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HITLERS HÖLLENFAHRT Als er Europa zerstört hatte, verkroch sich in seinem Berliner Bunker, um sein Leben noch zu verlängern – er suchte Annäherung an Stalin. Wie er starb, ob durch Gift oder Kugel, von eigener oder fremder Hand, war lange ungewiß. Wo sein Leichnam verblieb, bezeugt ein sowjetisches Geheimdokument, das dem SPIEGEL vorliegt. SÜDD. VERLAG Reichskanzler Hitler (kurz vor dem Kristallnacht-Pogrom 1938): „Ruhmloser Flüchtling vom Parkett der Weltgeschichte“

uf dem Grundstück Klausenerstra- und Panzertruppen. Da sie nur eine hal- Diesen letzten Strich unter das dun- ße 36 in Magdeburg, neben der Ga- be Stunde unterwegs waren, dürften sie kelste Kapitel deutscher Geschichte zog Arage, stellten im Frühling 1970 ein zum Biederitzer Busch gelangt sein, hin- mit größter Heimlichkeit Jurij Andro- paar Sowjetsoldaten ein Zelt auf. Ge- ter den Kasernen in Magdeburg-Her- pow, der damalige Chef der sowjeti- heimdienstleute bezogen getarnte Beob- renkrug. Dort verbrannten sie die fast schen Geheimpolizei KGB. achtungsposten in den anliegenden verrotteten Kisten samt ihrem Inhalt: Ein Kenner der verborgenen Grube Häusern, in denen Deutsche wohnten. morschen Knochen. in Magdeburg hatte ihn darauf aufmerk- In der Nacht vom 4. auf den 5. April Es waren die Überreste von Eva und sam gemacht, daß in der Elbestadt ein stiegen fünf KGB-Offiziere in das Zelt Adolf Hitler, Magda und Joseph Goeb- Pilgerziel für Neonazis entstehen könn- und gruben die Erde auf. bels sowie deren sechs Kindern und te, falls einmal die sowjetischen Besat- Sie fanden fünf kreuzweise überein- wahrscheinlich auch des Generals Hans zer den Platz räumten – offenbar kamen andergestellte Kisten, luden sie auf ei- Krebs, die allesamt 1945 im Berliner Zweifel an der Dauerhaftigkeit der So- nen Lkw und fuhren befehlsgemäß zum Führerbunker zugrunde gegangen wa- wjetpräsenz in der DDR auf, nachdem nächsten Übungsgelände ihrer Pionier- ren. Kanzler Willy Brandt soeben in Erfurt

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die Sympathiebekundungen von DDR-Bürgern entgegengenom- men und sein Staatssekretär Egon Bahr in Moskau Verhand- lungen begonnen hatte. „Gewisse Spannungen zwi- schen Westdeutschland und Ostdeutschland“ gibt Andro- pows damaliger Kanzleichef Wladimir Krjutschkow heute als Grund für die Knochenbeseiti- gung „mit geeigneter Technolo- gie“ an, und: „Der Umfang un- serer militärischen Anwesenheit wurde eingeschränkt“, in der Magdeburger Klausenerstraße. Andropow schrieb am 13. März 1970 einen höchst gehei- men Brief an das ZK der KPdSU – also an seinen Parteichef Leo- nid Breschnew; die wichtigsten Sätze waren nicht mit der Ma- schine geschrieben, sondern von Hand eingefügt, damit nicht ein- mal die auf Geheimhaltung ein- geschworenen Stenotypistinnen erfuhren, worum es ging: CAMERA PRESS Im Februar 1946 wurden in der Fundort der Hitler-Leiche in 1945: Gefahr der „Entdeckung des Grabes“ Stadt Magdeburg auf dem Ge- lände der Militärsiedlung, das heute die Sonderabteilung des KGB bei der 3. Stoßarmee der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland be- legt, die Leichen Hitlers, Eva Brauns, Goebbels’, seiner Frau und Kinder (insgesamt zehn Leichen) beerdigt. Die genann- te Militärsiedlung wird derzeit aus Gründen dienstlicher Zweckmäßigkeit und im Inter- esse unserer Truppen von der Armeeführung an deutsche Be- hörden übergeben.

Im Hinblick auf die Möglichkeit von Bau- oder anderen Erdar- beiten auf diesem Gelände, die zu einer Entdeckung des Gra- bes führen können, würde ich es für dienlich halten, die Lei- chen zu entfernen und durch Verbrennen zu beseitigen. Die genannte Maßnahme wird Hitler-Überreste in sowjetischer Munitionskiste: „Mit geeigneter Technologie“ unter strikter Geheimhaltung durch die operative Gruppe der Sonder- ren Kanzleichefs von Kossygin, Boris mit eigener Hand reingeschrieben. abteilung des KGB bei der 3. Stoßarmee Bazanow, gehörte das Dokument zur Dann bekam ich vom Chef des 1. Refe- der Gruppe der Sowjetischen Streitkräf- „K-Serie“, das hieß, ein Beamter der rats der Allgemeinen Abteilung des ZK te in Deutschland durchgeführt und muß Allgemeinen Abteilung des Partei-ZK eine Nachricht, Andropows Vorschlag entsprechend dokumentiert werden. mußte den Brief Breschnew persönlich sei angenommen. Die entsprechenden vortragen. Vorbereitungen traf dann die Dritte Auf dem Schreiben mit dem Aktenzei- Andropows Kanzleichef Wladimir Verwaltung des Komitees, die für die chen 655-A und dem Kürzel „ow“ (be- Krjutschkow, später selbst KGB-Chef, Tätigkeit der KGB-Organe in den Trup- sonders wichtig), dessen Kopie dem Putschist gegen den Staatspräsidenten pen verantwortlich war. Ihr Chef war SPIEGEL vorliegt, zeichneten Bre- Michail Gorbatschow und heute Rent- damals Witalij Fedortschuk“, später schnew, Premier Alexej Kossygin und ner in Moskau, hat dem SPIEGEL die KGB-Chef und Innenminister. der Vorsitzende des Obersten Sowjet, Echtheit des Dokuments bestätigt: Der SPIEGEL verfügt über den Text Nikolai Podgorny, den Vermerk „Zu- „Ich erinnere mich genau. Jurij An- der Vollzugsmeldungen des Magdebur- stimmen“ ab. Nach Auskunft des frühe- dropow hat die wichtigsten Passagen ger KGB. Demnach ist jetzt erstmals

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klargestellt, unter welchen bislang ten Wochen rekonstruieren, in de- unbekannten Umständen sich der nen sich Hitler in der Erde ver- Führer des Großdeutschen Rei- kroch, um zur Hölle zu fahren*. ches verflüchtigt hat, wo seine Lei- Sein Untergang im Berliner Bun- che verblieben ist: Seine Asche ist ker gleicht einer überdimensiona- so wie die seiner in Nürnberg ge- len Shakespeareschen Tragödie hängten Kumpane und seines Exe- mit Szenen eines Satyrspiels. kutors Adolf Eichmann vom Wind „Deutschland wird Weltmacht verweht. oder gar nicht sein“, hatte Hitler Die lange Reise der Hitler-Kno- einst im Gefängnis zu Landsberg chen bis in ein Loch neben der proklamiert: Alles oder nichts. Das Magdeburger Garage hatte der eine war zum Preis von 55 Millio- Moskauer Historiker Lew Besy- nen Menschenleben ausgeträumt, menski, reuiger Öffentlichkeitsar- das Nichtsein näherte sich, als Hit- beiter des militärischen Aufklä- ler am 16. Januar 1945 – dem Tag rungsdienstes GRU, bereits re- der Zerstörung seiner späteren cherchiert (SPIEGEL 30/1992). letzten Ruhestätte Magdeburg Jetzt fand er in russischen Archi- durch britische Bomben – mit der

ven Stalins Handakten über Hit- U. MAOUS / GAMMA / STUDIO X Eisenbahn aus Westdeutschland lers Ende – Signatur 41-Sch/2-w/1. KGB-Chef Andropow nach Berlin zurückkehrte: Seine Besymenski übergab dem SPIE- „Hitlers Leiche in Magdeburg beerdigt“ letzte Offensive gegen die Ameri- GEL die Ablichtung eines ominö- kaner war gescheitert. Die Russen sen Papierbündels: „Operation aber standen am Oderbruch, 80Ki- Mythos“. Es ist das Protokoll ei- lometer vor Berlin. nes Geheimdienstunternehmens, Die Berliner erfuhren nichts von mit dem 1946 alle vorhandenen In- Hitlers Anwesenheit, seit langem formationen, Aussagen und Sach- war er öffentlich nicht mehr aufge- beweise zum Verbleib des deut- treten, seine letzte Rundfunkrede schen Tyrannen im Detail über- hatte er am 20. Juli 1944 gehalten. prüft werden mußten, um seinem Nun ließ er sich noch einmal, zum russischen Widerpart „die Um- letztenmal, im Radio vernehmen – stände des Verschwindens Hit- am 30. Januar, zwölf Jahre nach lers“ (Überschrift) zu erklären. seiner Ernennung zum Reichs- Denn Stalin glaubte nicht an Hit- kanzler: „Wie schwer auch die Kri- lers Tod. se im Augenblick sein mag – sie Die Sowjets hatten im Mai 1945 wird . . . gemeistert werden. Es den Tatort in Berlin okkupiert und wird auch in diesem Kampf nicht den Kadaver geborgen, obduziert, Innerasien siegen . . .“ Am näch- vergraben, später wieder exhu- sten Tag stießen sowjetische Pan- miert und nachuntersucht. Wäh- zer über die Oder vor. rend sich die Amerikaner mit Hit- Im Februar knüpfte ohne Hitlers lers Chauffeur , der Wissen SS-Chef Fliegerin , dem Kontakte zu dem Vizepräsidenten Reichsjugendführer Artur Ax- des Schwedischen Roten Kreuzes, mann und Hitlers Zahnarzt Hugo Folke Graf Bernadotte, um mit den Blaschke begnügen mußten, wa- Westmächten ins Gespräch zu ren die wichtigeren Zeugen in so- kommen (Omnibusse holten wjetische Gefangenschaft geraten: 20 000 KZ-Häftlinge nach Däne- Hitlers Leibwächter Johann Rat- mark und Schweden); Außenmini- tenhuber, SS-Adjutant Otto Gün- ster Ribbentrop ließ – in Hitlers sche, Kammerdiener , Auftrag – in Stockholm und beim Chefpilot Hans Baur und Blasch- Andropow-Brief zur Leichenbeseitigung Papst sondieren. ke-Assistentin Katharina Heuser- „Die wichtigsten Passagen mit eigener Hand“ Während die 16jährigen zur mann. Wehrmacht einberufen wurden, Sie wurden im Zuge der „Mythos“- schossen hatte, wer die Leiche hinaus- fuhr Hitler Mitte März per Pkw an die Nachforschungen erneut permanen- trug und wie man sie verbrannte. nahe Ostfront. Dort stand die 9. Armee. ten Nachtvernehmungen unterworfen, Die Zeugen wurden 1946 aus dem Den Männern, die ihr Leben einsetzen mußten anhören, wie im Nebenraum ein Moskauer Geheimdiensthauptquartier sollten, um sein Leben zu verlängern, Untersuchungshäftling unter Schlägen Lubjanka zu einem neuen Lokaltermin erzählte Hitler etwas von alles wenden- schrie, und wurden selbst gefoltert; dazu nach Berlin gebracht. Danach ver- den Wunderwaffen. wurden deutsche Spitzel in ihre Zellen schwanden sie für ein Jahrzehnt im Gu- Tatsächlich parkte auf dem Flughafen eingeschleust, die über Äußerungen und lag. Die Welt erfuhr nichts von den Er- Rechlin nördlich von Berlin eine Staffel Reaktionen berichten konnten. mittlungsergebnissen der Sowjets; nach der neuen Düsenjäger, aber sie hatten Alle Zeugen blieben dabei, daß Hitler Stalins Tod mußte Besymenski verbrei- keinen Treibstoff. Rüstungsminister Al- tot sei; in Einzelheiten stimmten ihre ten, Hitler habe sich nicht wie ein Soldat Aussagen nicht überein. Die Untersu- erschossen, sondern kläglich vergiftet. * Pierre Galante, Eugene Silianoff: „Voices from chungsführer fertigten lange Vergleichs- Aus den Aktenfunden, ergänzt um “. G. P. Putnam’s Sons, New York tabellen – wer wo wann was warum ge- neue Erkenntnisse westlicher Autoren, 1989; Tony Le Tissier: „Der Kampf um Berlin 1945“. Ullstein Verlag, Berlin 1991; Olaf Groeh- sagt hatte: wo Hitler in der Todesstunde läßt sich nun, nach exakt 50 Jahren, ein ler: „Die Neue Reichskanzlei – Das Ende“. Bran- gewesen war, mit welcher Waffe er ge- annähernd vollständiges Bild jener letz- denburgisches Verlagshaus, Berlin 1995.

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bert Speer übergab seinem Herrn eine im Lauf des Krieges gigantomanisch den. Dort befand sich eine Wehr- Denkschrift, wonach die deutsche hatte graben lassen; eines in Schlesien machtsnachrichtenstelle mit einem klei- Volkswirtschaft in acht Wochen zusam- („Riese“) hatte 1944 mehr Stahlbeton nen Mittel- und Langwellensender, des- menbrechen werde. Er wollte Hitler verbraucht, als der deutschen Bevölke- sen Antenne oft durch Beschuß ausfiel von einem Befehl abbringen, der im rung für ihre Luftschutzbauten zugeteilt – als Befehlszentrale eines Hauptquar- September 1944 ergangen war: In allen wurde. tiers ungeeignet. In den Gewölben un- dem Feind anheimfallenden Gebieten Seiner wölfischen Natur zuwider zog ter dem Regierungssitz hauste auch der sei alles zu zerstören: „verbrannte Er- es ihn in Stollen tief unter der Erde. Er Gefechtsstand des SS-Brigadeführers de“ nach dem Muster eines Stalin-Be- wußte um seinen menschenfeindlichen , Kommandeur einer fehls von 1941. Charakter: Als IM der Reichswehr trug Garde von gut tausend Mann. Nicht nur Fabriken, Telefonzentra- In den Garten hatte der Baumeister len, Gas- und Kraftwerke sollten ver- Carl Piepenburg mit der Firma Hoch- nichtet werden, sondern auch Bauern- Ein blondes Mädel tief seit März 1943 einen Führerbunker höfe und Baudenkmäler, Lebensmittel- gestampft, der 1 353 460,16 Reichsmark vorräte und Behördenunterlagen. Die aus Bayern, das gern gekostet hatte. Die Sohle lag zwölf Me- Einwohner waren zu evakuieren. Hit- Charleston tanzte ter tief, die Betondecke – unter einer ler, der keine bombenzerstörte deut- Zwei-Meter-Erdschicht – war 3,50 Me- sche Stadt hatte anschauen wollen und ter stark. Der Bau war noch nicht fertig auch keine Bilder vom Flüchtlingselend er 1919/20 den Decknamen „Wolf“, sei- und nicht ausgetrocknet – eine Tropf- im Osten, wünschte sich eine „Zivilisa- nen Veitstanz beim französischen Waf- steinhöhle. Überall lagen Kabel und tionswüste“. fenstillstandsersuchen 1940 führte er Wasserschläuche herum. Bei Beschuß Er schenkte Speer ein silbergerahm- im belgischen Hauptquartier „Wolfs- bebte die Gruft im sandigen Unter- tes Foto von sich, mit krakeliger Wid- schlucht“ auf, sein Hauptquartier im grund, aber sie hielt. mung. Sein rechter Arm zitterte beim ukrainischen Winniza nannte er „Wer- Ständig tuckerte ein 60-Kilowatt-Die- Schreiben, sein linker ständig, auch das wolf“, das im ostpreußischen Rasten- selgenerator, er trieb eine eigene Hei- Bein – wohl Parkinsonsche Krankheit. burg hieß „Wolfschanze“. zung, die Wasserpumpe für den Tief- Er wiederholte seine Weisung: „Rück- Das letzte Aufgebot eines Krieges mit brunnen und die permanent surrenden sicht auf die Bevölkerung können wir Partisanen („Werwolf“) im Sinn, kroch Ventilatoren an; unter der Haube eines nicht mehr nehmen.“ der Räudige in die Höhle, in der er ver- Luftstutzens war ein Mikrofon verbor- So enttarnte sich der Asylant aus Österreich nun selbst ganz of- fen als gefährlichster Feind des deutschen Volkes. Es sei nicht nötig, auf die Grundlagen, die es zu seinem primitivsten Weiterle- ben brauche, Rücksicht zu neh- men, sagte Hitler zu Speer, „denn das Volk hat sich als das schwä- chere erwiesen, und dem stärke- ren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft“ – den Russen. Ähnlich hatte er sich schon im November 1941, als die deut- schen Truppen vor Moskau stan- den, dem dänischen Außenmini- ster Scavenius offenbart. Bald darauf, eine Woche nach der Wannseekonferenz über die Aus- löschung der Juden, äußerte Hit- ler in der Wolfschanze: „Ich bin auch hier eiskalt – wenn das deut- sche Volk nicht bereit ist, für sei- ne Selbsterhaltung sich einzuset- zen, gut: Dann soll es verschwin-

den!“ AKG In seinem Buch „Mein Kampf“ Sowjetische Mörser in der Berliner Innenstadt: „Wehe dem Land der Mörder!“ stand, Rebellion sei die Pflicht ei- nes jeden, wenn eine Regierung das enden sollte. Er kam nur noch ans gen, das die Geräusche von außen über- Verbrechen begehe, ein Volk heroisch Licht, um durch die in Ruinen zerfallen- trug. untergehen zu lassen. de Reichskanzlei zu streichen oder seine Zu erreichen war das Mausoleum Jetzt standen die sowjetischen Trup- Hündin „“ im Garten auszufüh- vom Keller der Reichskanzlei aus. Eine pen vor Berlin, am 23. März 1945 be- ren, in dem erste Krokusse und Märzbe- Treppe führte – vorbei an Kaffeeküche gann die Offensive der angloamerikani- cher neues Leben verhießen. Sie hatte und Mannschaftskantine – in den durch schen Truppen über den Rhein. Der in- Welpen geworfen, das niedlichste Strei- drei Stahltüren automatisch abzuschot- terne Stimmungsbericht des SS-Spitzel- cheltier, einen Rüden, nannte er tenden Vorkeller mit je sechs Wohn- netzes meldete: „Das Volk hat kein „Wolf“. und Vorratsräumen, links und rechts Vertrauen zur Führung mehr.“ Die Reichskanzlei verfügte über riesi- von einem Mittelgang, dann kam eine Da zog Hitler in den Bunker unter ge Luftschutzkeller mit fast 100 Räu- Wendeltreppe in den Führerbunker. dem Garten der Reichskanzlei – eines men, in denen verwundete Soldaten, Rechts vom Flur befanden sich Ma- der 15 Hauptquartiere, die er vor allem bald auch Passanten Unterschlupf fan- schinenraum, eine kleine Telefonzentra-

DER SPIEGEL 14/1995 173 TITEL le mit zwei Klappenschränken, Wach- Braun, 33, sowie eine Kabine für die techniker ; Freun- stube, Sekretariat und die Sanitätsstati- Hunde und drei Toiletten. din Eva, ein blondes Mädel aus Bayern, on, in welcher bald der Reichsminister Den Flur bedeckte ein roter Teppich. das gern Charleston tanzte, war in ihrem für Volksaufklärung und Propaganda, Ein Notausgang führte über 37 Stufen in rasch auf Grau gespritzten Mercedes ge- , Obdach nahm; links den Garten, ein zweiter in einen Beob- gen Hitlers Willen aus München nach Hitlers Wohn-, Schlaf- und Arbeits- achtungsturm, der noch nicht fertig war. Berlin gekommen. Der Staats- und Par- raum, jeweils etwa drei mal vier Meter Nur gut zwei Dutzend Leute hielten sich teichef nahm nur seine engste Entou- groß, ein Besprechungszimmer und das ständig in der Katakombe auf – der Te- rage mit in den Untergrund: Appartement seiner Geliebten Eva lefonist und der Haus- i den Chef seiner Parteikanzlei, Reichsleiter ; i den Kammerdiener SS-Sturmbann- Hitlers Bunker führer Linge; i den SS-Adjutanten Sturmbannführer Günsche; Treppenhaus und 6 Goebbels’ i den Leibwächter SS-Brigadeführer Ausgang zum Garten Schlafzimmer Rattenhuber samt dessen Vize, Stan- der Reichskanzlei 7 Sanitätsstation dartenführer und Kriminalrat Högl. Erdschicht: 8 Sekretariat Hinzu kamen die Sekretärinnen Jo- 2 m 9 Ordonnanzen hanna Wolf, , Gerda Chri- stian, und Else Krü- 10 Betondecke: Wachstube ger, die Diätköchin Constanze Manziar- 3,50 m 11 Telefonzentrale ly, Leibarzt Dr. , Chauffeur Kempka und Chefpilot Ge- neralleutnant Baur. Sie kamen alle in dem höhergelege- nen unter oder in den Kel- 7 Wachmannschaft lern der Reichskanzlei, auch der Gene- 6 ralstabschef des Heeres, Hans Krebs, und die Verbindungsleute zu den übri- 9 gen, sich auflösenden Machtorganen des Reiches in Liquidation: 8 2

1 Korridor Beton- und Hitler mit grauen Haaren, wand: 11 Konferenzraum 2,20 m 4 10 zitternd und krumm – 3 wie ein ruheloser Geist

i für Himmlers SS Eva Brauns Schwa- 5 Maschinenraum 1 Hitlers Schlafzimmer ger, der SS-Gruppenführer Hermann Korridor 2 Besprechungszimmer WC und Fegelein; Bad i für Görings Luftwaffe Oberst Niko- 3 Hitlers Wohnzimmer Raum für Warteraum laus von Below; (hier begingen Adolf und WC Hitlers WC Durchgang zum 2 Meter Eva Hitler Selbstmord) Hunde i für die Marine des Großadmirals Dö- WC höher gelegenen Vor- nitz der Vizeadmiral Hans-Erich Voss 4 Hitlers Arbeitszimmer bunker mit Wirtschafts- Waschraum und 5 Eva Brauns Wohn- räumen und Zimmern für i für den Außenminister Ribbentrop und Schlafzimmer die Goebbels-Familie der Altnazi Botschafter Walter He- wel. Von diesem Loch aus konnte Hitler Die Reichskanzlei Unterirdische Anlagen 04080 keinen Krieg mehr führen. Mit ergrau- ten Haaren und zitternden Gliedern, Gewächshaus Meter krumm und mit schleppendem Gang ta- perte der Greis, 55, wie ein Geist, der Hitlers Bunker niemals Ruhe findet, durch die Unter- Werkstatt Garten welt und räsonierte. Früher kleinbürger- lich akkurat bis zum Waschzwang, stör- ten ihn nicht mehr die fehlende Rasur, Garagen Alte Reichskanzlei die befleckte Uniform. „Du mußt nicht versuchen, in allem wie der Alte Fritz Wilhelmstraße auszusehen“, rügte ihn Freundin Eva (der Preußenkönig bevorzugte ein spek- Hitlers Luftschutzkeller kiges Exterieur). Hermann-Göring-Straße Arbeitszimmer In einem Keller des Labyrinths war ein Modell von Hitlers Lieblingsstadt Linz aufgebaut – so wie er sie sich als Neue Reichskanzlei Alterssitz wünschte, an den er sich mit Voßstraße „Fräulein Braun“ und Hündin Blondi zurückziehen wollte. In dieser Puppen-

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stube unter der Voßstraße schmiedete Hitler zusammen mit seinem Chefarchitekten Speer weiterhin Zukunftspläne. War er nicht zum Sterben in die Katakombe gekommen? Er dachte ernsthaft daran, seine Residenz verteidigen zu lassen, und fungierte zeitweilig selbst als Kampfkommandant des Regierungsviertels, auf das sein Lebensraum nun schrumpf- te. Diesem Militärbereich gab er den Namen seiner letzten großen, gescheiterten Offensive im Osten, bei Kursk: „Zitadel- le“. Er befiehlt, Betonschutzlö- cher zu gießen, Granatwerfer einzubauen und Panzerfäuste im Garten zu lagern. Er läßt Schießscharten schlagen und

Mauern schleifen, um Schuß- BA KOBLENZ feld für Panzerabwehrkanonen Hitler-Bunker im Reichskanzleigarten (1947): Furcht vor Giftgas zu schaffen. Mohnke, der Mili- tär, sammelt Angehörige der Feig war der Hasardeur nie, weil er Ri- Leibstandarte, skandinavische siken nicht einzuschätzen vermochte; SS-Leute aus der Division jetzt suchte er die Nähe des Gegners, Nordland, 90 Franzosen von der der sich als der Stärkere erwiesen hat- SS-Division Charlemagne, ein te. paar Letten und Spanier. Er ernennt anstelle des Nichtmilitärs Marinekadetten werden eilig Heinrich Himmler einen neuen Be- eingeflogen, Teilnehmer eines fehlshaber der Heeresgruppe Weichsel, Funkmeßlehrgangs von der In- den General Gotthard Heinrici, der al- sel Fehmarn ohne jede militäri- les versucht, um Häuserkämpfe in der sche Ausbildung. Deren Vertei- Reichshauptstadt zu vermeiden. Sein digungsbereich ist die Wandel- Kriegsherr befiehlt der 9. Armee, die halle der Reichskanzlei samt Oderfront zu halten, doch deren Gene- Hitlers Arbeitssaal, seinen Kar- ral Busse hat das Gegenteil im Sinn: tentisch benutzen sie als Split- seine Soldaten in die rettende amerika- terschutz. nische Gefangenschaft zu führen. Noch sind für Hitler die Stra- Am 29. März schickt Stalin dem US- ßen von Berlin das Schußfeld, Oberbefehlshaber Dwight D. Eisen- die Mietshäuser, Bürogebäude, hower ein Telegramm: Berlin habe sei- Kirchen der drei Millionen Ber- ne frühere strategische Bedeutung ver- liner der Kugelfang, ihre Kör- loren, die Rote Armee habe deshalb per die letzte Barrikade. auch nicht vor, demnächst die Stadt zu Eine Großstadt verteidigen? erobern. Eisenhower überredet auch Warschau und Rotterdam hat- seinen britischen Kollegen Bernard ten sich nicht lange halten kön- Montgomery, nicht nach Berlin zu mar- nen, aber Stalingrad hatte ihm, schieren. dem Angreifer, ein Cannae be- Am nächsten Tag läßt Stalin seine

reitet. Leningrad suchte er aus- SÜDD. VERLAG beiden Marschälle Georgij Schukow, zuhungern (er wollte die Stadt Hitlers Bett im Bunker: Schlaf von 6 bis 11 Uhr den Sieger von Stalingrad, und Iwan dem Erdboden gleichmachen); Konjew den Operationsplan gegen Ber- in Moskau, an dessen Stelle er einen nen mißachtende Dynamik samt dem lin vorlegen. Die beiden Rivalen kon- großen Stausee hatte setzen wollen, er- Risiko wuchernder Kriminalität, all das kurrieren darum, Berlin bis zum 1. reichten seine Stoßtrupps nur die war ihm zuwider. Mai, dem höchsten Festtag der Sowjet- Stadtgrenze bei Chimki; im Sommer Goebbels, sein Mephistopheles, union, zu erobern; sie einigen sich auf 1944 phantasierte er davon, London zu rühmte sich, Berlin für die Nazis ge- eine Zangenbewegung: Schukows Hee- vernichten, Paris, New York. wonnen zu haben – dabei bekamen die resgruppe, die 1. Belorussische Front, Hitler haßte die großen Städte. Die in den letzten freien Wahlen 1932 dort soll von Osten und Nordosten her, reaktionärsten Elemente im krausen nur knapp 24 Prozent der Stimmen, Konjews 1. Ukrainische Front von Süd- Weltbild des Zollbeamtensohns aus die Kommunisten aber fast 38 Prozent. osten den Ring schließen. Braunau am Inn rührten von seinen Nun brachte Hitler die Bewohner der Stalin fürchtet, seine Allianz mit dem Eindrücken im multikulturellen Wien. ungeliebten Metropole einem Götzen Westen halte nicht mehr, die Amerika- Die undurchschaubare, kaum regierba- zum Opfer dar: sich selbst. ner könnten sich mit den Deutschen ar- re Agglomeration von Menschen jegli- Alle Ratschläge, Berlin zu verlassen rangieren: Sein Nachrichtendienst hatte cher Couleur, die nur mit Toleranz zu- und sich in seinem Berghof in den Al- ihm gemeldet, der SS-General und sammenleben können, ihre Konventio- pen zu verschanzen, lehnte Hitler ab. Himmler-Vertraute Karl Wolff ver-

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handle in der Schweiz mit dem US-Spio- in den Bunker einzuleiten, nagechef Allen Dulles. um Hitler zu erledigen. Zwei Wochen später eröffnen Schu- Am Ende sollten die Ehe- kow und Konjew die Offensive, am 16. leute Hitler durch die spezi- April. Schon am übernächsten Tag bre- fisch nationalsozialistischen chen die Rotarmisten unter unsäglichen Mordmethoden sterben – Opfern auf beiden Seiten den deutschen Blausäure und Erschießen – Widerstand auf den Seelower Höhen, wo und ihre Körper mit Benzin heute noch die Knochen russischer und verbrannt werden wie die deutscher Grenadiere aus dem Waldbo- Ermordeten von Sobibo´r den ragen. Die Oder-Neiße-Front zer- und Treblinka. bricht. Dieses Ende zögert er hin- „Der Bolschewist wird dieses Mal das aus. Hitler setzt alles auf ei- alte Schicksal Asiens erleben, das heißt, ne Karte, die er seit Kriegs- er muß und wird vor der Hauptstadt des beginn nicht mehr gespielt Deutschen Reiches verbluten“, hat Hit- hat: Er will den militärisch ler als Tagesbefehl ausgegeben. längst verlorenen Krieg doch Mit über zwei Millionen Mann und noch gewinnen, nun mit po- 6250 Panzern wälzt sich die Rote Armee litischen Mitteln. Die beiden nach Westen. Die Hauptstadt verteidi- letzten Spießgenossen, die gen 50 000 Soldaten mit weniger als 100 ihm geblieben sind, bestär- Panzern, dazu 42 531 zum Kampf ge- ken ihn in der Hoffnung auf zwungene Zivilisten („Volkssturm“), ein Auseinanderbrechen der 3532 Hitler-Jungen und ein „Freikorps feindlichen Allianz: sein Adolf Hitler“ aus Parteifunktionären Chefpropagandist Goebbels,

und NS-Frauen, das vor allem gegen De- AKG der zynische Intellektuelle, serteure kämpft, mit dem Strick. Auf Friedrich-II.-Gemälde von Graff: „Tapferer König“ und der ordinäre, machtlü- Flakbunkern im Zoo, im Friedrichs- und sterne Bormann. im Humboldthain hat die Luftwaffe star- Der fensterlose Berliner Bunker ent- Sie erwarten den Konflikt zwischen ke Geschütze installiert, die in den Erd- sprach Hitlers Neigung, die Nacht zum Moskau und dem Westen – ein gar nicht kampf eingreifen sollen. Tage zu machen (wie Stalin auch), er unrichtiges Kalkül: Untertöne auf der Das Endspiel beginnt, und dem Regis- schlief von fünf oder sechs Uhr mor- Jalta-Gipfelkonferenz im Februar, an- seur wird am Schluß seines erbärmlichen gens bis gegen elf; sein unterirdischer gloamerikanische Beschwerden über Lebens doch noch etwas vom Schicksal Betonwohntrakt ähnelte nach Größe Stalins Griff nach Griechenland und Po- seiner hilflosesten Opfer widerfahren. und Grundriß beinahe einem Leichen- len kündigen eine Entfremdung an, die Schon seine Wolfschanze erschien dem keller der Auschwitzer Krematorien. sehr bald in die jahrzehntelange Kon- Generaloberst Jodl wie ein KZ, das Hitler fürchtete ständig den Beschuß frontation des Kalten Krieges mündet – Hauptquartier erinnerte Speer an „die mit Giftgas durch die Russen und ach- tatsächlich zum Vorteil der als Partner, dicken Wände und Decken eines Gefäng- tete selbst darauf, regelmäßig die Filter als Prellbock nun begehrten Deutschen. nisses, eiserne Türen und eiserne Läden der Be- und Entlüftungsanlage aus- Verhielt sich Hitler demnach rational, schlossen die wenigen Öffnungen, und wechseln zu lassen – im Ersten Welt- das Ende der Kämpfe und den eigenen auch die kärglichen Spaziergänge inner- krieg hatte ihn ein Gasangriff schwer Tod möglichst hinauszuzögern? Er ver- halb des Stacheldrahtes brachten ihm verwundet. Ausgerechnet sein Baumei- drängte, daß er selbst es war, der Bar- nicht mehr Luft und Natur als der Rund- ster Speer behauptete später, im Fe- bar, der die Alliierten im Widerstand gang im Gefängnis einem Gefangenen“. bruar 1945 geplant zu haben, Giftgas einte – und damit zum Hindernis für je- den Versuch eines Verhandlungsfrie- dens geworden war. Goebbels, Erfinder vom Slogan eines „Eisernen Vorhangs“ zwischen Ost und West mitten in Europa, hämmert sei- nem Führer ein, die Differenzen zwi- schen Bolschewiken und Angloamerika- nern wüchsen von Tag zu Tag. Es sei al- lein wichtig, auf den endgültigen Bruch vorbereitet zu sein, der unweigerlich be- vorstehe – so Goebbels zu Finanzmini- ster Schwerin von Krosigk Mitte April 1945: Binnen drei oder vier Monaten werde die Allianz zerbrochen sein. Am 18. April schleppt sich Hitler mit einem Gehstock zum Luftschnappen durch den Reichskanzleigarten und er- öffnet dem SS-General Wolff, der schon mit den Amerikanern konspiriert, seine letzte Karte: Zwischen Russen und Amerikanern komme es zum Streit um die Zonengrenzen, er werde dann mit seinen restlichen Divisionen als Züng-

ULLSTEIN lein an der Waage die Seite unterstüt- Frontbesucher Goebbels am 7. März 1945 in Lauban: „Mit Stalin verhandeln“ zen, die am meisten biete.

178 DER SPIEGEL 14/1995 Der frühere NSDAP-Linke Goebbels bearbeitet Hitler, Deutschlands schwa- ches Gewicht aber nicht auf die Waag- schale des Westens zu werfen, er möge vielmehr auf die Seite Stalins treten, den Hitler stets und immer mehr bewundert hatte, den „Tiger“. Schon im September 1943 hatte Goebbels in sein Tagebuch geschrieben: „Mit Stalin wäre der Führer schon eher zu verhandeln bereit . . .“ Im Septem- ber 1944 übermittelte er Hitler eine Denkschrift (die in die Hand der So- wjets fiel): Die einzige Chance sei nun nur noch ein Sonderfrieden mit der UdSSR. Noch am 5. März 1945 notiert Goebbels: „Als Ziel schwebt dem Füh- rer vor, eine Möglichkeit der Verständi- gung mit der Sowjetunion zu finden und dann den Kampf gegen England mit brutalster Energie weiter fortzusetzen.“ Am 12. März: Ein Sonderfrieden mit dem Kreml „würde die Kriegslage na- türlich radikal verändern . . . den Krieg

Artillerieduelle zwischen den Alliierten über der Reichskanzlei? im Osten zu beseitigen und im Westen operativ zu werden – welch eine schöne Vorstellung!“ Bunkergefährte Walter Hewel, mit dem Hitler beinahe befreundet war, be- richtete unmittelbar vor seinem Selbst- mord: „Selbst in den letzten Tagen war Hitler fest davon überzeugt, zwischen den vorrückenden Truppen der Anglo- amerikaner im Westen und der Russen im Osten werde es innerhalb kürzester Zeit zum Kampf kommen.“ Das also hielt Hitler am Leben: „Er glaubte, über die Reichskanzlei hinweg würden die schon völlig zerstrittenen Partner der Anti-Hitler-Koalition sich erbitterte Artillerieduelle liefern; und wenn diese gnadenlose, welthistorische Auseinandersetzung entbrannt sei, wer- de der Nationalsozialismus unter seiner Führung geläutert, ja neugeboren, wie ein Phoenix aus der Asche dieses sech- sten Kriegsjahrs auferstehen . . . Die Meldung vom Beginn der Schlacht zwi- schen Russen und Westalliierten erwar- tete er von Tag zu Tag.“ Hitler fiel auf die Propaganda seines Propagandaministers herein. Der las ihm Carlyles Biographie Friedrichs II. vor, die Meditationen des Preußenkö- nigs in aussichtsloser Lage am Ende des Siebenjährigen Kriegs – Berlin einge- schlossen, mit kaum noch kampffähigen Truppen: Sollte sich die Kriegslage bis zum Februar 1762 nicht ändern, gebe er auf und nehme Gift. Der „tapfere Kö- nig“, so Carlyle, brauchte nur noch bis zum 5. Januar zu warten: Da starb die .

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Zur Gratulationscour am Mittag in ei- Berlin in der Zange nem noch einigermaßen intakten Saal Angermünde der Reichskanzlei erscheinen etwa hun- Die „Zitadelle“ (Regierungsviertel Kampfgruppe dert Gäste ( im knöchellan- von Berlin), Verteidigungszone unter (SS-General Steiner) gen Seidenkleid), noch einmal versam- SS-Brigadeführer Mohnke meln sich die Größen des NS-Reiches; die Überlebenden sehen sich erst vor 1. Belorussische Front Oder dem Nürnberger Tribunal wieder. An- (Marschall Schukow) schließend flüchtet der höchste Henker Himmler nach Mecklenburg, am Tag zuvor landete ohne Hitlers Wissen in Rathenow Küstrin Seelow Berlin-Tempelhof Dr. Norbert Masur, Döberitz BERLIN ein Vertreter des Jüdischen Weltkon- Ketzin gresses, mit ihm verhandelt Himmler. 12. Armee Potsdam (General Wenk) Frankfurt Der morphiumsüchtige Reichsmar- schall Göring zieht sich nach Berchtes- Ferch gaden zurück, nachdem er schnell noch Frontverlauf eigenhändig sein Landschloß Karinhall am 23. April 9. Armee bei Berlin gesprengt hat („So etwas muß 1945 Niemegk (General Busse) Hauptstoß- 1. Ukrainische Front man manchmal machen“). Drei Tage richtungen der (Marschall Konjew) später retiriert Außenminister Ribben- sowjetischen trop in Richtung Hamburg, er hat von Angriffe Jüterbog seinem Führer Bedauern über den Krieg Deutsche mit Amerika gehört, „da wir keine we- Verteidigungs- sentlichen Meinungsverschiedenheiten stellungen 30 km Cottbus mit dieser großen Nation hatten“. Und: Deutschland müsse zu guten Beziehun- gen mit Sowjetrußland gelangen, so Hit- ler, „da auf lange Sicht beide Völker Seite an Seite leben“ müßten. Sich selbst schenkt Hitler das perverse Empfinden, es gebe noch Kinder, die ihm ihr Leben opfern. Zwanzig minder-

„Ein großer Knall, der Krieg ist aus und gewonnen“

jährigen, mit dem Kreuz von Eisen deko- rierten Hitler-Jungen tätschelte er im Garten der Reichskanzlei die Wange. Am nächsten Tag beschießt russische Ar- tillerie die Innenstadt, Sowjetpanzer be- setzen das Armeehauptquartier Zossen und Erkner, Hoppegarten, Lichtenberg, Frohnau, Niederschönhausen. Stalins Truppen kesseln die 9. Armee

SÜDD. VERLAG ein. Die 12. Armee, die an der mittleren Treffen von Amerikanern und Russen in Torgau 1945: Warten auf den Konflikt Elbe die Amerikaner aufhalten sollte, wird umgedreht: Sie sollte sich mit der 9. russische Zarin, ihr Sohn war ein Be- sein Vorgänger. Doch es war Traum- Armee vereinigen und Berlin entsetzen. wunderer Friedrichs und schloß Frie- tänzerei, so kurz vor dem Sieg einen Die Kampfgruppe des SS-Obergruppen- den. Wechsel der Koalition zu erwarten, führers Felix Steiner, der schon im Als Goebbels die Passage vorlas, mochte auch Churchill jetzt den Ver- Herbst 1943 erwogen hatte, Hitler zu kid- heulte Hitler. Er wäre gern ein Friedrich lust des Bollwerks gegen ein russisches nappen und für geisteskrank erklären zu gewesen, dessen Bild (von Anton Graff) Vordringen nach Mitteleuropa bedau- lassen, entzieht sich mangels Munition in seinem Bunkerwohnraum hing. ern. dem Angriffsbefehl. Am Freitag, dem 13. April, Wien ist Optimistisch gestimmt, begeht Hitler Am nächsten Tag ist russisches Artille- gerade an die Russen gefallen, das am 20. April, als Sowjetpanzer Bernau riefeuer im Bunker zu hören. „Sind die Ruhrgebiet von US-Truppen eingekes- im Norden und Baruth im Süden Ber- Russen schon so nah?“ fragt ein ungläu- selt und das KZ Buchenwald befreit, lins erreichen und einen S-Bahnzug be- biger Hitler und vermutet eine weit ent- überbringt ihm Goebbels per Telefon schießen, seinen 56. Geburtstag. fernte Eisenbahn-Batterie. die Nachricht vom Tod seiner Zarin: Er muß den Belagerungszustand ver- Noch einen Tag später, am 22. April, „Mein Führer, Roosevelt ist tot.“ künden. Die Amerikaner haben Mag- wecken sowjetische Salven Hitler schon In der Tat zeigte sich Harry Truman, deburg erobert. An diesem Tag erfah- um neun Uhr. Die Russen erreichen die der nächste US-Präsident, Stalin gegen- ren sowjetische Kundschafter, daß Hit- Bernauer Straße. Mittags erscheint im über nicht mehr derart willfährig wie ler in Berlin bleiben will. Bunker ein Obersturmbannführer der 6.

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SS-Panzerarmee des SS-Generals Sepp seine Präsenz in der Stadt mitteilen – mit dem Rüstungsminister Albert Dietrich, die mit einer Offensive in Un- bis zum letzten Atemzug werde er Speer. Der gesteht Hitler, den Befehl garn gescheitert und von Hitler dafür kämpfen. zur Vernichtung der deutschen Industrie mit Degradierung bestraft worden war: Am nächsten Tag, dem 23. April, und Infrastruktur sabotiert zu haben; Alle Angehörigen mußten ihre Ärmel- schreibt Eva Braun ihrer Schwester Hitler schweigt und erteilt die Genehmi- streifen abreißen. Der Emissär bringt Gretl, die seit Juni 1944 mit dem SS- gung, die Direktoren der tschechischen als Geburtstagsgeschenk einen Scheck Adjutanten Fegelein verheiratet und Sˇkoda-Werke zu amerikanischen Ge- über 7,5 Millionen Reichsmark, welche hochschwanger ist: „Adolf sieht heute schäftsfreunden ausreisen zu lassen. Um die SS-Leute gespendet haben. schon heller als gestern in die Zu- politische Kontakte anzubahnen? Er stößt auf eine gute Stimmung im kunft.“ Adolf steigt mühsam in die Speer hört von Goebbels, Hitler habe Bunker: „Warte nur ab“, hört er, „noch Reichskanzlei; vor der Terrasse des eine „Entscheidung von weltpolitischer zwei- oder dreimal 24 Stunden, dann Mitteltrakts – über dem Notlazarett, in Bedeutung getroffen: Er hat den Kampf wird es einen großen Knall geben, und dem die Verwundeten schreien und nach dem Westen einstellen lassen, so der Krieg ist aus und gewonnen.“ Eva sterben – blickt er über seinen lädierten daß die westlichen Truppen ungehindert Braun ist „blendender Laune, oder sie Amtssitz (siehe Titelbild). nach Berlin hereinkommen können“. tat jedenfalls so“. Danach hat Adolf Hitler seinen Bun- Das heißt nicht, daß Hitler sich zur Um 15 Uhr ist Lagebesprechung, und ker lebendig nicht mehr verlassen. Am West-Option entschlossen hätte. Von die Lage ist so, daß Hitler einen Nerven- selben Tag befiehlt Sowjetmarschall Göring kommt aus Bayern ein Tele- zusammenbruch bekommt und von Schukow, einen „Sondertrupp mit 25 gramm, in dem er ultimativ um die „Gesamtführung des Reiches“ ansucht, er will einen separaten Waffenstillstand mit den Amerikanern abschließen: Hit- ler habe doch gesagt, „daß ich, falls Ver- handlungen notwendig würden, dazu leichter in der Lage wäre als Sie in Ber- lin“. Da tritt Bormann in Aktion, der Mann im Hintergrund (der Abwehrchef der Wehrmacht, Admiral Canaris, hatte ihn im Verdacht, ein sowjetischer Agent zu sein). Er bestürmt seinen Chef, Gö- rings Griff nach Vollmachten sei ein Staatsstreich. Hitler nennt seinen Reichsmarschall „faul“, „korrupt“, „seit Jahren Morphinist“ und befiehlt die Festnahme des „Verräters“ in Berchtes- gaden. Der Befehl wird sogar ausge- führt – Göring kommt unter Hausarrest. Sowjetische Truppen besetzen Pan- kow, Karlshorst, Köpenick, Schönewei-

BPK de, Buckow. Für den Stadtbezirk Pan- Hitler-Freunde Blondi, Eva Braun: Für den Ruhestand kow gibt es eine erste Bilanz: 450 getö- tete Zivilisten, 510 Gefallene auf den Selbstmord redet. Er tut es nicht, Zehn- Panzern“ einzusetzen, um Hitler, Straßen, 450 Selbstmorde, davon 200 tausende müssen noch seinetwegen ster- Himmler und Goebbels zu schnappen Frauen und Mädchen. Die Sieger scho- ben. Er läßt seine Geheimakten ver- oder wenigstens an der Flucht zu hin- nen nicht Teenager und nicht Greisin- brennen und schickt Eva Braun und die dern. Wo Hitler sich aufhält, bleibt den nen. Zwei Befehle hallen über das er- Sekretärinnen nach Süddeutschland: Russen verborgen. „Es ist vorbei. Es gibt keine Hoffnung Im Bunker erscheint der Auschwitz- mehr.“ Eva: „Du weißt genau, daß ich Arzt mit dem Ansuchen, „Das deutsche Volk dich niemals verlasse.“ Er küßt sie, was Präsident des Deutschen Roten Kreuzes bis dahin niemand zu sehen bekam, auf zu werden (er wird dann in Nürnberg verdient nichts anderes den Mund. Die meisten Frauen bleiben gehängt). Der Ernährungsinspekteur als Untergang“ im Bunker. der Wehrmacht und SS, Dr. Ernst-Gün- Die Militärs trösten Hitler mit intak- ther Schenck, trifft ein, er hat Lebens- ten Armeen, die noch in der Tschecho- mittel für 3000 Mann auf sechs Wochen oberte Terrain: „Frau komm“ und „Uri, slowakei, in Österreich und Norwegen herbeigeschafft. In den Kellern stapeln uri!“ stehen. Laut den erbeuteten alliierten sich Säcke mit Mehl, Dauerbrot, Hül- Hitler ernennt den General Helmuth Plänen über die künftige Zoneneintei- senfrüchten und Fleischdosen. Weidling vom LVI. Panzerkorps, den er lung würden die Amerikaner nicht über Arzt Schenck hilft dem schwer lun- gerade noch erschießen lassen wollte, die Elbe gehen (sie bilden tatsächlich genkranken Professor Haase, einem frü- weil er angeblich seinen Gefechtsstand nur Brückenköpfe). Wenn es nicht um heren Leibarzt Hitlers, der im Kellerla- nach Döberitz – westlich von Berlin – die Verteidigung ginge, sondern „aufs zarett Notoperationen an den Verwun- verlegt hatte, zum Befehlshaber des Verhandeln ankäme“, sagt Hitler da, deten ausführt. Als Krankenschwestern Verteidigungsbereichs Berlin. Weidling „das kann der Reichsmarschall besser dienen 20 BDM-Mädchen aus Steglitz, bringt den Rest seiner Truppe, die eine als ich“. die vor den Russen geflüchtet sind. Woche zuvor noch 50 000 Mann zählte, Goebbels richtet ihn mit seinen Sprü- Auf der Ost-West-Achse (heute: Stra- in die Stadt: 15 000 Panzergrenadiere chen wieder auf, dessen Ehefrau Magda ße des 17. Juni) zwischen Brandenbur- und Fallschirmjäger. siedelt mit sechs kleinen Kindern in den ger Tor und Siegessäule landet an die- Fliegende Standgerichte auf den Stra- Bunker über. Hitler läßt den Berlinern sem 23. April 1945 ein Fieseler Storch ßen machen mit Fahnenflüchtigen kur-

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zen Prozeß, ein Schneidermeister, der lin einen ehrenvollen Tod finden und ne Motivation gefunden, von Barrika- eine weiße Fahne aus dem Fenster zeig- Europa bolschewistisch werden – in fünf den, Fenstern, Kellern aus mit Hand- te, wird aufgehängt, auch ein 15jähriger Jahrzehnten spätestens wäre der Führer granaten und Panzerfäusten – an Ge- Hitler-Junge. Hitler hat einen Aufruf an eine legendäre Persönlichkeit und der wehren mangelt es – gegen Sowjetpan- die Berliner erlassen, Verräter seien Nationalsozialismus ein Mythos, weil er zer anzugehen. „augenblicklich zu erschießen oder zu durch den letzten großen Einsatz gehei- Die Disziplin der Rotarmisten ist zu- hängen“. Unter Vertrauten sagt er: ligt wäre.“ Das ist der Mythos, dem Sta- sammengebrochen. Ihre Partei-Feldpre- „Das deutsche Volk verdient, wenn es lin dann mit seiner Geheimoperation diger ermuntern sie, zu marodieren und so feige und schwach ist, nichts anderes von 1946 begegnen möchte. zu plündern und die Frauen des Feindes als einen schmählichen Untergang.“ Dem Gauleiter von Baden-Elsaß, Ro- als Beute zu nehmen, an die 90 000 Ver- Dr. Schenck beobachtet in den Kel- bert Wagner, hat Hitler am Telefon ge- gewaltigungsopfer nennt später Ober- lern der Reichskanzlei einen Gestapo- bürgermeister Ernst Reuter. „Wir ver- Schergen im braunen Ledermantel und achten sie, weil sie die Mütter, Frauen mit einem Tirolerhut, der unter den Stalins Befehl, und Schwestern von Henkern sind“, hat Schutzsuchenden nach Deserteuren Ilja Ehrenburg in der Armeezeitung ge- fahndet und einen gleich im Garten er- alle Arbeitsfähigen schrieben: „Töte den Deutschen!“ Mar- schießt. Unbehelligt hockt im Keller ein zu deportieren schall Schukow hat einen Tagesbefehl irgendwie gestrandeter Rotarmist in ausgegeben: „Wehe dem Land der Mör- Uniform. der, nichts wird uns mehr aufhalten!“ Am 24. April ist die 9. Armee endgül- sagt, er sei strikt gegen jede Verhand- Ein Anlauf der Prawda zwölf Tage tig eingekesselt, in Berlin-Zehlendorf, lung mit den Westmächten. Führt er et- zuvor, dem Kollektivhaß entgegenzu- Tempelhof und Neukölln wird ge- was anderes, überhaupt noch etwas im treten, bleibt ohne Wirkung. Die Ver- kämpft. Alle sechs Minuten schlagen Schilde? Hitler sinniert, er sei ein teidiger ahnen nur, was ein halbes Jahr- Granaten beim Bunker ein. Das Ober- „ruhmloser Flüchtling vom Parkett der hundert später aus einem Moskauer Ar- kommando der Wehrmacht – General- Weltgeschichte“. Die Oderfront ist zu- chiv ans Licht kommt: Stalin hat im Fe- feldmarschall Keitel, Generaloberst sammengebrochen, die Armeen Schu- bruar befohlen, alle arbeitsfähigen Jodl – befiehlt allen Heeresgruppen, kows und Konjews haben sich westlich Deutschen, auch die Frauen im Alter „alle Kräfte gegen den bolschewisti- getroffen, bei Ketzin; die von 18 bis 30 Jahren, in die Sowjetunion schen Todfeind einzusetzen . . . wobei Hauptstadt ist somit eingeschlossen. zu deportieren. Aus Rumänien und Un- große Geländeverluste gegenüber den Und an der Elbe bei Torgau stoßen garn sind schon 97 487 Deutsche in die Angloamerikanern in den Hintergrund Amerikaner und Sowjets aufeinander – UdSSR verbracht, als Stalin am Tag des zu treten haben“. Die US-Truppen wür- sie umarmen sich, anstatt aufeinander Hitler-Geburtstags den Befehl wieder- den „in den nächsten Tagen Berlin“ er- zu schießen. aufhebt. Betrunkene Kompanien machen kei- ne Gefangenen. Als in einer Pankower Straße aus einem Fenster geschossen wird, holen die Sowjetsoldaten alle Männer aus den Kellern dieser Straße und richten sie hin. Auch die Rotarmisten sind nach fast vier Kriegsjahren ausgeblutet, bei ei- nem Überfluß an Panzern, Geschützen und Flugzeugen mangelt es an Infanteri- sten. Proviant, Schuhwerk und Fahr- zeuge der Roten Armee stammen weit- hin aus Hilfslieferungen der Amerika- ner. Nach der Einnahme von Berlin- Siemensstadt drängen feiernde Sieger ihren Deutsch sprechenden Genossen Wiktor Bojew, von einem Haus aus – im Erdgeschoß liegen Bewohner, die sich vergiftet haben – Goebbels anzuru- fen. Leutnant Bojew wählt die Auskunft unter derselben Nummer wie in Mos- kau, wo das Fernsprechsystem auch von

ULLSTEIN der Firma Siemens installiert worden Hitler-Bewunderer Göring (M.), Hanna Reitsch (1941): „Dieses Schwein“ war, er wird zum Propagandaministeri- um durchgestellt und hört nach einer reichen, verbreitet Stabschef Krebs: Die 26. April: Berlin-Tegel, Charlotten- Weile: „Dr. Goebbels.“ Bojew stellt Armee Wenck halte ihnen schon bei burg, Steglitz, das Tempelhofer Feld sich vor, und: „Wie lange sind Sie im- Potsdam den Weg offen. sind die Front. Marschall Konjew proto- stande und willens, um Berlin zu kämp- Goebbels aber putscht Hitler auf mit kolliert unter diesem Datum in seinem fen?“ Goebbels: „Ihr habt Sewastopol einem Szenario, was wohl die Überle- Tagebuch den Verlust von 800 Panzern neun Monate verteidigen können, war- gungen Stalins seien: „Das Europa, das und Sturmgeschützen. Die verzweifel- um wir nicht unsere Hauptstadt?“ Bo- ich mir vorstelle, kriege ich nicht . . . ten Soldaten, übermütigen Hitler-Jun- jew: „Einen Galgen halten wir für Sie Also mache ich mit den Deutschen Kip- gen, die alten, mit einer Armbinde als schon bereit.“ pe und mache irgendein Übereinkom- Kombattanten ausgewiesenen Männer Sein Oberbefehlshaber Hitler kom- men.“ Und Goebbels stellt eine Progno- vom Volkssturm, auch rachedurstige mandiert immer weiter, obwohl es se für 1995: „Würde der Führer in Ber- Flüchtlingsfrauen aus Breslau haben ei- nichts mehr zu kommandieren gibt: Er

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befiehlt der 9. Armee, die von den So- Zum erstenmal liegt die Reichskanz- wjets eingeschlossen ist, und der 12. Ar- lei an diesem Tag unter permanentem mee, die sich von den Amerikanern lö- Beschuß, der sich am nächsten Tag zum sen soll, Berlin zu befreien. Trommelfeuer steigert. Sowjetische In- Aber auch Realisten unter seinen Ge- fanterie, die sich, mit kyrillisch beschrif- treuen scheitern an diesem Tage. SS- teten Stadtplänen ausgestattet, ge- Gruppenführer Fegelein, Partisanenkil- schickt im Panzerschutz von Haus zu ler in Polen und den Pripjat-Sümpfen, Haus und Keller zu Keller vorkämpft, hat sich nach Charlottenburg zu einer dringt bis zum Halleschen Tor vor, zum Freundin abgesetzt, die womöglich im Alexander- und – nahe Dienst des britischen Geheimdienstes der Reichskanzlei. steht. Er ruft seine Schwägerin Eva, die „Eines Tages wird die Welt erkennen, innig für ihn schwärmt, im Bunker an, daß wir recht gehandelt haben, daß wir sie solle Hitler verlassen, ehe es zu spät mit unserem Leben die Welt vor dem sei: „Jetzt ist es eine Frage von Leben Bolschewismus bewahren wollten“, tönt und Tod.“ derweil Goebbels, das Sprachrohr jenes AKG Wrack des Reitsch-Flugzeugs: „Es gedeiht noch alles zu einem guten Schluß“

In der Abenddämmerung schwirrt ein Hitler, der in Mitteleuropa bolschewisti- Fieseler Storch auf die Ost-West-Achse sche Methoden eingeführt, mit seinem zu, gesteuert vom Flieger-Generalober- Pakt 1939 Stalin mit mächtigen Landge- sten Ritter von Greim. Hinter ihm sitzt winnen zur Expansion gelockt und ihn in der Kabine die Testfliegerin Hanna mit dem Krieg nach Mitteleuropa hin- Reitsch. Beim Landeanflug durch- eingezogen hat. schlägt eine Infanteriepatrone eine Wa- Hitler verleiht eh- de des Piloten, Reitsch greift über seine renhalber das Goldene Parteiabzeichen Schulter zum Steuerknüppel und landet. für Alte Kämpfer und befiehlt, die Tun- Den beiden Besuchern erzählt der nel der U- und S-Bahn am Anhalter Mann, der einmal die ganze Welt in Bahnhof zu fluten (es gibt knapp hun- Furcht und Schrecken versetzt hat, un- dert Tote). ter Tränen: Der feige Göring „hat mich Die Sowjets ernennen ihren General- wie auch sein Vaterland betrogen, hin- obersten Bersarin schon zum Stadtkom- ter meinem Rücken hat er Verbindun- mandanten. Eine russische Bombe trifft gen zum Feind geknüpft“. Goebbels: direkt den Hitler-Bunker, ohne Folgen. „Dieses Schwein.“ Im leeren Führerraum der Reichskanz- Er habe fest daran geglaubt, daß Ber- lei läßt sich eine Küchenhilfe mit einem lin an den Ufern der Oder gerettet wür- Chauffeur trauen, das Brautpaar tanzt de, redet sich Hitler heraus, aber der zu den Klängen einer Violine und eines General Wenck werde die Russen schon Akkordeons auf dem Vulkan. schlagen. Den verwundeten Greim im- merhin kann er noch hypnotisieren: Der berichtet per Telefon seinem Stabschef Im nächsten Heft Karl Koller, wie ein „Jungbad“ wirke Der Verrat der SS – Hitler heiratet und auf ihn der Aufenthalt im Bunker, „es begeht Selbstmord – Reichskanzler gedeiht noch alles zu einem guten Goebbels schreibt Stalin einen Brief – Schluß“. Die lange Reise der Hitler-Leiche

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