ein Verspaar. Der folgende vierte Abschnitt wirkt mit seinen sechs Zeilen karg und schmächtig, eingefügt zwischen die doppelt so umfangreichen Abschnitte 3 und 5. Dennoch bleibt die Ökonomie des Gedichts, im Sinne von Goethes Morphologie25 und seiner Auffassung von Kunst als vollendeter Natur, gewahrt: Abschnitt 4 ist genau um die Zeilenzahl ärmer, die die beiden umgebenden Abschnitte gemein- sam zu viel haben. Hier drückt die Form aus, was die Worte verschweigen: das Verstummen im Schmerz. Halten wir dazu Goethes Feststellung: Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich[…].26

Abschnitt 4 Doch erst zu früh und dann zu spät gewarnt, Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt, Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer, Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr Und Jahre sind im Augenblick ersetzt; Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.

In den ersten beiden Versen bahnt sich die Katastrophe an, aber es bleibt offen, von welcher Seite die Gefahr droht; ist es ein „Zauberfädchen”27 der Liebsten oder legt die Umgebung Fallstricke aus? Jedenfalls hält der Zustand der Beklommen- heit über Jahre an, in denen Trennung und Wiedersehen Trauer und Glück berei- ten, bis zuletzt der endgültige Abschied hereinbricht aus seinem Hinterhalt, in dem er „tückisch” die ganze Zeit auf seinen Augenblick „geharrt” hat. Zusätzlich zur Einbeziehung der Leiden des jungen Werthers können Goethes Erläuterungen, die zwischen die Stanzen Eros und Ananke eingeschoben sind, die Stelle klären helfen und die Situation aus der Perspektive des um so viele Jahre älteren Dichters neu beleuchten. Anschließend an die eben zitierte Passage folgt die bittere Abrech-

24 FA 20, S. 495. 25 FA 24, S. 263–281; ferner S. 836: Von einer andern Hauptwahrheit […] ist er [Geoffroy de Saint Hilaire] gleichfalls durchdrungen, daß nämlich die haushälterische Natur sich einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür vorbe- hält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, indem, wenn an der einen Seite zuviel ausgegeben worden, sie es der andern abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins Gleiche stellt. 26 FA 13 (Sprüche in Prosa), S. 139 (2. 22. 2; H 510). 27 FA 1, S. 167, v. 17.

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