In der Kürze liegt die Würze

Vorab eine Bemerkung der Redaktion in eigener Sache: Immer öfter bitten uns engagierte Leser dringend: Macht Eure Artikel kürzer! In der heutigen Informationsflut und Zeitknappheit sind die meisten Leser nicht mehr für lange Artikel zu haben. Dieser Tatsache möchten wir verstärkt Rech- nung tragen. Man kann ihr auch eine positive Seite abgewinnen. Wenn der Autor sich aufs Wesentliche konzentriert und die Aspekte seines Themas zum Bild zusammenschießen läßt, kommt oft das Hauptanliegen eindrücklicher heraus. Und dem Leser bleibt noch Raum für eigene Phantasie und Gedankenbildung; Vollständigkeit ist langweilig. In diesem Sinne möchten wir unsere Autoren herzlich ermuntern: In der Kürze liegt die Würze! Dann ist auch die Chance größer, daß der Artikel wirklich gelesen wird. Im ersten Beitrag dieses Heftes berichtet der Heilpädagoge Rüdiger Reichle über eine neuartige Entwicklungsstörung, die bei immer mehr Kindern auch in »nor- malen« Schulklassen auftritt. Solche Kinder können Wahrnehmungen aus ver- schiedenen Sinnesfeldern (z. B. Sehen und Hören) nicht mehr zu einem Gesamt- eindruck verarbeiten und stehen sowohl den Erscheinungen der Welt (auch den Schilderungen der Lehrer) wie dem seelischen Erleben der Kameraden kalt und empfindungslos gegenüber. – Weitere Berichte über Entwicklungsstörungen und Gedanken über pädagogische Konsequenzen werden folgen. Der erfahrene Kinder- und Schularzt Karl-Reinhard Kummer behandelt die Fra- ge nach der Schulreife unter körperlichen, vor allem aber auch geistigen Ge- sichtspunkten. Es entsteht ein rundes Bild des schulreifen Kindes. Anlaß sind Pläne von Kultusministerien, die Einschulung vorzuverlegen. Das Thema ist für Waldorfschulen doppelt wichtig, weil in ihnen der Unterrichtsstoff der einzelnen Schuljahre auf die jeweiligen seelischen und geistigen Bedürfnisse und Interes- sen der Kinder zugeschnitten ist. Bald seit einem Jahr läuft in der »Erziehungskunst« eine spannende Diskussion über Konzepte des Chemieunterrichts in der Oberstufe. In dieses Gespräch bringt Dirk Rohde seine Erfahrungen mit dem unterrichtlichen Einsatz von »bildschaffenden Methoden« in der 12. Klasse ein. Was es mit diesen faszinieren- den Kristallisationen und »Steigbildern« auf sich hat, wird in dem Beitrag von Rhode anschaulich vorgeführt. Wie können die Schüler im Unterricht durch Eigentätigkeit stärker aktiviert, zum selbständigen Arbeiten und zum Denken in Zusammenhängen erzogen werden? Auf diese lebenswichtige Frage haben drei Wittener Oberstufenlehrer mit einem fächerübergreifenden Projekt geantwortet, in dem die natürliche Umgebung der Schule mit geologischen, chemischen und biologischen Methoden erforscht wur- de. Udo Kemme stellt begleitend dar, welche ökologischen Gesichtspunkte schon bei der Bepflanzung des Schulgeländes leitend waren. K.S.

129 INHALT

Rüdiger Reichle: Sinne und Sinn – Wahrnehmungsstörungen bei Kindern 131 Karl-Reinhard Kummer: Wann ist ein Kind schulreif? 135 Dirk Rohde: Bildschaffende Methoden im Chemie-Unterricht 145 Udo Kemme: Schritte zu einem Verständnis der Landschaft 156 Hermann-J. Ebker u. a.: Fächerübergreifendes Projekt in der 12. Klasse 165

IM GESPRÄCH Oberstufenreformen und ihre Probleme (K. Schickert) 172 Offener Unterricht aus Eltern- und Lehrersicht (B. Scholze/O. Klüver) 175 Keine Praktika für Seminaristen? (S. Gaik) 179

ZEICHEN DER ZEIT Drogen und Sucht – Vorbeugen durch Erziehen (F. Vogt) 181

AUS DER SCHULBEWEGUNG SEKEM – Leben und Arbeiten in einer ägyptischen Initiative (M. Maurer) 187 Waldorfpädagogik in Neuseeland (B. Pietschmann) 192 Starke Erlebnisse – Siebtklaßfahrt nach Mecklenburg (S. Arndt/D. Kreuer) 197 Schüleraustausch weltweit (W. Hiller) 200

BUCHBESPRECHUNGEN – NEUE LITERATUR 203 Chronokratie (W. Riethmüller) / Visuelle Analphabeten (S. Pühler) / Schlafkrankheit (S. Brues) / Estnisches Volksepos (E. Blattmann) / Keltische Vorfahren (Chr. Göpfert) / Königskinder (B. Messmer) / Kinderbücher bei Mellinger (S. Alexander) / Coco und Fifi (E. Kiefer) / Neue Literatur

MITTEILENSWERTES IN KÜRZE 215 TERMINE 221 Anschriften der Verfasser 223

Titelfoto: Kupferchloridkristallisation. Siehe Beitrag von Dirk Rohde, S. 145 ff.

130 Rüdiger Reichle Sinne und Sinn

Wahrnehmungsstörungen bei heutigen Kindern

»Kleinklassenschulen« wie die Hamburger Christophorus-Schule (siehe voriges Heft) haben es gehäuft mit Problemen zu tun, wie sie auch auf die »normalen« Schulen zukommen. In einer aus einem Interview hervorgegangenen Skizze be- richtet der Autor von einer Entwicklungsstörung mit gravierenden Folgen für das Welt-Erleben, die Lernfähigkeit und das soziale Verhalten. Red.

Immer häufiger begegne ich Kindern, die den Zusammenhang aus verschiede- nen Sinnesfeldern (z. B. Hören und Sehen) nicht mehr erleben. Ihnen gemeinsam ist eine karge Begriffsbildung und ein undifferenziertes, verarmtes Gefühlsleben; sie empfinden die Erscheinungen der Sinneswelt als zusammenhanglos, und hinter der Oberfläche gibt es für sie keine Tiefe. In letzter Konsequenz ist diesen Kindern der Zugang zum tieferen Sinn der Erscheinungen verstellt. Die folgende Szene mag uns helfen, anhand eigener Erlebnisse das Feld näher zu betrachten. Versetzen wir uns einmal auf eine Frühlingswiese. Wir spüren die Feuchte des Grases; die Halme streichen an unseren Waden entlang; ein würziger Duft erfüllt uns; ein feiner Wind rührt uns an; wir fühlen die Wärme der Sonne im Nacken; ein Kuckuck ruft aus dem nahen Wald; Lärchen steigen singend in die Lüfte; Bienen summen; die frische Farbigkeit der Blüten erfreut unser Herz; in der Ferne sprin- gen Kinder mit lautem Rufen von einem Baum: Es ist Frühling! Längst, bevor wir ein Bewußtsein von den Einzeltatsachen und der Gesamtsituation haben, sind wir von einem Gefühl erfüllt, welches uns in einer ganz spezifischen Weise stimmt. Grundlage dafür ist eine innere Aktivität, die unbewußt bleibt und alle Einzel- wahrnehmungen zu einem Gesamttableau verknüpft, welches dann die Grundla- ge für unsere Gestimmtheit wird. Über diese Gestimmtheit können wir kommu- nizieren, weil wir davon ausgehen dürfen, daß unser Gesprächspartner sich in vergleichbarer Weise ein zusammenhängendes Szenario aus den Einzelwahrneh- mungen erschafft und diese begrifflich faßt: »Frühling«! Der Selbstwahrnehmung ebenso zugänglich sind innere Zustände, welche eine solche Zusammenhang stiftende Tätigkeit aus den Einzelwahrnehmungen her- aus erschweren oder gar verhindern: Im »Streß« wie auch bei allgemeiner Ermat- tung können wir zunächst beobachten, daß wir uns von einzelnen sensorischen Reizen schwerer distanzieren, daß wir an ihnen »kleben bleiben«. Wir treten die Herrschaft über unsere Sinne an die Außenwelt ab, der stärkste Reiz hält uns gefangen; wir verlieren an Aufmerksamkeit. Später tritt dann ein, was man – weit über den Bereich des Visuellen hinaus – als »Glotzen« bezeichnen darf: Es wird den hereinflutenden sensorischen Reizen keine innere Aktivität mehr ent-

131 gegengebracht, die wahrgenommene Welt wird nicht mehr verinnerlicht. Jeder von uns hat sich wohl schon einmal dabei ertappt, daß er beim Lesen oder gar beim Vorlesen sich innerlich abgekoppelt hat und noch einmal beim Anfang des Kapitels beginnen muß; es ging Beteiligung verloren. Aufmerksamkeit und Beteiligung sind Voraussetzungen dafür, daß uns die Welt als kohärent und belebt erscheint, daß wir an ihr Gefühle entwickeln und Begriffe bilden, und daß wir schließlich zu einem Handeln kommen, welches seinen Ursprung in freien Entschlüssen hat. Immer mehr Kindern fällt es schwer, die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben, ihre sensorischen Wahr- nehmungen parallelisieren sich zunehmend.

Vernetzung der Wahrnehmungen in Gefahr

Um diesen Sachverhalt verständlich zu machen, sei zuerst darauf hingewiesen, daß man für alle seelischen Aktivitäten entsprechende nervliche Aktivitäten des Gehirns finden kann. Sie stellen auch im Prozeß der Verinnerlichung der Welt ein notwendiges Bindeglied dar. Interessant ist nun bei unserer Fragestellung, daß der beschriebenen Aktivität der wahrgenommenen Welt gegenüber ganz be- stimmte nervliche Prozesse entsprechen: Wenn ich mit dem Auge beispielsweise eine rote Farbe sehe, so wird der entsprechende Reiz über den Sehnerv ans Seh- zentrum des Gehirns übermittelt; gleichzeitig aber werden alle anderen sensori- schen Zentren sozusagen benachrichtigt, daß das Auge gerade etwas gesehen hat: Teilhabe. Diese Beteiligung der verschiedenen sensorischen Zentren des Ge- hirns an den Wahrnehmungsverarbeitungsprozessen findet für jede einzelne Sinneswahrnehmung statt, wenn der Wahrnehmende innerlich aktiv ist. Das Ergebnis der aktiven Vernetzung der Wahrnehmungen ist ein sensorisches Ge- samttableau der wahrgenommenen Welt, an welches schließlich unser Gefühls- leben Anschluß findet. Die beschriebene aktive Vernetzung macht dabei Gebrauch von allerfeinsten Nervenbahnen in unserem Gehirn. Neurophysiologen beschreiben inzwischen eine grundlegende funktionale Veränderung im Gebrauch dieser Bahnen. Die Anzahl und die Intensität der Sinnesreize aus der Umwelt nimmt in so hohem Maße zu, daß ihre Weiterverarbeitung im Gehirn verändert wird: Das Gehirn schirmt sich gegen das Trommelfeuer der Sinnesreize ab, indem es den Schwel- lenwert für ihre Weiterleitung durch die Nerven erhöht; feinere Reize werden nicht mehr verarbeitet, nur starke Reize (»Thrills«) dringen durch die Abschir- mung durch. Für die Weiterleitung dieser hohen Potentiale sind die feinen Ner- venbahnen nicht geeignet; mehrere solcher feinen Nervenverbindungen werden quasi parallel geschaltet zu Bahnen mit höherer Kapazität. Dies geht auf Kosten der feinen Vernetzung. So kommt es, daß es immer mehr Menschen gibt, die sich immer stärker stimu- lieren müssen, um deutliche Empfindungen aus dem sinnlich Wahrgenommenen zu erhalten – dabei entsteht ein Circulus vitiosus aus Heraufsetzung des Reiz-

132 Schwellenwertes und Verstärkung der Sinnesreize. Zugleich verringert sich durch die entsprechend rückläufige Vernetzung die Fähigkeit erheblich, Einzelwahr- nehmungen als miteinander verbunden zu erleben und Gefühle daran zu entwik- keln; die Beziehung der Einzelwahrnehmungen zueinander wird deshalb, wenn überhaupt, immer mehr rational konstruiert, also nachträglich dazugedacht, und erscheint dem Subjekt als mehr oder weniger beliebig und unbedeutend. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß bei vielen Schulkindern, denen ich begegne, zunehmend die Feinheit der Sinnestätigkeit und die Fähigkeit, aus der Wahrnehmung heraus Zusammenhänge zu erleben, gefährdet sind. Für sie wird es schwer, Anteilnahme für die sie umgebende Welt zu entwickeln. Eine schwerwiegende Folge ist: Lehrer können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, daß die Kinder sie verstehen, wenn sie ihnen von der Welt erzählen. Oft berichten Kollegen, wie sehr die Kinder auf lauter kleine Sensatio- nen aus sind, wie schwer sie sich von Schilderungen berühren lassen, wie wenig aktive Phantasie sie entwickeln im Weiterspinnen des Dargestellten. Manche bleiben dann als Beobachter am Rande des Geschehens in der Klasse stehen und gelangen nicht mehr aus einem inneren Bedürfnis heraus zum Mittun. Ein weiteres Feld liegt im Bereich von komplexen Fähigkeiten, für die der Mensch auf das Zusammenspiel der Sinne untereinander und mit der Motorik zurückgreifen muß: Schwierigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen, Störun- gen der Bewegungsabläufe, Sprachstörungen – solche Erscheinungen bestim- men inzwischen den Unterrichtsalltag.

Kinder, die drei Dinge gleichzeitig tun

Weiterhin gibt es Kinder, die zwei, drei, vier verschiedene Dinge gleichzeitig tun (mit Auge, Hand usw.). Das gilt ja heutzutage als kennzeichnend für »erfolgrei- che« Leute: in der Börse mit fünf Gesprächspartnern gleichzeitig telefonieren, währenddessen die Entwicklung der Kurse auf mehreren Monitoren verfolgen, auf denen man sich zugleich noch Musikvideos oder die Tagesschau einblenden kann, durch Zurufe Käufe tätigen, dabei noch das Aufsatzheft der ältesten Toch- ter durchsehen und gleichzeitig eine Glückwunschkarte zum Geburtstag der Großmutter verfassen. Dementsprechend sehen es inzwischen manche Eltern auch nicht mehr als problematisch, sondern vielmehr als Zeichen einer besonde- ren Begabung an, wenn ihr Kind Vokabeln lernt, sich gleichzeitig mit Geräuschen und Bildern aus Medien umgibt und dabei auch noch eine Überschrift im Epo- chenheft ausmalt. Und es ist ja tatsächlich so: Viele Kinder halten dieses Neben- einander von unterschiedlichsten Reizen und Tätigkeiten in einer überraschen- den Weise aus – mancher von uns würde da ganz verrückt werden. Die Konsequenzen aber sind nicht gleich augenfällig: Unter solchen Bedingun- gen ist es nicht möglich, sich mit wirklicher innerlicher Beteiligung auf etwas einzulassen, ins Sinnen zu kommen, freie Handlungsimpulse aufzugreifen – es droht vielmehr eine Automatisierung des Tuns, die uns erkalten läßt.

133 Die Mimik verstummt – das Kind wird zum Zuschauer

Mit diesem Erkalten geht einher eine Versteinerung des Gesichts: Viele Kinder zeigen nur noch spärliche mimische Reaktionen, und manches Antlitz ver- stummt gar. In unserer Mimik drücken wir am feinsten unsere Gefühle aus. Wer mimisch nicht reagiert, hat keine Gefühle an einer Situation entwickelt, oder er kann oder will sie nicht zeigen (beim Pokern ist das ja auch sinnvoll!). Immer erscheint uns der »Gesichtsstumme« als weit von uns entfernt, und ein seelischer Brücken- schlag ist dann immer sehr schwer. Oft hat solch ein mimisches Verstummen damit zu tun, daß die Integration der Einzelwahrnehmungen tiefgreifend gestört ist. Bei einer Untersuchung der Pro- blematik, daß immer mehr Kinder immer früher gewaltkriminell werden, hat sich Überraschendes ergeben. Bei aller Unterschiedlichkeit der Faktoren, die zu einer solchen »Karriere« beitragen, ist eines diesen Kindern gemeinsam: Sie kön- nen im Antlitz ihres Gegenübers nicht lesen, sie können Freude, Wut, Schmerz, Angst, Erstaunen usw. beim Anderen nicht interpretieren, obwohl sie die einzel- nen Veränderungen in der Gesichtsmotorik detailliert zu beschreiben vermögen. Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie Kinder Einzelwahrnehmungen nicht in einen Zusammenhang mit anderen bringen können und dadurch keinen situati- ven Kontext erfassen. Sie bleiben unberührt, eine Begegnung kommt nicht zu- stande, und deshalb können sie auch ihre eigenen Taten nicht in einen erlebten Zusammenhang mit ihren Folgen bringen – sie werden im Sozialen blind. Etwas anders liegt der Fall, wenn Kinder bei allem, was in der Gemeinschaft geschieht, nur als Zuschauer beteiligt sind; man spricht auch vom »Türsteher- syndrom«: Die Handlungsimpulse verstummen. Oft bleiben vor allem Schulanfänger tatsächlich für längere Zeit förmlich an der Türe zum Klassenzimmer stehen. Sie interessieren sich für alles, was da ge- schieht, ohne sich dem komplexen Geschehen aussetzen und selber eingreifen zu wollen. Andererseits wollen sie auf ihren Beobachterposten auch nicht verzich- ten, sie haben keine »Schulangst«. Die erlebte Distanz zu ihrer Umwelt prägt sich je nach dem individuellen Schicksal ganz verschieden aus: Manche erleben das Geschehen in der Klasse wie einen Film oder ein Theaterstück, das sie konsumieren und an dem sie sich ausgiebig delektieren. Bei anderen steht im Vordergrund der Wunsch, durchaus Anteil am Gemeinschaftsleben zu haben, ohne sich dabei aber »die Finger schmutzig machen« zu müssen. Wieder andere möchten nicht aktiv werden, weil sie fürchten, Fehler zu machen und den entsprechenden Kommentaren des Leh- rers und der Mitschüler ausgesetzt zu sein. wird fortgesetzt

Zum Autor: Rüdiger Reichle, Jahrgang 1951, Studium der Malerei, Kunstgeschichte und Psychologie, später der Sonderpädagogik. Tätig an Grund- und Hauptschule, an einer staatlichen Sonderschule, seit 1983 Klassenlehrer in der Christophorus-Schule, Hamburg.

134 Karl-Reinhard Kummer Wann ist ein Kind schulreif?

Seit 1996 gibt es in Baden-Württemberg einen Modellversuch in den staatlichen Grundschulen.* Dieser gestattet es, Kinder vor dem 6. Geburtstag einzuschulen oder während des Schuljahres in eine erste Klasse aufzunehmen.1 Ganz anders war bisher die Praxis der Waldorfschulen: Dort hat man die Kinder eher spät eingeschult, oft erst nach dem 7. Geburtstag. Damit ist es unumgänglich, sich mit der Frage der zeitgerechten Einschulung von medizinischer und pädagogischer Seite erneut zu befassen.

Zum Begriff Schulreife

Lange Zeit war der Begriff Schulreife unumstritten.2 Zunächst ging es vor allem um die körperliche Reife.3 Später untersuchte man die Schulfähigkeit. Schulein- gangstests sollten dazu dienen, »aufgrund festgelegter Kriterien abzuklären, welche Kinder für die Schule geeignet sind … und welche in einer besonderen Schule ihren Platz finden sollten.«4 Eigentlich handelte es sich um Intelligenz-

* In dankbarer Erinnerung an Heinz Beyersdorffer, Gründungslehrer der Karlsruher Wal- dorfschule (11.4.1935 – 27.4.1989). – Johannes Hörner aus Hannover danke ich für seine Hinweise. 1 »Schulanfang auf neuen Wegen«. Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Baden- Württemberg, Stuttgart Februar 1998 2 So zum Beispiel im »Großen Brockhaus« von 1973. – Die Pädagogin Hetzer beschrieb Schulreife als »die Fähigkeit, sich in Gemeinschaft Gleichaltriger durch planmäßige Ar- beit traditionelle Kulturgüter anzueignen.« Dazu gehört »Bereitschaft zur Übernahme von Aufgaben und Unterscheiden von Spiel und Arbeit, Arbeitswille, Einordnung in die Schulklasse als Arbeitsgemeinschaft, zielstrebige, ausdauernde Arbeitsweise, Unabhän- gigkeit von ständiger Betreuung durch die Familie«. H. Hetzer: Das Kind wächst heran. Geistig seelische Gesundheitsführung, Lindau 1955 3 Horst Nickel, Ulrich Schmidt-Denter: Vom Kleinkind zum Schulkind, München/Basel 1995, schreiben auf S. 223: »Um die Mitte dieses Jahrhunderts meinte man, daß ein enger Zusammenhang zwischen körperlicher und geistig- seelischer Entwicklung bestehe und daß man deshalb bereits aus dem Stand der körperlichen Entwicklung auch Rückschlüs- se auf die psychischen Voraussetzungen zum Schulbesuch ziehen könne.« Neben dem Zahnwechsel galt »als wichtigstes Kennzeichen der Schulreife ... die erreichte Höhe der visuellen Gliederungsfähigkeit. Diese bildete deshalb auch einen zentralen Prüfgegen- stand des sog. Grundleistungstests von Kern ... zur Feststellung des allgemeinen Reife- standes für den Schuleintritt. Auch die meisten anderen Einschulungstests aus jener Zeit beruhten auf ähnlichen Annahmen über die Schulreife als Reifungsprozeß, der eng an das Lebensalter gekoppelt sein sollte.« Jedoch ließ sich »ein so enger Zusammenhang, wie er seinerzeit angenommen wurde, ... in späteren Untersuchungen nicht bestätigen«. 4 Andrea Burgener Woeffray: Grundlagen der Schuleintrittsdiagnostik, Bern 1996, S. 24

135 tests, eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der Testung. Sie dienten vor allem der Selektion von schulfähigen gegenüber bedingt schulfähigen Kindern.5 Neue- re Konzepte beziehen das Sozialverhalten und die Arbeitsbereitschaft mit einzu- beziehen, die Schulbereitschaft. Man berücksichtigt die bisherigen Lernvoraus- setzungen des Kindes, seine vorschulische Förderung und die gegenwärtigen Lernbedingungen, auch die Meinung der Kindergärtnerinnen.6 In jüngster Zeit scheint man im vor allem prüfen zu wollen, ob ein Kind für die bestehende Schule geeignet ist: »Dem gegenüber ist wichtig zu erkennen, daß die Begriffe Schulreife und Schulfähigkeit ein rein gedankliches Konstrukt darstel- len. Schulfähigkeit bedeutet, daß ein einzuschulendes Kind die Voraussetzungen mitbringt, die das aufnehmende Schulsystem fordert.«7

Zahnwechsel und körperliche Veränderungen

In der Waldorfschule benutzt man vor allem den Begriff Zahnwechsel, weniger den der Schulreife. Für ist der Zahnwechsel der äußere Ausdruck dafür, daß das Kind nun seinen vererbten Leib durch einen eigenen ersetzt habe.8 Diese strukturellen Veränderungen, die dem Kind nicht bewußt werden, brau- chen insgesamt 7 bis 8 Jahre, die sogenannte Volksschulzeit. Ihr Beginn, der einen völlig neuen Impuls in der kindlichen Entwicklung kennzeichnet, ist an den Zähnen am deutlichsten zu erkennen.9 Das Wachstum des Kindes geht wesentlich einher mit dem sogenannten Ge- staltwandel: Die Körperformen zum Beispiel des Arms werden dabei gestreckt und verändert. An Unterarm oder Oberschenkel usw. kann man Anfang und Ende des Glieds viel stärker abgetrennt unterscheiden. Organisch bildet sich ein mittlerer Abschnitt aller Körperteile heraus: Im Gesicht entstehen die luftgefüll- ten Kieferhöhlen, am Rumpf zeigt sich der Ansatz einer Taille.10 Auch die Bewegung des Kindes ändert sich: Das gesunde Schulkind lebt in der

5 Burgener Woeffray, S. 35 6 Burgener Woeffray, S. 48 ff. 7 So schreibt Christa Engemann, Baden-Württembergisches Ministerium für Kultus, Ju- gend und Sport: Vorzeitige Einschulung – ein Tabu? Schulverwaltung BW 1/97, S. 14-18 8 Vgl. dazu die Quellenhefte der Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten, Heubergstr. 11, 70188 Stuttgart: Jürgen Flinspach (Hrsg.): Schulreife, Schulfähigkeit, Schulpflicht. Studienheft 16; Hanno Matthiolius (Hrsg.): Die Bedeutung des Zahnwech- sels in der Entwicklung des Kindes. Studienheft 2. Eine umfassende ärztliche Darstel- lung geben Armin Husemann: Der Zahnwechsel des Kindes, Stuttgart 1996, und Her- mann Koepke: Das siebte Lebensjahr – die Schulreife, Dornach 1996. Zur schulärztlichen Untersuchung erschien eine Arbeit des Autors: Karl-Reinhard Kummer: Die ärztliche Einschulungsuntersuchung in der Waldorfschule, in: »Der Merkurstab«, 44, H. 6 (1991) 442-448, Wiederabdruck in: Michaela Glöckler: »Gesundheit und Schule«, Dornach 1998 9 Der frühe Durchbruch des ersten Schneidezahns ist dabei weniger aussagekräftig als der Durchbruch der 6.-Jahres-Molaren. 10 Diese Tatsachen sind z. B. von geschildert worden: Entwicklungs- phasen des Kindes, Stuttgart 1976

136 Foto Lutz Leichte, es singt und hüpft, sein Schritt wird leichter, lebendiger und tänzerisch. Im Seilspringen zeigt sich ein rhythmisches Springen, viele Male hintereinander mit einer Leichtigkeit, die der Erwachsene nicht mehr schafft. Die letzten Reste alter Reflexmuster werden abgelegt; dadurch wird eine ge- zielte und differenzierte Einzelbewegung möglich. Auch kann das Kind nun erstmals koordiniert zwei Bewegungen gleichzeitig machen. Am besten sieht man das beim Seilspringen: Es kann das Seil hinter dem Kopf nach vorne schwingen und im rechten Moment abspringen. Diese Reihenfolge wird dem Kind nun bewußt, daher kann es sie steuern. Das ist auch eine Voraussetzung zum Schreiben. Von besonderer Bedeutung sind gegenläufige Bewegungen; das Malen einer Welle verlangt zwei unterschiedliche Bewegungabläufe: das waage- rechte Führen des Stiftes im Heft und die geordneten Auf- und Abwärtsbewe- gungen, damit eine Welle entsteht. Bei der Untersuchung des Kindes muß man den Anfang dieser ganz neuen Fähigkeiten erkennen, um zu entscheiden, ob es den großen Schritt vom Vorschulkind zum Schulkind bereits getan hat.

Die Denkkräfte werden frei – das Kind will lernen

Die entscheidende Änderung in der Entwicklung des Kindes von etwa 6 bis 7 Jahren ist das Freiwerden solcher Kräfte, die bisher dazu dienten, den individuel- len Leib aufzubauen. Ihre ungeheure Weisheit und Kraft, die wir auch in der heutigen Naturwissenschaft nur in Ahnungen erfassen können, steht nun für neue Aufgaben zur Verfügung; diese Kräfte betätigen sich nun im Ergreifen see- lischer Fähigkeiten.

137 Damit tritt das Kind seelisch in eine ganz neue Phase. Sein Blick wird wach, es zeigt nun einen Eifer, die Welt kennenzulernen. Während das Vorschulkind noch die Umhüllung der Eltern oder der Kindergärtnerin brauchte und alles nachah- mend wie ein einziges großes Sinnesorgan aufnahm, wird nun ein anderes Ver- hältnis zum Erwachsenen gesucht. Von einem: »Ich fließe im Strom des Kinder- gartens mit«, wandelt sich das nun in den Wunsch: »Ich will von meinem Lehrer etwas lernen, was ich mir selbst zu eigen mache«.11 Das Kind will nun lernen, es kann aus eigenem Willen seine Aufmerksamkeit so lenken, daß es sich neue Fähigkeiten erwirbt. Es lernt also bewußt. Auf der anderen Seite verfügt es über ein nun freies Gedächtnis. Das Vorschul- kind konnte sich zwar erinnern, aber seine Erinnerung war wie ein Spaziergang. Es brauchte den Anstoß, die Assoziation und mußte die Reihenfolge des »We- ges« entlanggehen. Das Schulkind dagegen braucht diese Assoziation nicht mehr. Es kann willentlich auf sein Gedächtnis zurückgreifen und tut es gerne. Gedächtnisakrobatik wird sogar ausgesprochen beliebt. Dieses neue Verhältnis zum Erinnern muß der Lehrer liebevoll pflegen, aber auch die gegenteilige Fä- higkeit, das Vergessen fördern. Darin liegt der Sinn der rhythmischen Wiederho- lungen innerhalb der Woche, das Wiederaufgreifen des Stoffes am nächsten Tag nach einer Nacht. Dabei hilft auch der Epochenunterricht: Das Kind kann sich täglich mit einem Stoff für längere Zeit befassen und ihn dann ruhen lassen. Weil es seine Aufmerksamkeit auf etwas richten kann, wird es nun fähig, die Anwesenheit zahlreicher Klassenkameraden zu ertragen, ohne sich andauernd ablenken zu lassen. Sein Lernwille befähigt es, dem Lehrer zu folgen. Auch kann es bestimmte Arbeiten zu einem Ende bringen. Es hat ein inneres Bedürfnis, etwas Schönes zu malen. Anders als das Kleinkind hat es eigene Vorstellungen davon, wie sein Bild auszusehen habe, es hat eine Art inneres Ideal. Das wesentliche Charakteristikum dieses Alters ist die Musikalität, der Rhyth- mus, die Liebe zum Schönen. Wie von selbst kann ein gesundes Schulkind eine Melodie erfassen, ein Gedicht auswendig lernen, einen Rhythmus nachklat- schen. Zugleich kann es im Gegenrhythmus den Takt durchbrechen. Rhythmi- sche Fähigkeiten verlangt auch das Zeichnen und Malen, wenn man eine Wellen- linie malen oder andere Formen zeichnen will.

Wellenlinie, eckiger und runder Mäander Eine besondere Form eines Gegenrhythmus findet bei der gekreuzten Bewe- gung statt. Dazu muß man eine innere Vorstellung des Vorgangs haben. Gut sieht man das beim Binden einer Schleife oder beim Malen einer »8«.

11 Dabei ist das Verhältnis zur Welt noch ungebrochen, das Kind empfindet sich noch selbst als ein Teil der Welt, worauf z. B. auch der Schweizer Psychologe Piaget hinwies. Eine Trennung des Selbstverständnis vom Verständnis der Welt ist erst im 10. Lebensjahr zu erwarten.

138 »Richtig« und »falsch« werden bewußt erlebt

Durch die Schulreife tritt das Kind in eine neue Beziehung zum Symbol, das Kind lernt schreiben. Zwar hatte es schon lange alle Elemente der Schrift wie schlafend erlebt, doch nun geht es mit dem Symbol bewußt und gezielt um: Das Symbol ist nicht mehr schöne Form, sondern das Kind erlebt, daß es mit dem Symbol etwas ausdrücken kann,12 das Symbol selbst bekommt einen Inhalt. Das Kind erlebt die Bedeutung hinter dem Symbol: Das Zeichen »A« steht für eine ganze Bedeu- tungswelt, wie jedes Wort und der ganze Satz. Als »Schriftgelehrter« genießt das Schulkind die Macht über Zeichen und Sym- bole. Diese haben nun einen Sinn und stellen eine Botschaft von Mensch zu Mensch dar. Dieser Austausch mit anderen Menschen ist das eigentliche seeli- sche Interesse des Kindes an der Schrift. Vor allem lernt es für den Lehrer, der ihm diese Welt eröffnet. Das geschieht anfangs noch durch die Kräfte der Nach- ahmung, das Kind ist offen für alles, auch die begleitenden Gefühle ziehen in das Gelernte mit ein. Alles möchte es in Bildern empfinden, auch die Sprache und die Schrift.13 Zur gesunden Entwicklung dieser Symbol-Bedeutungswelt in Bildern muß der Unterricht intensiv beitragen, damit das Kind gesunde bildhafte Begrif- fe entwickeln kann, zum Beispiel von »schön« und »häßlich«, »gut« und »böse«. Die Begegnung mit »richtig« und »falsch« beginnt bereits viel früher: Um den dritten Geburtstag erwirbt das Kind das Ich-Gefühl und die Sauberkeit, indem es an seinem Körper die Grenze zwischen innen und außen erlebt. Doch hat das Kleinkind noch das innere Lebensgefühl: »Alles ist in Ordnung, die Welt ist gut«. Erst mit der geistigen Reife des Schulkindes bekommt das Kind die Möglichkeit, »richtig« und »falsch« selbst zu erkennen. Es beginnt, etwas bewußt zu korrigie- ren. Als Vorschulkind spielte es zwar mit dem absoluten Ernst dieses Alters, doch war alles nur ein Spiel. Mit dem Schulalter kommt der Wille, das Richtige zu lernen. Das Kind sucht die Leitung des Lehrers und kommt unter dieser Füh- rung zu einem gefühlsmäßigen Urteil von »richtig« und »falsch«. Diese werden eher erfühlt als gewußt, etwa in der Rechtschreibung. Alles ist noch mehr von den sympathischen Wachstumskräften geprägt, noch nicht von dem eigentlichen Bewußtsein, zu dem eine gewisse Distanz zur Welt gehört. Dieses tritt erst mit dem nächsten Entwicklungsschritt mit etwa 9 1/3 Jahren ein. Mit dem Schulalter beginnt auch die Auseinandersetzung des Kindes mit der Arbeit, dem Tun in und an der Welt. Auch die »Arbeit« in der Schule hat zuerst den Charakter des Spiels, in Form des Übens. Das junge Schulkind tut beim Üben etwas, was es schon kann, was aber noch bis zur Vollkommenheit zu führen ist. So macht das Üben den Kindern Freude, aber sein Inhalt ähnelt schon ein wenig der Arbeit, dem »Richtig-Machen«. Aus der Gewohnheit und dem Üben der ersten Schuljahre heraus legt der Lehrer das spätere Wissen an.

12 Darauf weist auch Nickel hin (s. o. Anm. 3, S. 231) 13 Vgl. die umfassende Beschreibung von Peter Lutzker: Der Sprachsinn, Stuttgart 1996, z. B. S. 130

139 Eine neue Beziehung zur Welt: Raum, Zeit und Zahl

Vor dem Schulalter ist das Kind insofern raumlos, als es eine angeborene Symme- trie praktiziert; das sieht man zum Beispiel an den Kinderbildern. Diese Phase der Symmetrie, in der das Kind lange Zeit begeistert geometrische Muster malt, hat ihren Höhepunkt um den fünften Geburtstag. Gewissermaßen leiblich steckt die Symmetrie im Kind, sie ist einfach da. Das Kind nimmt sie weder bewußt zur Kenntnis, noch kann es mit ihrer Hilfe etwas gestalten.14 Erst allmählich mit dem beginnenden Schulalter ändert sich das. Um den sechsten Geburtstag wird die Kinderzeichnung räumlich orientiert: Nun wird das Haus in die Mitte des Bildes gemalt. Es »steht« auf dem unteren Rand des Blattes. Die Menschen oder Blumen werden seitlich dazu angeordnet. Die Sonne erscheint regelmäßig in der rechten oder linken oberen Ecke. Später malt das Kind auch den Boden unter und vor dem Haus. Damit entsteht ein Abbild der realen Welt. Auch entwickelt das Schulkind erstmals das Gefühl für »hinten«. »Rechts«, »links«, »oben«, »unten«, »vorne« und »hinten« werden nun erfaßt, mit interes- santen Zwischenstufen: Zuerst muß das Kind noch überlegen, wo die rechte Hand ist. Danach »weiß es, daß es das weiß«. Es muß aber noch überlegen, eventuell suchen und seine Hände anschauen. Später kennt es seinen rechten Arm, muß aber noch beim linken überlegen. Noch später kommt die Gewißheit von »rechts« und »links« für die Arme, und noch später für den rechten und linken Fuß. So entwickelt sich das Raumbewußtsein in den ersten Schuljahren von der Gewohnheit zur Gewißheit. Das Bewußtsein im Raum kann man auch als Untersucher prüfen: Das Kind kann rückwärts hüpfen und dabei den Er- wachsenen weiterhin anschauen. Das ist letztlich eine Erweiterung der Gleichge- wichtsfähigkeiten. Das kleine Kind ist immer wieder den Zahlen begegnet, konnte sie auch schon spielerisch aufsagen. So hat es gesehen, daß acht Rosinen weniger sind als zehn. Nun aber entwickelt es ein Bewußtsein der unterschiedlichen Mengen. Auch das Zahlenbewußtsein entwickelt das Kind durch ein körperliches Bewußtsein.15 Es schreitet die Mengen und kann sich merken, wie viele Schritte es gegangen ist. Dadurch verankert man mathematische Fähigkeiten viel tiefer als durch das rei- ne Lernen. Besonders intensiv geschieht das, wenn der Lehrer die Zahlen dem Kind in Rhythmen darbieten kann. Auch die Zeit bekommt mit dem bewußteren Denken eine neue Qualität: Dem entspricht die Empfindung der Zeit, des »Jetzt«, des »Vorher« und »Nachher«, des »Gestern« und »Heute«. Das Kind erlebt nun bewußt die Gegenwart und kann sie von der Vergangenheit und der Zukunft unterscheiden.

14 Diesen Hinweis verdanke ich Frau Uta Stolz. (Grundlegend wurde dieser Zusammen- hang schon vor langem von Walter Holtzapfel gefunden) 15 Diese Phänomene werden umfassend geschildert von Armin Husemann: Der musikali- sche Bau des Menschen, Stuttgart 21989, bes. S. 69 ff. und 190 ff. sowie 229 ff.

140 Allen geschilderten Vorgängen liegt eine Änderung der Gleichgewichtsemp- findung zugrunde. Wenn man sagt: »Etwas stimmt!«, so drückt man damit aus, daß man ein Gleichgewicht wahrnimmt. Das gilt von jedem »Urteil«, jeder Fest- stellung wie etwa: »Das ist ein Stuhl!«, denn damit stellen wir eine Gleichung zwischen dem gesehenen Gegenstand und dem gewußten Begriff auf. (Noch deutlicher wird der Urteilscharakter bei: »Das ist ein Verbrecher.«) In der begin- nenden Schulreife kommt das Kind zu der sicheren, das heißt bewußten Aussa- ge: »Ich kenne das, ich weiß, worum es sich handelt, ich kann damit umgehen.«

Wie erkennt man die Schulreife?

Bei der Einschulung eines Kindes müssen die Lehrer und der Schularzt prüfen, ob das Kind seelisch und körperlich schon Schulkind ist oder nicht. Dann darf es nicht mehr im Kindergarten bleiben, sondern muß eingeschult werden. Die Aufnahmeuntersuchungen werden von Schule zu Schule etwas unter- schiedlich gehandhabt.16 Eine wesentliche Hilfe kann das Urteil einer Kinder- gärtnerin sein, die das Kind lange Zeit beobachten konnte. Die Berücksichtigung aller Einflüsse auf das Kind – in der pädagogischen Literatur als das »ökologi- sche Konzept« bezeichnet17 – wird an den Waldorfschulen bereits seit langem verwirklicht. Hier soll kurz geschildert werden, wie sich eine Untersuchung abspielen könn- te. Von großer Bedeutung ist der erste Kontakt mit dem Kind. Lehrer und Schul- arzt fragen sich vor allem nach ihrem Eindruck: »Wer bist Du? Woher kommst Du? Was ist Dein Weg? Wie weit bist Du auf Deinem Weg schon geschritten?« Kommt den Lehrern schon der wißbegierige Schüler entgegen, der sich von den Eltern gelöst hat und vom Lehrer etwas lernen will? Oder ist es noch ein Klein- kind, welches noch auf dem Schoß der Eltern sitzen möchte? Man gewinnt einen ersten Eindruck aus der Körperhaltung, den Proportionen: Steht vor einem ein Denker, der still beobachtet, oder ein tatendurstiger Aktivist. Erste Wahrneh- mungen der Temperamente sind möglich. Wie sind die körperlichen Proportio- nen, hat sich das Kind schon gestreckt? Aus der Sicht des Kindes ist entscheidend, daß das Kind diese Schule als seine neue Heimat für eine wichtige Zeit erfährt: »Hier fühle ich mich geborgen. Man versucht, mit mir wirklich in eine Beziehung zu treten, zu erkennen, wer ich bin und was ich im Leben will. Hier kann ich etwas lernen.« Viele Schulen haben getrennte Termine für Lehrer und Arzt. Die Lehrer prüfen unter anderem das Malen, die Fingergeschicklichkeit, das Erkennen und Nach- zeichnen von Formen, das Nachsprechen kleiner Sprüche, das Nachklatschen kleiner Rhythmen. Der Arzt macht neben der üblichen körperlichen Untersu- chung auf Haltungsschäden, Sehfehler oder andere Gebrechen hin die Prüfung

16 Beispiele dafür finden sich bei Flinspach und bei Kummer (s. o. Anm. 8) 17 Vgl. z. B. U. Bronfenbrenner: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart 1981

141 auf Rechts- oder Linkshändigkeit. Besonders aussagekräftig ist es, das Kind Seil- springen zu lassen. Dabei sieht man, wie beschrieben, die Beherrschung der Motorik, des Rhythmus, der zeitlichen Bewegungskoordination und der Raum- vorstellung in kurzer Zeit. Zusammenfassend gesagt geht es nicht um eine Testuntersuchung, sondern um das Aufsuchen einer geistigen Qualität, der Schulreife. Das geschieht anhand von Anzeichen, die das Kind bietet. Im Normalfall werden sich alle Beteiligten einig sein: Die Eltern wissen, daß das Kind in die Schule will, die Lehrer können feststellen, daß sie ein lernwilliges Kind vor sich haben, der Arzt kann untersu- chen, daß das Kind keine Defekte aufweist und körperlich-konstitutionell zum Schulkind geworden ist. Kinder mit Grenzbefunden sollte man möglichst kurz vor der Einschulung nachkontrollieren.

Zu früh und zu spät ist schädlich

Die zeitgerechte Einschulung wird in der Waldorfschule aus folgendem Grund besonders ernst genommen: Das Ziel dieser Schule ist nicht so sehr die Vermitt- lung von Kulturfähigkeiten, sondern die Förderung der individuellen Entwick- lung des jungen Menschen zur inneren Freiheit und Mündigkeit. Der Lehrplan spricht das Kind in jeder Klasse entsprechend seiner körperlichen und seelisch- geistigen Entwicklung an. Dazu muß die Schule dem Kind ablauschen, was es pädagogisch in seinem Lebensalter und seiner Lebenssituation braucht. Im rich- tigen Alter muß man dem Kind die Märchen, die Sagen erzählen. In der richtigen Klasse muß das Kind erstmals der Physik und Chemie begegnen oder in der Oberstufe dem »Parzival«. Die zu frühe wie die zu späte Einschulung wirken sich nicht nur auf die Schullaufbahn aus, indem das Kind entweder überfordert oder gelangweilt wird. Es geht um die Einwirkung in einer besonders prägenden Zeit des heranwachsenden Menschen. Erfahrungsgemäß zeigen sich die Schwierigkeiten erst viel später. Intelligente zu früh eingeschulte Kinder haben in den ersten Schuljahren oft keine Schwierig- keiten. Diese kommen oft erst in der 6. oder 7. Klasse mit plötzlichen Lernproble- men, Schulangst, Schlafstörungen oder anderen Problemen. Während die Klas- senkameraden bereits in der Pubertät und in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt begriffen sind, ist der jüngere Schüler noch Kind. Zum Beispiel kann er in der Algebra den Schritt in die Abstraktion entsprechend seinem Alter noch nicht vollziehen. Auch die sozialen Folgen einer nicht zeitgerechten Einschulung können erheb- lich sein. Es kann eine psychische Belastung bedeuten, immer das jüngste Mit- glied einer Klassengemeinschaft zu sein und die Entwicklung immer ein wenig später als die anderen Schüler zu erleben.

142 Veränderte Kinder verlangen einen anderen Übergang in die Schule

Die auch früher nicht immer leichte Entscheidung, ein Kind einzuschulen oder nicht, wird schwieriger, da die Entwicklung vieler Kinder ungleichmäßig ver- läuft. Ähnlich der Pubertät verlängert sich die Zeit des Zahnwechsels: Einerseits sind die meisten Kinder schon im Kindergarten intellektuell wach und beobach- ten die Welt kritisch, was ihre innere Reife überschreitet. Andererseits fehlt vielen Kindern die soziale Reife, die früher meistens vorhanden war. Sie sind zwar dem Kindergarten entwachsen, in der Schule anfangs jedoch nur unter schützenden Bedingungen zu führen. Wie ein Kindergartenkind müssen sie an die Hand ge- nommen werden, sonst können sie dem Unterricht nicht folgen. Es fehlt an Kraft und Ausdauer, das Stillsitzen fällt immer schwerer. Viele Kinder sind von der Großklasse überfordert, in der Kleinklasse haben sie keine Probleme. Der »Rhyth- mische Teil« des Hauptunterrichts (mit Singen, gemeinsamer Rezitation, Sprech- und Bewegungsübungen), der doch eigentlich wach machen sollte, ermüdet sie. Die Zeit ruft nach neuen Lösungen für den Übergang des Kindes vom Kinder- garten zur Schule. Psychologen sprechen von der Periode »5 – 9« als einer ähn- lich verlängerten Periode wie der Pubertät.18 Im staatlichen Schulwesen plant man z. T. den Unterricht in den Klassen 1 und 2 als Einheit.19 Leider reagiert das staatliche Schulwesen auf die frühe intellektuelle Entwick- lung vor allem mit der früheren Einschulung. Doch muß man fragen: Sind diese Kinder wirklich schulreif? Fördert man nicht die ohnehin überstark vorhande- nen abstrakten Fähigkeiten an Stelle der sozialen Reife. Heißt das nicht, einseitig die begabten Kinder zu begünstigen, die in keiner Schule Probleme hätten? Was geschieht mit den weniger begabten? Mehr und besser qualifizierte Lehrer ste- hen angesichts der leeren Kassen nicht zur Verfügung. So kann man sich des Eindrucks eines Experiments vom »grünen Tisch« aus nicht erwehren. Vor allem stellt man sich die Frage nach der inneren Entwicklung des Kindes nicht. Negative Folgen einer frühen Einschulung wurden kürzlich durch eine Unter- suchung von Bellenberg20 gefunden: »Mit einer vorzeitigen Einschulung steigt demnach sowohl die Wahrscheinlichkeit, überhaupt sitzenzubleiben, als auch die Wahrscheinlichkeit, gleich zwei Jahrgangsstufen wiederholen zu müssen.« Man scheint auch nicht zu beachten, daß in Frankreich mit seiner traditionell frühen Einschulung jeder fünfte Mensch ein Analphabet ist.21 Gerade in unserer Zeit mit ihrer Herausforderung an die kindlichen Lebens- kräfte durch die Umwelt wäre mehr Behutsamkeit am Platz! Man sollte eher eine

18 Persönliche Mitteilung von P. Zimmermann, Herdecke 19 Vgl. Christa Engemann (s. o. Anm. 7). In der Laborschule Bielefeld gibt es längst einen Eingangsbereich der Schuljahre 0 – 2. (Näheres in unserem nächsten Heft.) 20 Gabriele Bellenberg: Früheinschulung – ein Beitrag zur Senkung des Schulaustrittsal- ters? Pädagogik 10/96, S. 56 ff. 21 dpa-Meldung, Badische Neueste Nachrichten vom 17.2.1996

143 spätere als eine frühere Einschulung versuchen. Eine Aufgabe der Waldorfschule könnte darin bestehen, neue Wege für den Beginn der Schulzeit zu finden und den Unterricht in den ersten Klassen noch variabler zu gestalten22 – auch als Gegengewicht zu gutgemeinten Schulversuchen mit noch unbekannten Auswir- kungen. An der Schwelle zum Schulalter geht es darum, die Entwicklung des Kindes ganzheitlich zu erfassen. Damit befindet man sich durchaus im Einklang mit Pädagogen anderer Herkunft, die versuchen, die Entwicklung des Kindes neu zu verstehen.23 Immer wichtiger wird dabei der Blick auf die seelisch-geistige Ent- wicklung des Kindes an der Grenze zwischen Kindergarten und Schule. Man muß erkennen und ausgleichen, wo es seine Verfrühungen und seine Verspätun- gen hat, muß nachholen, wo Defizite auftreten (z. B. in der Sinnesentwicklung). Rudolf Steiner sprach bereits davon, daß das Erziehen zugleich ein Heilen sein müsse.24 In unserer Zeit wird Erziehung mehr und mehr zu einer therapeuti- schen Aufgabe.

Zum Autor: Dr. Karl-Reinhard Kummer, Jahrgang 1947, Studium der Medizin in Berlin, Kinderarzt, 14 Jahre Schularzt an der Waldorfschule in Karlsruhe.

Foto Van Kerckhoven

22 Die Bochumer Waldorfschule hat damit schon einen Anfang gemacht, vgl. Wolfgang M. Auer: Eine alte Schule wandelt sich, in: »Erziehungskunst«, Heft 10/1998, S. 1123 23 Zum Beispiel Philipp Schmid: »Schulreife« im Wandel. Verband der Kindergärtnerin- nen Schweiz, Reihe »Archiv KgCH«, CH-3006 Bern, Brunnadernstr. 30, 1998 24 Rudolf Steiner: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis (GA 302a, Dornach 31983), Vortrag vom 16.10.1923

144 Dirk Rohde Bildschaffende Methoden und ihre Einsatzmöglichkeiten im Chemieunterricht

Mit Spannung kann man seit einem Jahr in der »Erziehungskunst« einen Dis- kussionsprozeß zum Chemieunterricht in der Oberstufe der Waldorfschulen ver- folgen, von einem Einstiegartikel Wolfgang Schads (Heft 3/98) bis zur Skizze eines Gesamtkonzepts von Angelika Kaiser-Kassner (Heft 1/99). Mehrfach wur- den in dieser Diskussion die sog. »bildschaffenden Methoden« erwähnt, aber nicht näher erläutert; auch wurde die Frage gestellt, ob diese Methoden je im Chemieunterricht fruchtbar gemacht worden seien. Da ich dies seit Jahren versu- che, will ich gern Auskunft geben, kann allerdings im gesteckten Rahmen nicht näher auf die hochinteressante Entstehungsgeschichte eingehen. Vielleicht kann das anderswo nachgeholt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde nicht nur die Waldorfschule gegründet, sondern es wurden kurz darauf auch Forschungslaboratorien eingerichtet, in denen an zukunftsweisenden Anregungen Steiners gearbeitet wurde.1 Da ging es um neuartige Medikamente und Präparate für die Landwirtschaft, um neue Möglichkeiten der Energieerzeugung, neue Verarbeitungsweisen für Naturpro- dukte, Pflanzenfarben, Grundlegendes zur Homöopathie und vieles andere. Das Zentrum dieser Forschungen in Stuttgart existierte leider nur ca. drei Jahre, bis es der Inflation zum Opfer fiel. Von den jungen Wissenschaftlern forderte Steiner den Mut, an neue Versuche heranzugehen und neue Phänomene zu schaffen (wie es dann bei den »bildschaf- fenden Methoden« gelang), auch Grenzgebiete wie die Spektralanalyse und die Spurenelemente zu durchdringen und die Kräfte des Lebendigen zu erforschen, die gestaltend in den Lebenserscheinungen wirksam sind.2 Konnte man Spuren des Wirkens dieser Kräfte in Tests sichtbar machen? Einen solchen Test bezeichnet man heute als »bildschaffende Methode«. Da die Natur selbst von Lebenskräften gebildet ist, ist sie bereits ein Bild von ihnen. Nimmt man nun Substanzen aus der belebten Natur, so kann man bei entspre- chender Vorgehensweise neue Bilder mit ihnen schaffen, also quasi Bilder von Bildern. Was dabei genau wie auf welche Substanz wirkt, ist Gegenstand umfang- reicher Untersuchungen geworden und wird bis heute kontrovers diskutiert.

1 Vgl. Hans Kühn: Dreigliederungszeit, Dornach (Phil.-Anthrop. Verlag) 1978, IX. Kapitel 2 Nach Alla Selawry: , Dornach (Philosophisch-Anthroposophischer Verlag) 1987, S. 24 f.; Guenther Wachsmuth: Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken, Dornach (gleicher Verlag) 1964, S. 449

145 Die Methode der Kupfer- chloridkristallisation

Eine dieser bildschaffenden Methoden entwickelte Ehrenfried Pfeiffer. Er er- hielt von Steiner den Rat, Kristallisati- onsvorgänge zu beobachten unter Zu- satz von Pflanzenstoffen und Blut und die Veränderungen dieser Kristallisati- onsvorgänge zu studieren. Pfeiffer fand nun folgende Versuchsanord- nung: Man versetzt eine verdünnte Kupferchloridlösung mit einer in wäß- Bild 1 riger Lösung verdünnten Probe einer zu untersuchenden Substanz, z. B. ei- nem Lebensmittel. Das Ganze kommt auf eine Glasplatte, umgeben von einem Ring, und man läßt es unter kontrollierten Bedingungen eintrocknen. Man ist tatsächlich immer wieder überrascht, wieviel man dabei entdecken kann. Die Bilder bestechen durch eine ausgesprochene Schönheit, und es entsteht eine Fül- le verschiedenster Kristallformen, eisblumenartig, grünlich bis leicht bläulich. Man muß sich erst eine Weile einsehen, bis man typische, wiederkehrende Merk- male entdeckt und Charakteristisches wahrnimmt. Die Methode ist hierbei eine vergleichende, man benötigt mehrere Kristallbilder nebeneinander und kann durch Gewichtung (ein Mehr oder Weniger) Tendenzen ablesen. Um ein Beispiel zu geben: Man lasse Bild 1 und 2 eine Zeit lang unbefangen auf sich wirken. Nun versuche man, sie vergleichend für sich zu beschreiben, etwa nach folgenden Gesichtspunkten: Bei beiden Bildern ist eine Gestaltung zu sehen, die, von einem Zentrum ausge- hend, zur Peripherie hin ausstrahlt. In beiden Fällen sieht man dunkle Linien, die teils stärker, teils schwächer sind. Schaut man sich nun Bild 1 genauer an, so findet man z. B., daß im Zentrum die dunklen Linien (dies sind die Züge der Kristallnadeln) ausgesprochen kräftig sind, zu mehreren parallel laufen und eine deutlich geschwungene Form aufweisen, so daß sie in der Mitte eine Art Raum einschließen. Die Kristallnadeln verzweigen sich nur wenig und bleiben in der Mehrzahl bis zum Bildrand hin klar erkennbar. – Bild 2 dagegen weist ein zusam- mengezogeneres Zentrum ohne einen merklichen inneren Raum auf. Die dunk- len Linien verlaufen recht gerade dem Bildrand zu. Zur Peripherie hin sind sie dann sehr zahlreich und fein, man muß genauer hinschauen, um noch alle zu finden. Die Verzweigungen weisen hier zudem eine Besonderheit auf: Zwischen dem Hauptzentrum in der Mitte und dem Bildrand gibt es eine Reihe von Punk- ten, an denen kurze Kristallnadelbüschel in viele Richtungen zugleich ausstrah- len, so daß sie kleine Nebenzentren bilden. Geht man einen Schritt weiter und versucht die Bilder in ihrer Ganzheit zu

146 erfassen, so kann man beispielsweise zu folgenden Aussagen kommen: Bild 1 wirkt dynamisch, bewegt, kraftvoll, es hat eine starke Ausstrahlung, es er- scheint »aufgeschlossen«. Bild 2 dage- gen ist ruhiger, weniger kräftig, ver- haltener. Bild 1 ist recht einheitlich ge- staltet, Bild 2 zeigt Merkmale der Auflösung dieser Einheit. Nimmt man nun noch das eigene Empfindungsle- ben als »Anzeigeinstrument«, dann lassen sich beispielsweise noch Aussa- gen hinzufügen wie: Bild 1 erzeugt ein inneres Erlebnis, das der musikali- Bild 2 schen Dur-Empfindung ähnelt, wo- hingegen Bild 2 mehr an eine Moll-Stimmung erinnert. Für einige ist es dann an dieser Stelle hilfreich, sich den Bildern weiter mit Fragen zu nähern wie: Welches Bild erinnert eher an eine Morgen-, Frühlings-, Jugendstimmung etc., welches eher an eine solche des Abends, Herbstes, Alters? Wer sich davon angesprochen fühlt, entwickelt hier rasch eine erstaunliche Krea- tivität. Andere dagegen finden dies bereits übertrieben, zu wenig nüchtern, irri- tierend. Aber gleich, wie weit der einzelne hier gehen mag, es läßt sich eigentlich immer ein Konsens herstellen, welches Bild vom wäßrigen Auszug eines jungen Liebstöckelblattes gestaltet wurde und welches auf ein altes, absterbendes Blatt derselben Pflanze zurückgeht.3 Entscheidend bei der Auseinandersetzung mit den bildschaffenden Methoden ist, daß man diese Dinge wirklich tut und nicht ohne eine tätige Auseinanderset- zung mit ihnen über sie urteilt. Ein Sich-Einlassen auf sie ist zunächst notwendig. Man wird dann feststellen, daß es auch hier strenge Gesetzmäßigkeiten gibt, die sich aber weniger im Bereich des Quantitativen abspielen als vielmehr im Bereich des Qualitativen. Und darin liegt das eigentliche Einsatzgebiet dieser Methoden. Es läßt sich ja sofort sagen: Warum soll man denn junge und absterbende Lieb- stöckelblätter aufwendig untersuchen, solche Altersunterschiede sieht man doch den Pflanzen bereits von vornherein so an?! Interessant wird es eigentlich erst da, wo man eben zunächst nichts sieht. Beispielsweise weiß man heute, daß uns Lebensmittel, welche Kristallbilder erzeugen, die mehr Bild 1 ähneln, besser be- kommen, uns mehr Kraft geben und uns gesünder erhalten als solche, die mehr zu Bild 2 tendieren. Biologisch-dynamisch erzeugte Lebensmittel führen in sol- chen Tests zu ersterem. Dabei gibt es aber ein breites Spektrum. Biologisch-dyna- mische Produkte sind ja nicht per se besser als konventionell produzierte, son- dern es spielt auch der jeweilige Boden, das Jahresklima usw. sowie das Können

3 Für die Unsicheren unter den Lesern: Bild 1: junges, Bild 2: altes Liebstöckelblatt

147 des einzelnen Landwirtes eine große Rolle. Mit bildschaffenden Methoden lassen sich nun deutliche Qualitätsunterschiede etwa verschiedener Getreide- oder Saftlieferungen feststellen, was wiederum z. B. für Bäcker ebenso interessant ist wie für den Endverbraucher. Eine Könnerin auf diesem Gebiet ist Frau Balzer-Graf, die ein Laboratorium für bildschaffende Methoden in Frick in der Schweiz betreibt und deren Publikatio- nen sehr beachtet werden.4 Sie hat sich über lange Jahre intensiv diese Methoden angeeignet und ist heute in der Lage, beispielsweise in Doppelblindversuchen herauszufinden, ob ein Apfelsaft aus Demeter-, Öko- oder konventionellem An- bau stammt – im Gegensatz zu ebenfalls an solchen Versuchen teilnehmenden konventionellen chemischen Untersuchungslabors. Solche Versuche sind vor al- lem für die Skeptiker interessant. In einer vertrauensvollen Atmosphäre dagegen kann einem der Landwirt ja gleich sagen, ob und welche Gifte er für den Anbau benutzt oder ob er statt dessen z. B. mit aufwendigeren Fruchtfolgen arbeitet.

Die Steigbildmethode

Neben der Kupferchloridkristallisation gibt es nun auch noch weitere bildschaf- fende Methoden. Bekannt geworden sind vor allem die Steigbildmethode von Lili Kolisko und die Tropfenbildmethode von Theodor Schwenk, aber es existieren auch noch andere Ansätze. Ich möchte mich auf das Schildern der Steigbildme- thode beschränken, weil ich sie im Unterricht bevorzugt einsetze. Im Grunde ist sie der Kupferchloridkristallisation eng verwandt; man nimmt auch hier ver- dünnte Salzlösungen (z. B. von Eisensulfat und Silbernitrat) und setzt in wäßri- ger Lösung verdünnte zu untersuchende Substanzen zu. Nun läßt man aber nicht alle Lösungen zusammen in der Waagerechten auskristallisieren, sondern einzeln nacheinander senkrecht einen Papierstreifen hochsteigen. Die äußeren Bedingungen wie Luftfeuchte und Temperatur werden konstant gehalten. Auch hierbei entstehen schöne, ausdrucksstarke Bilder, deren Interpretation in ähnli- cher Weise erfolgt wie die von Kristallisationen (siehe weiter unten bei den Schü- lerversuchen; als Beispiel sei eine Untersuchung von Meldenblättern wiederge- geben: Bild 35). Es handelt sich also um eine Form der Papierchromatographie6, die von Lili Kolisko dahingehend abgewandelt wurde, daß sie nun mit ihrer Hilfe Wirkun- gen von Kräften nachweisen konnte, die mit den Sinnen sonst nicht oder nur schwer wahrnehmbar sind. Anfangs untersuchte sie damit hoch potenzierte Sub-

4 Ein möglicher Einstieg für Anfänger ist die Bild-Text-Mappe von Ursula Balzer-Graf: Qualität – ein Er-Lebnis, erhältlich beim Forschungsinstitut für Vitalqualität, Ackerstra- ße, CH-5070 Frick 5 aus Magda Engquist: Die Steigbildmethode, Frankfurt a.M. (V. Klostermann-Verlag) 1977 6 Chromatographie ist ein chemisches Verfahren zur Trennung von Stoffgemischen, ge- funden von dem Botaniker M. Tswett (1906)

148 Bild 3 stanzen, deren Wirkung parallel zunächst in Keimungsversuchen (mit Weizen- körnern) geprüft worden war. Später setzte sie die Methode auch ein, um die Wirkung der einzelnen Planeten auf verschiedene Metalle nachzuweisen.7 Insge- samt zielte Lili Kolisko mit ihrer bildschaffenden Methodik in dieselbe Richtung wie Pfeiffer, und so werden heute die Steigbildmethode und die Kupferchlorid- kristallisation z. T. auch gemeinsam eingesetzt, da sie sich in ihren Ergebnissen gegenseitig stützen und ergänzen.

Einsatz bildschaffender Methoden im Unterricht

Was mich anfangs motivierte, den Einsatz bildschaffender Methoden im Che- mieunterricht der 12. Klasse zu versuchen, war die große, bis heute anhaltende Faszination, die die entstehenden Bilder auf mich ausübten.8 Neben der in der

7 Erste Veröffentlichung Stuttgart 1923: Physiologischer und physikalischer Nachweis der Wirksamkeit kleinster Entitäten (wobei sich »physikalisch« auf die Steigbildmethode be- zieht); Neuausg. Dornach 1997 (Bibl. auf S. 111 f.). Später u. a.: Sternenwirken in Erden- stoffen, 5 Bde., 1927-52. – Trotz Skepsis gegenüber Anthroposophie dargestellt von Jean Gebser, »Abendländische Wandlung« (Ullstein, Berlin 1968, Kap. 13). Zusatz d. Red. 8 Für die Einarbeitung in die Kupferchloridkristallisations-Methode bin ich Hajo Knijpenga (Kristallisationslabor am , Dornach) außerordentlich dankbar.

149 Naturwissenschaft ständig zu behandelnden Frage nach den zugrunde liegen- den Wahrheiten (ist etwas richtig oder falsch; warum geschah etwas so und nicht anders; was wird geschehen, wenn diese oder jene Versuchsbedingung geändert wird etc.) berühren diese Bilder auch den Bereich der Schönheit. Die Aussage- kraft eines Bildes beruht weniger auf einer gemessenen Größe als vielmehr auf ästhetischen Qualitäten: schwungvoll oder starr, einheitlich oder zerfallend, aus- drucksstärker oder ausdrucksschwächer – kurz, man nähert sich ihnen auf eine Weise, wie sie sonst in der Kunstbetrachtung üblich ist. Damit sprechen sie aber im Menschen eine andere Ebene an als die Betrachtungen, die sich vorwiegend auf meßbare Größen beziehen, also etwa: 2 Gramm Wasserstoff und 16 Gramm Sauerstoff bilden 18 Gramm Wasser. Zu letzterer stehen wir in einem distanzier- teren Verhältnis als zu ersterer. Nun neigt man leicht dazu, die ästhetische Heran- gehensweise deshalb abzutun und als »subjektiv« nicht nur zu bezeichnen, son- dern zugleich auch zu disqualifizieren.9 Tatsächlich aber sind bildschaffende Me- thoden dennoch auch reproduzierbar und haben einen objektiven Aussagewert, obwohl man dies zunächst nicht erwarten mag. Das zweite Motiv, das mich für die bildschaffenden Methoden einnahm, war, daß ich hier noch den Hauch des frischen Geistes lebendig fand, wie er wohl seinerzeit Anfang der 1920er Jahre von Steiner angeregt wurde. Hier lebt noch etwas, was trotz aller Einwände, die man berechtigt haben kann, eine große erneuernde Potenz in sich birgt, natur- wissenschaftliche Einsatzmöglichkeiten, die noch längst nicht erschöpft sind. Das allein jedoch reicht m. E. noch nicht aus, nun mit diesen Methoden bereits Versuche im Unterricht anzustellen. Sie müssen sich auch sinnvoll in den ge- danklichen Ablauf der Epoche einfügen. Und da war es für mich anregend, zu sehen, wie an der ersten Waldorfschule Steiners Lehrplanangaben zur 12. Klasse umgesetzt wurden. Es heißt da:10 »Nun würde es sich darum handeln, daß man wirklich heraufgeht bis zu den Prozessen, die sich nicht nur im Tier, sondern auch im Menschen finden, daß man spricht von Ptyalin, Pepsin, Pankreatin- Bildung usw.« In alten Epochenheften11 entdeckte ich, daß damals genau hier angesetzt und der Verdauungsweg im Menschen eingehend besprochen wurde – denn genau dort finden sich ja diese Enzyme. Und das ist in der Tat ein guter Einstieg in die Themen der organischen Chemie in der 12. Klasse. Mit Leichtig- keit läßt sich die Gefahr vermeiden, auf die Walter Hiller in »Erziehungskunst«, Heft 7/8-1998, hinweist: »Das Schlimmste, was an den Waldorfschulen passieren kann, ist die Kanonisierung, ist die rückwärts gewandte Fixiertheit auf Unter-

9 Es gibt jedoch Wissenschaftler, die für eine Einbeziehung von »Ästhetik« (umfassend verstanden als »Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnhaften ebenso wie künstlerischen«) in die Naturbetrachtung plädieren, so Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, zitiert bei Olaf Oltmann: Die Blühstile der Pflanzen als Ausdruck von Seelischem, in: »Erziehungskunst«, Heft 6/7 1993, S. 681. Anm. d. Red. 10 Rudolf Steiner in der Konferenz am 30.4.1924, in: R. S.: Konferenzen … in: GA 300c, Dornach 1975, S. 156 11 Für die Möglichkeit, diese alten Hefte einzusehen, bin ich Wolfgang Greiner, Dornach, und Hans Treichler, Stuttgart, zu großem Dank verpflichtet.

150 richtshinweise, die den ersten Waldorflehrern vom Begründer dieser Pädagogik in ganz konkreten Situationen gegeben wurden, die man aber als Glaubenssätze für alle Ewigkeiten fortschreibt, egal, wer da in der Klasse sitzt. Die Hauptforde- rung für die Waldorfschule ist der Lehrer als Zeitgenosse, der wach darauf schaut, was heute Not tut, was heutigen jungen Menschen das notwendige Rüst- zeug vermittelt.« Gerade die Beschäftigung mit Enzymen ist ja ein unverändert aktuelles bioche- misches Thema. Sinnvoll ist es, hierzu nicht allgemein auf den Verdauungsweg einzugehen, sondern sich dabei auf die Eiweiße zu konzentrieren, wie es Steiner auch empfiehlt. Mit dem Eiweiß kann man zugleich Verbindungen knüpfen zu den Anfängen allen Lebens (und damit z. B. an die Zoologie-Epoche der 12. Klasse anschließen), kann man zu den Fragen des chemisch Allgemeinen (den Aminosäuren) und des Spezifischen (und damit zum Individuellen jedes Men- schen) kommen (»Wir wollen einmal die Chemie im innigsten Zusammenhang mit dem Menschen betrachten.«12). Auch zu zeitaktuellen Fragen wie der Gen- technologie läßt sich eine Brücke schlagen. Außerdem ist es möglich, charakteri- stische Unterschiede zwischen Pflanze, Tier und Mensch herauszuarbeiten, wie es Steiner auch anregt. Nun lebt der Chemieunterricht nicht nur von seinen gedanklichen Besonderheiten (die Schoppmann ja bereits detailliert beschrieben hat13), sondern ebenso von seinen Experimenten. Da ist es wiederum günstig, daß sich die Eiweißverdauung recht leicht im Versuch zeigen läßt. Aber dabei stößt man auf ein Hindernis: Man sieht sehr gut das zunächst vorhandene Eiweiß und dann die durch Magenverdauungs-Simulation entstandene Lösung. Eiweiß wird jedoch schrittweise verdaut, und man hat noch keine Aminosäuren vor sich, sondern Zwischenstufen. Das kann man nun natürlich als Lehrer konstatieren und auch anderweitig herleiten. Ich finde es aber befriedigender, hier die Kupfer- chlorid-Kristallisation einzusetzen zur Untersuchung der verschiedenen Pro- dukte und damit einen anschaulich-experimentellen Weg einzuschlagen – ähn- lich, wie ihn Lili Kolisko aus dem damaligen Chemieunterricht schildert:14 Bei der Besprechung des Bleis z. B. führte sie die Schüler der oberen Klassen mit bildschaffenden Methoden an die Fragestellung heran. So beginne ich beim rohen Hühnereiweiß, lasse dann die Schüler experimentell eine Pepsin-Verdauung durchführen, und anschließend werden beide Stoffe von den Schülern mit der Kupferchloridkristallisation untersucht. Es ist immer wie- der erstaunlich, wieviele gute Ergebnisse entstehen, obwohl die Schüler mit die- ser sehr empfindlichen Methodik zum ersten Mal umgehen und die äußeren Bedingungen keinesfalls optimal sind. Dabei fielen die Ergebnisse des rohen Eiweißes bisher unterschiedlich gut aus (weil es für den Anfänger schwierig ist, die hinderliche Denaturierung durch das Kupfer als Störfaktor auszuschalten),

12 wie Anm. 8 13 Reinhard Schoppmann: Auf der Suche nach dem Konsens – Zum Chemieunterricht an der Waldorfschule, in: »Erziehungskunst«, Heft 10/1998 14 Lili Kolisko: Eugen Kolisko – ein Lebensbild, Manuskriptdruck 1961, S. 347

151 während die Pepsin-Verdauungsbil- der in der Regel durchweg gut gelin- gen. Hieran läßt sich dann auch die Reproduktivität der bildschaffenden Methoden besprechen. Die Arbeits- weise selbst hat m. E. bereits einen ho- hen pädagogischen Wert, weil man äu- ßerst sorgfältig und behutsam vorge- hen, sehr sauber arbeiten, und warten können muß: Ein Experiment dauert 24 Stunden und führt damit bereits in die ganz andere Arbeitsweise in der Organik ein, wo häufig nicht so rasch Bild 4 etwas geschieht wie in der Anorganik. Am nächsten Morgen können es die Schüler zumeist gar nicht abwarten, ihre Glasplatte aus dem Kristallisations- schrank zu holen, in dem die Lösungen über Nacht eingetrocknet sind. Die Er- gebnisse legen wir dann auf einen Overhead-Projektor zur gemeinsamen Be- trachtung. Hierbei wird ähnlich vorgegangen, wie es weiter oben am Beispiel der Liebstöckelblätter beschrieben ist, aber es läßt sich dies naturgemäß auch vielfäl- tig variieren. Wesentlich ist, daß sich der Blick dafür schärft, daß das Pepsin- verdaute Eiweiß Bilder erzeugt, die gestaltungsärmer sind als die des rohen Eiweißes, die zugleich aber noch zentrierter und reichhaltiger sind als die von Salzen oder reinen Aminosäuren (Bild 4 bis 7). Man lasse wieder die vier Bilder unbefangen auf sich wirken: Die Kristallna- deln in Bild 4 sind deutlich stärker als in Bild 5, sie ergreifen kräftig das gesamte Bild bis zum Rand, sind stark geschwungen, und in der Mitte kommt es im Zentrumsbereich zu einer größeren Innenraumbildung. Im Gegensatz dazu sind die Kristallnadelzüge in Bild 5 feiner, die Abstände zwischen ihnen werden grö- ßer, sie dünnen zum Rand hin aus, ja, es wirkt so, als würde überhaupt die ganze Fläche nur mit Mühe vom Zen- trum aus bedeckt. Es ist aber noch ein Zentrum vorhanden, und das Bild wirkt einheitlich, es ist eine übergrei- fende Ordnung sichtbar. Im Gegensatz dazu zeigt Bild 6, daß reines Kupfer- chlorid dieses Gestaltungsniveau nicht zu erreichen vermag. Zwar kann man bei günstigen Bedingungen auch hier noch ein Hauptzentrum erhalten, aber es entstehen zahlreiche weitere kleine Zentren, von denen kurze Kristallna- Bild 5

152 deln in alle Richtungen ausstrahlen. In einzelnen randlichen Bereichen bilden sich unabhängig vom übrigen Bild ei- genständige Salzkristalle, und größere Teile bleiben hier sogar ganz unbe- deckt. Die Einheitlichkeit löst sich auf. In ähnlicher Weise fallen Bilder von reinen Aminosäuren aus, wie aus Bild 7 ersichtlich. Im Prinzip ähnliche Bil- der wie Bild 7 kann man erzielen, wenn man an die Pepsin-Verdauung ein Trypsin-Verdauungsexperiment anschließt und diese Lösung ebenfalls mit der Kristallisationsmethode unter- sucht. Bild 6 Die Besprechung solcher Bilder im Unterricht ergibt in der Regel recht rasch folgende Resultate: Bei der Verdauung wird (Hühner-) Eiweiß so weit aufgelöst, daß immer salzähnlichere Produkte entstehen, und dabei ergeben sich Zwi- schenstufen. Zugleich sind organische Stoffe, je näher sie dem Leben stehen, von einer übergeordneten Einheit gestaltet, während leblose Salze zum Atomisieren neigen. Diese Urteile müssen nicht übernommen werden, sondern können nun selbständig aus der Anschauung heraus gebildet werden, zumal sich auf die selbst gemachten Erfahrungen der Schüler mit der Kristallzucht in der 10. Klasse zurückgreifen läßt. Die Beteiligung der Schüler an diesen Gesprächen ist oftmals überraschend: Diejenigen, die sich in den üblichen Bahnen der Kausalitäten gut zurechtfinden, sind z. T. verwirrt und erstaunt, daß man auch so an eine Frage- stellung herangehen kann, während andere, die sich sonst eher zurückhalten, sich plötzlich angesprochen fühlen und sich interessant äußern können. Dies ermutigt mich jedes Mal wieder, die bildschaffenden Methoden punktuell im Chemieunterricht der 12. Klasse ein- zusetzen. Im weiteren Verlauf der Epoche kann man dann auch Eiweiß mit Salz- säure bis zu den Aminosäuren auf- schließen und in üblicher Form chro- matographisch auftrennen. Zur Ein- führung des Prinzips der Methode lasse ich gerne die Schüler Blattextrak- te mit Tafelkreide chromatographieren (nach Tswett), so daß weitere Chroma- tographien besser verstanden werden. Zum Abschluß dieses Themenkreises greife ich dann das Thema lebendige Bild 7

153 und leblose Substanz wieder auf, das (wie oben ausgeführt) bereits ange- schnitten wurde, und mache die Schü- ler mit der Steigbildmethode nach Lili Kolisko vertraut. Als Untersu- chungssubstanzen nehmen wir zwei Extreme, wie Korn und Stroh,15 stellen von beiden wäßrige Auszüge her und geben in jeweils 0,6 ml Probenlösung ein Chromatographiepapier (senk- recht aufgestellt) hinein. Sind die Säfte aufgestiegen, so lassen wir zunächst Silbernitrat- und dann Eisensulfatlö- sung nachsteigen. Das typische Ergeb- nis eines solchen Schülerversuches ist auf Bild 8 und 9 zu sehen. Bild 8 Wenn man sich klarmacht, daß wäh- rend des Getreidewachstums zunächst die ganze Pflanze voller Leben ist und überall Stoffwechselaktivität zeigt und dann diese vitalen Vorgänge sich ganz auf die Getreidekörner konzentrieren, das Leben sich also punktförmig zusam- menzieht und zugleich der Rest der Pflanze nach und nach abstirbt, so kann man eigentlich gleich erraten, welches der beiden obigen Bilder zu welcher Substanz gehört. Die Schüler zumindest erkennen dies auf Anhieb und können auch die Kriterien benennen: reichhaltige Strukturen, fein ausgeprägte Formen, beson- ders in der Mittelzone eine größere farbige Differenziertheit mit Neigung zu vertikalen Linien – und andererseits ein ruhiges, wenig charakteristisches Bild mit verwaschenen Farben und Neigung zur Horizontalen. Wieder sehen wir

Bild 9 also, wie Substanzen, die vor kurzem noch voller Leben waren und neues Leben aus sich hätten hervorbringen können, bei der Prüfung mit bildschaf- fenden Methoden zu sehr dynami- schen, charakteristischen Bildern füh- ren, während andererseits mit organi- schen Substanzen, die schon in die Nähe des Mineralischen geraten sind, Bilder entstehen, die nur noch wenige Unterschiede zu den Kontrollen auf- weisen (wie sie hier durch Zugabe von Wasser ohne Zusatz von Silbernitrat und Eisensulfat herzustellen sind). Le-

15 Diese hilfreiche Anregung verdanke ich Fritz Balzer, Amönau

154 bensprozesse sind imstande, aus unbelebten Substanzen eine ganze Fülle von Formen entstehen zu lassen, wie sie in der unbelebten Natur weder der Qualität noch der Quantität nach vorkommen. Dies eröffnet Ausblicke in vielerlei Richtungen: zur gesamten Kohlenstoffche- mie ebenso wie zu weiteren Charakteristika der Chemie des Lebendigen; zu den Prozessen des Entstehens, Vergehens und neuerlichen Entstehens lebendiger Formen und auch zu aktuellen Fragen wie der Gentechnologie und der Nah- rungsmittelqualität. Ein enger Zusammenhang mit dem Menschen läßt sich her- stellen. Als Frau Balzer-Graf ihr Forschungslabor noch ganz in der Nähe von Marburg hatte, haben wir einmal einen Ausflug dorthin unternommen. Die Schüler waren von der Aktualität und Wichtigkeit der dort experimentell unter- suchten Fragestellungen ebenso beeindruckt wie von der Persönlichkeit der For- scherin. So weit zu meinen bisherigen Versuchen mit bildschaffenden Methoden im Unterricht. Vieles ist recht knapp dargestellt und erzeugt bei Fachleuten sicher- lich manche Frage, die im direkten Gespräch näher geklärt werden muß. Daß diese Methoden aber »der natürlichen Kritik auch nur unserer Oberstufenschü- ler« nicht standhalten könnten, wie Schad16 meint, entspricht nicht meiner Erfah- rung. Im Gegensatz zu unserer eigenen kritischen Haltung flattern mir unter- dessen sogar Angebote einer konventionellen Chemie-Lehrmittelfirma ins Haus, wo mir für teure 230 DM die Grundausstattung für Rundchromatogramme nach Runge angeboten werden mit der Begründung, daß die Struktur und Schönheit ihrer Farben faszinieren. Voll stimme ich dagegen Schads Aufruf zum Gespräch zu, das alle Betroffenen gründlich miteinander führen müßten. Ich möchte dazu aber nicht nur an die Chemielehrer appellieren, sondern auch an diejenigen, die an entsprechenden Fragen forschen. Die krisenartige Situation des Chemieunter- richtes an Waldorfschulen (sofern man sie als eine solche begreift) ist zugleich auch eine Krise der anthroposophischen Naturwissenschaft. Deshalb sollte der Kreis der Diskutanten ein möglichst großer und bunter sein. So möchte ich herz- lich einladen zum nächsten Chemielehrertreffen am 1./2. Oktober 1999 in Mar- burg! Es wäre ein großer Gewinn für die Sache, wenn wir gemeinsam inhaltlich weiterkämen.

Zum Autor: Dirk Rohde, geb. 1956; Studium der Biologie, Chemie und Ethnologie in Marburg, Seattle/USA, Costa Rica, Basel und Freiburg; naturwissenschaftliches Studien- jahr in Dornach/Schweiz; berufliche Tätigkeiten in verschiedenen ökologischen Aufga- benfeldern. Seit 1988 Oberstufenlehrer für Biologie und Chemie an der Freien Waldorf- schule Marburg. Verheiratet, Vater von zwei Kindern.

16 Wolfgang Schad: Zum Chemie-Unterricht in der Waldorfschule, in: »Erziehungskunst«, Heft 3/1998, S. 268

155 Udo Kemme Schritte zu einem Verständnis der Landschaft Gesichtspunkte zur Bepflanzung des Schulgeländes

Der Anspruch, den die Waldorfpädagogik in bezug auf die Ausgestaltung des Unterrichts an sich stellt, kann sich auch auf dem Schulgelände und im Schulgar- ten widerspiegeln. Schulgebäude und Gelände kann man als Einheit sehen, in der sich Schüler, Eltern und Lehrer begegnen, wo verschiedene Tätigkeiten aus- geübt werden (Unterricht, gemeinsames Arbeiten, Theater, Feiern usw.) Das Schulgelände gehört zum Landschaftsraum. »Landschaft« ist in unserer zivilisierten Welt immer schon vom Menschen gestaltet. Die »Naturlandschaft« ist eher ein »Naturzusammenhang« in ursprünglicher, d. h. vom Menschen nicht geprägter Gestaltung, allein aus den Naturkräften heraus – ein Zusammenklang von Bodenverhältnissen, Wärme, Licht, Feuchtigkeit, Pflanzen- und Tiergesell- schaften, die sich zu einem Bild zusammenschließen. Die Kulturlandschaft ent- steht aus diesem Bild durch die Intentionen der Menschen, die in ihr leben und sie dadurch mitgestalten – sei es aktiv und bewußt, sei es dadurch, daß sie gedan- kenlos geschehen lassen, was der Landschaft widerfährt. In der Kulturlandschaft spiegeln sich »Bilder«, die der Mensch in seinem Bewußtsein trägt und aus de- nen heraus er gestaltend tätig wird. Ein Bauer älterer Zeit konnte einen Reichtum an solchen Bildern und ihren Zusammenhängen in sich tragen – dementsprechend reich gestaltete sich die Landschaft. Hat der Mensch aber nur einen bestimmten Zweck im Bewußtsein, so entsteht eine Monokultur, und die Landschaft verödet.1 Im glücklichen Fall hingegen entsteht ein neues, reicheres Gesamtbild. Machen wir uns ein »Bild« von einem alten, inzwischen beinahe zerstörten Landschaftsraum, nämlich der schleswig-holsteinischen »Knicklandschaft« (»Knick« = Hecke). Dieses Bild kann hier allerdings nur angedeutet werden und ist somit lediglich als ein Aspekt zu verstehen. Schleswig-Holstein wird bekannt- lich von Nord- und Ostsee umschlossen. Die Marsch- und Moränenlandschaft, von Meer und eiszeitlichen Gletschern geprägt, hat demzufolge auch besondere Wind- und Wärmeverhältnisse. Besonders die Herbst- und Frühjahrsstürme aus Nordost oder Nordwest haben die ackerbauenden Menschen früh veranlaßt, das Land mit einem System von Windschutzhecken zu überziehen, welche die schä- digenden Auswirkungen der Winde (Austrocknung des Bodens, Bodenerosion

1 Vgl. Jochen Bockemühl: Sterbende Wälder – eine Bewußtseinsfrage. Schulung an Natur- zusammenhängen und Wandel der Lebensweise, Dornach 21985

156 durch Windabtrag) verhinderte. Neben dieser mehr mechanischen Schutzfunkti- on ist dabei ein völlig neues Element in die Kulturlandschaft gekommen. Nachdem die Hecken sich ausgewachsen hatten – sie werden ja alle acht Jahre »auf den Stock gesetzt« –, wurden sie zur Ursache eines vielfältigen Lebens, das sich erst dadurch, daß der Mensch Hecken pflanzte und pflegte, entwickeln konnte. So bildet z. B. die Heckenrose ein besonderes Element innerhalb der Hecke. Durch ihre blaßrote oder weiße Blüte bringt sie eine bestimmte Farbqualität in ihre Umgebung. Farbe und Duft bewirken, daß Insekten hinzukommen, die in dem Blütenraum ihre Lebensgrundlage finden. Die Pflanze ist einerseits Aus- druck der auf sie wirkenden Umgebung. Sie gestaltet sich nur so aus, wie der Umgebungscharakter es zuläßt. Ein Löwenzahn, der auf einem sonnigen, trocke- nen und mageren Standort wächst, wird eine viel feinere und kleinere Blattge- stalt haben als eine Löwenzahnpflanze, die auf dem feuchten, fruchtbaren Boden in der Nähe eines beschatteten Komposthaufens wächst. Die Pflanze bekommt dadurch einen standortcharakteristischen Ausdruck, welcher andererseits bei einem beseelten Wesen ein bestimmtes Innenleben erweckt – nicht nur bei der Insektenwelt, sondern auch bei höheren Tierarten. Der einfache, weithin klingen- de, in immer gleichbleibender Reihenfolge ertönende Gesang der Goldammer und der auf- und abschwingende, jubilierende Gesang der Feldlerche aus der Himmelsbläue heraus sind Ausdruck vom beseelten Leben einer Landschaft. Am Abend dann, wenn die Erde still zu werden beginnt, erschließt sich dieser Ausdruck durch ganz andere Erscheinungen. Im Dämmerlicht gewahren wir ein Reh im Schutze der Hecke, am Feldrand äsend. Der Feldhase, der am Tage in ihrem schützenden Halbdämmer geruht hat, macht sich auf seine langen Beine, um im nahen Kleefeld Nahrung zu suchen. Ein Igel schnauft und rumort im Dickicht der Hecke, schmatzend macht er sich über die süßen Früchte der Wald- erdbeere her, die im Heckengrund wächst. Wir beobachten eine Fasanenhenne, wie sie ihre Jungen zurück ins schützende Dickicht führt, derweil der bunt schil- lernde Fasanenhahn laut warnend vor unseren Füßen aufflattert und sich schwerfällig mit schnellem Flügelschlag emporhebt, um dann im schaukelnden Segelflug ein paar hundert Meter weit davonzufliegen. Wir können an solchen Wahrnehmungen erkennen, wie der Naturzusammenhang durch die interessier- te Hinwendung des Menschen erhöht, veredelt und zur Kulturlandschaft wird, in der auch neue Tierarten heimisch werden. Der Naturzusammenhang be- kommt hier durch die Tätigkeit des Menschen eine besondere, auf natürliche Weise nie sich bildende Struktur; sie entwickelt sich nur durch die »anstoßende«, bewußte menschliche Tat. Wir können festhalten, daß die Pflanze in ihrer arttypischen und individuellen Ausgestaltung Ausdruck ihrer unmittelbaren Umgebung ist. Das Tier ist auf- grund seiner Organisation existentiell mit dem verbunden, was im Landschafts- bild seinem eigenen Seelenleben entspricht. Durch seine äußere und innere Be- wegungs- und Ausdrucksfähigkeit beseelt das Tier das Landschaftsbild. Der

157 Mensch als bewußtes seelisch-geistiges Wesen tritt handelnd und gestaltend in diesen Zusammenhang ein. Das heißt – und darauf kommt es an – es hängt letztlich von uns ab, inwieweit der uns umgebende Lebenszusammenhang zu einer reichen, vielseitig besiedelten und zu nutzenden Landschaft wird. Diese Aufgabe liegt in der Verantwortung, die der Mensch aufgrund seiner Entwick- lung zum Bewußtsein nun einmal der Erde gegenüber hat. Wenn nun die Menschen aufgrund äußerer Zivilisationsbedingungen (die sie ja wiederum selber hervorgebracht haben) nur abstrakte oder egoistisch be- stimmte Bilder in sich tragen – oder überhaupt keine –, wie soll die umgebende Landschaft da vielseitig, schön und gesund sein? Ein Blick aus dem Fenster im Ruhrgebiet sagt alles. Gerade im Ruhrgebiet – und die Wittener Schule liegt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets – stoßen wir auf diese Einseitigkeit: Kulissenhafte, zweckgebun- dene Landschaften umgeben uns. Schulgärten, die meisten Hausgärten, Schre- bergärten, öffentliche Anlagen usw. sind nach mehr oder weniger einheitlichen Gesichtspunkten eingerichtet und gestaltet. »Pflegeleicht« muß unser näherer Lebensraum sein, und damit ist Eintönigkeit vorprogrammiert. Wir sehen auch hier natürlich, wie die Inhalte des menschlichen Bewußtseins auf die Umgebung wirken und sich in ihr spiegeln. Die gewordene Landschaft ist ja im stärksten Maße auch Ausdruck des herr- schenden Zeitgeistes. Sie ist bei aller Dauer etwas Momentanes, das sich mit der Zeit und durch sie entwickelt und verändert – es sei denn, wir setzen bewußte Akzente dagegen (z. B. durch Ausasphaltierung des Schulgeländes und Einrich- tung einer permanenten Schülerausstellung von Großplastiken, die im Kunstun- terricht hergestellt wurden, in Kombination von Wasserspielen und Spielgerä- ten). Wir haben es nun zwar unter den oben genannten Gesichtspunkten mit dem bildgewordenen Augenblick zu tun, der sich vor unseren Augen ausbreitet. Aber dies stimmt nur bedingt. Schauen wir die uns umgebende Landschaft nämlich differenzierter an, so bemerken wir, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich durchdringen und ein Bild auftritt, das wir Erscheinungszusammenhang nennen können. Darauf können uns scheinbar nebensächliche Wahrnehmungen führen. Wie oft passiert es uns, daß wir an einer Ampel warten müssen. Kurz schweift der Blick ins Umfeld. Wir sehen eine etwas ungepflegte Grünanlage am Straßen- rand, einige niedrig und spindelig gebliebene Ligustersträucher, graugrün, ver- schmutzt vom Straßenstaub; einige Büschel vom einjährigen Rispengras zwi- schen den Bordsteinen in den mit Straßenschmutz gefüllten Fugen. In der Mitte des Beetes stehen drei Hainbuchen mit graubraunem, trockenem Vorjahreslaub. Ein junger Bergahorn bahnt sich einen Weg durch das Gestrüpp des Ligusters. Hinter dieser Anlage, die das Auge blitzschnell erfaßt und erkundet hat, kann man vielleicht gerade noch die Platten des angrenzenden Fußweges sehen, der wiederum von einem alten schmiedeeisernen Geländer abgegrenzt wird. Beim

158 Weiterfahren bemerken wir dann, daß das Geländer zu einer Eisenbahnbrücke gehört. Die darunter verlaufenden Gleise sind rostig, junge Robinien wachsen im Gleisschotter … Man braucht das Bild nicht weiter auszumalen. Wir sehen, wie viele unterschiedliche Zeitelemente sich zu einem Erscheinungszusammenhang gefügt haben, der fast etwas Dramatisches hat, wenn man sich klar darüber wird, von welchen Impulsen die Elemente dieses Bildes überhaupt herrühren. Aber nicht nur das gegenwärtige Bild der Landschaft muß von uns betrachtet werden, so wie es durch alle Kulturimpulse bis heute entstanden ist, sondern auch was als ursprüngliches Gestaltungsprinzip im Naturzusammenhang wirk- sam ist. Selbst der nach außen für unsere Augen wildeste Urwald ist in all seinen Berei- chen ein äußerst empfindlicher, einem wohlgeordneten Stoffwechsel- und Le- benskreislauf unterworfener Organismus. Ein deutlicher Unterschied besteht in der Artenzusammensetzung, die wir einmal am Urwaldsaum finden, dann wie- der in den Wipfeln der Bäume oder am Wurzelgrund im Waldesinneren. Was da als Eintönigkeit im dunkelgrünen Dämmer sich unterscheidet vom quirligen Leben am Waldessaum, zeigt jeweils eine ganzheitliche Prägung im Zusammen- spiel einer Vielfalt.2 Diese Bilder sind Abbilder des jeweils vorherrschenden Gestaltungsprinzips, das nie vollkommen in Erscheinung tritt. Es bindet quasi die Lebens- und Todes- vorgänge, die Auf- und Abbauprozesse, wie sie auf den verschiedenen Ebenen des kreatürlichen Daseins miteinander verflochten sind. Wie können wir nun die gewonnenen Erkenntnisse auf dem Schulgelände so umsetzen, daß es für den naturwissenschaftlichen Unterricht, für fächerübergrei- fende naturwissenschaftliche Epochen (z. B. Chemie, Biologie, Ökologie, Geolo- gie bzw. Geographie, Heimatkunde …) sinnvoll zu nutzen ist? An der »alten« Wittener Schule ist bei der Gestaltung des Schulgeländes versucht worden, die Aspekte der umgebenden Landschaft miteinzubeziehen. Auf dem etwa einen Hektar großen Gelände befinden sich fünf kleine Klassen- häuser, ein Saalbau und eine Turnhalle. Zwischen den Gebäuden ist viel Raum, der nun nach den oben genannten Gesichtspunkten gestaltet bzw. bepflanzt wur- de. Allerdings ist unser Schulgelände nach allen Seiten offen und für jeden zu- gänglich; entsprechend groß sind daher auch die Zerstörungen, die nach dem Schulbetrieb durch spielende Kinder oder staudenraubende Zeitgenossen ange- richtet werden. Unser Schulgelände ist also Spiel- und Bewegungsraum für Schule, Eltern und Menschen aus dem Wittener Raum. Die Leitidee bei der Gestaltung war, die verschiedenen Anforderungen zu einem Bild zusammenzufassen. Dabei mußte vieles berücksichtigt werden. Wie nun dem Bedürfnis der spielenden Kinder entsprochen wurde, der »Zieraspekt« des Geländes berücksichtigt worden ist, soll hier nicht weiter ausgeführt werden.

2 Genauer ausgestaltet sind diese Bilder von Andreas Suchantke: Sonnensavannen und Nebelwälder, Stuttgart 21992. Ders.: Der Kontinent der Kolibris, Stuttgart 1982

159 Es bestand aber durch die gegebene Gliederung des Geländes die Gelegenheit, ein begehbares, begreifbares »Bilderbuch« zu schaffen, einen kleinen Land- schaftsraum, der die umgebende Landschaft in kleinen, überschaubaren Einhei- ten zusammenfassen kann. Was dabei herauskam, ist nur auf den ersten Blick befriedigend, kann aber für die oben geschilderten Aufgaben recht gut genutzt werden, wenn man den um- liegenden großen Landschaftsraum miteinbezieht. Leider ist in diesem Zusam- menhang anzumerken, daß aufgrund der Umweltbelastungen die natürlichen, standortgemäßen Pflanzengesellschaften besonders in Ballungszentren, wie bei uns im Ruhrgebiet, recht eintönig geworden sind. Viele empfindliche Pflanzenar- ten, vor allem Staudengewächse, gehen unter den heutigen Lebensbedingungen ein. In Nordrhein-Westfalen standen 1988 von den 1506 Farn- und Blütenpflan- zen 566 Arten, also mehr als ein Drittel, auf der Roten Liste. 73 Pflanzenarten galten danach als verschollen, und 134 standen kurz vor dem Aussterben. Unser Schulgelände gehört ursprünglich zur Hartholzaue der Ruhr, die nur etwa fünfhundert Meter weiter südlich ihr heutiges Bett hat. Diese Hartholzaue ist nun die Leitidee für den Baumbewuchs geworden. Die Hartholzaue besteht vorwiegend aus Eichen, Eschen, Ulmen. Von dem harten Holz der bestandbildenden Bäume hat sie ihren Namen. Sie zeichnet sich durch großen Artenreichtum aus. Bäume: Stiel-Eiche, Feld-Ulme, Esche, Flatterulme, Feld-Ahorn, Berg-Ahorn, Winter-Linde, Traubenkirsche. Sträucher: Weißdorn-Arten, Schwarzdorn, Roter Hartriegel, Pfaffenhütchen, Hasel, Gewöhnlicher Schneeball, Kreuzdorn, Rote Heckenkirsche, Stachelbee- ren, Waldrebe, Hopfen. Stauden: Große Brennessel, Gundermann, Kletten-Labkraut, Knoblauchrauke, Geißfuß, Rote Lichtnelke, Kratzbeere, Gefleckte Taubnessel, Efeublättriger Eh- renpreis, Buschwindröschen, Goldnessel, Frauenfarn, Wurmfarn, Trichterfarn, Wald-Ziest, Mädesüß und verschiedene Sumpfseggen (Gräser). Aus diesem Pflanzenzusammenhang wurde nun ausgesucht und angepflanzt. Nach Süden, zur großen Straße hin, wurde ein Wind- und Lärmschutz aufge- baut. Die Südlage und der Straßenasphalt, der die Wärme reflektiert, hatten allerdings mit einer Auenlandschaft wenig zu tun. Sie entsprechen aber der Kli- masituation der Härtlingsrücken unserer heimischen Ruhrsandstein-Mittelge- birgslandschaft, die wir nur wenige Meter südlich der Ruhr im »Muttental« fin- den. Diesem Landschaftsaspekt entsprechend haben wir dann die Baum- und Strauchgesellschaften angepflanzt: Stiel-Eiche, Rot-Buche, Feld-Ulme, Eiche, Ulme, Bergahorn, Hainbuche, Hasel, Salweide, Weißdorn-Arten, Pfaffenhut, Schneeball usw. Der nördliche Heckenrand ist entsprechend der Hartholzaue bepflanzt und führt zu zwei Schulteichen, einem Feuchtgebiet mit entsprechenden Teich- und Sumpfpflanzen und dem dazugehörenden lockeren Baum- und Strauchbestand. Nach Norden hin steigt das Gelände um eineinhalb bis zwei Meter an; entspre-

160 Landschaftsbilder aus Schleswig-Holstein: Marschinsel Nordstrand, Damm. Die weiten, kahlen Flächen der Marschen an der West- küste des Landes stehen in extremem Kontrast zu den vielfältigen, hügeligen Möränen- landschaften in Ost-Holstein.

Grundmoränenlandschaft

161 System der Windschutzhecken (sogenannte »Knicks«, daher »Knicklandschaft«). Diese Hecken schützen nicht nur das Land vor der Erosion durch den ständigen scharfen Wind, sondern bieten auch einer Vielfalt von Pflanzen und Tieren eine Heimat. Feldhecke, ein reicher Lebensraum Feldulme

162 Roggenfeld mit Bäumen und Wald – ein Beispiel für eine vom Menschen abwechslungs- reich gestaltete Landschaft

Das Schulgelände der Rudolf Steiner Schule Witten I wurde so bepflanzt, daß es wie ein begehbares, begreifbares »Bilderbuch« die umgebende Landschaft in kleinen, überschauba- ren Einheiten spiegelt.

163 chend trockener wird der Boden. Zwischen zwei Schulhäusern, verbunden oder getrennt durch einen »Waldpfad«, befindet sich ein klassischer Eichen-Hainbu- chen-Mischwald mit der entsprechenden Strauch- und Staudenschicht. Hinter Saal und Turnhalle haben wir, da es dort sehr schattig und still wird (Lehmab- bruch), einen »Waldrand« unserer einheimischen Laubmischwälder angelegt. Dazu kommen jetzt die verschiedenen Staudenbeete mit ausländischen Zierstau- den- und Trockenstaudenanlagen mit Bruchsteinmauern, wo wir auch meditera- ne Pflanzengesellschaften angesiedelt haben. Vor fünfzehn Jahren wurde das Gelände nach den oben geschilderten Gesichts- punkten angelegt. Heute können wir praktische Botanisierungsübungen an na- turnahen Standorten machen, im Winter die Bäume durch Knospen und Zweige bestimmen, Beobachtungsübungen durch genaues Abzeichnen durchführen usw. Und wir können über das Jahr hin den Lebenszyklus dieser naturnahen Standorte beobachten. Auf dem Schulgelände bereiten wir unseren fächerübergreifenden Chemie-, Biologie- Geologie- und Ökologie-Unterricht vor. Hier lernen die Schüler die Pflanzengesellschaften und Individuen kennen, die sie dann in der großen Epo- che (siehe dazu den anschließenden Bericht) vier Wochen lang von 8 bis 16 Uhr draußen in der umliegenden Landschaft aufsuchen können.

Zum Autor: Udo Kemme, Jahrgang 1955, Waldorfschule in Bremen. Ausbildung zum Krankenpfleger in Herdecke. Arbeit in der Altenpflege in Dortmund. Studium am Institut für Waldorfpädagogik in Witten-Annen (Klassenlehrer, Gartenbau). Naturwissenschaftli- ches Studienjahr in Dornach (Nat. Studienjahr). Seit 1984 Lehrer für Gartenbau, Geogra- phie und Ökologie an der Rudolf Steiner Schule Witten I. Verheiratet, 4 Kinder.

164 Rudolf Steiner Schule Witten I: Zur großen Straße hin wurde ein Wind- und Lärmschutz aufgebaut, mit Bäumen und Sträuchern, wie sie sich auf den Rücken des Ruhrsandstein-Mittelgebirges finden.

Fächerübergreifender Unterricht in der 12. Klasse Ein gemeinsames Projekt von Geologie, Chemie und Biologie

An immer mehr Waldorfschulen wird vor mann, der hochspezialisiert seine Arbeit tut, allem in der Oberstufe versucht, die Routi- ohne das Ganze zu überblicken, vielmehr ne des wöchentlich wiederkehrenden Stun- Menschen, die gelernt haben, in Zusam- denplans und der fachgebundenen Arbeit menhängen zu denken und sich initiativ in im Klassenzimmer zu durchbrechen. So wechselnde Situationen hineinzustellen. wurde im September 1997 in der »Erzie- So wollten wir fächerübergreifenden Un- hungskunst« von Rüdiger Iwan ein päd- terricht erproben, neue Erfahrungen ma- agogisches Experiment vorgestellt: »Unter- chen, Unternehmungen starten. Selbständi- nehmensgründung – ein handlungsorien- ges Arbeiten in kleinen Gruppen über meh- tiertes Unterrichtsprojekt«. Beinahe zeit- rere Tage hin sollte geübt werden, nur so gleich wurde an der Rudolf Steiner Schule weit unter Anleitung wie nötig. Zum Schluß Witten I ein ähnliches Experiment durchge- sollten die Einzelerkenntnisse zusammen- führt, allerdings auf dem naturwissen- getragen und analysiert werden. schaftlichen Sektor . Beide Experimente sind Teil-Antworten Rahmen und Aufgabenstellung auf das wachsende Bedürfnis der Schüler nach mehr Eigentätigkeit einerseits, auf An- Der Chemie-, Biologie- und Gartenbauleh- forderungen der heutigen und zukünftigen rer hatten in einer gemeinsamen Epoche in Arbeitswelt andererseits. Denn was wird der 12. Klasse von den Sommer- bis zu den etwa in Wirtschaftsunternehmungen von Herbstferien, also acht Wochen lang, Zeit, den Mitarbeitern wirklich gefordert? Doch eine neue Idee zu verwirklichen. Chemie, nicht mehr der wirklichkeitsfremde Fach- Geologie, Ökologie und Biologie der 12.

165 Bild oben: Tümpel in einem Fichten-Buchen-Hochwald, eine kleine Lichtung. Die Lichtmenge für die Pflanzen ist nur um die Mittagszeit für ca. eine Stunde optimal. Wir sehen eine kleine Salweide, Brombeeren, Gewöhnliches Bürstenmoos, Katharinenmoos, Gewöhnliches Sternmoos und Gegenstän- diges Milzkraut. Bild unten: 200 Meter weiter den Berghang hinunter in einer Fichtenschonung ein weiterer Tümpel, dieser liegt im Halbschatten- bis Schattenbereich, kein direktes Tageslicht. Entspre- chend mager die Vegetation. Die beim oberen beschriebenen Moose ließen sich bestimmen, keine höheren Pflanzen. Die geringe Lichtmenge und der saure Boden lassen nur eine hochangepaßte Spezies zu.

166 Bild oben: Sonnendurchflutete Schotterhalde (Lehm und Bauschutt) an einem großen Park- platz. Die Tageswärme wird durch Gestein und Asphalt gespeichert. Im Vordergrund fin- den wir Kanadische Goldrute, im Hinter- grund die Gemeine Birke und Spitzahorn. Der Charakter des Standortes spiegelt sich in der bestandsbildenden, licht- und wärmelieben- den Vegetation wider. Bild rechts: Bahndamm mit entsprechender Trockenstandorts-Vegetation. Der Wasserdost scheint hier fehl am Platze zu sein, erst bei genauem Betrachten des Bodens wird klar, warum die nässeliebende Pflanze hier am Trockenstandort vorkommt. Dort, wo der ver- festigte Kalkschotter mit Lehm vermischt ist, tritt Staunässe auf. Etwas weiter zum Schotter hin finden wir ver- schiedene Habichtskrautarten und Rainfarn. Rechts vom Damm treffen wir auf den Gemei- nen Natternkopf, Besenginster und Färber- ginster. Anschließend ein Birkenwald mit ver- einzelter Hainbuche und jungen Traubenei- chen.

167 Erfassung eines Waldstandortes. Die Schüler der 12. Klasse aquarellieren den Standort

Zusammen- stellung des gemeinsamen Epochen- heftes (wurde später in der Die aus dem Gelände mitgebrachten Ausstellung Bodenproben werden mit physikalischen gezeigt, was und chemischen Meßmethoden auf einen Wasserdurchlässigkeit und Wasser- zusätzlichen kapazität untersucht Anreiz darstellte)

168 Klasse wurden so miteinander verwoben, malen Stoffes der Zwölftklaß-Epoche in re- daß ein geordneter Kombinationsunterricht duzierter Form. D. h. die Schüler wurden in entstand. In der Mitte der Epoche stand ein einem ersten Schritt über Ablauf und 14tägiges Feldpraktikum. Die 39köpfige Durchführung der Unternehmung in Klasse wurde in neun Gruppen unterglie- Kenntnis gesetzt. Die einzelnen Arbeits- dert, wobei die Einteilung von den Schülern schritte wurden vorgestellt und durchge- selbständig vorgenommen wurde. sprochen, der Umgang mit Geräten und Be- Drei verschiedene Lebensräume sollten stimmungsbüchern, Tabellen und Lösun- erforscht werden: 1. Lebensraum: Wiesen gen erklärt und gezeigt. Dann wurde eine und Feldhecken, 2. Lebensraum: Flußaue, Arbeitsmappe verteilt, in der sowohl die 3. Lebensraum: Wald Aufgaben als auch die Reihenfolge der Die Aufgabe der jeweiligen »Geologen« durchzuführenden Arbeiten niedergelegt und »Chemiker« bestand darin, das Gelän- waren, veranschaulicht durch Beispiele. de, auf dem geforscht wurde, geologisch zu Nun wurden die Gruppen für einen Tag ins beschreiben, Bodenprofile zu erstellen, es Feld geschickt; danach wurden zwei Tage zu zeichnen und chemisch zu analysieren; für die Ausarbeitungen benötigt, dann war d. h. es wurden Wasser- und Bodenproben Gruppenwechsel. gezogen und im Labor untersucht. Bei den Botanikern sah die Vorbereitung Die »Biologen« konzentrierten sich auf etwas anders aus. Hier war eine einwöchige den oberirdischen Teil des zu erforschenden gründliche Vorbereitung angesetzt. Im Bio- Lebensraumes. Hier mußten nach einer um- logieunterricht wurde der Umgang mit Be- fassenden Landschaftsbeschreibung, Zu- stimmungsbüchern geübt, und gleichzeitig ordnung zur Himmelsrichtung und Klima- wurden die sieben Pflanzenfamilien im bestimmung die vorhandenen Pflanzenge- Überblick betrachtet. Dazu kam eine Ein- sellschaften erforscht und beschrieben wer- führung in den praktischen Umgang mit den. Dann wurden die einzelnen Standorte Pflanzen. Abreißen, Betrachten und Weg- genauer untersucht und botanische Pflan- werfen war verboten, die Anlage eines Her- zensteckbriefe erstellt, Pflanzenprofile erar- bariums und der verantwortliche Umgang beitet und aufgezeichnet. Um den gesamten mit den Pflanzen wurde genau besprochen. Landschaftsraum zu erfassen und um das Alles weitere: wie man ein Pflanzenprofil Einzelne wieder der Gesamtheit zuzuord- erstellt, wie man eine bestimmte Pflanzen- nen, wurde alles aquarelliert und fotogra- gesellschaft ermittelt, welche Rückschlüsse fiert. man auf die Bodensituation ziehen kann, Mit den geo-chemischen und öko-biolo- wurde vor Ort geübt. Die Botaniker waren gischen Aufzeichnungen wurde eine Aus- zwei Tage im Feld und einen Tag im Labor, stellung erarbeitet, die dann, wie der Zufall wo sie dann ihre Forschungsergebnisse zu- es wollte, der Schulgemeinschaft zum 20. sammentrugen und in die Ausstellung ein- Jahrestag unserer Schulgründung präsen- arbeiteten. tiert werden konnte. Den Abschluß der Runde bildeten Kurz- referate über die erzielten Arbeitsergebnis- Durchführung se, die Arbeitstechniken und deren Eigen- heiten; auftretende Probleme und deren Lö- Will man mit Schülern in der Natur arbei- sungen wurden kurz dargestellt und im ten, so ist eine gründliche Vorbereitung not- Sinne einer Know-how-Weitergabe allen wendig. Im Chemieunterricht wurde die Mitschülern mitgeteilt. Nach anfänglichen praktische Forschungs- und Laborarbeit Schwierigkeiten, die Fülle des Bearbeiteten vorbereitet, neben der Erarbeitung des nor- darzustellen, entwickelten sich schon beim

169 zweiten Zusammentreffen Vortragstechni- chen Rahmens und der hohen Arbeitsanfor- ken, die eine kurze und präzise Darstellung derung keine Ausfälle – ein weiteres Zei- im Sinne einer Fortbildung für alle ermög- chen dafür, daß es wirklich Spaß gemacht lichten. Nach drei Tagen wurden nicht nur hat und alle Beteiligten sich gemäß ihren Fä- die Gruppen gewechselt, sondern auch der higkeiten ernsthaft einbringen konnten. zu erforschende Lebensraum. Überforderungen – aber auch Unterforde- rungen wurden weitgehend vermieden. Erfahrungen Ausblick Eines war schnell zu beobachten: Jeder Ein- zelne kam zum Zuge, konnte sich voll nach Jeder Lehrer sollte auch ein bißchen »Unter- seinen Möglichkeiten einsetzen, ging inten- nehmer« und ein bißchen »Forscher« sein. siver mit der Aufgabe um als gewöhnlich. Dann können wir mit unseren Schülern Der größte Teil der Schüler hatte bei den Dinge unternehmen, die im praktischen Le- vielseitigen und interessanten Aufgaben ben verankert sind und zugleich geistig et- viel Spaß und zeigte großes Engagement. was Unalltägliches bieten. So können wir Wir Lehrer hatten bei dieser Arbeit eine viel auch Wege finden, um mit dem wirtschaftli- intensivere Begegnung mit den Schülern. chen Unternehmertum fruchtbar zusam- Einzelne Schwächen und Stärken der Schü- menzuarbeiten auf dem Felde der Ausbil- ler traten deutlicher hervor und konnten dung, Fortbildung und Förderung von Ju- von uns in direkterer Form erwidert wer- gendlichen. den. Es erwies sich als sinnvoll, den »Fron- Und: Das Leben gemeinsam mit den talunterricht« auf den notwendigen Infor- Schülern zu »erforschen« und die gemach- mationsteil zu reduzieren; zu einer wirkli- ten Erfahrungen nicht im Heft abzulegen, chen Begegnung mit dem Einzelnen kommt sondern in den aktiven Erfahrungsschatz es nur in der Zusammenarbeit in der Klein- des Einzelnen einzugliedern, dies kann ein gruppe. Weg sein, die Schüler wieder mehr mit sich Dieser handlungsorientierte Unterricht selbst zu verbinden, so daß sie ihr Leben ermöglichte es allen Schülern, sich gemäß geistesgegenwärtig und kreativ gestalten ihren Stärken einzubringen. Keiner konnte lernen. sich verstecken. Diesmal wurden die Wie sagte eine Schülerin nach einem an- »Drückeberger« aber nicht vom Lehrer an- strengenden Tag im Feld: »Mensch, ich gehalten, die anstehende Arbeit zu bewälti- wußte gar nicht, was hier so alles blüht. Ich gen, sondern die Kleingruppe selber achtete gehe jetzt ganz anders an der Ruhr ent- darauf, daß das Endziel erreicht wurde. lang.« Hermann-J. Ebker, Udo Kemme, Daß Einzelnen großzügig Freiräume ge- Holger Ricksgers währt wurden, um z. B. vergessene Lebens- mittel zu besorgen oder um andere Grup- Zu den Autoren: Udo Kemme, s. S. 164. Her- mann-Josef Ebker, Jahrgang 1949, aus Damme. pen zu besuchen, gehörte mit zu der Erfah- Chemotechniker in der Industrie. 1982 Waldorf- rung, wie ein durchorganisierter Arbeitsab- lehrerausbildung in Witten-Annen. Seit 1986 lauf zu bewältigen ist. Andere mußten eben Chemielehrer an der Rudolf Steiner Schule Wit- die Arbeit für die Fehlenden übernehmen. ten I. Verheiratet, 2 Kinder. Holger Ricksgers, Jahr So pegelten sich die Abwesenheiten sehr 1958, aus Essen. Biologie- und Sportstudium in Bochum. Studienjahr am Institut für Waldorfpäd- bald, ohne daß der Lehrer Moralpredigten agogik in Witten-Annen. Von 1986 bis 1993 Leh- halten mußte, auf einem niedrigen Niveau rer für Biologie und Sport an der Rudolf Steiner ein. Überhaupt war auch der Krankenstand Schule Bochum-Langendreer, seit 1993 an der Ru- sehr niedrig. Es gab trotz des großen zeitli- dolf Steiner Schule Witten I. Verheiratet, 4 Kinder.

170 IM GESPRÄCH

Oberstufenreformen und ihre Probleme

Am 30. Oktober 1998 fand in Stuttgart auf der Schüler gestärkt werden, so daß sie in Einladung der Pädagogischen Forschungs- der Oberstufe Verantwortung übernehmen stelle ein zweites Kolloquium für Oberstu- können. Dazu gehört, daß sie in der 10. fenfragen statt. Ein erstes Kolloquium im Klasse selber über ihren weiteren Bildungs- Vorjahr, auf dem eine Reihe von Oberstu- weg entscheiden: In Klasse 11 bis 13 werden fenmodellen vorgestellt wurde, fand starke diejenigen Schüler, welche das wollen, be- Resonanz, auch durch ein daraus hervorge- ruflich ausgebildet, und zwar in umliegen- gangenes Themenheft der »Erziehungs- den Fabriken und Firmen; daneben haben kunst« über Oberstufe und Arbeitswelt sie in ihrer Schule allgemeinbildenden und (Juli/August 1998). So erschienen beim Berufsschulunterricht. Es ergab sich notge- zweiten Treffen rund 80 Teilnehmer aus drungen eine Beschränkung auf zwei Fel- 52 Waldorfschulen. der: Metallarbeit und Ausbildung zum Bü- Da im Vorjahr bereits zahlreiche Initiati- rokaufmann (bzw. -frau). Die anderen Schü- ven zu Wort gekommen waren, beschränkte ler bereiten sich in Klasse 11 bis 13 auf das sich das Treffen diesmal auf fünf Referate, Abitur vor. jeweils mit anschließendem Gespräch. Im Ursprünglich war die Einbeziehung be- folgenden sollen nur die wichtigsten Frage- ruflicher Bildung für alle Schüler gedacht, stellungen und Ansätze skizziert werden. was sich aber nicht verwirklichen ließ. Die Mehrzahl der Schüler entscheidet sich für Integration beruflicher Bildung das Abitur; um die Berufsbildung trotzdem realisieren zu können, hofft man auf Quer- Matthias Riepe berichtete aus der Schule einsteiger aus anderen Schulen. Schwierig Witten II (Witten-Annen) über das Kon- waren schon vorher die Verhandlungen mit zept einer Integration beruflicher Bildung den Behörden, die eine frühzeitige Fixie- in der Oberstufe und insbesondere über die rung des Lehrplans verlangten, und beson- Schwierigkeiten, die bei der Verwirklichung ders mit den Handwerkskammern, die sich dieses Konzepts aufgetreten sind. Der als scharfe Gegner von Neueinrichtungen Grundgedanke: Die ganze Schule – nicht in der Berufsbildung erwiesen. Enttäu- nur die Oberstufe – soll eine »Schule des schend gering war dann das Interesse der praktischen Lernens« sein. Bereits in der Unternehmen, die um Ausbildungsplätze Unterstufe sollen neben der »logozentri- gebeten wurden; daher die genannte Be- schen« Belehrung offene Situationen ge- schränkung auf zwei Ausbildungsbereiche. schaffen werden; in der 4. Klasse beginnt Ein großes Problem war die Gewinnung schon das Werken. In der Mittelstufe verla- von Oberstufenlehrern, die sich hinter das gert sich auch in den klassischen »Lernfä- schon bei der Schulgründung ausgearbeite- chern« der Akzent auf eine »Belehrung durch das Material«, an dem die Schüler 1 Ein Beispiel dafür hat Roland Schröter-Lieder- möglichst selbständig arbeiten sollen.1 wald, Klassenlehrer an der Schule Witten-An- Auch durch Projektwochen und altersüber- nen, unter dem Titel »Erdkunde einmal an- greifenden Unterricht soll die Motivation ders« in »Erziehungskunst«, Heft 11/1998, S. 1219 ff. dargestellt.

172 te Konzept stellen mußten – was ihnen nicht man auch noch mit einer mittleren Leistung nur Mehrarbeit, sondern auch Flexibilität bestehen. Daraus ergeben sich flexiblere abverlangt; denn es sind in das Konzept be- Entwicklungsbedingungen für die Schüler. wußt »Instabilitäten und Krisen« eingebaut, Im reflektierenden Unterrichtsgespräch an denen die Schüler lernen sollen, sich auf können die Schüler zu Partnern des Lehrers die Wechselfälle des heutigen Berufslebens werden. Das prägt auch die kollegiale Hal- initiativ und verantwortungsfreudig einzu- tung der Lehrer, denn gegenüber der Idee stellen (»Wechselkompetenz«). – gibt es nur Gleiche. So treffen sich im Kolle- Für die Offenheit, mit der die Probleme gium solche, die von der Idee ausgehen, mit dargestellt wurden, waren die Teilnehmer anderen, die von der Praxis her kommen; des Kolloquiums dankbar, müssen sie doch, selten vereinigt ein Mensch beides in sich. falls sie selber neue Wege beschreiten wol- Als vor zehn Jahren die behördlichen Ge- len, mit ähnlichen Schwierigkeiten rechnen. nehmigungen für die Hiberniaschule mit ihrer eigenständigen Prüfungsordnung Werkunterricht und allgemeinbilden- ausliefen, stellte sich dem Kollegium die der Unterricht Frage: Müssen wir die Schüler selber ausbil- den, oder wollen wir es nach außen verla- Von neueren Entwicklungen in der Hiber- gern? Wollen wir überhaupt weiterhin eine niaschule2 berichteten Tankred Trautmann rigide Werkstattausbildung? Ist es pädago- und Reinhard Wittenfeld. gisch sinnvoll, wenn die Schüler – wie frü- Im Kollegium der Hiberniaschule erga- her – für die Außenwelt produzieren und ben sich hinsichtlich Leistungsanforderun- deren Anforderungen erfüllen müssen? – gen und Führungsstil Spannungen und Tatsächlich waren in der Praxis manche fruchtbare Prozesse aus der Zusammenar- Aufweichungen dieses Prinzips aufgetre- beit der »allgemeinbildenden« Oberstufen- ten. lehrer mit den Leitern der berufsbildenden Das Kollegium rang sich dazu durch, die Werkstätten, die ja in der Hiberniaschule in- Werkstätten in der Schule zu behalten und tegriert sind und von allen Schülern – auch die Schüler weiterhin für die Außenwelt den späteren Abiturienten – durchlaufen produzieren zu lassen. Die Perfektion ist werden. auch zu erreichen, indem man die Fehler Ein Werkstück, das für den Gebrauch in findet und korrigiert. Auch wurde das Ver- der Außenwelt bestimmt ist (so in der Be- hältnis zu den Abnehmern überdacht: Man rufsbildung der Hiberniaschule), verlangt wollte künftig mit Betrieben außerhalb der unerbittlich eine nahezu hundertprozentige Schule zusammenarbeiten, ihnen zuarbei- Perfektion der Ausführung; wird ein einzi- ten, auch die Schüler hinausschicken und ger Fehler gemacht, so ist die ganze Arbeit Wahrnehmungen machen lassen. Und es unbrauchbar. An der Unerbittlichkeit des wurden manche Produktionen im Sinne des Materials entsteht ein »Schulungsweg«: Die Marktes umgestellt (z. B. die Schneiderei Arbeit selbst fordert Werktreue, Wahrhaf- von der Kinderkleidung auf Moden oder tigkeit. Dies bedingt auch eine starke Auto- Übergrößen). Auch gehen die Schüler des rität des Werklehrers. Er steht als Könner sozialpädagogischen Zweiges nicht mehr über den Schülern; es ergibt sich eine Hier- nur in Kindergärten, sondern auch in ande- archie der Fähigkeiten. re Einrichtungen mit Kindern. – Im allgemeinbildenden Unterricht kann Im anschließenden Gespräch wurde u. a. nach möglicher Differenzierung in der 2 Zum ursprünglichen Konzept vgl. Klaus Fin- Oberstufe gefragt. Wittenfeld: »Differenzie- telmann in »Erziehungskunst« 7/8 1998. rung aus Leistungsgründen findet in der

173 Hiberniaschule nicht statt.« Bei den Fremd- Hand nehmen, von der Auswahl der Hüh- sprachen könnte allerdings eine Aufgliede- ner über den Stallbau bis zum Geschäftli- rung in Leistungsgruppen sinnvoll sein. – chen, der Vermarktung. Wichtig ist, daß je- Trautmann brachte nochmals den Sinn der dem Schüler eine Aufgabe gestellt wird, die Verbindung von Allgemeinbildung mit Be- er bewältigen kann. Weitere Projekte müs- rufsbildung auf den Punkt: Die Schüler sen im Blick auf die künftige Berufswelt müssen die Synthese der Idee mit der Le- konzipiert werden. benswirklichkeit finden, und das vollzieht sich in der praktischen Arbeit. Praktischer Zweig auf dem Prüfstand

Schüler als Unternehmer Die Schule am Kräherwald in Stuttgart, jetzt 50 Jahre alt, ist – wie Matthias von Ra- Rüdiger Iwan berichtete von Schulprojek- decki berichtete – im Umbruch begriffen. Sie ten der Schwäbisch Haller Oberstufe. Ein war die erste Waldorfschule, in der die ehemaliger Schüler sagte einmal: In der Oberstufe in einen praktischen und einen Waldorfschule habe ich gelernt, mich für »theoretischen« Zweig gegliedert wurde. die Dinge zu interessieren, habe aber zu we- Die Idee war: Wie können wir denjenigen nig Handlungsimpulse erhalten. Andere jungen Menschen, welche nicht zur Ab- Schüler stellten fest: Woche für Woche der straktion neigen, die Möglichkeit geben, in gleiche Stundenplan – das erzieht zur Ar- der praktischen Arbeit das Lernen zu lernen beitnehmer-Mentalität; die Hauptsache ist und sich zu entfalten? Es gab früher den pünktlich schließen. Versuch, eine Lehre bis zum Gesellenbrief Um dem abzuhelfen, hat Rüdiger Iwan einzurichten, aber das scheiterte und wurde mit Oberstufenklassen mehrere »hand- auch später nicht nochmals angepackt. lungsorientierte« Projekte durchgeführt, Während es im praktischen Zweig ur- von denen eines bereits in der »Erziehungs- sprünglich nur Schüler gab, denen man die kunst« geschildert wurde.3 Da gründen zweite Fremdsprache ersparen wollte, wur- Schüler ein Unternehmen und erkunden in de dieser Zweig 1989 auch für »Zwei- der Geschäfts- und Bankenwelt die Bedin- sprachler« geöffnet, um die Plätze zu füllen. gungen. Da feiert man als Chef mit der Be- In späteren Jahren wurde beobachtet, daß legschaft das Jubiläum einer Firma, die auf die Schüler viel mehr individuelle Zuwen- den Konkurs zusteuert. Oder die Schüler dung und Förderung brauchen, und um werden »zur Bewerbung« in Unternehmen den persönlichen Anlagen und Interessen geschickt – dies als Auftakt zu einer Tagung Rechnung zu tragen, wurde der »theoreti- »Schule im Dialog mit der Arbeitwelt«, die sche« Zweig differenziert in einen natur- die Schüler mit Unternehmern aus der El- wissenschaftlichen und einen geisteswis- ternschaft zusammenbrachte und in einem senschaftlichen Zug, in welchem letzteren Betrieb bei laufenden Maschinen durchge- der Akzent auf den Fächern Deutsch und führt wurde.4 Angelaufen ist ein Projekt zur Kunstgeschichte liegt. Es werden in diesen biologischen Hühnerhaltung: Es soll eine ei- Zügen vermehrt Projekte und Exkursionen gene Hühnerrasse gezüchtet werden, und veranstaltet. Auch wird Wert auf Erziehung die Schüler müssen alles planen und in die zum selbständigen Arbeiten gelegt. Im anschließenden Gespräch wurde der 3 Rüdiger Iwan: Unternehmensgründung – ein praktische Zweig problematisiert. Hier wer- handlungsorientiertes Unterrichtsprojekt, »Er- de die praktische Arbeit zur Therapie de- ziehungskunst« 9/1997, S. 910 ff. 4 R. Iwan: Schule im Dialog mit der Arbeitswelt, gradiert, und die Schüler dieses Zweiges »Erziehungskunst« 12/1997, S. 1246 ff. müßten sich minderwertig fühlen – was

174 nicht bestritten wurde. Produzieren für die Unterricht (letzterer als »Hauptunterricht« Außenwelt und eine abgeschlossene Be- in Epochen) sind unter einem Dach verei- rufsausbildung könnten das Selbstbewußt- nigt. Die Hauptaufgabe wird im Werkhof sein der Schüler heben, aber dazu ist es darin gesehen, Jugendlichen Gelegenheit zu (noch) nicht gekommen. geben, sich ein paar Jahre lang in vertrauter Atmosphäre zu entwickeln und zu stabili- Berufsbildung für behinderte Schüler sieren. Über das Konzept und die Arbeit im einzelnen wird der Werkhof selber in der Im letzten Referat schilderte Hans-Jürgen »Erziehungskunst« berichten. Klühspies den (eigenständigen) Michael Ein ursprünglich für das Kolloquium vor- Bauer Werkhof (Stuttgart), wo Schüler vor gesehenes Thema wurde nur gestreift und allem aus dem Förderzug der Michael Bau- müßte weiter bearbeitet werden: die Diffe- er Schule eine Gelegenheit zur Berufsausbil- renzierungsproblematik. Erfahrungen in dung mit spezifischem Abschluß erhalten. der Hiberniaschule wie in Kassel stellen die Die Jugendlichen kommen mit verschie- Unterscheidung zwischen theoretisch und densten Behinderungen, z. B. nach Gehirn- praktisch begabten Schülern in Frage; meist tumoren; des weiteren: Epileptiker, orga- seien die gleichen Schüler auf beiden Fel- nisch geschädigte Schüler, Asthmatiker, De- dern leistungsfähiger oder schwächer. Und pressive; 40 Prozent sind Heimkinder, viele alle Schüler könnten für ihre Entwicklung auch adoptiert. Betriebliche Lehre, Berufs- von praktischer Arbeit Wesentliches gewin- schulunterricht und allgemeinbildender nen. Klaus Schickert

Offener Unterricht aus Eltern- und Lehrersicht

Bereits während der Kindergartenzeit mei- wurden plötzlich Brote für die hungrigen ner beiden Töchter begleitete mich eine un- Zwerge geschmiert oder bei jeder Gelegen- stillbare Neugierde. Bei der Auseinander- heit sämtliche Schutzengel herbeigerufen. setzung mit der für mich neuen Waldorf- Obwohl nicht gerade mit einer geringen pädagogik begab ich mich nicht nur auf ei- Phantasie ausgestattet, fiel es mir doch nen gedanklichen Erkenntnisweg, sondern schwer, mich in all die vielen kleinen Situa- lernte auch wieder über ganz praktische tionen des Alltages meiner Kinder hinein- Dinge zu staunen. Wenn ich es mir auch zur zuversetzen. Was mir jedoch am meisten zu Regel gemacht hatte, die Kinder keinesfalls schaffen machte: Kein noch so gut gestalte- auszufragen, so erfuhr ich doch hin und ter Elternabend konnte meiner Neugierde wieder etwas aus dem Kindergartenalltag. Abhilfe verschaffen. Brav rutschte ich wie Da war vom Morgenkreis die Rede oder all die anderen Eltern auf den kleinen Stühl- auch von den Erlebnissen beim gemeinsa- chen herum. Brav lernte ich auch die Kreis- men Spaziergang. Völlig erstaunt hörte ich spiele und Lieder der Kindergartenkinder die Berichte darüber, wie schön das Aufräu- kennen. Manchem Mit-Elternteil begegnete men sei und wie »öde« unser Essen zu Hau- ich erst richtig durch den herumgehenden se im Vergleich mit dem gemeinsamen im Plumpsack. Aber die Schlußfolgerung von Kindergarten. Ganz zu schweigen von den zwanzig durchaus fröhlich herumhüpfen- unbekannten Wesen, mit denen ich auf ein- den Erwachsenen auf die Kindergartener- mal in meinem Haushalt leben mußte: Da lebnisse meiner Kinder – nein, die wollte

175 mir absolut nicht gelingen. – Nun gut, dach- sehr wohl positiv zu der Klassengemein- te ich mir, wenn sie erst einmal in der Schule schaft bei.« Konnte das stimmen? Machte sind, wird alles anders. Dann fängt das sie sich vielleicht etwas vor? Ihrer Ruhe und ernsthafte Lernen an und du wirst den Un- Gelassenheit ist es zu verdanken, daß die terricht sicherlich gut nachvollziehen kön- Zeit die Lösung dieser Fragen brachte. Die nen. Doch wieder einmal ließ mich mein Klasse wuchs tatsächlich zu einer sehr har- einst mühsam erworbenes Staatsschulwis- monischen Gemeinschaft heran und löste sen schmählich im Stich. Erst mit Hilfe der ihre Probleme meist alleine. Klassenlehrerin meiner älteren Tochter er- schloß sich mir langsam der Sinn vom Divergierende Bilder »Rhythmischen Teil«, dem »Arbeitsteil« und dem »Erzählteil«. Wieder einmal Nun bereits etwas erfahrener, schulte ich stampfte ich mit vielen Eltern klatschend nochmals ein Kind ein. Doch siehe da, ein durch den Klassenraum, zeichnete schwie- neuer Lehrer erwartete mich, der trotz vie- rigste Formen und lernte Betonen in der ler einheitlicher Ansätze eine ganz neue Sprachgestaltung. Doch so sehr mich diese Sprache pflegte und vor allem neue Rhyth- Übungen auch überzeugten, es wollte mir men einführte. Wiederum wurde es eine der nicht so recht gelingen, mein Kind in den Hauptaufgaben der Elternabende, eine ge- jeweiligen Rollen zu sehen. Und nicht nur meinsame Sprache zu finden. Doch konnte bei meinem Kind versagte meine Phantasie. ich mir wirklich vorstellen, was der Lehrer Wie dies alles gar mit über dreißig Schülern da von den Kindern erzählte? Sah ich wirk- funktionieren sollte, konnte ich mir über- lich all die blonden, braunen und schwar- haupt nicht vorstellen. zen Köpfe über ihre Hefte gebeugt das tun, was er sagte? Nein, immer noch erschien es Problemgeladene Elternabende mir extrem schwer nachvollziehbar, was in so einer Klasse lebte. Doch schon innerhalb Schwierig wurde auch mit der Zeit mein des ersten Jahres geschah etwas, was eine Part zu Hause. Eher widerwillig fütterte Lösung für all meine Probleme sein konnte. mich meine Tochter mit kleinen Informatio- Die gesamte Klassenelternschaft wurde nen über Dinge, die sie nicht so gut fand. dazu eingeladen, einen völlig normalen Beispielsweise: »Es ist so laut in der Klasse«, Hauptunterricht mitzuerleben. Was die oder: »Alle laufen rum, wie sie wollen.« Es neuen Eltern eher für normal hielten, sorgte kam, wie es kommen mußte: Nachdem bei den »alten« für großes Raunen. Konnte auch einigen anderen Eltern diese Informa- das gutgehen? Ohne Aufführung oder ge- tionen geliefert wurden, folgten die typi- meinsames Tun einfach so eine alltägliche schen problembeladenen Elternabende Klassensituation beobachten? Ob die Kin- nach dem Motto: »Was stimmt in dieser der das wohl mitmachen? Sie machten, und Klasse nicht?« Was nicht stimmte, war je- es wurde zu einem Schlüsselereignis für alle doch kein Problem der Klasse: Es gelang anwesenden Eltern. Nach weniger als viel eher uns Eltern nicht, das Bild, das die 20 Minuten schienen die Kinder tatsächlich Lehrerin uns zeichnete, mit dem Bild, das vergessen zu haben, daß hinten in ihrem wir von unseren Kindern hatten, und unse- Klassenzimmer an die vierzig neugierige re Erfahrungen unter einen Hut zu bekom- Eltern dicht gedrängt hinter den Schulbän- men. »Der Unterricht läuft sehr harmo- ken saßen. Mit rasender Schnelligkeit füll- nisch«, konnte die Klassenlehrerin bei- ten sich all die Bilder in mir, die meine spielsweise berichten. Oder: »Auch dieses Phantasie nie hatte ausmalen können. Kind mit seinen speziellen Problemen trägt Das begeisterte Stampfen bei den rhyth-

176 mischen Übungen, das verbissene Ringen dieser Lehrer uns machte und ein sehr muti- um die Zahlenwelt, das hingebungsvolle ges dazu. Zurückgeben können wir ihm nur Lauschen beim Erzählteil. noch unser Vertrauen und einen möglichst großen Schutzraum im Kreise »seiner« Kin- Verständnisweckende Einblicke der. Barbara Scholze, Schülermutter

Aber auch die Details machten den Wert der Ein ganz normaler Hauptunterricht Sache aus. Mit großem Erstaunen beobach- tete ich meine Tochter. Wunderschön, wie Nur zu gut kann ich mich an die Einschu- sie mitmachte, als es um das Verteilen der lung meines ersten Kindes erinnern. Nach Rollen im Klassenspiel ging. Faszinierend intensiver Beschäftigung mit dem Thema aber auch, wie mein wohlerzogenes Kind Schule hatten wir uns für die Waldorfschule sich mit dem Oberkörper auf den Schultisch entschieden. Unser Sohn war nach seinem fläzte und überhaupt nicht daran dachte, bedeutsamen Gang durch die versammelte ihre bequeme Stellung während des Rech- Schulgemeinschaft auf der Bühne ange- nens aufzugeben. Und dann das große Stau- langt, wir hatten den Anfang eines Mär- nen bei den ersten kleinen Aufgaben der chens anhören dürfen, und dann zog die Grundrechenarten: Nicht mehr unsere kleine Gesellschaft in das Klassenzimmer. mühsam ausgesägten Rechenholzklötzchen Die Eltern und Verwandten blieben im hatte mein Töchterchen dabei. Nein, Mur- Foyer zurück. Die Lehrerin war mit ihren meln waren es, die da aus dem Rechensäck- 39 Kindern alleine. chen kullerten und lustig im ganzen Klas- Die Erinnerungen an meinen ersten senzimmer herumsprangen. Nie werde ich Schultag standen wieder lebendig vor mei- die Kraft und Konzentration des Kassenleh- nem inneren Auge: Wie verloren kam ich rers vergessen, mit der er trotz dieser – für mir damals vor. ihn alltäglichen – Widrigkeiten seinen Un- Aus diesem Grund beobachtete ich mei- terricht gestaltete. Nie werde ich vergessen, nen Sohn jetzt sehr genau. Ohne direkt welche Liebe aus jeder seiner Gesten nachzufragen, konnte ich an seinem Feuer- sprach, mit denen er vermittelte, lobte, aber eifer, mit dem er jeden Morgen zu seiner auch mal tadelte. Und vor allem werde ich Lehrerin ging, erkennen, daß wir die richti- nie die Ehrfurcht auf den Gesichtern der ge pädagogische Wahl getroffen hatten. Er Kinder vergessen, mit der sie ihren Lehrer mußte nicht auch solche negativen Schuler- betrachteten. fahrungen machen. Die Bilder aus den vielen Büchern über Kurz vor Weihnachten wurden wir Eltern Waldorfpädagogik waren endlich mit Le- zu einer Unterrichtsprobe von etwa 45 Mi- ben gefüllt. Viele meiner Fragen hatten sich nuten eingeladen. Diese setzte sich zusam- völlig von selbst beantwortet. Bei den El- men aus Elementen des sogenannten ternabenden wußten alle, von was der Leh- »Rhythmischen Teils« und des Sprachunter- rer sprach, wenn er kleine Episoden aus richtes, der ebenfalls von der Klassenlehre- dem Unterricht erzählte. Nicht nur die rin erteilt wurde. Die harmonische Stim- schönen kleinen Geschichten hörten wir mung, das freudige, eifrige Tun, mit dem nun gerne. Auch mit den Problemen, die er die Kinder stolz ihr Können demonstrier- uns schilderte, konnten wir fortan besser ten, begeisterte nicht nur mich. Fortan fehlte umgehen. Wir hatten die Andersartigkeit ich auf keinem Elternabend. Ich gründete der Unterrichtssituation sehen können und gemeinsam mit der Lehrerin einen Ge- die entsprechenden Rollen unserer Kinder sprächskreis, arbeitete in der Eltern-Lehrer- kennengelernt. Es war ein Geschenk, das Konferenz mit und lernte bei den Bundesel-

177 ternratstagungen verschiedene andere Wal- rigkeiten gab es keine. Nach dem Unterricht dorfschulen kennen. Während mein Sohn stellten wir die Bänke wieder zusammen die 5. Klasse besuchte, fand ich mich auf und ließen den Vormittag mit einem ge- dem Stuttgarter Lehrerseminar wieder. meinsamen Vesper ausklingen. Ich staunte, als dort mein Dozent, Walter Anders als ich es bei meinem Sohn erlebt Riethmüller, ein noch radikaleres Konzept hatte, konnte ich den Eltern einen ganz nor- für den Einblick der Eltern in den Hauptun- malen Morgenunterricht von 105 Minuten, terricht vorstellte. Zweimal im Jahr sollte wie er den Kindern vertraut war, zeigen. das Klassenzimmer an einem Samstag für Vielen Eltern war sein Ablauf mit den ver- alle Eltern geöffnet werden, damit sie einen schiedenen Elementen zumindest teilweise »normalen« Morgenunterricht erleben bekannt. Aber es gab auch welche, die von könnten. Als Vater mittlerweile zweier Kin- unserem allmorgendlichen Tun gar keine der an der Waldorfschule freute ich mich Ahnung hatten. Auf die Frage, wie es denn über eine solche Idee – würde ich aber als in der Schule sei, bekamen diese Eltern im- Lehrer sie auch umsetzen können? Erste mer nur die Standardantworten »gut« oder Zweifel an diesem kühnen Konzept schli- »schön«. chen sich ein. Als ich jedoch aus meinem Nun brauchte ich an den Elternabenden privaten Umfeld erfuhr, wie gut ein solcher nicht mehr viel Zeit darauf zu verwenden, Samstag an der Schule »Uhlandshöhe« ge- die einzelnen Elemente des Unterrichts vor- laufen war, entschloß ich mich: »Das machst zustellen. Die Eltern hatten selber erlebt, du auch.« was es heißt, wenn ein Kind viel zu spät in die Schule kommt, was es heißt, wenn beim Die Kinder machen mit gemeinsamen Flöten eine Flöte fehlt. Alle hatten miterlebt, daß bei verschiedenen Tä- Meine erste Arbeit als Klassenlehrer führte tigkeiten im Unterricht von mir völlige mich zu 36 Erstkläßlern in die Rhön. Die Ruhe verlangt wird oder daß wir jeden Anfangszeit dort rang mir viele Kräfte ab. Morgen mit dem Morgenspruch beginnen Erst im Februar traute ich mich, alle Eltern und mit einem Dankgebet für unser Brot be- an einem normal unterrichtsfreien Samstag enden. Manche Eltern waren beeindruckt zu einem offenen Unterricht in die Schule von der tiefen Ernsthaftigkeit, mit der die einzuladen. Die Bänke im Klassenzimmer Kinder ihren Zeugnisspruch vortrugen, wurden weit nach vorne gerückt, so daß und pflegten diese Tradition fortan auch zu hinten etwa fünfzig Erwachsene eng zu- Hause. Andere bemerkten, daß vor dem sammengepackt sitzen konnten. Das war neuen Teil eines Märchens immer erst die schon sehr beeindruckend: Fast hundert Erzählung vom vorherigen Tag wiederholt Menschen in unserem Klassenzimmer. wurde. Auch daheim wurde fortan in vielen Es war der letzte Tag einer vierwöchigen Familien das Nacherzählen zur Selbstver- Formenzeichenepoche. Die Kinder konnten ständlichkeit, so daß dadurch für manche die Gedichte des »Rhythmischen Teiles« auch das Schweigen in der Klasse gelöst schon perfekt. Trotz der vielen Anwesenden wurde. verzichteten wir nicht auf den Morgenkreis: Die Schüler reichten sich alle die Hand und Eltern erleben Unterricht bildeten so einen Kreis um alle Schulbänke. Erstaunt stellte ich den großen Willen der Ich erlebte den »offenen Unterricht« als eine Kinder fest, trotz der Anwesenheit so vieler große Erleichterung in meiner Arbeit mit Erwachsener den Schulunterricht zu einem den Eltern und den Kindern. Vieles war aus Erfolg werden zu lassen. Disziplinschwie- der eigenen Anschauung heraus den Eltern

178 bei den folgenden Elternabenden viel überzeugenden Darstellung. Und das ist schneller klar. Vor allem die Kinder fühlten verständlich in Anbetracht der vielen Des- sich mit ihren Erzählungen aus dem Unter- informationen und Gerüchte, die über die richt viel besser zu Hause verstanden. Waldorfpädagogik die Runde machen. Das Öffnen des Klassenzimmers führte Ein vom Lehrer an die Eltern gegebener bei den Eltern zu einem tieferen Verstehen Vertrauensvorschuß trägt viele Früchte bei aus der eigenen Anschauung heraus. Viele der notwendigen Elternmitarbeit im Laufe möchten heute unsere Pädagogik wirklich der Schulzeit und schafft ein gutes Klima erleben. Sie vertrauen nicht mehr nur einer des Vertrauens an den Elternabenden. Olaf Klüver, Lehrer

Keine Praktika für Seminaristen?

Ich bin derzeit Studentin in der zweijähri- kommt man lediglich die Auskunft zu hö- gen Ausbildung zur Klassenlehrerin an ren: »Nein, das ist nicht möglich; tschüß«, Waldorfschulen mit Nebenfach Englisch am und der Telefonhörer wird aufgehängt. Mannheimer Seminar. Wenn man aber keine Möglichkeit hat, Um während der Ausbildung praktische Einblicke in den Unterricht einer Unterstufe Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln, zu bekommen, wie soll man dann Erfahrun- sollen pro Studienjahr zwei mindestens gen mit den »Kleinen« machen? Bei einer dreiwöchige Praktika an einer Waldorf- Bewerbung kriegt man dann noch so schule absolviert werden. Alles schön und freundlich gesagt: »Sie haben ja nicht ein- gut; leider gibt es hierbei einige Probleme. mal ein Praktikum in der Unterstufe ge- macht; glauben sie denn, daß sie mit den Auf heißen Kohlen jungen Schülern umgehen können?« Wenn man an einer Waldorfschule anfragt, ob man dort sein Praktikum machen kann, Waldorfschulen nicht verpflichtet? bekommt man entweder erst nach einer Als ich noch in der Ausbildung zur Haus- sehr langen Zeit (fünf Wochen) eine Ant- wirtschafterin war, fragte ich an einer Wal- wort – oder gar keine. Da meine Ausbil- dorfschule an, ob es möglich ist, ein Prakti- dungsstätte frühzeitig Bescheid wissen kum zu machen, um einen Einblick zu be- möchte, wer einen Praktikumsplatz hat, kommen, ob mir dieser Beruf zusagt und sitzt man auf »heißen Kohlen«. Auch ein eine Umschulung sich lohnt. Als Antwort zweites »Erinnerungsschreiben« beschleu- bekam ich: »Es tut uns sehr leid, aber wir nigt nicht die Antwort. Bei einem Anruf sind verpflichtet, Studenten der Waldorf- wird man getröstet: »Sie bekommen schon pädagogik für ein Praktikum zu nehmen. noch Antwort von uns.« Da können wir andere Interessenten leider nicht berücksichtigen.« Ich habe diese Ant- Zuwenig Bereitschaft wort akzeptiert. Leider bekomme ich nun Leider erklären sich viel zu wenig Klassen- als Studentin der Waldorfpädagogik auch lehrer bereit, einen Praktikanten zu neh- keinen Praktikumsplatz! Ich habe an dersel- men. Ich bekomme zur Zeit eine Absage ben Schule angefragt von damals – und wie- nach der anderen. Auch wenn man bei den der eine Absage erhalten. Sind die Waldorf- Klassenlehrern persönlich anfragt, ob man schulen nicht mehr verpflichtet, Studenten bei ihnen ein Praktikum machen kann, be- ein Praktikum zu ermöglichen? Sonja Gaik

179 ZEICHEN DER ZEIT

RECHT AUF KINDHEIT – EIN MENSCHENRECHT

Die Internationale Vereinigung der Waldorfkindergärten und der Bund der Freien Waldorf- schulen führen mit dem nachfolgenden Beitrag eine Artikelreihe zum Thema »Recht auf Kindheit – ein Menschenrecht« fort. In den nächsten Monaten werden weitere Autorinnen und Autoren diese Thematik von verschiedenen Seiten bearbeiten. Unter anderem sind Beiträge zu folgenden Themen geplant: • Kleinstkindpädagogik als Zeitaufgabe • Kinder- und Jugendberatung • Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen • Poli- tische Initiativen für das Recht auf Kindheit • Kinder- und Jugendkriminalität • Der therapeutische Ansatz der Waldorfpädagogik. Dieser Beitrag wird in erweiterter Form als Sonderdruck einem über die Leserschaft der »Erziehungskunst« hinausgehenden Personen- kreis bekannt gemacht, ebenso wie alle folgenden. Red.

Drogen und Sucht – Vorbeugen durch Erziehen

»Warum keine Drogen nehmen?« Wenn der Drogenkonsum seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts weltweit zu ei- »Warum sollen wir keine Drogen nehmen? nem zentralen Kulturproblem geworden Die Menschen haben sie doch früher auch ist, so liegt das daran, daß nicht nur die In- verwendet, und sie waren dankbar für ihre tentionen des Konsums rein egozentrischer Wirkung!« Diese und ähnliche Argumente Natur sind und jeglicher sozialen Einbin- höre ich immer wieder bei meinen Bera- dung, Vorbereitung, Führung und Verarbei- tungsgesprächen an den Schulen, wenn tung entbehren, sondern daß die Wirkung Oberstufenschüler ihren Drogenkonsum bewußtseinserweiternder Drogen auf den verteidigen wollen. heutigen Menschen eine völlig andere ist: Tatsächlich sind zu allen Zeiten Drogen Sein waches Ichbewußtsein wird ausge- konsumiert worden. Intention, Umfeld und löscht und geht im Erlebnisstrudel orientie- Wirkungsweise damals unterscheiden sich rungslos unter. jedoch grundlegend von heute. In vergan- An dem Zerstörungspotential des stetig genen Zeiten wurden Drogen genommen, anwachsenden Drogenkonsums heute läßt um die eigenen Fähigkeiten der spirituellen sich ablesen, wie weit er sich in Intention Erkenntnis für den Dienst an der Gemein- und Wirkung von früheren Zeiten entfernt schaft zu erweitern. Dem Konsum gingen hat. strenge Läuterungsübungen und Vorberei- tungen voran, die von Eingeweihten über- Was ist Sucht? mittelt und begleitet wurden. Die hierbei erworbenen Fähigkeiten halfen dann dem Ganz allgemein läßt sich Sucht als ein sich Adepten, die Drogenwirkung zum Besten steigernder zwanghafter Drang definieren, für die Gemeinschaft zu nutzen, ohne sich durch Außenstimulation, gleich welcher selbst in ihr zu verlieren. Art, Konflikte zu verdrängen und dasjenige

181 familie trägt kaum noch über die Kindheit hinaus. Gemeinschaften, Traditionen und überkommene Normen zerfallen. Jeder Ein- zelne muß sich sein Beziehungsgefüge selbst schaffen. Folge dieser neuen Entwick- lungssituation im Westen ist, daß die Erleb- nisse innerer Leere und Einsamkeit zuneh- men. Der Mensch ist mit sich vollständig al- lein; nur er bestimmt über sich selbst – eine Freiheitssituation, wie sie die Menschheit noch nie zuvor erlebt hat. Zugleich stellt sie eine Herausforderung dar, der viele zu ent- fliehen versuchen, sei es in die Abhängig- keit von anderen Menschen, von bestimm- ten Erlebnissen, von speziellen Substanzen. Endet hier die Suche nach der eigenen Iden- durch Genuß zu ersetzen, was nur durch Ei- tität, so findet nicht Selbstbestimmung, son- genanstrengung zu lösen wäre. Diese Defi- dern Fremdbestimmung statt. Damit be- nition macht eine Tendenz deutlich, die ginnt ein Teufelskreis von dem Wunsch wohl jeder von sich selbst kennt. Der tägli- nach noch mehr außenbestimmten Erleb- che Fernsehkonsum, die griffbereite Süßig- nissen und der noch tieferen Enttäuschung, keit, der Alkoholgebrauch, der permanente daß das Ersehnte nicht befriedigend und Telefonkontakt mit bestimmten Menschen – bleibend erlebt wird. sie weisen, stellvertretend für vieles andere, Diese für unsere Zeit so charakteristi- bereits in eine solche Richtung. Werden die- schen Trennungserfahrungen sind notwen- se Erlebnisse bewußt oder unbewußt ge- sucht, so treiben sie in ein Verhalten, das nach »immer wieder« und »immer mehr« ruft. Denn die Sehnsucht, sich selbst zu erle- ben, kann nicht durch Außenbedingungen gestillt werden.

Auf der Suche nach sich selbst und nach neuer Gemeinschaft

Warum ist die Gegenwart von der Sehn- sucht nach Selbsterleben geprägt? Eine sol- che Suche nach sich selbst, nach der eigenen Identität gab es in der Vergangenheit nicht. Die Gemeinschaften boten dem einzelnen selbstverständliche Identifikationsmöglich- keiten. Jedes Mitglied fühlte sich getragen und repräsentiert durch seine Gemein- schaft, sei es Volk, Stamm, Sippe, Berufsver- band oder Familie. Diese sozialen Lebens- formen lösten sich im Laufe unseres Jahr- hunderts immer mehr auf. Selbst die Klein-

182 dig, damit wir an ihrem Erleben diejenigen Kräfte entwickeln, die das Getrennte aus der Freiheit des Einzelnen heraus zu neuer Einheit führen können. So kann erst das Lei- den an der Trennung vom Mitmenschen die Kraft geben, den eigenen Egoismus, den Vorrang der eigenen Wunsch- und Bedürf- nisbefriedigung zu überwinden. Doch nicht nur die Trennung vom anderen, sondern auch die Trennung von uns selbst kenn- zeichnet die heutige Situation.

Trennung von sich selbst

Der weitreichende Verlust an Beziehung zum eigenen physischen Leib raubt das Ver- trauen in ihn und in den physischen Raum, der ihn umgibt. Besonders gefährdet sind die Kinder, die mehr vom Auto gefahren werden, als daß sie sich selbst bewegen; de- nen der natürliche Lernprozeß des Gehens mit seinem Fallen und unermüdlichen wie- der Aufstehen abgenommen wird durch fühl für den Jahresrhythmus mit seinen Jah- »Gehfrei-Einrichtungen«; die keine Bezie- reszeiten und Jahresfesten geht immer mehr hung zur Natur, zu den Elementen Erde, verloren. Die Geschäftsauslagen von Leb- Wasser, Luft und Feuer entwickeln können, kuchen im September und Schokoladenha- da ihnen dafür kein Erfahrungsraum gege- sen im Februar sind nur ein Symptom da- ben wird. Defizite an grundlegenden Sin- für. Immer weniger Kinder erleben noch neserfahrungen schwächen das Wahrneh- den Spannungsbogen von Vorbereitungs- mungsvermögen und die Bereitschaft zu zeit – Feiern – Nachklang eines Festes. Zere- willentlicher Anstrengung. Und wenn die monien und Rituale schwinden und mit ih- Kinder durch entsprechende Präventiv- nen ein Erleben gegliederter Zeitabläufe, in Impfungen keine Kinderkrankheiten mehr die sich die Kinder eingebettet fühlen kön- durchmachen dürfen, wird ihnen ein wich- nen. tiges Mittel genommen, den physischen Ein weiteres ist der Verlust der Beziehung Leib individuell zu ergreifen. zu den eigenen seelischen Kräften. Schon in Auch der Verlust natürlicher Gewohnhei- der frühen Kindheit wird oftmals die ge- ten wird zunehmend beklagt. Man weiß schichtenerzählende Mutter durch eine nicht mehr sinnvoll mit den Lebensrhyth- Kassette ersetzt; die konflikterzeugenden men umzugehen. Wie bedeutsam ein Tages- und -lösenden Freundschaften werden auf rhythmus ist, wird immer weniger beachtet. ein Minimum reduziert durch zeitfressen- In vielen Familien gibt es nicht einmal mehr den Medienkonsum, allen voran durch das eine tägliche gemeinsame Mahlzeit. Die Fernsehen (durchschnittlicher Fernsehkon- Qualitäten des Morgens und des Abends sum in Deutschland von Kindern unter finden kaum noch eine Entsprechung in un- sechs Jahren: zwei bis drei Stunden täglich) serem Alltagsleben, das mit seiner Termin- – Cyberspace und Internet werden in Zu- flut die Tageszeiten einebnet. Auch das Ge- kunft noch für enorme Steigerungsraten

183 sorgen. Wie gefährdet Jugendliche sind, naturgegebene Kindheitshülle durchstoßen wenn sie keine tragenden seelischen Bezie- ist. Im Vorschulalter ist dies oft Zeichen ei- hungen erleben, macht eine Umfrage in den ner gewaltsamen äußeren Einwirkung, ei- USA unter den Selbstmordkandidaten un- nes physischen oder seelisch-geistigen Ver- ter 18 Jahren deutlich, die den Selbstmord- gehens an dem Kind. Erst mit der Schulreife versuch abgebrochen haben (eine halbe Mil- vollzieht sich das Durchstoßen der Hülle lion jährlich). Auf die Frage, was sie zum entwicklungsgemäß ganz von alleine. Kin- Abbruch geführt habe, antworteten die der brauchen Menschen, mit denen sie sich meisten: die Erinnerung an einen Men- vertrauensvoll, voller Respekt und Vereh- schen, zu dem sie eine tiefe Beziehung hat- rung verbinden können, durch die sie eine ten. hüllende, wärmende Führung erleben. Ist dies nicht mehr gegeben, so verliert Es wird deutlich, wie sehr unsere Gesell- das Leben seinen Sinn. Unverbindlichkeit, schaft genau von den Gegenkräften geprägt Relativismus, Beliebigkeit bis hin zum Le- ist: Nicht Hingabe kennzeichnet unseren bensüberdruß folgen daraus. Umgang miteinander, sondern Selbstfixie- Ein Verlust der Beziehung zum eigenen rung und Berechnung. Nicht vertrauensvol- Ich (Identitätsverlust) raubt das Vertrauen les Aufeinanderzugehen, sondern Mißtrau- in die Kraft des Geistigen. Wo kein Kontakt en, nicht verzeihen können, was man uns mehr zum eigenen Selbst vorhanden ist, angetan hat, sondern das Beharren auf un- wird der Mensch manipulierbar: verfügbar ser Recht prägt unseren menschlichen Um- für Machtzugriffe von außen. Kinder und gang. Jugendliche erleben dieses Abgeschnitten- Kindheitskräfte und die unsozialen Ten- sein von Idealen und sinnstiftenden Per- denzen der Erwachsenenwelt stehen sich in spektiven besonders durch den Mangel an unserer Zeit polar gegenüber. Ein Gegen- Erwachsenen, die ihnen geistige Orientie- satz, der die Kindheitskräfte vorzeitig ver- rung vorleben. Was sie allerorten erleben, siegen läßt, der unsere Kinder um ihre ist Egozentrik und Unverbindlichkeit. Kindheit bringt! Wie wirkt sich diese vorzeitige Hüllenlo- Bedrohung der Kindheitskräfte sigkeit, dieser vorzeitige Kindheitsverlust aus? In keinem anderen Lebensalter verfügt der Mensch über solche Hingabekräfte wie das Flucht in die Drogenwelt Kind, die es ihm in all seiner Hilfsbedürftig- keit ermöglichen, sich vorbehaltlos seiner In der Welt unserer Kinder und Jugendli- Umwelt anzuvertrauen. Aus den gleichen chen spielt das allgegenwärtige Angebot Kräften heraus kann das Kind in einem der Droge eine immer stärkere Rolle. Worin Maße verzeihen, das uns, die wir so oft zer- ihre Anziehung besteht, wird deutlich störend in seine Kinderwelt eingreifen, be- durch die Aussagen der Drogensüchtigen schämen müßte. Nie wieder in seinem Le- selbst. ben kann sich der Mensch so bedingungs- Nach ihren Motiven für die Stoffeinnah- los, so Raum und Zeit vergessend an eine me befragt, sprechen sie häufig von dem Tätigkeit hingeben wie das spielende Kind. Ziel, ersehnte Erlebnisse zu erreichen. Das Kinder sind von Natur aus wahrhaftig, von ihnen beschriebene Feld dieser Erleb- denn sie sind ganz und gar identisch mit nisse läßt sich in vier Bereiche gliedern: sich selbst. Die ersten Zweifel an sich selbst, 1. den Bereich eines intensiven und erfüll- die ersten Versuche, den anderen zu täu- ten Realitätsbezugs, schen, zu hintergehen, zeigen an, daß die 2. den Bereich der Wärme, des Wohlbeha-

184 gens, des Angenommenseins, der Durch- Appell an uns, die Erziehung so zu gestal- schaubarkeit von Beziehungen, ten, daß die Kinder vor einem Abgleiten in 3. den Bereich der Sinnhaftigkeit des eige- die Sucht bewahrt werden und Jugendliche nen Tuns, der Geborgenheit in dem in der Begegnung mit Suchtstoffen stand- Durchschauen des eigenen Lebensmo- halten können. tivs, So müssen wir uns als Erzieher heute Fra- 4. den Bereich der religiösen Erfahrung, der gen stellen, die sich an den Entwicklungsge- spirituellen Dimension des Daseins. setzen des heranwachsenden Menschen Charakteristisch für alle vier Bereiche ist, auftun: daß sie auf illusionären Erlebnissen beru- • Gestalten wir das Leben unserer Kinder hen, da sie durch einen Substanzwirkstoff so, daß sie eine unzerstörbare Beziehung von außen erzeugt und nicht in Eigentätig- zur Wirklichkeit entwickeln können, die keit errungen sind. dann später jeder Verführung, sich ins Il- Deutlich ist an diesen Motiven ablesbar, lusionäre zu verlieren, wie durch TV oder wo Entwicklungsdefizite in der Kindheit in Zukunft vor allem auch durch Cyber- und Jugend vorliegen. Dementsprechend space, standhält? geben bestimmte Drogenstoffe auch Hin- • Ermöglichen wir unseren Kindern, sinn- weise auf bestimmte Defizite. In ihrer Wir- voll und kreativ tätig zu sein in einer kungsweise lassen sie sich in drei große nachahmenswerten Umwelt? Gruppen aufteilen: • Erhalten und pflegen wir genügend die Die Drogen, die vorwiegend mental an- freien Phantasieräume, z. B. durch ent- setzen, gehören zur Gruppe der Amphet- sprechende Kinderzimmergestaltung, amine und Weckamine. Am bekanntesten durch sinnvolles, phantasieanregendes ist hier das Kokain. Ihre Wirkungsweise Spielzeug? wird als Gedankenaktivierung, Gedanken- • Wecken wir mit unserem Enthusiasmus in stimulation bis hin zur Gedankenexplosion unseren Kindern die Liebe zum anderen erlebt. Menschen und zur Welt, aus der heraus Die Drogen, die vorwiegend die Funktion sie Selbstüberwindungskräfte entwickeln der rhythmischen Organe beeinflussen, lernen und durch die sie die Wärme des sind die Halluzinogene. LSD und Ha- Gebens und Nehmens erleben können? schisch sind die bekanntesten. Eine Aktivie- • Können die Jugendlichen an unserem Be- rung und Stimulation des Gefühlslebens mühen um tiefere Erkenntnis, an unserer wird erlebt, die eine warme Verbindung mit Begeisterung im Handeln ein Lebensver- den Mitmenschen, mit der Welt vortäuscht. trauen entwickeln, das ihnen Zukunfts- Die Drogen, die sich vorwiegend auf den perspektiven gibt? Stoffwechsel und die Motorik auswirken, • Wie sind wir den Fragen der Jugendlichen gehören zur Gruppe der Opiate. Heroin ist heute nach Tod, Leben nach dem Tod, Be- einer der bekanntesten Vertreter. Erlebt wußtseinserweiterung gewachsen? wird eine gesteigerte Willensaktivität, eine • Wie stehen wir selber in diesen Erlebnis- intensive Willensstärke. sen und Fragen, die unsere Zeitepoche kennzeichnen? Prävention – eine Erziehungsfrage Wir kommen um die Tatsache nicht her- um, daß die Droge ein Faktor unserer Zeit Nicht nur für die Therapie, sondern auch ist. Es ist daher kaum noch möglich, unsere für die Erziehung im allgemeinen ergeben Kinder vor einem Kontakt mit Suchtstoffen sich daraus Perspektiven. Die Zeiterschei- zu schützen. Nikotin und Alkohol z. B. wer- nung der Drogensucht ist ein mahnender den ihnen von allen Seiten und nicht nur

185 Drogenbegegnung stattfinden sollte, wer- den sie sehr bald erkennen, daß es sich um zwanghafte, fremdbestimmte Wirkungen handelt, die sie selbst nicht steuern können. Diese Erlebnisse können aber dazu dienen, die Sehnsucht zu wecken, ohne Außensti- mulans aktiv zu eigenen geistigen Erlebnis- sen zu gelangen; dann hat die Pädagogik ihre entscheidende Aufgabe erfüllt. Wenn diese menschlichen und geistigen Erfahrun- gen, selbst im nachhinein erlebbar gemacht, im Drogenkonsumenten den Willen wecken können, wieder selbst-bestimmt seine Bio- graphie zu gestalten – wie wirksam im vor- beugenden Sinn mögen die gleichen Erfah- rungen sein, wenn sie schon im Kindesalter gemacht werden. Felicitas Vogt

Literaturhinweise: Dietrich Bäuerle: Suchtprävention und Drogen- prävention in der Schule, München 1996 Max Daunderer (Hrsg.): Drogenhilfe – Verzeich- nis der Beratungsstellen, Therapieeinrichtungen und Selbsthilfegruppen. Drogenmonographien Bd. 4, Landsberg 1996 Ron Dunselman: An Stelle des Ich – Rauschdro- per Werbung angeboten. Selbst Haschisch gen und ihre Wirkung, Stuttgart 1996 Frederic Fredersdorf: Leben ohne Drogen – Zwei hält seinen Einzug nicht selten schon in den Jahrzehnte Synanon, Weinheim 21995 6. und 7. Klassen. Auch eine gute Erziehung Edwin Hübner: Drogen verstehen – Kinder lie- wird Drogenkonsum nicht in jedem Fall ben – Erziehung wagen, Stuttgart 1996 verhindern können. Wie unmöglich das ist, Henning Köhler: Schwierige Kinder gibt es nicht, zeigen die individuell so verschiedenen Ur- Stuttgart 1997; Von ängstlichen, traurigen und unruhigen Kindern, Stuttgart 31995 sachen für den Drogeneinstieg. Neben den Olaf Koob: Drogensprechstunde, Stuttgart 1997 Jugendlichen, die trotz erheblichen Mangels Gunther Kruse u. a.: Fix(en) und fertig? Drogen an pädagogischer Zuwendung nicht zur und Drogenhilfe in Deutschland, Bonn 1996 Droge greifen, gibt es genauso diejenigen, Else Meyer: Eltern im Drogenproblem – Erfah- 4 die trotz fürsorglicher, sinnvoller Erziehung rungen durch Selbsthilfe, St. Augustin 1993 Neil Postman: Keine Götter mehr – Das Ende der Drogen konsumieren. Erziehung, Berlin 21995; Das Verschwinden der Ziel unserer pädagogischen Bemühungen Kindheit, Frankfurt/M. 1983 kann es in bezug auf den Drogenkonsum Albert Schmelzer: Erziehung in apokalyptischer nur sein, daß den Kindern und Jugendli- Zeit, Dornach 1996 chen auf Grund echter menschlicher und Peter Struck: Erziehung von gestern, Schüler von heute, Schule von morgen, München/Wien 1997 geistiger Erlebnisse die Fähigkeit zur Verfü- Felicitas Vogt: Drogensucht – Weckruf unserer gung steht, zwischen Schein und Wirklich- Zeit. Verlag Anthroposophisches Heilwesen, Bad keit zu unterscheiden. Selbst wenn eine Liebenzell 1998

186 AUS DER SCHULBEWEGUNG

SEKEM heißt Lebenskraft Lernen und Arbeiten in einer ägyptischen Initiative

Verspätete Ankunft im mitternächtlichen Kairo. Hat Ali, der ägyptische Fahrer, noch auf uns gewartet? – Er hat. Wir entdecken ein emporgehaltenes Schild am Flughafen- ausgang, auf dem steht »SEKEM«. Ali drückt uns eine Nachricht in die Hand »Willkommen in Ägypten« – perfekte Be- treuung von Anfang an. Zur Seite steht uns mit Rat und Tat Regina Hanel; sie ist Deut- sche und arbeitet als Kindergärtnerin und in der Hauptverwaltung von SEKEM für Dunkelheit schlägt den Ankommenden kühle Luft entgegen, als würde die Wüste Atem holen. Hier, wo alles Leben durch die Ibrahim Abuleish, Sonne versengt wird, schenkt sie durch den der Gründer von Menschen wieder Leben. Und SEKEM, ein SEKEM altes hieroglyphisches Wort, heißt leben- spendende Sonnenkraft.

Viel Strom, kein Wasser

Mit der Fertigstellung des Assuan-Stau- dammes 1963 hörten auch die Über- schwemmungen der Nilufer und des Deltas auf. Damit wurde eine Jahrtausende alte Re- Ibrahim Abuleish. Ibrahim Abuleish ist gelmäßigkeit abrupt abgebrochen, die seit Ägypter und hat die SEKEM-Farm vor 21 alters her das Leben der Bauern und ihre Jahren gegründet. Er studierte in Österreich Medizin, Chemie und Philosophie, begeg- nete der Anthroposophie und wußte dann, was er in Ägypten zu tun hatte. Er kehrte in sein Heimatland zurück, kaufte ein Stück Wüste und begann mit der Urbarmachung. Das war der Anfang eines neuen Kulturim- pulses in Ägypten. Wir kommen in SEKEM an. Eine park- ähnliche Anlage empfängt uns. Aus der

187 Traditionen prägte: Osiris, der im Über- nisse der »underprivileged people« außer- schwemmungswasser stirbt, kann nicht gewöhnlich – so außergewöhnlich, daß ein mehr auferstehen, um sich mit dem König, UNESCO-Delegierter sich von dieser der die Inkarnation des Falkengottes Horus »Schönheit« irritiert zeigte, weil er sich un- darstellte, zu verbinden. Anstatt der frucht- ter einem Entwicklungshilfeprojekt bisher baren Nilschlämme hielten Kunstdüngung völlig andere Vorstellungen gebildet hatte. und Pestizide in großem Stil Einzug, vor al- Die Lebensbedingungen der nahegelege- lem bei der Baumwolle. Die Bauern wurden nen 15-Millionen-Stadt Kairo, die mit ihrer krank davon, obwohl sie das für »Medizin« explosiven Bevölkerungszunahme für kata- hielten. In die Höhe schnellende Gesund- strophale hygienische und umweltverseu- heitskosten mit rapide steigenden Bevölke- chende Zustände sorgt und deren Ausläu- rungszuwächsen wurden ein ernsthaftes fer mittlerweile bis an die Ränder der Pyra- Problem für die ägyptische Regierung. miden von Gizeh schwappen, bieten allen Auch das ursprüngliche Ziel dieses Jahr- Anlaß für dieses Kontrasterlebnis: Eselkar- hundertbauwerkes gilt inzwischen als über- ren und Kameltreiber inmitten einer perma- holt: Die Stromerzeugung reicht heute für nent hupenden Rush-hour – es wird fünf- die Industrie und die Bevölkerung nicht spurig gefahren, wo in Deutschland zwei mehr aus. Fahrzeuge kaum aneinander vorbei kä- men –, Nobelhotels wechseln mit quadrat- Rote Beete in der Wüste kilometergroßen Slums und stinkenden Sei- tenarmen des Nils, Steinbrüche ehemaliger Äußerlich betrachtet: ein rund 70 Hektar alter Koranschulen und Moscheen stehen großes Gelände, rund 50 Kilometer nordöst- neben modernen Luxusgeschäften und Ho- lich von Kairo, am Rand der arabischenWü- telpalästen, die sich in vergoldeter Pracht ste gelegen. Hier wird mit biologisch-dyna- zeigen. Bettler, Krüppel und stehlende mischen Methoden Landwirtschaft betrie- Lumpenkinder, Wasserpfeife rauchende ben. Eine grüne Oase inmitten einer gelb- dunkelbebrillte dicke Paschas vor Kaffee- grauen Stein- und Sandwüste. häusern und allerorten die ihre waffenstar- Dazu gehören nicht nur schattenspen- rende Präsenz demonstrierende Polizei. dende Bäume und grüne Felder, auf denen wohlbekannte Gemüsesorten gedeihen, Eine SEKEM-Schule sondern auch ein Stall mit einer Allgäuer Kuhherde, ein Kindergarten, eine Schule, »Es ist eine SEKEM-Schule, keine Waldorf- ein Berufsbildungszentrum, fünf größere schule, wie wir sie aus Deutschland ken- Betriebe (Gemüse-, Obst-, Kräuter-, Tee-, nen«, sagt Yvonne Floride, die die Schule Textilverarbeitung, Heilmittelherstellung), leitet. Man müsse hier erst um die Anerken- eine große Getreidemühle, Ölpressen, eine nung von Kindheit, nicht um das Vertreten Bäckerei und schließlich ein ambulantes einer »richtigen« Pädagogik kämpfen. An Krankenhaus, in dem nicht nur die rund der SEKEM-Schule, die von 380 Kindern be- tausend Mitarbeiter, sondern auch die Be- sucht wird, wird nach staatlichem Lehrplan völkerung aus der Umgebung medizinisch unterrichtet und bis zum Abitur geführt. betreut werden. Hinzu kommen nilauf- Staatliche Inspektionen sind häufig. Die wärts über 150 Genossenschaften und Far- ägyptischen Lehrer mußten erst lernen, auf men mit nahezu 10.000 Menschen, die für den Rohrstock zu verzichten, denn Prügel SEKEM produzieren. und Pauken gehören im ägyptischen Bil- Was auf SEKEM beeindruckt, ist die ge- dungssystem noch wie selbstverständlich pflegte Atmosphäre; sie ist für die Verhält- zum Lernen dazu.

188 Ließe die ständige Anleitung durch die mung und zur Stärkung des Einzelbewußt- deutschen Pädagogen nach, so würden die seins im Verhältnis zur umgebenden Ge- Lehrer schnell wieder ins intellektualisti- meinschaft. Zum Abschluß wird gemein- sche Auswendiglernen zurückfallen. Jeder sam auf arabisch »Das Schöne bewun- methodische Schritt will mühsam errungen dern …« gesprochen. sein. Der Scheich, das geistliche Oberhaupt, Bekanntes entdeckt man immerhin auf fehlt bei keiner größeren Veranstaltung in den Stellwänden einer Ausstellung, die für Schule und Betrieb und rezitiert Suren aus die UNESCO-Besucher hergerichtet wurde, dem Koran. So gehört auch eine kleine Mo- im Kindergarten und bei den Darbietungen schee zum Gebäudeensemble, das der deut- der Unterstufe auf der Wochenfeier. Men- sche Architekt W. Reindl in Anlehnung an schenkundlich im weitesten Sinne wird in orientalischen Baustil entworfen hat. der wöchentlichen Lehrerkonferenz gear- Die väterliche Leitung durch Ibrahim beitet. Die Lehrer berichten dort reihum von Abouleish wird von den Menschen dankbar Schwierigkeiten mit einzelnen Schülern im angenommen und motiviert sie zu ertaunli- Unterricht und wie sie sie zu lösen versu- cher Leistungsbereitschaft. Erstaunlich des- chen. Daß der Unterricht vom Lehrer selbst halb, weil in einer islamischen Kultur, be- schöpferisch gestaltet und daß künstlerisch sonders bei der Landbevölkerung, traditio- nicht nur in den dafür vorgesehenen Fä- nell ein völlig anderer Zeitbegriff und ande- chern gearbeitet wird, dafür stehen deut- re Arbeits- und Sozialformen gelten als hier- sche Lehrer beratend zur Seite. Bedarf an zulande. Deshalb ist SEKEM als eine ägypti- qualifizierten Fachkräften gibt es nicht nur sche Kulturinitiative auch nicht ohne den bei Lehrern, sondern auch im Berufsbil- Islam zu denken und jegliche Aussicht auf dungszentrum, wo in Holz-, Metall- und Erfolg ausgeschlossen, wenn sie nicht durch Elektrowerkstätten junge Schulabgänger den Koran legitimiert wird; und dafür sei- unterrichtet werden. Das Vorbild dafür gab en, so Abuleish, durchaus Stellen daraus die Hibernia-Schule, die Schul- und Berufs- wiederzuentdecken und fruchtbar zu ma- ausbildung eng miteinander verzahnt. Das chen. Für diese »Übersetzungsarbeit« be- »Mahad«, das Erwachsenenbildungszen- treibt ein enger Mitarbeiterkreis eine inten- trum von SEKEM, dient der Weiterbildung sive Islamforschung. der Mitarbeiter. Das Wirtschaftsleben von SEKEM Wahrnehmen lernen Insgesamt gibt es sieben größere eigenstän- Vor Arbeitsbeginn kommen die Mitarbeiter dige Wirtschaftsunternehmen auf SEKEM der verschiedenen Betriebe und die Schüler mit einem Jahresumsatz von 70 Mio. Mark mit ihren Lehrern zu ihren jeweiligen Mor- und einer Zuwachsrate von rund 20 Prozent genkreisen zusammen. Zum Wochenschluß jährlich. Angefangen hat es mit einer klei- (donnerstags) findet ein Kreis der gesamten nen Produktreihe verschiedener Tee- und Mitarbeiterschaft auf dem zentralen Platz Kräutermischungen für den lokalen Markt. des SEKEM-Geländes statt. Man ist beein- Geschäftsbeziehungen zu den beiden Han- druckt von den Hunderten von buntgeklei- delsfirmen LEBENSBAUM in Deutschland deteten Menschen, die, namentlich aufgeru- und PYRAMIDE in Holland sorgten für ei- fen, kurz darüber Bericht erstatten, was sie nen ersten Wachstumsschub. Die Firma gestern getan und was sie heute tun werden SEKEM verarbeitet Kräuter (reinigen, – eine gezielt eingesetzte erzieherische schneiden, mahlen), die Firma ISIS Lebens- Schulung zur Weckung der Selbstwahrneh- mittel (Käse, Brote usw.).

189 auch große deutsche Handelsunternehmen (Hess-Natur, Alnatura, dm-Märkte). Die bisher größte politische und gesell- schaftliche Akzeptanz fand SEKEM 1991 in Zusammenarbeit mit dem Landwirtschafts- ministerium und der Universität Kairo, als nachgewiesen werden konnte, daß biolo- gisch-dynamisch angebaute und geschützte Baumwolle qualitativ und quantitativ bes- ser abschneidet als konventionelle. Statt von chemischen Schädlingsbekämpfungs- mitteln verdorrten Baumwollpflanzen Auf der Monatsfeier konnte man pestizidfreie Baumwolle aus grünen Sträuchern pflücken. Daraufhin Es folgte 1986 die Firma ATOS, die die er- wurde landesweit das Besprühen der sten phytopharmazeutischen Produkte auf Baumwollfelder eingestellt. Auf jährlich den heimischen Markt brachte. Inzwischen 30.000 Tonnen Pestizide konnte verzichtet erweist sich diese Branche als die wachs- werden. Inzwischen werden nach dieser tumsstärkste von SEKEM. Das erste Krebs- biologischen Methode 300.000 Hektar heilmittel, VISCUM, das in Zusammenar- Baumwolle angebaut, davon 1.200 biolo- beit mit acht Kairoer Universitäten entwik- gisch-dynamisch. kelt wurde und nach strengen Qualitäts- Alle kulturellen Einrichtungen, vom Eu- standards (ISO 9001) hergestellt wird, kam rythmiekurs über Schule und Kindergarten 1998 auf den Markt. bis zu speziellen Forschungsvorhaben, die HATOR (seit 1996) heißt der moderne in der Ägyptischen Gesellschaft für Kultu- Verpackungsbetrieb, von wo aus die Pro- relle Entwicklung zusammengefaßt sind, dukte der schon 1988 gegründeten Erzeu- werden von den Wirtschaftsunternehmen ger- und Verarbeitungsgemeinschaft LIBRA getragen. Auf dem Gelände der Verwal- per Schiff und Flugzeug in alle Welt gehen. tungszentrale von SEKEM, in Heliopolis Neben der im Aufbau befindlichen inländi- unweit von Kairo, befindet sich eine Akade- schen Naturkostszene, in der SEKEM unter mie im Aufbau, wo die berufliche Weiterbil- dem Namen NATURE´S BEST zehn eigene dung in eine reguläre akademische Ausbil- Läden unterhält, werden große Super- dung überführt und laufend praxisbezogen marktketten in Ägypten, Europa und den USA beliefert. Für die inländische Vertei- lung sorgt die SEKEM-eigene Handelsfirma MERCURY (seit 1994). In CONYTEX (gegründet 1994) verarbei- ten etwa 180 Mitarbeiter Textilien aus SEKEM-eigener Baumwolle. Es gibt fast nur männliche Näher – verheiratete Frauen ar- beiten in der Regel nicht. Geboten wird – in einer wirtschaftlich unterentwickelten Re- gion mit hoher Arbeitslosigkeit – ein siche- Im Kinder- garten rer Arbeitsplatz bei freier Kost und medizi- nischer Versorgung. Zu den Abnehmern von CONYTEX-Produkten gehören u. a.

190 In der Schule beim Tonen

geforscht werden soll. Zur ersten Ausbau- milie beitragen. An eine Ausbildung, an hy- stufe sollen die Fakultäten für Landwirt- gienische und medizinische Betreuung ist schaft, Kunst (Eurythmie, Sprachgestal- da nicht zu denken. Die Kinder werden von tung, Musik) und Ökonomie gehören. ihren Eltern zur Arbeit gezwungen, und das ist völlig normal. Damit diese Kinder eine Ein Versuch über Generationen Chance haben, arbeiten sie gegen Bezah- lung in der Blütenernte auf den Feldern und Die SEKEM-Initiative wird von einem inter- erhalten in der Nebensaison kostenlose nationalen Netz menschlicher Beziehungen Schulbildung, werden medizinisch betreut mitgetragen. Ohne die aktive Mithilfe die- und bekommen ein warmes Mittagessen in ses Freundeskreises hätte SEKEM nie das der Schulküche, oft die einzige Mahlzeit am erreichen können, was es bis heute in beein- Tag. – Doch trotz der beeindruckenden Lei- druckender Weise für die Heilung der Erde stungen spricht ihr Begründer auch heute und des Menschen leistet. SEKEM ist ein erst von einem Ansatz, der über Generatio- Beispiel dafür, wie ein anthroposophischer nen weiterentwickelt werden muß, bis die Impuls in einem vollkommen anderen Kul- Früchte reifen. turraum »auf den Boden« kommt. Aus eu- Die Anschrift des deutschen Förderver- ropäischer Sicht mag den Besucher deshalb eins lautet: Verein zur Förderung kultureller schnell etwas befremden, wie z. B. die Ar- Entwicklung in Ägypten, Elfriede Werner, beit der »Blütenkinder«. Kinderarbeit ist in Falkenstraße 7, 75223 Niefern, Tel. 07233- Ägypten noch sehr verbreitet. Von früh an 3131, Fax: 07233-2326. Mathias Maurer müssen die Kinder zum Unterhalt ihrer Fa-

Freilauf- stall mit Allgäuer Kuhherde

191 Waldorfpädagogik im Land der langen weißen Wolke Ein Reisebericht über Neuseeland

Nach dreizehn Jahren, in denen ich mich als bau, Ziele, Verbindungen zu anderen Epo- Klassenlehrerin um das Wohl und Wehe chen oder Fächern – vertikal über verschie- meiner Schüler gekümmert und die Ferien dene Schuljahre und horizontal für das lau- dazu benutzt habe, mich in die Epochen fende Jahr –, Angabe der verwendeten einzuarbeiten oder den einen oder anderen Quellen und Unterrichtsmaterialien, Fort- Ort in Europa aufzusuchen, auf den meine schritte der einzelnen Schüler, namentlich Vorbereitung mich neugierig gemacht hatte, aufgelistet, besondere Interessen der Schü- wollte ich in meinem Freijahr den Blick wei- ler, Einschätzung der eigenen Arbeit des ten und »zweckfrei« schauen, wie sich Wal- Lehrers, Entdeckung besonderer Hilfsbe- dorfpädagogik in anderen kulturellen Zu- dürftigkeiten bei Schülern, eingeleitete sammenhängen ins Leben stellt. Maßnahmen … Die Kommentare sollen Als Lehrerin habe ich darauf geachtet, sich auf Wissen, Fähigkeiten und Fertigkei- daß meine Schüler so oft es nur ging han- ten und Verhalten beziehen. delnd lernen.1 Denselben Anspruch stellte In Christchurch hospitierte ich in ver- ich an mein eigenes Kennen-Lernen der Ru- schiedenen Haupt- und Fremdsprachenun- dolf-Steiner-Schulen in Neuseeland. Da ich terrichten und hatte anschließend Gesprä- mitten in der Ausbildung zur Schulberate- che mit den Kollegen über meine Beobach- rin und Entwicklungsbegleiterin für Freie tungen. Der rhythmische Teil mit den ca. 25 Waldorfschulen steckte, bot ich einigen Kindern einer Klasse fand überall als Schulen meine Mitarbeit auf diesem Feld »morning circle« in einem mit Teppichen an. Es ergaben sich Verabredungen mit der ausgelegten freien Raum des Klassenzim- Christchurch Rudolf Steiner School, der Te mers statt. Ra School in Paekakariki und dem Es fiel mir auf, wie stark sich die Kollegen Pathways Kindergarten in Rotorua. um einen kooperativen Unterrichtsstil be- mühten. In der 2. Klasse spielten sich je- Was mir in Christchurch auffiel weils die beiden Tischnachbarn in ihrem aus einem Pappkarton gebastelten Figuren- Von den zehn neuseeländischen Rudolf- theater gegenseitig eine Fabel vor. Steiner-Schulen sind neun ins staatliche Neil Carter, der Klassenlehrer, der meine Schulsystem integriert. Finanziell bedeutet Mitarbeit sehr effektiv koordinierte, richtete das eine große Erleichterung gegenüber frü- in der Pädagogischen Konferenz eine Fort- her. Die Geschäftsführerin der 23 Jahre alten bildungsarbeit ein zum Thema »Wie kön- Schule in Christchurch berichtete, daß viele nen Mentoren so hospitieren, daß der unter- Lehrer und Eltern Angst gehabt hätten, mit richtende Lehrer bei einem Nachgespräch der Integration ihre Freiheit zu verlieren, etwas lernen kann?« Ich moderierte diesen daß aber die Armut, die davor geherrscht Teil der Konferenz. habe, einen auch nicht freigelassen habe. Später wurde deutlich, wie schwer es für Die Lehrer müssen nach jeder Hauptun- die am Waldorflehrerseminar (es gibt eines terrichtsepoche eine schriftliche Evaluation in Hastings) ausgebildeten Lehrer ist, Kolle- abgeben: Schwerpunkte der Epoche, Auf- gen zu helfen, die ohne eine solche Ausbil- dung unterrichten, und wie dringend nötig 1 Vgl. Brigitte Pietschmann: Lernen am Leben, es andererseits ist, damit der Unterricht in: »Erziehungskunst« 12/1997. Anm. d. Red. nach der Menschenkunde Rudolf Steiners

192 gestaltet wird und nicht als Alternativunter- tung eines Maori-Stammes in deren Ver- richt verwässert. Solange die neuen Kolle- sammlungshaus, das Marae, ein. Dort wer- gen keine Fragen haben, ist es ein besonde- den wir vom Häuptling des Stammes zu- res Problem, mit ihnen in ein Gespräch zu nächst in einer Ansprache offiziell, dann kommen. persönlich durch Hongi begrüßt. Man be- In einem englisch sprechenden Land ist rührt dabei die Nase des Gegenüber, um ei- es nicht leicht, Eltern und Schüler von der nen Augenblick lang mit ihm dieselbe Wichtigkeit des Fremdsprachenlernens zu Atemluft zu teilen. Die Aufführung gleicht überzeugen. Es sind die eher wenigen an- einer freien Theaterproduktion, dargeboten throposophisch orientierten Eltern, die Ar- von vier jungen Maori und vier Pakeha so- gumente akzeptieren können, wie, daß z. B. wie einem Richter mittleren Alters, der im- die Lebenskräfte des Schülers gestärkt wer- mer wieder Vertragstexte der Engländer re- den, wenn er in einer fremden Sprache »ba- zitiert, die seit 1840 die Landnahme u. a. re- det«. Nützlichkeitsgedanken herrschen vor. geln sollten. Darauf reagieren die jungen In den meisten Rudolf-Steiner-Schulen Leute mit Kriegs- oder Friedenstänzen, Lie- wird Maori, die Sprache der Ureinwohner dern und Gedichten. Das Singspiel endet Neuseelands, als Fremdsprache unterrich- mit einer Vision von Gerechtigkeit und Ei- tet, manchmal außerdem Deutsch oder nigkeit und hat mich zutiefst berührt, viel Französisch. Es gibt auch Maori unter den mehr als die Tänze, die ich in Rotorua als Schülern. Die Maori-Lehrerin in Touristenattraktion sehen konnte. Christchurch bezieht stark die Pflege der Kultur in den Unterricht mit ein. Die Ru- Erwachsene lernen in Paekakariki dolf-Steiner-Schulen tragen auf diese Weise dazu bei, den Kulturkonflikt zwischen Diese Schule an der zauberhaft gelegenen Maori und Pakeha (von weißen Siedlern Kapiti-Küste auf der Nordinsel Neusee- Abstammende) abzubauen. So tanzen die lands ist gerade drei Jahre alt und wird noch Viertkläßler einen Haka, einen wilden Tanz von der Begeisterung der Aufbauphase ge- zur Herausforderung des »Gegners«, der tragen. Die Kollegen hatten mich zu ihrer sich durch Schreie, drohende Gesten, her- Arbeit in den Osterferien eingeladen. The- ausgestreckte Zungen und Stampfen mit ma ihrer Konferenz war es, die Zusammen- den Füßen auszeichnet. Sie lernen, Kränze arbeit ihrer verschiedenen Organe und de- zu weben aus neuseeländischem Gebüsch- ren Aufgaben zu klären und einzurichten. flachs (Phormium tenax), dem einstigen Unsere Arbeit wird durch ein Erdbeben un- Gold der Maori. Aus dem Flachs stellte man terbrochen, das etwa zwei Minuten dauert früher Kleidung her, Behältnisse wie Ta- und immerhin eine Vase zum Umfallen schen und Körbe, ja sogar einfache, nicht bringt. Für einen Moment werden wir da- gerade stabile Boote. Reste der Blätter, die durch heftig auf die Grenzen des menschli- beim Weben übrigblieben, werden mit ei- chen Handelns hingewiesen. nem Flachsstreifen zusammengebunden Die Gründungslehrerin der Te Ra School, und der Pflanze, die draußen vor dem Klas- Marie Büchler, war lange Zeit krank gewe- senraum wächst, wiedergegeben. sen, und die Klassenlehrer haben nun viele In unserem Gespräch über ihren Unter- Fragen an mich zum Aufbau des Unter- richt kommen die Maori-Lehrerin und ich richts, der Epochen … Eine Kollegin leidet zu der Frage der inneren Vorbereitung auf wie etliche Anthroposophen in Neuseeland den Unterricht und auf die Begegnung mit darunter, daß die Jahresfeste von Rudolf den Schülern. Aus Dankbarkeit für meine Steiner in starkem Zusammenhang mit dem Hinweise lädt sie mich zu einer Veranstal- Jahreslauf der Natur gesehen werden und

193 daß diese Bezüge auf der Südhalbkugel der Erde so nicht gelten: An Ostern be- ginnt in Neuseeland der Herbst. Die Te Ra School hat über die Lokalpresse zu einem »Public Talk about Steiner Education« eingeladen. Die- sen Abend sollte ich gestal- ten. Nach einer Vorstel- lungsrunde der Teilnehmer und einer kurzen Einfüh- rung über die Grundlagen Die Dachlandschaft der Michael Park School in Auckland. Von den der Waldorfpädagogik durf- 3 Millionen Neuseeländern lebt ca. eine Million in Auckland ten die Teilnehmer eigene Erfahrungen machen. Wir sprachen den Dreischritt des Lernens und die Bedeu- tung der Nacht an, und die Eltern und Lehrer sollten nun erproben, was es heißt, sich Unterrichtsstoff zu ei- gen zu machen. Das Thema der fiktiven Unterrichts- stunde war »Neuseeland als Einwanderungsland«. Meh- rere Besuche im Te Papa Die Te Ra School ist erst drei Jahre alt und wird noch von der Museum in Wellington hat- Begeisterung der Pionierphase getragen ten mich dazu angeregt. In Gruppen zu fünft oder »Neuseeland als Einwanderungsland«: Die Erstklaßlehrerin ist sechst erzählen sich die Teil- selbst vor einem Jahr aus Dalmatien nach Neuseeland gekommen nehmer, woher ihre Vorfah- ren stammen und was deren Motive waren, nach Neu- seeland auszuwandern. Dann entscheiden sie sich für eine der Geschichten, die sie dem Plenum auf sehr ori- ginelle Weise präsentieren. Im Anschluß werten wir Lernerfahrungen aus, sam- meln und beantworten Fra- gen zur Waldorfpädagogik. Zum Teil bewahren wir sie für weitere Abende auf. Interessant ist, wie auf-

194 merksam die Anwesenden meiner englischen Einfüh- rung zuhören. Ist es viel- leicht eine Hilfe für sie, daß sie manchen sprachlichen Fehler oder einen umständ- lichen Ausdruck zurecht- rücken müssen und deshalb sehr aktiv an meiner Rede teilnehmen? Wie auch im- mer – dank eines unpassen- den Wortes bekommt das Gespräch eine Tiefe, die für eine erste Begegnung mit Rudolf Steiners Gedanken- gut nicht selbstverständlich ist. Ich sprach im Zusam- menhang mit dem Lebens- impuls, den ein Kind aus der geistigen Welt mit- bringt, von einem »pro- gramme«. Das war der Grund für eine Frage, das menschliche Schicksal und Karma betreffend. s Christchurch Rudolf Steiner School: Zur Maori-Stunde gehört Elternarbeit in Rotorua auch die Pflege der Kultur. Viertkläßler weben Kränze aus neusee- ländischem Gebüschflachs. Reste, die nicht mehr gebraucht werden, In Rotorua gibt es schon seit werden gebündelt und der Pflanze zurückgegeben. zehn Jahren einen Waldorf- kindergarten, aber es ist bis jetzt noch nicht genug Initia- tivkraft zusammengekom- men, um eine Schule zu gründen. Ein Leid für man- che Familie, deren Kinder mit viereinhalb oder fünf

Waldorfkindergarten Rotorna: Die Eltern helfen viel im Praktischen, aber sie brauchen auch Kenntnisse der Waldorf- pädagogik, die sie begeistern. – Baumfarne prägen das Bild des neuseeländischen Regenwaldes – hier ein Spielhäuschen aus ihren »Stämmen«.

s

195 Jahren in staatliche Schulen eingeschult Waldorfpädagogik weltumspannend werden, die bestens mit Computern u. a. Unterrichtsmaterial ausgestattet sind, dem Die Kollegen und Eltern dort auf der ande- die Kinder nun begegnen! ren Seite der Erde haben mir sechs Wochen Die Kindergärtnerin bat um Hilfe beim lang Gelegenheit gegeben, einen Einblick in Gestalten von Elternabenden. Sie wußte, ihre Arbeit zu tun. Sie freuten sich über Be- wie wichtig es ist, die Eltern zu begeistern such aus dem Ursprungsland der Waldorf- und zu informieren. pädagogik und öffneten mir bereitwillig Wie ein Gespenst lastete die Frage auf den Tür und Tor. In Auckland stand ich kaum Erwachsenen: »Werden unsere Kinder in fünf Minuten auf dem Schulhof – ich hatte Kindergarten und Familie genügend stimu- mich nicht angemeldet – da wurde ich ein- liert?« geladen, am Hauptunterricht der 4. Klasse Glücklicherweise lebte ich als Gast in ei- teilzunehmen, und schon saß ich mit den ner Familie mit einem zweieinhalb-, einem Kindern im Kreis und beobachtete mit ih- viereinhalb- und einem siebenjährigen nen weiße Mäuse im Anschluß an ihre Tier- Kind, so daß ich für die drei Phasen der kundeepoche! Kindheit Beispiele sammeln konnte, wie ein Es war täglich ein neues Geschenk, mit gesundes Kind sich durch seine natürliche Kollegen oder Eltern auf Entdeckung aus- Umgebung anregen läßt; diese Beispiele zugehen oder auszufahren: Über die südli- baue ich in meine Einführung eines Eltern- chen Alpen zur Westküste der Südinsel mit abends ein. Wir sprechen über die Haltung den »Pancake Rocks«, in den Regenwald der Erwachsenen, die nötig ist, damit die mit den fremden Pflanzen und den herrli- Kinder sich gut entwickeln können: die Hal- chen Vögeln, zum Stadtbummel in Welling- tung der Initiative, der Aktivität, der Liebe ton, zu den Vulkanen und Geysiren um Ro- zu dem, was wir tun. Auch hier schließt sich torua … eine Übung der Eltern an mein kleines Refe- Und ganz besonders eindrucksvoll war rat an, nach der sie ihre Erfahrungen reflek- es, nach der Konferenz den Sternenhimmel tieren können. gezeigt zu bekommen mit dem Kreuz des An einem weiteren Abend treffen wir uns Südens, Orion auf dem Kopf stehend (an zum Wasserfarbenmalen. Abgesehen von Ostern) und dem Mond, der nach der »fal- den Vor- und Nachbereitungen, die mit schen« Seite hin zunimmt! zum Prozeß gehören, erleben die Teilneh- Ich habe erlebt, wie die gemeinsame Auf- mer die Qualitäten der verschiedenen Far- gabe, Waldorfpädagogik zu praktizieren, ben, indem wir den ganzen Farbkreis ge- Menschen um die ganze Welt herum ver- stalten. Ruhe und Frieden kommt über die bindet und zu Freunden macht. Kia ora!2 aus ihrem Alltag heraus erregten Menschen. Brigitte Pietschmann Als großes Dankeschön empfinde ich den Abschiedssatz der Kindergärtnerin, sie 2 Das ist der Gruß zu Beginn und am Ende der habe nun Mut bekommen, mit den Eltern Maori-Unterrichtsstunden zu arbeiten, sie mit auf ihren Weg zu neh- men.

196 Starke Erlebnisse Von einer Siebtklaßfahrt an die Mecklenburger Seenplatte

Schon in der 5. und 6. Klasse wurden Fahr- Einsamkeit? Ohne Handy? Und wenn einer ten gemacht: in der 5. auf einen Reiterhof, ein Bein bricht? Wo sollen wir (Mädchen) mit Nachtwanderung, Besuch in einem Pri- auf die Toilette gehen? Was – ein Loch gra- vatschloß, Treckerfahrt und in der 6. nach ben und da hinein?! Nein – ohne mich! Idar-Oberstein, im Rahmen der Mineralo- Man sieht, es wurde an meiner Idee ge- gie-Epoche. So weit also das Übliche. Die kratzt. Kein Förster mochte offiziell Feuer nächste Fahrt sollte dann die Abschlußfahrt im Wald erlauben, im Juni. Einer sagte: in der 8. Klasse werden! In den Turbulenzen »Machen Sie es einfach!« Die Eltern stellten der 7. Klasse macht man ja am liebsten nur Fragen nach Versicherung, Hygiene, regel- seinen Unterricht und freut sich auf das mäßigen Mahlzeiten; aber auch sie waren Ende des als »anstrengendstes« verschrie- von der Idee, die Kinder einmal aus dem nen Jahres der Klassenlehrerzeit. Konsumalltag herauszubringen, angetan, Als chemischer Laie brachte ich mit litera- zumal ich nur geringe Kosten für acht Tage rischer Hilfe von Walter Dietz eine intensive versprach. Chemieepoche zustande, es stank und ex- Weitere Anrufe und Ideen, alles ruckelte plodierte reichlich, die Schüler und Schüle- sich von der radikalen Anfangsidee herun- rinnen waren beeindruckt, da spielten ter auf ein Konsensvorhaben. Ziel: Der Mü- HomeBoy oder andere Äußerlichkeiten ritzsee in Mecklenburg; Anreise: mit Wo- kurzzeitig keine Rolle mehr, Kaliumchlorat chenendticket; drei Tage Wandern mit allem war der Stoff. Vielleicht aus dieser Epoche Gepäck von Waren nach Mirow; Übernach- heraus stand plötzlich ein Bild der ganzen tung: im Zelt auf Campingplätzen; Kanu- Misere vor mir: Jung, pubertär, weltoffen, tour: drei Tage durch die Seen um Mirow sucht man … und trifft auf eine Erwachse- herum, Rückreise: per Wochenendticket, nenwelt, die – pauschal betrachtet – an- Kosten 150 DM pro Nase plus 50 DM Ta- scheinend nur hinter Geld, Macht und Sex schengeld. her ist. Kein Wunder, daß man »cool« blei- Drei Wochen vor dem Termin brachten ben muß – es gibt halt nichts, worauf das die Schüler ihre Zelte und Kochgeschirr mit Herz eines »initiationsreifen« jungen Men- in die Schule. Wir wanderten auf eine drei schen fliegen mag. Zugleich mit diesem Kilometer entfernte Wiese und schlugen Jammer hatte ich sofort die Idee: Raus! Raus Zelte auf. Dabei wurden unbrauchbare aus Konsum, Cola und Coolness durch eine Lochhütten entdeckt. Das Aufbauen und Erlebnisfahrt – eine Woche Natur pur! Nur Teekochen klappte. Zwei Wochen später mit Zelten, Schlafsäcken, Feuer unter freiem gab es auf freiwilliger Basis eine 16 Kilome- Himmel, ohne Geld, CD und Telefon! ter lange Testwanderung mit Übernachtung Ich wurde aktiv: »Outward Bound«, gab’s im Zelt auf dem Velmerstot, der höchsten das noch? Wo in Deutschland gab es große Erhebung des Teutoburger Waldes. Hier be- zusammenhängende Waldgebiete ohne Te- herzigte ich den Rat des weisen Oberför- lefon und Kiosk? Würde ein Förster mitma- sters, daß der Frevel vor der Anklage käme. chen? Zwölf hochbepackte Kinder ächzten vor Die Klasse (16 Mädchen, 15 Jungen) war dem Ziel erheblich, waren aber in der Nacht zunächst reserviert, aber meine Begeiste- wieder putzmunter. rung zog einige auf meine Seite, außerdem: In der letzten Woche erbarmte sich eine eine Woche keine Schule! Aber mitten in die Mutter als Begleiterin; ohne die weibliche

197 Begleitung hätte die Fahrt nicht stattfinden Bernhard, Raphael und Hannes mit der Axt dürfen – eine Kollegin fand sich nicht. geschält. Funde wie fingerdicke weiße Nach fünfmaligem Umsteigen und zehn Holzbocklarven traten zu Tage. Die Reak- Stunden Zugfahrt blieben noch vier Kilo- tionen waren verschieden: Aufschrei und meter zum Campingplatz zu laufen. Am Ekel einiger Kinder einerseits, aber auch nächsten Morgen streikte die Klasse – es Fürsorge auf der anderen Seite gegenüber war »so schön« am Wasser in der Sonne auf diesen weichen weißen Holzbockkörpern. dem riesigen leeren Platz, also blieben wir. Zum nächsten Tag hatte Herr Kreuer für ei- Es war entspannend, mit der eigenen Klasse nen kleinen Dampfer gesorgt, der uns zu ohne »Wanderstreß« einfach zu bleiben und dem nächsten Campingplatz übersetzte, sich wohlzufühlen, auch wenn es einen Ki- und so blieb den Kindern wieder ein Tag osk gab. Wandern erspart.« Die Mutter im Rückblick: »Rumgammeln Das Wetter war heiß und schön, also kein lag im Trend, Wandern mit Gepäck war Wanderwetter, und Tausende von Mücken ›out‹ und ›Quälerei‹. Dietmar Kreuer ließ tanzten und stachen. Auf dem neuen Cam- gewähren, und so gingen die ersten zwei pingplatz ließ ich es auch ruhig weiterlau- Tage ins Land bei Wasserspielen, beim An- fen, denn ein Trupp Jungen angelte stun- geln und Witze machen oder beim Essen denlang und beschaffte sich so das Abend- kochen auf dem Wiesengrund über der Gas- essen – wann können sie so etwas zu Hause flamme mit verschiedenen Tütensüppchen machen? Oder wann gibt es ein ähnliches und Nudelgerichten und allerlei Schmack- Gruppenereignis: »Einmal gab es eine span- haftem. Das Ganze wurde mit viel Coca- nende Kletterbaumvorstellung von Han- Cola morgens, mittags und abends abge- nes, Johannes und Raphael. Geschickt han- rundet und mit kleinen Süßigkeitensnacks gelten sie sich von Ast zu Ast und aus vier verfeinert. Man tummelte sich am Sand- bis fünf Meter Höhe hinab zu äußersten strand des Sees in kleinen Gruppen.« Zweigspitzen, um aus ein bis zwei Meter Und abends: »Riesige Baumstämme, die Höhe zurück zur Erde zu springen. Und als Sitzgelegenheiten dienten, wurden im wieder fand Hannes eine neue Möglichkeit Feuerschein des Lagerfeuers von Sebanja, zu neuen Kletter- und Sprungkünsten, wo-

198 bei er samt Ast aus vier Meter Höhe hin- abstürzte, jedoch ohne sich zu verletzen. Das war ein Schreck!« Der Tag der großen Wanderung kam, die wollte ich mir nicht nehmen lassen. Die frohe Botschaft verbreitete sich, und schon suchten die ersten Schüler mein Verständnis, daß sie unmöglich 20 Kilo- meter laufen könnten, mit 15 Kilo- gramm auf dem Rücken, bei 25 Grad im Schatten! Eine Schülerin wurde just in dieser Jammersprechstunde über das bei mir ruhende Handy vom Vater ange- rufen. Dieser, ein Orthopäde, verbot – auch aus mir einsichtigen Gründen – seiner Tochter die Wanderung. Nun be- stürmten mich auch andere Kinder, teil- weise mit echten Beschwerden, der vom Ast Gefallene, teilweise mit unechten. Ich beschloß, die Sache dem Gewissen der Kinder zu überlassen; zehn Kinder haben sie jetzt auf diesem! »Die Wanderung begann mit vielen Pausen, die eher ermüdeten als kräftig- ten. Alsbald erwies sich die Wanderkarte als den Mücken geärgert zu werden, also stei- unbrauchbar. Es gab wesentlich mehr Wege, gerte sich das Lauftempo der Kinder, trotz als auf der Karte eingezeichnet waren. Herr aller Beschwörungen des Nicht-mehr-Kön- Kreuer kam an den Punkt, wo er die Wan- nens. Drei Jungen, Markus, Johannes und derkarte beiseite legte und seinem Gefühl Hannes, gingen auf eigene Faust eine Ab- und der inneren Führung und der Sonne kürzung, die dann zwar nicht kürzer, aber vertraute. Die Stimmung aller Wanderer er- wohl erstrebenswert war. reichte ihren Höhepunkt, weil die Kinder es Während dieser anstrengenden Wande- als sinnlos erachteten, sich so durch den rung wurde der Klassenlehrer von seinen Wald zu mühen. Die Pausen nahmen über- Schülern aufgeklärt, was es auf sich hat, hand, Schwächeanfälle häuften sich, und Coca-Cola toll oder cool zu finden und da- öfter war zu hören: ›Oh, ich kann nicht mit zu relaxen. Eine Menge ihrer Energie mehr. Pause!‹ oder bis zu: ›Ach –, trag mich setzten sie in lautstarke Reden um. Er wie- doch!‹ Es wurde mehr geruht als gewan- derum hielt ihnen entgegen, welch ein gutes dert. Nun war härteres Durchgreifen erfor- Gefühl es wäre, seinen Körper zu spüren, derlich. Herr Kreuer hatte die Nase gestri- eben auch in Form eines Muskelkaters. Ant- chen voll und marschierte los, ohne sich wort: ›Der spinnt ja, was soll denn daran toll noch ein weiteres Mal nach den Zurückblei- sein!‹ Mir hingegen drohte ein Lachanfall benden umzudrehen. Nur Nele war ihm bei diesen amüsanten Gegensätzen …« ohne Mühe voraus. Wer ihn jetzt nicht aus Am Nachmittag des Wandertages hatten den Augen verlieren wollte, mußte laufen. wir die Kanustation erreicht und erlebten Übrigens bedeutete nun eine Pause, von nun drei herrliche Kanutage. Wir alle lern-

199 ten im Schnellverfahren von unserem Füh- kräftige Strömung und den Wind ankämp- rer, wie es geht. Es waren 13 Boote, also ne- fen. Deshalb sollten die Mannschaften an ben vielen Zweier- auch Dreierboote. Ein Land besser aufgeteilt werden. Starke Jun- Führboot und ein Schlußboot wurden be- gen sollten die gern Hilfe annehmenden stimmt, mit der Auflage, diese Positionen Mädchen begleiten, wobei aber die Schwe- auf jeden Fall zu halten. Da mußten sich ei- stern Schneeweißchen und Rosenrot darin nige der Kraftprotze im Schlußboot an die keinen Sinn sahen und wußten: ›Die brau- Kandare nehmen, ebenso wenn gemütliche chen wir nicht! Das schaffen wir auch!‹ Mädchen oder Jungen führten! Wir paddel- Die Kanadier-Tour war eine herrliche Be- ten elf Kilometer zu einem herrlichen Zelt- gegnung mit der Natur. Aber auch eine ech- platz. te Herausforderung. Das Über-dem-Was- »Dort entstand ein buntes Treiben. Jeder ser-Gleiten in aller Ruhe, das Fließen über baute seinen Schlafplatz auf, es kochte in die kleinen Wogen des Müritz-Sees mit sei- den Kochtöpfen, in Grüppchen wurde ge- nen vielen Nebenseen und Gewässerarmen. sprochen und gegessen und zusammenge- Drei Tage Fahrt auf den Seen, stets begleite- sessen. Nach diesem Tag war immerhin um te uns die Sonne, und so war es eine Won- 24 Uhr eine solche Ruhe eingekehrt; man ne.« hätte meinen können, sie schliefen alle. Ich möchte allen Siebtklaßlehrern Mut Das Bild am zweiten Morgen war köstlich machen, sich mit ihren Klassen auf eine anzusehen. Alle befanden sich schon in ih- ähnliche Herausforderung einzulassen, wo ren Kanadiern, um die Zwanzig-Kilometer- die Jungen und Mädchen selbst für ihre So- Tour zu beginnen. Ein Aufruf warnte vor zialgemeinschaft Verantwortung überneh- Sonnenbrand und einem Sonnenstich bei men und körperlich gefordert werden, ohne diesem hohen Stand der Sonne. So türmten den Bogen zu überspannen. Beim Rück- sich Handtücher, Hemden und Tücher zu blick, jetzt, ein Jahr später, zum Ende mei- turbanähnlichen Kopfbedeckungen, und ner Klassenlehrerzeit, wurde besonders die- die Kinder gaben eher ein Bild von Wüsten- se Fahrt – auch von den Eltern – immer wie- reitern auf ihren Kamelen ab. Und so war der als ein Höhepunkt der gemeinsamen man für den langen Wasserweg gewappnet. Zeit genannt. Zwei Kilometer mußten wir gegen eine (siehe auch Hinweis im Anzeigenteil) Sabine Arndt, Dietmar Kreuer

Schüleraustausch weltweit

Über den pädagogischen Wert von Schüler- werden müssen. Vorausgesetzt, daß von der Austausch braucht nicht mehr gesprochen eigenen Schule nichts gegen eine längere werden, der ist – Pannen ausgenommen – Abwesenheit einzuwenden ist, gilt es den für die Beteiligten förderlich. Angesichts Kontakt zu einer der ausländischen Schu- der Existenz von über 760 Waldorfschulen len, die eine Oberstufe haben, herzustellen rund um die Erde, wer sollte da nicht an (Welt-Schulliste beim Bund der Freien Wal- diese Art der Erweiterung des Horizonts für dorfschulen erhältlich). Die Kriterien – aus- seine Kinder denken? Wenn man die Sache gebaute Oberstufe, Fremdsprache, zu der allerdings anpacken will, ergeben sich zahl- ein Schüler bereits Grundkenntnisse erwor- reiche Fragen und Probleme, die bewältigt ben hat – schränken die Auswahl jedoch er-

200 heblich ein. An den Plätzen der Welt, wohin Nachfrage wird Koordination und Beglei- man ohnedies gerne einmal reisen würde, tung/Unterstützung im Gastland mitorga- haben die Schulen meist viel mehr Anfra- nisiert, des weiteren werden ein »Camp« gen als Kapazität, und der erste Kontakt mit zur Vertiefung der Sprachkenntnisse, Rund- der ausländischen Schule konfrontiert ei- reisen sowie Krankenversicherung angebo- nen auch mit den wirtschaftlichen Verhält- ten. Das Paket bietet die Organisation für nissen, unter denen die meisten außerdeut- 2500 bis 4000 US-Dollar an, was von man- schen Waldorfschulen leben. Ein Vielfaches chem Interessenten wohl als eine erhebliche unseres durchschnittlichen Schulgeldes Hürde erlebt wird. Zu diesen Ausgaben (220 Mark) ist aufzubringen. Alles in allem kommen die Reisekosten, Visagebühren ist der Weg vom Wunsch bis zur Realisie- und das persönliche Taschengeld hinzu. rung nicht so einfach, wie man sich das für Das (zusätzlich aufzubringende) Schulgeld die jungen Leute wünschte. wird entweder vom Gast voll gezahlt, oder Vor Jahren haben schon einmal die Eltern die Eltern der am Austausch beteiligten der European Waldorf Parents Federation Schüler zahlen an ihrer Schule einfach wei- den Versuch gemacht, eine Liste von Schu- ter; im Falle keines direkten Austausches len in Europa zusammenzustellen, die ihre hat die nicht entsendende Schule einen Aus- Bereitschaft und ihre Bedingungen für den tausch innerhalb der nächsten fünf Jahre Schüleraustausch in eine Liste eintrugen. Es »gut«. brauchte bedauerlich lange, bis sich eine ge- Die Organisation will an den beteiligten nügend große Zahl fand, die das Anfertigen Schulen Lehrer oder Eltern gewinnen, die einer Liste rechtfertigte. Kaum hatte man sie sich als Ansprechpartner für die Gastschü- zusammen (aus Deutschland kam eine (!) ler bereithalten, damit die Gäste und das Rückmeldung), war die Frage nach ihrer Thema des Schüleraustausches gut aufge- Aktualität schon wieder berechtigt. Die In- hoben sind. itiative kam ins Stocken, es blieb bei den pri- Angesichts der Kosten wäre es unterstüt- vaten Bemühungen, bei denen nach wie vor zenswert, wenn die Begegnung der jungen die Fremdsprachlehrer ihre Beziehungen Leute rund um die Welt auch aus Mitteln spielen lassen. eines lokalen oder übergeordneten Fonds Auf eine neue Initiative soll hier hinge- erleichtert werden könnte. Der Austausch wiesen werden, die sich als Non-profit-Or- unter Waldorfschulen ermöglicht in beson- ganisation besonders dem interkontinenta- derer Weise die Weitung des Horizonts un- len Austausch zuwenden will. Steiner In- serer Pädagogik, die sich weltweit in den ternational Education Exchange, gegründet jeweiligen Kulturkreisen und geprägt von von Patricia Thom, möchte den Austausch den jeweiligen Persönlichkeiten verschie- von Waldorfschülern aus den Zufällen von den realisiert. Gerade auch die Erfahrung Beziehungen, aus dem Wust von zu klären- an vergleichsweise kleinen Schulen mit in- den Fragen und Abmachungen befreien. tensiverem Gemeinschaftsleben und ande- Ihre Organisation wird Fragebögen an alle rer Arbeitssituation kann völlig unabhängig in Betracht kommenden Schulen mit Ober- vom Fremdsprachengewinn eine wertvolle stufen schicken und gleichzeitig Anmelde- Jugenderfahrung sein. bögen für Interessenten (gewünschte Orte, Die Adresse der Steiner International Unterbringung, Studien-, Freizeitschwer- Education Exchange: 741 Nelson Park punkte etc.) auf Anfrage verschicken. Ne- Circle, Longmont, Colorado 80503 USA, Tel. ben der Vermittlung von Angebot und 001-383-678-7733, Fax: -7401. Walter Hiller

201 BUCHBESPRECHUNGEN – LITERATURHINWEISE

Chronokratie auf, die unablässig für Unruhe vor allem in der Pädagogik sorgt, nämlich dem Druck Gerhard de Haan: Die Zeit in der Pädago- gewachsen zu sein, der von dem explodie- gik. Vermittlungen zwischen der Fülle der renden Wissen auf das menschliche Zeit- Welt und der Kürze des Lebens. 343 S., geb. maß ausgeht. Die moderne Curriculumfor- DM 44,–. Beltz Verlag, Weinheim, Basel schung weiß ja anschaulich zu demonstrie- 1996 ren, auf welche Weise unablässig reformie- »Die Uhren sind für den Menschen ge- rend, restaurierend, konzentrierend und macht, und nicht der Mensch für die Uh- letztlich chaotisierend Lehrplangestaltung ren!« – Der unter der Herrschaft der im öffentlichen Schulwesen betrieben wird. »Chronokratie« stehende Mensch der Neu- De Haan entwirrt die kaum zu überblicken- zeit ist dem Diktat linearen Zeitverlaufes de Vielfalt traditioneller und aktueller päd- unterworfen: Er muß Zeit sparen, sie nut- agogischer Lösungsmodelle, indem er in zen, darf sie nicht vergeuden, muß trainie- seiner Untersuchung in zwölf Kapiteln ren, dem sich immer mehr beschleunigen- letztlich eine Annäherung an die Frage nach den Tempo gewachsen zu sein und derglei- dem Sinn der menschlichen Existenz auf- chen mehr. Der obige Ausruf aus dem Jahre wirft: Wie ist das Verhältnis des Individu- 1534 (!) hat nichts von seiner Aktualität ver- ums zur Menschheit in ihrer Evolution zu loren, macht er doch darauf aufmerksam, verstehen, zu deuten, welche Bedeutung daß das Zeitbewußtsein eines der wesentli- hat das Lernen für den Menschen, und wie chen Fundamente menschlicher Identität ist das Lernen in der Schule zu gestalten? berührt. Nur folgerichtig, daß der Beginn Als Repräsentanten einer Möglichkeit, sich der Neuzeit gerade auch durch einen be- der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutsamen Bewußtseinswandel im Verhält- sinnstiftend zu bemächtigen, begegnet man nis zur Zeit markiert wird: Der Dualität von zunächst J. A. Comenius im 17. Jahrhundert »Ich-Zeit« und »Welt-Zeit« galt es künftig mit seiner Konzentration der Welt in nur ei- beizukommen. Wollte man der Fülle der nem Buch, dem »Orbis pictus«, das vor al- Welt in einer biographisch vertretbaren Zeit lem dazu gedacht war, Gottes Ordnung Herr werden, so galt es, das Lernen in Ge- sichtbar zu machen. Das profane Zeitem- stalt einer Zeiteinteilung zu instrumentali- spfinden irdischer Vergänglichkeit wurde sieren: Stundenpläne werden am Beginn somit geöffnet auf die Ewigkeit hin als einer des 16. Jahrhunderts modern, der gesamte Gewißheit, die dem Menschen Zuversicht Tageslauf wird minutiös geregelt und ihm und Sicherheit vermitteln sollte. genau der jeweils zu vermittelnde Lehrstoff Wie anders dagegen die Wirkung der zugemessen. Darstellung der Welt in der heutigen Medi- Im einleitenden Kapitel seiner umfangrei- enerziehung, wo unter Verlust sämtlicher chen Untersuchung wirft de Haan, Profes- Selektionskriterien die Bilderflut nicht sor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mehr die Repräsentation von Welt zu lei- an der FU Berlin, in einem anregenden kul- sten vermag. Bilder deuten nicht mehr auf turhistorischen Diskurs die Problematik etwas, sondern die Welt wird »durch die

203 Bilder zu einer, die aus Bildern besteht« dem Kinde, wird alles, von der vergange- (S. 94). »Implosion des Sinns« nennt de nen Generation nichts erwartet. Im Kinde Haan diesen Vorgang, was den Identitäts- werde der »kairos« wirksam als ein erfüllter verlust der modernen Menschheit treffend Augenblick, der Neuanfang, Umkehr er- charakterisiert. Diese Eckpunkte markieren mögliche: Die Pädagogik der »Stille«, die den inhaltlichen und zeitlichen Rahmen, in »Lektionen des Schweigens« bewirkten die- welchem der Wandel im Bewußtsein der sen evolutionären Einschlag. Menschheit in den letzten drei Jahrhunder- Der Bedrückung durch die Last des un- ten gegenüber der Frage, was und wie ge- endlichen Lehrstoffes sei aber auch damit lernt werden solle, wie zu erziehen sei, nun nicht zu entgehen. Im vorletzten Kapitel un- überaus kenntnisreich und unter Aufarbei- tersucht de Haan, wie »Haltepunkte« ge- tung einer reichen Fülle von Material abge- sucht werden, um sich in der wachsenden schritten wird. Flut von Wissen im 20. Jahrhundert zu be- So wird der Leser mit der Konsequenz haupten. In den 70er Jahren herrschte das des Evolutionsgedankens, wie er sich in der Paradigma der Wissenschaftsorientierung, Pädagogik Spencers findet, konfrontiert maßgeblich von H. Roth begründet. Derzeit und mit dem Zukunftsaspekt in der Theorie werden die »Schlüsselqualifikationen« als Schleiermachers vertraut gemacht. Moder- der Weisheit letzter Schluß präsentiert. Zu- ne Theorien und Praktiken werden diesen gleich wird weltweit der Ausweg gesucht gegenübergestellt: Die eine entwertet Ge- im »lebenslangen Lernen«. Das ist, so der schichte zu einem beliebigen Ereignis, an Autor, in Wirklichkeit nichts anderes als ein dem vor allem der Erlebniswert bedeutend Ausdruck der Kapitulation der Pädagogik ist, und erniedrigt damit die Stellung des vor dem Dilemma, der atemberaubenden Individuums im geschichtlichen Zusam- Beschleunigung der Verfallszeit des Wis- menhang mehr oder weniger zur Margina- sensstoffes nicht beizukommen, den Kon- lie; eine andere, behandelt in dem Kapitel flikt zwischen »Wissen« und »Können« »Transformatorisches Lernen am Ende der nicht lösen zu können. Aber werde so das Zukunft«, blickt auf den einzelnen Men- Problem nicht in den außerschulischen Be- schen, der die ganze Welt in sich trage und reich verlagert und damit die Schule als In- nur noch Methoden ihres Begreifens und stitution der Vermittlung von Wissen und Erfühlens lernen müsse – »New Age« steht Kompetenzerwerb überflüssig? De Haan hier Pate. Lessing versucht mit seiner »Er- kann keinen Trost, keinen Ausweg aus dem ziehung des Menschengeschlechts« im Zeit- heutigen Dilemma weisen. Sein Resümee ist alter der Aufklärung, der Unerbittlichkeit deprimierend: Im Szenario des Medienzeit- einer linearen Zeitvorstellung mit einer alters bleibt der Pädagogik nicht viel Sinn- sinnvollen zyklischen, nach Erfüllung stre- volles zu tun; die einstigen Orte pädagogi- benden Kontinuität zu begegnen und an scher Praxis geraten »zu Kopieranstalten dieser den Zusammenhang der Biographie der Medienwelt und zu Lokalitäten eines des einzelnen und der Generationen zu klä- hochgradig unsicheren Umgangs mit der ren. Dieses Beispiel bildet den Übergang zu Lebenszeit der dort zusammentreffen Per- einem Denken, das den allmählichen Verfall sonen«; die pädagogische Theorie registrie- der Entwicklung der Menschheit konsta- re in ihrer Zeitanalyse die Verluste, als tiert und im Kinde den Neuanfang ent- Handlungswissenschaft sei sie überdies deckt. Rousseaus »Émile« markiert hier den längst desavouiert (S. 310). entscheidenden Ausgangspunkt, der bei M. Da mag dem Leser der Atem stocken, Montessori bis in die Ansicht vom Kinde als doch wenn man der umfangreichen Argu- eines »Messias« gesteigert wird: Von ihm, mentationskette des Autors folgt, ist dies

204 nur konsequent und schlüssig. In einer Er- tonten Bildern anhaftet. Fernsehbilder lebnisgesellschaft, in der Weltbemächti- zwingen die Augen, in Höchstgeschwindig- gung nur noch in der ständigen Realisie- keit genau festgelegte Abfolgen von Bildern rung aller Möglichkeiten geschieht, könne und viel mehr davon anzusehen, als die man eigentlich nur noch Welt versäumen – Kinder aufnehmen können. Die Bilderlawi- der Sinn des Lebens entgleite. – De Haan ne engt die Phantasie ein und begräbt sie führt seine lesens- und bedenkenswerten sogar. Ihre Macht beruht aber auch auf dem Analysen schonungslos bis zur radikalen in ihr enthaltenen Angebot, aus der Realität Konsequenz durch. Man wird wach an sei- zu fliehen; die Bilder handeln von unerfüll- nen Schlußfolgerungen und empfindet vor ten Wünschen und Begierden, von unbear- allem eines mit aller Deutlichkeit: Nur auf beiteten Ängsten und Gefühlen, von The- dem Fundament einer Anthropologie, die men, die in der Gesellschaft und den Zu- den Menschen nach Leib, Seele und Geist schauern real vorhanden sind. versteht, können sinnvolle Wege der Ver- Gewaltfilme haben das gleiche Muster, mittlung »zwischen der Fülle der Welt und treiben es nur auf die Spitze: »Sie zeigen, der Kürze des Lebens« gegangen werden; was mit der Zivilisierung gewonnen und das Dilemma de Haans weist hin auf die was verloren wurde. Sie zeigen, was das ar- Notwendigkeit eines zeitgemäßen Ver- chaische Recht des Stärkeren bedeutet hat ständnisses von Reinkarnation und Karma und bedeuten kann.« Kinder – und Erwach- in der Erziehung.1 Walter Riethmüller sene – sehen Gewaltfilme, weil in ihnen Konflikte behandelt werden, mit denen sie sich plagen, die hier aber ziemlich simpel Visuelle Analphabeten gelöst werden. Das eigentliche Problem liegt nicht in den Ute Benz: Warum sehen Kinder Gewaltfil- Bildern der Gewalt, sondern in der Gewalt me? Beck’sche Reihe 1245, 150 S., Pb. der Bilder. Unwiderstehliche Bilderfluten DM 19,80. Verlag C. H. Beck, München verdrängen das Wort und damit auch das 1998 Denken, kritische Kommunikation und Pädagogen, Psychologen und Soziologen Selbstreflexion. Auch gewaltfreie Bilder, Bil- wollen wissen, wie Gewaltfilme auf Kinder der des Schönen, sind manipuliert und ma- wirken. Die Kinder- und Jugendpsychothe- nipulieren uns. rapeutin Ute Benz erweitert den gängigen Kinder können das nicht durchschauen, Diskussionsansatz und will in dem vorlie- sie sind »visuelle Analphabeten«. Sie sehen genden Band klären, was Kinder an diesen naiv und verlieren angesichts der Bilder die Filmen fasziniert, warum sie sich diese Sen- Sprache, können ihre visuellen Eindrücke dungen im Fernsehen ansehen wollen – nicht annähernd angemessen in Worte fas- und wie Erwachsene damit umgehen sol- sen und nicht »hinter die Bildebene sehen«, len. um den Zusammenhang von fremder Ab- Als bedeutenden Faktor entlarvt sie die sicht und eigener Wirkung zu erkennen. So Faszination der Bilder schlechthin, die Ag- werden sie in Situationen der Ohnmacht gressivität, welche beweglichen und ver- und Isolation getrieben – auch wenn der Film angeblich gewaltfrei ist. Es besteht of- 1 Wer sich mit dieser These auseinandersetzen fenbar eine Wechselwirkung zwischen der möchte, sei auf ein kürzlich erschienenes Buch von Hartwig Schiller hingewiesen: Da ist je- Zunahme des Fernsehkonsums, kindlicher mand in dir, den ich kenne – Die Idee von Re- Sprachunfähigkeit – und kindlicher Aggres- inkarnation und Karma in der Pädagogik, sivität. Die Kinder sind nicht mehr in der Stuttgart 1998. Anm. d. Red. Lage, Konflikte verbal auszutragen. Sie wei-

205 chen ihnen aus – oder tragen sie brachial über zu reden. Oder heißt das: den Teufel aus. mit dem Beelzebub austreiben? Ute Benz Und hier setzt der Benz’sche Lösungsan- fordert nicht das Ende der medialen Aus- satz ein: »Die naive Offenheit, mit der Kin- beutung der Kinder – vielleicht hängen die- der sich filmischen Bildern zuwenden, ist se Trauben tatsächlich zu hoch –, vielmehr einerseits eine wunderbare Fähigkeit, die sollen Gespräche darüber die Bilder unter- Kinder zu begabten Sehenden zu machen, laufen oder ins Leere laufen lassen. aber die Naivität ihrer Wahrnehmung Nun will niemand in Zweifel ziehen, daß macht Kinder andererseits auch in solchem Eltern mit ihren Kindern über das Fernseh- Maße durch kommerzielle Interessen aus- programm reden sollen, daß es sich lohnt, beutbar, daß man Kinder so früh wie mög- sich über konflikt- und angstbesetzte The- lich, d. h. lange vor Schulbeginn, darin un- men auszutauschen. Vielleicht gilt auch: terstützen muß, Bildern gegenüber eigene »Wo die Fähigkeit zur Auseinandersetzung Worte zu finden, um Bilder zu fragen, wer mit verbalen Mitteln über unterschiedliche sie wie gemacht hat.« Kinder sollen das Ansichten entwickelt ist, dort reduziert sich Dreiecksverhältnis Kind – Film – Regie die Gefahr, daß mit gewalttätigen Mitteln durchschauen können, sollen fragen, war- operiert wird.« Doch ihre Vision von der vi- um, mit welchem Interesse die Bilder ge- suellen Alphabetisierungskampagne als macht wurden und warum sie für sie emp- dem Ende der medialen Ausbeutung ist fänglich sind, welche eigenen Konflikte da- wohl doch zu mechanistisch und auch un- mit in ihnen angesprochen werden. realistisch: Wer soll diese Aufgaben leisten? Ute Benz ist zuversichtlich: Kinder brin- Die Eltern, deren Kinder stundenlang vor gen gute Voraussetzungen mit, kritisch se- der »Glotze« sitzen, werden dazu wohl aus hen zu lernen, dahinterzukommen, wer vielen Gründen nicht in der Lage sein. Und was wie und mit wem macht, also das visu- so wird die Forderung nach visueller Bil- elle Analphabetentum zu überwinden. dung im Nu zu einer Frage der Erwachse- Schließlich stünden genügend technische nenbildung, nicht aber zu einer Strategie für Mittel zur Realisierung der visuellen Bil- Sechsjährige. Kinder, die im Meer der Bilder dung bereit: etwa die Videotechnik, mit der schwimmen gelernt haben, könnten sich die Diktatur der Zeit im Film gebrochen selber über Wasser halten, meint Ute Benz. werden könne. Aber erstens gibt es zu wenige Schwimm- Das einzige Problem, das sich nach ihrer lehrer, und zweitens ist es vielleicht besser, Meinung auf diesem Weg stellt, sind die Er- nicht so oft baden zu gehen. wachsenen. Sind sie bereit, die Hindernisse Susanne Pühler auf ihrer Seite abzubauen? – ihren falschen Anspruch, die Bilderwelten in gute und böse spalten zu wollen, und ihre Fixierung Schlafkrankheit auf Gewaltbilder anstatt auf Bilder schlecht- Susanne Schäfer: Die »Schlafkrankheit« hin? Die meisten Erwachsenen hielten visu- Narkolepsie. 292 S., geb. DM 38,–. Verlag elle Bildung, also Medienerziehung, eher Freies Geistesleben, Stuttgart 1998 für überflüssig, nutzlos oder geschäftsschä- digend. Wer Susanne Schäfers bewegende Autobio- Das ist also des Pudels Kern: Überwin- graphie Sterne, Äpfel, rundes Glas – Ein dung des visuellen Analphabetismus, Me- Leben mit Autismus gelesen hat, wird ge- dienerziehung, Kinder und Erwachsene spannt sein auf ihr zweites Buch über die sollen lernen, auf die Bilder der Gewalt und »Schlafkrankheit« Narkolepsie. Was hat die die Gewalt der Bilder hinzusehen und dar- Autorin bewogen, so bald noch einmal über

206 sich zu schreiben und dieses Mal aus einer werden eingesetzt, um ihre Wachphasen zu erstaunlich neuen Perspektive? verlängern. Narkolepsie ist nicht heilbar, Nach einer erst mit 24 Jahren gestellten die Auswirkungen sind jedoch beeinfluß- Diagnose bei einem schwedischen Autis- bar. Ritalin gibt den Ausschlag, daß sie für mus-Spezialisten galt sie dort als Vorzeige- jeweils einige Stunden erstmals erlebt, was objekt für reinen Asperger-Autismus mit al- es heißt, richtig wach zu sein. Mit einem len typischen Symptomen. Wenn sie auch neuen Lebensgefühl und großer Dankbar- nicht heilbar war, half die Veröffentlichung keit sieht sie die Welt und sich in einem neu- doch ihr und ihrer Umgebung, ihr Anders- en Licht. Wie von einem Zauber befreit, ver- sein zu akzeptieren. Nun brauchte sie ihre schwinden in diesen Phasen die Symptome »komische Art« nicht mehr zu verleugnen. ihres »reinen« Autismus. Sie kann kommu- Aber eines versuchte sie doch weiterhin zu nikativ sein, spricht flüssiger, arbeitet ziel- verheimlichen: ihre ständige Schläfrigkeit. strebiger, so daß ihre Kollegen über den Wie konnte es sein, daß sie selbst bei ihrer »neuen Kerl« große Augen machen. geliebten Arbeit in der Herstellung opti- Mit dieser neu geschenkten Energie erge- scher Linsen immer mit dem Schlaf kämp- ben sich für die Autorin eine Fülle von Fra- fen mußte? Humorvoll schildert sie, welche gen und neue Interessengebiete. Was ist nun Tricks sie anwendete, um sich unauffällig eigentlich ihre Grundkrankheit? Könnte es ihr »Mützchen Schlaf« zu holen. War ihr nicht sein, daß die Narkolepsie Verursacher »Nachteulendasein« – ihre wachsten Stun- aller autistischen Auffälligkeiten ist? »Wer den hatte sie nach Mitternacht – wirklich war zuerst, die Henne oder das Ei?« Sie ein rein autistisches Symptom? zählt alle ihre autistischen Sonderlichkeiten Trotz vieler innerer Vorbehalte macht sie auf und stellt fest, daß ständig müde Men- sich in ihrer Verzweiflung auf den Weg in schen ähnliche Reaktionen zeigen. Wer kann eine Schlafklinik. Von den Ergebnissen ist z. B. noch Interesse an seiner Umgebung zei- sie erst einmal bestürzt, stellen sie doch die gen, wenn er sterbensmüde ist? Sie beginnt sichere Diagnose, primären Autismus zu zu zweifeln, ob es überhaupt primären Au- haben, in Frage. Susanne Schäfers Schlaf- tismus gibt oder nicht eine andere Grund- Wach-Rhythmus ist mit 10 Stunden statt mit krankheit zu dieser Entscheidung führt. 24 Stunden den Drehungen des Jupiter, aber Entschieden appelliert sie an das ärztliche nicht dem Erdendasein angepaßt. Die Frage Spezialistenteam, das viel fachübergreifen- des Arztes: »Wie ist es, wenn Sie lachen – der arbeiten müßte, um einseitige Diagno- wird Ihnen da weich in den Knien?« gibt sen wie in ihrem Fall auszuschließen. Ausschlag für die Diagnose Narkolepsie, So ist Susanne Schäfers Buch einerseits die Susannes Leben entscheidend verän- ein Appell an die Mediziner, ihr Detailbe- dert. Die Tatsache, daß u. a. physiologische wußtsein zu erweitern. Ihr besonderes An- Prozesse in den Schlaf- und Wachphasen liegen ist wohl aber, die unbekannte Krank- bei dieser Krankheit verdreht sind, erklärt, heit Narkolepsie populärer zu machen und daß sie bei emotionalen Reaktionen Mus- Betroffenen damit zu helfen. Gründlich keltonusverluste (Kataplexien) erleidet, die führt sie den Leser in die Erscheinungsfor- eigentlich Erscheinungen während des Tief- men dieser Krankheit ein, bemüht sich um schlafs sind. Erst einmal verwirrend für die wissenschaftliche Erklärungen und verle- Autorin, der diese Zustände von Autismus- bendigt sie durch eigene Erlebnisse, wie z. Spezialisten als Katatonische Erstarrungs- B. die bedrohlichen Aufwachhalluzinatio- zustände geschildert wurden. nen, wo sie wie gelähmt in Bett liegt und Nun beginnt für Susanne Schäfer eine regelrechte Horrorvisionen hat. Um die neue abenteuerliche Zeit. Psychopharmaka Narkolepsieforschung mit vorantreiben zu

207 helfen, stellt sie sich bereitwillig als »Labor- Kalevala aus Finnland kennt man – übri- ratte« zur Verfügung und erarbeitet sich ein gens der Brockhaus auch. erstaunliches neurologisches Wissen. Es ist Warum ist die Kalevala, das Volksepos beeindruckend, welche Energien und wie- der Finnen, so viel bekannter als der estni- viel Forschergeist mit der Erweckung aus sche Kalevipoeg, der gewissermaßen eine ihrem »Dauerschlaf« frei geworden sind Weiterführung der Kalevala ist? – Beide und wie sie schonungslos daran arbeitet, sie Epen wurden im vorigen Jahrhundert aus ihren Mitmenschen zunutze zu machen. Ihr mündlicher Überlieferung gesammelt. »Der Buch ist mit großem Engagement geschrie- Plan, aus den zahlreichen Sagen und Lie- ben, wenn auch ihre Emotionalität manch- dern von Kalevipoeg ein Epos zu schaffen, mal überschießt und ihm dann die Objekti- stammt von Friedrich Robert Faehlmann vität nimmt. Es ist lesenswert, auch für ge- (1798-1850), dem Gründer der Gelehrten sunde Schläfer. Estnischen Gesellschaft. Nach Faehlmanns Vielleicht mag manch einer fragen, ob das Tod setzte der Arzt F.-R. Kreutzwald seine erste Buch mit seinen neuen Erkenntnissen Arbeit fort.« (So Kindlers neues Literaturle- »out« ist. Keineswegs ist das der Fall, denn xikon.) Kreutzwald veröffentlichte diese in ihre Verhaltensweisen nehmen wieder auti- eine Einheit gebrachte Sammlung im Jahr stische Züge an, sobald sie bei zwischen- 1861 in deutscher und estnischer Sprache. zeitlicher Absetzung der Psychopharmaka Die Kalevala, gesammelt von Elias Lönnrot, in ihre Schläfrigkeit zurückfällt. erschien in Finnland im Jahr 1849, also zur Es zeugt vom Mut und der Offenheit der selben Zeit, als auch an dem Kalevipoeg- Autorin, wenn sie sich auf alten Aussagen Epos in Estland schon gearbeitet wurde. nicht ausruht, sondern bereit ist, das Leben Während in der Kalevala grandiose Bil- immer neu anzuschauen, auch auf die Ge- der vom Wirken der Schöpfermächte und fahr hin, bei manch einem vielleicht frag- von der Erschaffung der Welt bis zur An- würdig zu werden. Sabine Brues kündigung einer neuen Entwicklung mitge- teilt werden, erfahren wir im Kalevipoeg das schrittweise Herabsteigen des Men- Estnisches Volksepos schen in die physische Welt in einem steten Kampf mit den Widersachermächten. Das Friedrich Balcke (Hrsg.): Kalevipoeg. Vers- Gute findet durch das Böse zu sich selbst. So epos von F.-R. Kreutzwald. 75 S., kart. DM erscheint der Held Kalevipoeg nach vielen 19,80. Verlag Harro v. Hirschheydt, Wede- Verirrungen und Kämpfen zuletzt wie ein mark-Elze 1997 Heiliger. Wer ist Kalevipoeg? – Ich muß gestehen, Es ist wahrlich verwunderlich, daß eine daß ich keine Ahnung hatte. Diesen Namen derart dramatische, spannungsgeladene hatte ich noch nie gehört, bis ich das Büch- Volksdichtung so lange allgemein unbe- lein von Friedrich Balcke in die Hände be- kannt geblieben ist. War daran vielleicht die kam. Zu meiner Genugtuung suchte ich den Versform des Epos schuld? Schreckten Le- Kalevipoeg auch im Brockhaus-Lexikon ser davor zurück? (Es umfaßt 20 Gesänge vergeblich. Dann belehrte mich jedoch mit je 900 Versen.) »Kindlers neues Literaturlexikon«, daß Ka- Dem hat Friedrich Balcke, der den Kalevi- levipoeg der Held des gleichnamigen poeg seit Jahren begeistert für seine Schüler Volksepos Estlands ist. im Unterricht lebendig werden läßt, jetzt Kalevipoeg heißt »der Sohn des Kales«, Abhilfe geschaffen, indem er ihn in Prosa und Kales heißt »der aus Kalevala Kom- schriftlich nacherzählte und herausgab. mende«. Das klingt schon vertrauter. Ja, die Ohne daß am Inhalt etwas verändert wur-

208 de, ist das Epos nun leicht faßlich und zieht zu einem imaginativen Bewußtsein vorzu- mit kraftvoll dramatischer und doch stoßen, das er richtig bei den Kelten voraus- schlichter Sprache den Leser in seinen Bann setzt und aus dem heraus man allein sich bis zu dem tragischen Ende Kalevipoegs, ihnen nähern kann. Auch Alfred Haffner, der mit eingeklemmter Faust das Höllentor der Herausgeber des hier zu besprechenden bewachen muß: »Manchmal versuchte Ka- Buches, weiß von dieser Schwierigkeit und levipoeg, seine mächtige Rechte aus dem räumt ein, daß wir die archäologischen Felsen zu reißen. Er schüttelt dann heftig Funde und Befunde »nur im Kontext unse- und rüttelt wie rasend. Dann erbebt der Bo- rer eigenen Ideen und Denkschemata … zu den, die Hügel schwingen und schwanken, verstehen vermögen« (S. 20). und die Meerflut schäumt mächtig auf. Die vorgelegten Untersuchungen be- Aber Manas Hand hemmt den Helden, so schäftigen sich mit zwei Formen von Heilig- daß er weiter seine Wache am Tor hält, daß tümern und Kultplätzen und den dort ver- er weiter der Hüter der Hölle bleibt. mutlich vollzogenen Opferbräuchen: den Einmal wird die Zeit kommen, dann wer- gallischen Umgangs-(Prozessions-)Tem- den die Späne an zwei Enden angezündet. peln aus Holz mit einer über Jahrhunderte Sie werden flammen. Durch die Flammen- gehenden baulichen Entwicklung (6.-2. Jh. gluten wird die Hand des Helden frei wer- v. Chr.) und den mitteleuropäischen Vier- den. Dann kehrt der Kalevide heim, um sei- eckschanzen, die man schon lange als Kult- nen Kindern Glück zu bringen, um Estland plätze (sog. »starke Orte«), nicht als Vertei- neu zu schaffen.« Elke Blattmann digungsanlagen, aufgefaßt hat. Quadrat- und Rundtempel sind nachgewiesen, au- ßerdem rätselhafte Kultschächte oder Op- Keltische Vorfahren ferbrunnen. In ihnen wurden die Überreste von religiösen Handlungen, die sich wohl Alfred Haffner (Hrsg.): Heiligtümer und an Unterweltsgottheiten richteten, sehr Opferkulte der Kelten. Sonderband sorgfältig deponiert: Terrakotta-Statuetten, »Archäologie in Deutschland«. 124 S. mit Tongefäße, Schmuck, tierische und manch- 109 meist farbigen Abb., geb. DM 39,–. mal menschliche Knochen. Vereinzelt fand Theiss Verlag, Stuttgart 1995 man sehr ausdrucksstarke Götterbilder aus Innerhalb der Waldorfschule tauchen die verschiedenem Material. Zu vielen Heilig- Kelten als Unterrichtsthema kaum auf; zu tümern gehörten auch »Ossuarien«, in de- übermächtig und leichter greifbar ist der nen menschliche Knochen in einer deutlich Stoff, den Germanen und Griechen bieten. sichtbaren Ordnung zusammen mit Waffen Dabei ließen sich in der 6. und 10./11. Klas- und Kultgegenständen verwahrt wurden. se dem Keltentum interessante Gesichts- Man schien wie in Ägypten zu wissen, daß punkte abgewinnen, weil es von einer auto- die Ruhestätte der Toten ein günstiger Ort chthonen spirituellen Kultur in Mittel- und war, um die Verbindung mit den Göttern zu Westeuropa zeugt, die als Unterströmung suchen. Daß die Kelten ausgeprägte Toten- über Jahrhunderte weiterwirkte. Über »Das rituale besaßen (was bei einem Volk immer geheime Wissen der Welten« hat Lancelot für eine hohe Kultur spricht), ist sicher, ob- Lengyel schon vor Jahren anhand von kelti- gleich man Einzelheiten aus den archäologi- schen Münzbildern überzeugende Ergeb- schen Befunden erschließen müßte. Man nisse vorgelegt (1969, deutsch 1976).1 Ihm glaubt annehmen zu dürfen, daß die Lei- gelingt es, die rationalen Denkgewohnhei- chen nicht immer verbrannt oder begraben, ten (er spricht von unserem eingeengten ari- stotelischen Denken) zu durchbrechen und 1 Hermann Bauer Verlag, Freiburg/Br. 71991

209 sondern auch der Luft ausgesetzt wurden, das Höhlengebiet verlassen. Sie werden zu um sie so zu mumifizieren. Einiges deutet dem Einsiedler und Sonderling Kamuk in auch auf »Menschenopfer« hin, die aber das »Tal des Vergessens« geschickt, um dort aufgrund der anderen Bewußtseinslage da- eine Ausbildung fürs Leben zu erhalten. mals u. U. als freiwillige Hingabe an die Diesmal sind unter ihnen die Freunde Prinz Götter verstanden werden können. Die Be- und Kai – damit beginnt die Geschichte. richterstatter gehen hierauf jedoch nicht ein. Als die zwei nach einiger Zeit zur Probe Der Band stellt besonders eindrucksvolle in die Stadt geschickt werden, verwickelt Beispiele moderner archäologischer Feld- sie ihre spontane Hilfe für ein verfolgtes forschung zwischen England und Tschechi- Kind in böse Ränke und bringt sie in Le- en vor, über die mehrere international be- bensgefahr, so daß sie bald selber auf der kannte Wissenschaftler in allgemeinver- Flucht sind. Sie geraten in einen erbitterten ständlicher Form berichten. Auch wenn die Kampf um den Thron von Turmalin, des- Kelten für den Lehrer nur am Rand wichtig sentwegen ein Mädchen als Junge ausgege- sein mögen, sollte er einmal zu so einer Ver- ben wurde, die Mutter nach der Geburt öffentlichung greifen. Er wird – getreu der starb, die Hebamme verwirrt wurde und Erwartung Rudolf Steiners, der Lehrer soll- der Narr aus dem Schloß verschwand. Erst te auch selber forschen – Einblick in eine auf den letzten Seiten, als alle im Schloß des interessante Wissenschaft und ihre Metho- Königs von Turmalin zusammentreffen, den gewinnen. Abgesehen davon wird er wird das Geheimnis gelüftet. Die Bösen (wenn er in Süddeutschland arbeitet) viel- richten sich selbst, und die Kinder werden leicht bei einer Klassenfahrt solche »starken als Unterhändler für den Frieden zwischen Orte« wie die Oberburg bei Egesheim Krs. dem Turmalinvolk und den »Krähen« in Tuttlingen oder die Wallburg von Manching ihre Heimat geschickt. Außerdem bahnt bei Ingolstadt berücksichtigen. Eltern kön- sich eine Liebesheirat zwischen den Thron- nen hier Anregungen für ihre Familienun- folgern beider Reiche an. ternehmungen finden, und auch Jugendli- Ort und Zeit der Geschichte sind offenge- chen mit dem Hang zu Vorgeschichte und lassen. Landschaft und Requisiten lassen je- Ausgrabungen kann man das Buch in die doch England im Übergang zur Neuzeit Hand geben. Christoph Göpfert vermuten. Die Lebensweise der »Krähen« erinnert zuweilen an Indianer und dürfte deswegen Kindern im Alter der Helden (ab Königskinder 10 Jahren) gefallen: die Krähe als Totem, der Krähentanz, der Umgang mit Pferden, Pfeil Bert Kouwenberg: Das Geheimnis der Klei- und Bogen, das Feuer-Machen und Spuren- nen Krähen. 145 S., geb. DM 26,–. Verlag Verwischen. Etwas verwunderlich ist des- Urachhaus, Stuttgart 1998 halb die flotte, dialogreiche Sprache im Jar- Die Handlung des aus dem Niederländi- gon unseres Jahrhunderts – was Kindern schen übersetzten Buches sei nur in groben wahrscheinlich nicht auffällt, sondern ent- Zügen erzählt, damit jedem die Spannung gegenkommt. Der Erwachsene jedoch, der und Überraschung beim Lesen erhalten in eine Welt eingetaucht ist, in der man nur bleibe. Ein Volk, das vom König des Turma- mit Pferden vorwärtskommt, mag einen linvolkes vertrieben wurde, lebt im Exil in Satz wie »Nerv mich doch nicht ständig!« Gebirgshöhlen und nennt sich seit da die (S. 22) schmunzelnd für sich in »Ich mag es »Krähen«. Mit elf Jahren werden die Jungen nicht leiden, wenn du immer so redest!« des Stammes durch ihren ersten Krähen- übersetzen. Auch »nicht wahr, Paps« (S. 25) tanz zu »kleinen Krähen« und dürfen nun wirkt etwas irritierend. Doch vergißt man

210 es wieder vor lauter Spannung und über- So darf diese Stelle zu Recht als Zentrum läßt sich gerne dem wohlproportioniert da- des Buches angesehen werden, denn es han- hinfließenden Gang der Handlung. delt davon, wie Kinder durch weise Füh- Erst nach dem Lesen des Buches fiel mir rung von Menschen und dem Schicksal zu auf, wie selten die Natur geschildert oder ihrem inneren (und äußeren) Königtum fin- eine Umgebung genauer beschrieben wird. den. Sie überwinden dabei negative Nei- Alles ist auf das dramatische seelische Ge- gungen wie Eifersucht und gehen den Er- schehen unter Menschen zugeschnitten. wachsenen voran: Sie vertragen sich jen- Und hier sind nach Art der Märchen – be- seits der Stammesgrenzen und halten zu- wußt oder unbewußt gestaltete – seelische einander in Gefahr und Leid. Insofern ist Wahrbilder zu finden. Drei Mitstreiter von das Buch nicht nur wegen seines Unterhal- Prinz und Kai sind ausgeprägte Charaktere, tungswertes, sondern auch wegen seines in denen die drei Seelenkräfte in Reinheit verborgenen erzieherischen Gehaltes zu ins Bild gebracht wurden: der schweigsame empfehlen. Barbara Messmer Beobachter (Denken), das prahlerische Plappermaul (Fühlen) und der gutmütige Starke (Willen). Eine Episode verdient eine genauere Be- Kinderbücher bei trachtung, denn sie ist die spirituell gehalt- Mellinger vollste: die Zeit der Jungen bei Kamuk. Wie werden sie ausgebildet? Sie kommen voller Der Mellinger Verlag ist der älteste anthro- Erwartungen an, und erst einmal geschieht posophische Verlag in Stuttgart, und wer – nichts. Sie helfen Kamuk zwar bei der Ver- gute Märchen und Bilderbücher für den sorgung von Haus und Tieren, bleiben sonst Kindergarten und die Unterstufe sucht, fin- aber sich selbst überlassen. Dann endlich det hier eine reiche Auswahl. Dem Klein- zeigt Kamuk ihnen, wie er ohne Sattel Pfer- kind gibt man gerne kräftige Pappbände de sehr kunstvoll reitet. Dies lernen die Jun- wie Jurate Lektienes Pieps’chens Abenteuer gen nun mit Feuereifer. Aber das Wichtigste mit Bildern von einem alten Bauernhof, mit ist: kein Tier zwingen, sondern nur führen. einem Hahn auf dem Mist und Pilzen im Genauso beim Bogenschießen: Die Ziel- Wald. Michael und Johanna Schneider scheibe sind Äpfel, nicht fliegende Vögel. brachten das farbenfrohe Buch Ein Herbst- Es ist ein Weg der Gewaltlosigkeit, den Ka- spaziergang heraus, in dem der Pfau Lauri- muk sie lehrt, sie lernen alles für ihre Vertei- zius eine herrliche Rolle spielt, denn er re- digung, aber nicht das Angreifen und Mor- det in Versen und zeigt sein Rad mit Stolz. den. Dies begreifen die Jungen nicht – echte Enten, Eichhörnchen, große Hunde und der »Krähen« müssen doch tapfer und stark Rabe Emil ermuntern die Kinder draußen sein! Wie sich später herausstellt, ist Kamuk beim Spielen, wo sie Kastanien und Äpfel durch das Mitempfinden von großem Leid finden, Boote aus Rinde bauen. weise und gütig geworden. Am Abend, be- Dem Band von Maya Peter Erinnerungen vor er die Jungen in die Stadt schickt, fragt an meine Großmutter wünsche ich mir Le- er sie, was sie werden möchten, und sagt ser jeden Alters, ist doch heute selten eine so ihnen in diesem Zusammenhang, daß sie ideale Persönlichkeit, wie sie hier vorge- alle König werden können: »Niemand von stellt wird, im Leben zu finden. Aber man euch ist gewöhnlich. Alle Kinder sind Kö- kann streben, so zu werden! Jedes Kind will nigskinder!« (S. 49) Dieser Ausspruch, nach etwas aus der Kindheit der Eltern und Jaques Brel zitiert, wurde dem Buch als Großeltern wissen, aus einer Zeit ohne Motto vorangestellt. Flugzeuge oder Fernseher, wo die Men-

211 schen mehr Zeit füreinander hatten. Maya nen Drachen mit unglaublichen Abenteu- Peter erzählt vom Sommer, wo es unter dem ern und inniger Liebe zu den verborgenen Lindenbaum Geschichten von Elfen, Zwer- Elfen, denen wir die üppige Vielfalt der Na- gen und Tieren gab; im Winter waren es tur verdanken. Auch Spinnen und Kröten Märchen. Unbefangen spricht die Großmut- werden die Leser schätzen lernen! ter vom Tod, liebevoll von der Geburt des Den Neunjährigen hat Ilse Haak die Bru- kleinen Geschwisterchens, und man spürt dergeschichte Jool und Tosa gewidmet, die tiefe Dankbarkeit dem Alter gegenüber. von Karin Haslinger illustriert wurde und Ganzseitige Bilder von Stephanie Wagner uns in ferne, warme Länder führt. Wenn es zeigen die Jahreszeiten, sogar ein Pferde- Zeit wird, die Eltern zu verlassen, ist es gut, schlitten ist dabei! beim Adler Antworten zu finden, und Jool Ganz anders ist der Ton in Karin Müllers entdeckt den Weg vom Adlernest zur Mee- Änderling, einem Buch über ein merkwürdi- resbucht, wo der Delphin zu seinem Freund ges Kuscheltier, das aus der schüchternen wird. Auf nur 50 Seiten ist ein Jungenbuch Laura eine mutige Tochter macht, die in der entstanden, welches starke innere Bilder Klasse Freunde gewinnt und sogar eine hinterläßt. Nacht alleine in der Wohnung verbringt, In der Trilogie Sieben Perlen für die Zu- trotz anfänglicher Panik. Es ist eine Ge- kunft, Der Zauberbrunnen und Der Bann- schichte, welche Eltern zu beruhigen ver- wald von Ingeborg Pilgram Brückner über- mag, die sich um ihren Erstkläßler sorgen. winden vier Kinder die Habsuchtszwerge, Das klassische Werk von Ruth Elsässer retten die Geister der Freude und lernen Erste Märchen hat dank der bezaubernden ihre Umgebung kennen, in der es viel zu Bilder viele Freunde gewonnen; es kann tun gibt, ehe sich die Natur erholen kann. Es eine Hilfe dafür sein, Kindern in der ersten entsteht beim Lesen der Wunsch, die Welt Klasse die wesentlichsten Begleiter nahezu- zu verändern, und doch ist es kein Morali- bringen: Rotkäppchen, Froschkönig, Frau sieren, sondern ein Weg gesunder Selbster- Holle, Schneewittchen und Aschenputtel; kenntnis. Die Bilder sind wieder von Marie- sie erfüllen die Seele, sie schenken Kraft. Laure Viriot gemalt. Die Bilder der rumänischen Künstlerin Zum Schluß das Schönste, etwas für Klas- Olga Porumbaru schmücken das russische senfahrten, Zeltlager und lange Winter- Märchen Der König des Meeres und Wassi- abende. In Iselin der Zauberer von Magda- lissa die Allweise, in welchem auf ferne Zei- lena Lorenz lernen wir einen kleinen Dra- ten der Zukunft hingewiesen wird und sich chen kennen, welcher Hunderte von Jahren Geheimnisse des Menschen enthüllen; ein zum Wachsen braucht, den Ritter Sigold der ganz besonderes Geschenk, welches zu ei- Löwe, Arabella die Schöne sowie Schurken, genem Malen anregt. Kurfürsten und gute und weniger gute Kaum haben die Schüler das Lesen ge- Zauberer; und alle diese Gestalten verwan- meistert, muß der Hunger nach Büchern ge- deln sich, sogar der schlimme Freiherr von sättigt werden, und da empfiehlt sich Wip- Brunnenspieß. Es gibt feine Zeichnungen fel und Wurzel von Christa Garbe mit Bil- der Helden, eine Landkarte, bunte und dern von Marie-Laure Viriot, ein spannen- schwarzweiße Bilder und auf jeder Seite des Bilderbuch, in dem die Leiden eines zu Humor. klein geratenen Zwerges und eines zu gro- Höheren Klassen wird die Celtica-Reihe ßen Riesen geschildert werden, die eine wertvolle Lektüre bieten mit den Bänden Freundschaft gründen und alte Fehden ih- Merlin und Artus, Iona und den Sammlun- rer Völker überwinden. Lustig ist auch der gen irischer und schottischer Geschichten. zweite Band Die verlorenen Flügel des grü- Sibylle Alexander

212 Coco und Fifi Neue Literatur Ursula Burkhard: Coco. Mit Illustrationen Mellinger Verlag, Stuttgart: von Jula Scholzen-Gnad. 13 S., Pappb. Ruth Elsässer: Erste Märchen – Und weil sie nicht DM 26,–. Hrsg.: Werkgemeinschaft Kunst gestorben sind, leben sie noch heute. 12 Märchen und Heilpädagogik Weißenseifen, 54597 der Brüder Grimm. 80 S., kart. DM 28,– Weißenseifen-Michaelshag, Tel. 06594- Christa Garbe: Die verlorenen Flügel des Grünen 924310, Fax 06594-9243110 (auch über den Drachen. Ein Märchen nicht nur für Erwachsene. Buchhandel erhältlich) Bilder von Marie Laure Viriot. 131 S., geb. DM 26,80 Schon der farbenfrohe Buchdeckel spricht Ilse Haak: Jool und Tosa. Eine Brudergeschichte. Kinder und Erwachsene gleichermaßen an. Illustrationen von Karin Haslinger. 48 S., kart. Es geht um einen Papagei. Ursula Burkhard DM 17,80 aus Basel erzählt eine lebensnahe, spannen- Juraté Lek‰tiené: Piep’chens Abenteuer. Illustra- de Geschichte von Peter und seiner Freun- tionen Archibald Bajorat. 8 S., Pappband DM din Erika, einem Papagei mit dem Namen 17,80 »Coco« und »Fifi«, dem geliebten, aber Karin Müller: Der Änderling. Die Geschichte ei- wohl mit Recht eifersüchtigen Hund. ner seltsamen Begegnung und einer Freund- Coco ist eines Tages fort. Welches Un- schaft voller Wunder. Bilder von Christine Tho- glück! Tränen gibt es, tiefe Trauer und Ban- mas. 127 S., kart. DM 22,80 gen. Doch alles wird wieder gut. Der reuige Maya Peter: Erinnerungen an meine Großmutter. Dieb muß nicht einmal bestraft werden. Ar- Bilder von Stephanie Wagner. 20 S., kart. DM beitslosigkeit und Verzweiflung haben ihn 24,80 auf die schiefe Bahn gebracht. Die Rettung Michael Schneider: Ein Herbstspaziergang. Bil- bietet sich durch einen Herrn von der Zei- der von Johanna Schneider. 25 S., kart. DM 25,80 tung an. Der Dieb bekommt eine Arbeit, Andere Verlage: und die Kinder haben ihren Coco wieder. Karl-Martin Dietz: »Die Herzen beginnen, Ge- Die Illustrationen stammen von Jula Schol- danken zu haben«. 65 S., kart. DM 20,–. Verlag zen-Gnad. Es gibt viel zu sehen und zu er- Freies Geistesleben, Stuttgart zählen. Lebendige, farbenfrohe ganzseitige Frank-Rüdiger Jach, Siegfried Jenkner (Hrsg.): Bilder regen dazu an. Für Kinder ab dem Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Euro- 4. Lebensjahr. Elisabeth Kiefer pa. Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht. 546 S., geb. DM 128,–. Duncker & Humblot, Berlin Medizinisch-Pädagogische Konferenz Rundbrief für Ärzte, Erzieher, Lehrer und Therapeuten Herausgeben von Dr. Claudia McKeen, Peter Fischer-Wasels

Aus dem Inhalt von Heft 7/1998: Philia Schaub: Fragen zum Flötenspiel in den ersten drei Schuljahren Annette Pichler: Erfahrungen mit Gestützer Kommunikation (FC) Ursula Herberg: Autismus und Gestützte Kommunikation Manfred Magg: Die Kinderbesprechung Tagungsbericht: Kolisko-Tagung in Sacramento Berichte – Ankündigungen – Aktuelle Informationen – Buchbesprechungen Fragen aus dem Leserkreis – an den Leserkreis

Bestellungen/Abonnements: Medizinisch-Pädagogische Konferenz, Eveline Staub-Hug, Ehrenhalde 1, 70192 Stuttgart Jahresabo DM 24,– zzgl. Porto, Einzelheft DM 6,– zzgl. Porto; erscheint drei- bis viermal im Jahr

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