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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 18. März 2002 Betr.: Bush-Krieger, Irak, SPIEGEL special ie Bush-Krieger Dfühlten sich ge- troffen. Das SPIE- GEL-Titelbild 8/2002 von Illustrator Jean- Pierre Kunkel, das George W. Bush, 55, und seine Mannschaft

als muskelbepackte / AP DOUG MILLS Rambos im „Feldzug Rumsfeld, Powell, Bush, Cheney, General Shelton, Rice gegen das Böse“ zeig- te, gefiel dem Texaner ganz außerordentlich. „Der Präsident war geschmeichelt, mit einem solchen Körper abgebildet zu werden“, berichtete US-Botschafter Dan Coats, 58, vergangene Woche bei einem Besuch im Hauptstadtbüro des SPIEGEL. Die Ber- liner US-Vertretung orderte 33 großformatige SPIEGEL-Werbe- plakate mit den „Bush-Kriegern“ für das Weiße Haus. Auch die anderen Mitkämpfer, Außenminister Colin Powell, Ver- teidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizepräsident Richard Cheney und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, wünschten sich ein Poster. Dass Bush und seine Getreuen sich die kritische Linie der dazugehörigen Titelgeschichte („Rambo hat wieder Ausgang“) zu Herzen nehmen, scheint zweifelhaft. Die kämpfe- rische Botschaft des Bildes sei doch positiv, scherzte Coats: „Leg dich nicht mit Texanern an!“ Titel 8/2002

in mutmaßliches Ziel der Bush-Krieger, den Irak, nahmen ver- Egangene Woche die SPIEGEL-Redakteure Volkhard Windfuhr, 65, und Bernhard Zand, 34, in Augenschein. Im „Reich des Bösen“ herrscht ungewohnte Lässigkeit. Mit mehr als 170 Stundenkilome- tern jagte der einheimische Fahrer das Auto, in dem die beiden Nah- ost-Korrespondenten saßen, über den Autobahnring von Bagdad. „Früher war Raserei am Tigris ein Schwerverbrechen“, sagt Wind- fuhr, der den Irak seit 30 Jahren bereist. Die SPIEGEL-Leute sa-

AYMAN BARAIZ AYMAN hen in der Hauptstadt den üppigen Luxus der irakischen Upper- Windfuhr, Zand class, die vom Schwarzhandel mit Öl über die türkische Grenze pro- fitiert. Kollege Zand konnte im Norden bei der Ölstadt Kirkuk die Quellen des neuen Reichtums besichtigen, vergleichsweise ungehindert dank des nachlassenden Eifers der Sicherheitsleute. Nur in Tikrit, dem schwer bewachten Ge- burtsort des Diktators Saddam Hussein, wurde Zands Fahrer ängstlich. Als der Kor- respondent dort auf einen Imbiss einkehren wollte, riet der Iraker ab: „Hier würde ich nicht einmal anhalten, wenn ich verhungern müsste“ (Seite 150).

eit Anfang Januar die SPIEGEL-Serie „Woher kommt Eu- Sropa?“ erschien, kam Johanna Kaup, Lehrerin an der Haupt- schule in Düsseldorf-Rath, jede Woche ins Redaktionsbüro und holte sich einen Stapel Hefte ab. Die Essays zur Geschichte des alten Kontinents seien anschaulicher und wirklichkeitsnäher als die Schulbücher für ihre achte Klasse. Diese Woche hat Kaup wieder Grund, bei den Kollegen vorbeizuschauen: Am Dienstag kommt das neue SPIEGEL special „Experiment Eu- ropa“ heraus – mit allen Serienteilen und dazu noch aktuellen Beiträgen zu Problemen der Europäischen Union.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 12/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Die Republik in Zeiten von Korruption und krummen Geschäften ...... 22 Kölner Justiz ermittelt gegen den früheren Bananenrepublik SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand ... 26 Das Schmiergeldsystem beim Deutschland Anlagenbauer ABB ...... 28 Seiten 22 bis 37 Wie SPD-Generalsekretär Franz Müntefering die Krise zu managen versucht ...... 34 Die Spendenaffäre um den Müllmag- Pharmafirmen operieren an der Grenze naten Trienekens und den zurückge- zur Korruption ...... 37 tretenen Kölner Fraktionschef Rüther stürzt die SPD in die Krise. Während Kommentar Spitzengenossen wie Franz Münte- Rudolf Augstein: Der Weltgendarm ...... 136 fering Aufklärung versprechen, gera- ten auch andernorts Sozialdemokra- Deutschland ten unter Korruptionsverdacht. Nach Panorama: Rüstungskosten explodieren / dem Spendenskandal der CDU ver- Grundgesetz soll Tiere schützen ...... 17 spielt nun die zweite große Volkspar- Hauptstadt: Gregor Gysis alltäglicher tei ihr Ansehen bei den Wählern – (R.) OSSENBRINK (L.); UDO GOTTSCHALK FRANK (O.); / DPA ATHENSTÄDT MARTIN Kampf als Wirtschaftssenator ...... 42 zum Schaden der Demokratie. Rüther, Müntefering, Trienekens Entwicklungshilfe: Warum Gerhard Schröder dem Weltgipfel zur Bekämpfung der Armut fernbleibt ...... 49 Prostitution: Neues Gesetz entpuppt sich als Flop ...... 60 Flugsicherheit: Kaum Sprengstoffkontrollen Sturm auf den Führerbunker Seite 68 bei Reisekoffern ...... 66 Zeitgeschichte: Joachim Fest über die Hitlers Drohung, er werde „eine Welt“ letzten Tage in Hitlers Reichskanzlei ...... 68 in den Tod mitnehmen, wurde Realität. Bundeswehr: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Millionen Menschenleben waren ver- Rudolf Scharping und Jörg Schönbohm...... 82 nichtet und halb Europa zerstört, als Bundesrat: Das Zuwanderungsgesetz der Diktator am 30. April 1945 Selbst- droht zu scheitern ...... 87 Liberale: FDP-Chef Westerwelle verdirbt mord beging. Der Publizist Joachim es sich mit dem Kanzler ...... 90 Fest schildert, wie die Sowjets DDR-Vergangenheit: Interview mit stürmten und in einem apokalyptischen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über Schlussakt auch der Führerbunker fiel. die Zukunft der Birthler-Behörde ...... 92 STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE Der SPIEGEL bringt Auszüge aus Fests Hitler neuem Buch „Der Untergang“. Wirtschaft Trends: Bankenstreit um Holzmann / Eichel erhöht Druck auf die Länder / Lufthansa-Piloten protestieren gegen künftigen Chef / Berliner Finanzsenator will Bahn verklagen ..... 95 Geld: Goldman Sachs erwartet Huren im Steuerstreik Seite 60 „synchronen Aufschwung“ / Versicherungsaktien unter Druck ...... 97 Per Gesetz wollte die Bundesregierung die Lage Tourismus: Wie die Urlaubskonzerne der der 400000 Huren verbessern. Doch weder Pro- Buchungsflaute entkommen wollen...... 98 stituierte noch Zuhälter zeigen Interesse an Robinson-Club-Chefs suchen die Trends Arbeitsverträgen mit Urlaubs- und Renten-

der Saison...... 102 anspruch. Im Rotlichtmilieu wird Schwarzgeld DPA Unternehmer: SPIEGEL-Gespräch mit verdient – und das soll auch so bleiben. Prostituierte am Arbeitsplatz Versandhaus-Chef Michael Otto über Ökoprodukte, Börsendruck und die Risiken der Globalisierung...... 104 Geldanlage: Das Nachbeben der großen Baisse erreicht die Fondsbranche ...... 108 Handel: Deutschlands schillerndster Leere Strände, leere Kassen Seiten 98, 102 Autoverkäufer ist pleite ...... 112 Die Deutschen, einst Welt- Medien meister im Reisen, kommen Trends: Ex-Bundesbankchef Tietmeyer dieses Jahr nicht in Urlaubs- als Moderator im stimmung. Bei den Touris- Kirch-Konflikt? / „Zeit“ und „FAZ“ tikkonzernen grassiert die streiten um Traueranzeige...... 115 Angst vor leeren Betten und Fernsehen: Ratten essen für ProSieben / Flugsitzen. Neue, schnelle Biolek hilft beim Einschlafen ...... 116 Buchungssysteme sollen nun Vorschau / Rückschau ...... 117 die Flaute bekämpfen. Zu- ZDF: Die schwierigen Aufgaben des neuen

FRANK TOPHOVEN / LAIF TOPHOVEN FRANK gleich wird nach den Trends Intendanten Markus Schächter ...... 118 Nachruf: Rudolf Augstein zum Tod Urlauberinnen in der Türkei der Saison gefahndet. von Marion Gräfin Dönhoff ...... 122

6 der spiegel 12/2002 Ausland Panorama: Wahlfälschung in Simbabwe / Deutsche in Singapur von Todesstrafe bedroht ... 131 USA: Die Atompläne von Bushs Strategen ..... 134 SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Eric Hobsbawm über die globale amerikanische Dominanz ...... 142 Irak: Seltsame Allianzen im Reich des Bösen ... 150 Interview mit Handelsminister Mohammed Mahdi Salih über die Drohungen der USA und die Reaktionen der Araber ...... 154 Nahost: Bush maßregelt Scharon ...... 158 Indonesien: Grenzen der Terrorbekämpfung .. 166 Österreich: Dauer-Kabale auf diplomatischem Parkett ...... 167

Gesellschaft MOHAMAD ISMAEL / UPI / GAMMA / STUDIO X (L.); DPA (U.) X (L.); DPA / STUDIO / UPI GAMMA ISMAEL MOHAMAD Szene: Neue Partykultur in New York / Beerdigung palästinensischer Opfer, israelische Panzer Kaufsucht im Internet / Nikotin aus der Flasche ...... 169 Wiederaufbau: Minen, Warlords und Bürokraten behindern Fortschritte in Afghanistan ...... 172 Nahost: Die USA greifen ein Seite 158 Ortstermin: Turbulenzen beim US-Vizepräsident Richard Cheney ist auf Rundreise in Nahost, der amerikanische Deutschen Wetterdienst in Offenbach ...... 180 Sonderemissär Anthony Zinni versucht zwischen Israelis und Palästinensern zu ver- Sport mitteln: Aufgeschreckt durch die mörderische Gewalt, bemüht sich Washington jetzt Fußball: Die taktischen Fehler des DFB-Chefs hektisch um Waffenruhe – Vorbedingung für einen Angriff auf den Erzfeind Irak? Gerhard Mayer-Vorfelder ...... 182 Boxen: Psycho-Test für Mike Tyson ...... 186

Kultur Szene: Filmstar Halle Berry über ihre Oscar-Chancen / Münchner „SZ“-Hochhaus Das Ende der Menstruation Seite 226 nach 50 Jahre altem Vorbild ...... 189 Mit neuen Verhütungspillen wollen Mediziner ausschalten, was seit Menschen- Kino: Die letzten Tage vor dem Selbstmord – Stefan Zweigs Leben wird in Brasilien verfilmt... 192 gedenken als Symbol der Weiblichkeit gilt: die monatliche Blutung. Eine zu hohe Zahl Autoren: Interview mit US-Schriftstellerin von Menstruationen, behaupten die Forscher, könne zu Krebs führen. Susan Sontag über Wahrnehmungsdefizite der Intellektuellen im Krieg...... 196 Film: Wie das Starmodel Milla Jovovich als Schauspielerin die Zuschauer bezirzt ...... 198 Denkmaldebatte: Soll Mies van der Rohes Ehrenmal für Rosa Luxemburg und Der teuerste Kampf aller Zeiten Seite 186 Karl Liebknecht rekonstruiert werden? ...... 206 Musikgeschäft: Popdiva Courtney Love führt Bei Box-Veranstaltern wird er als schlagen- Musterprozess gegen Plattenfirmen ...... 214 de Attraktion geschätzt, aber auch als Legenden: Neue Biografie über Anne Franks Rabauke gefürchtet. Der Amerikaner Mike Vater provoziert die Niederländer ...... 218 Tyson, der schon wegen Vergewaltigung Bestseller ...... 219 verurteilt wurde und einen Gegner biss, musste sich erst für geistig gesund erklären Wissenschaft · Technik lassen, bevor er die Lizenz für den Fight ge- Prisma: Inseln im Packeis entdeckt / gen den Intimfeind Lennox Lewis bekam. Zahnausfall durchs Rauchen ...... 223 Medizin: Pharmaforscher wollen Es wird der teuerste Kampf aller Zeiten. die Monatsblutung abschaffen ...... 226 Sterben: Der Gerichtsmediziner

Boxprofi Tyson / SPORTIMAGE HART WILL Alfred Du Chesne über die Gefahr, lebendig begraben zu werden ...... 230 Klima: Kehrt das Wetterungeheuer El Niño zurück? ...... 236 Tiere: Interview mit Regisseur Jacques Perrin über seinen Zugvogel-Film „Nomaden der Lüfte“ Das starke und die Kunst, mit Gänsen und Pelikanen zu fliegen...... 238 Seite 198 Raumfahrt: Russlands geheimer Mädchen Weltraumbahnhof ...... 242 Die 26-jährige Ukrainerin Milla Jovovich Nachruf: Zum Tod des Philosophen wurde in den USA zum Starmodel. Nun Hans-Georg Gadamer ...... 243 betört sie, nach ihrem Durchbruch in dem Briefe ...... 8 Film „Das fünfte Element“, in „Resident Impressum, Leserservice ...... 244

CINETEXT Evil“ erneut als Schauspielerin ihre Fans. Chronik...... 245 Register ...... 246 Jovovich in „Resident Evil“ Personalien...... 248 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 250 TITELBILD: Illustration DER SPIEGEL der spiegel 12/2002 7 Briefe

gewordene jahrzehntelange Konflikt zwi- schen individualistisch-kapitalistischer Kul- „Ich fürchte, dass die tur und kollektiv-sozialistischem Gesell- schaftskonzept im Nachhinein wie ein geschilderte saudi-arabisch- lächerlicher Disput über die materielle Qualität des Lebens in einer halbwegs amerikanische Giftbrühe aufgeklärten Industriegesellschaft. Mit den Freunden aus Moskau oder Havanna konnte man zumindest hier und da noch gefährlicher ist als ein spaßen! Langenfeld (Nrdrh.-Westf.) Alptraum aus 2001 Nacht.“ Hans-Peter Büttgenbach Karl Keutler aus Lindenfels in Hessen zum Titel „Saudi-Arabien – Alptraum aus 2001“ Die schonungslose Dokumentation über SPIEGEL-Titel 10/2002 das heute noch abgeschottete Saudi-Ara- bien werden alle Saudi-Fahrer – die wie ich zum Arbeitseinsatz dort waren – mit Die heilige Stätte Mekka neben dem Foto weiteren Einzelheiten anreichern können, Moralische Bankrotterklärung von Osama Bin Laden, daneben ein abge- zum Beispiel mit Berichten über leicht be- Nr. 10/2002, Titel: schlachteter Mann, daneben eine komplett kleidete Kollegen-Frauen im Suk (Markt), Saudi-Arabien – Alptraum aus 2001 Nacht verschleierte Frau. Saudi-Arabien ist die denen die Religionspolizei zuweilen mit ei- Geburtsstätte einer großen Religion. Für nem Stöckchen auf die nackten Arme Sicher ist Saudi-Arabien nicht an europäi- viele heißt Saudi-Arabien: Islam. Das Bild schlug. Ergänzenswert erscheint mir der schen Maßstäben zu messen und vieles zu ist wieder mal ein Schlag ins Gesicht von Hinweis, dass ohne die „Gastarbeit“ der bemängeln. Nur: Man kann auch jedes an- friedlichen und schon längst integrierten Filipinos – die keineswegs nur „niedrige dere Land der Welt (zum Beispiel die USA, Muslimen in Deutschland. Typisch Westen. Arbeiten“ verrichten – ganz Riad lahm ge- wo es Todesstrafe, Rassismus, Playboy-Prä- Berlin Ercan Alagöz legt werden könnte. Auch haben die Sau- sidenten und Korruption gibt und man nie dis ihre enormen Öl-Einnahmen nach dem zimperlich in der Wahl seiner Partner war, Jom-Kippur-Krieg nicht nur für „groß- Hauptsache es diente den eigenen Interes- zügige Sozialleistungen“ ausgegeben, son- sen) nehmen, alles Negative zusammen- dern in gewaltige Infrastrukturbauten in- schreiben und daraus einen Alptraum wer- vestiert – sehr zur Freude der europäischen den lassen. Ich habe bis 1999 drei Jahre in und hier vor allem der deutschen Bau- Riad gewohnt, habe mich dort sehr wohl industrie. gefühlt und viele positive Erinnerungen an Berlin Prof. Dr. Peter Kolbe das Land und die Saudi-Araber mitge- nommen. Der Artikel ist undifferenziert. Stuttgart Christian Stadler Wahnsinn mit Methode Nr. 10/2002, Ausländer: Parallelgesellschaften Solange sie den eigenen Interessen dienen, offenbaren das chronische werden despotische und diktatorische Staa- Versagen der deutschen Zuwanderungspolitik ten als „Verbündete“ und „Freunde“ be- handelt; so lange dürfen sie auch alles Den Artikel habe ich mit sehr viel Interes- mit Füßen treten: „Menschenrechte“, „De- se gelesen – was wohl auf meine türkische mokratie“ und so weiter. Eine Bankrott- Herkunft zurückzuführen ist. Ich fand die erklärung der Politik und Moral des Wes- Beleuchtung des Themas aus unterschied- tens, vor allem dessen Führungsmacht, lichen Perspektiven sehr gut. Es wurden den USA. sowohl die Klischee-Türken des Panturkis- Recklinghausen Dr. Ahmad Hussein mus als auch die Vorzeigetürken erwähnt.

MARWAN NAAMANI / DPA NAAMANI MARWAN Es stimmt, was in den zahlreichen Statisti- Es ist ja durchaus bekannt, dass der SPIE- Muslimische Pilger in der Nähe von Mekka ken zu erkennen ist: dass sich die meisten GEL mit provokanten Titelbildern, auch Geburtsstätte einer großen Religion Türken gar nicht integrieren wollen und sehr erfolgreich, arbeitet. Aber solche Dar- dass das Problem bei den Sprachdefiziten stellungen der Medien zusammen mit ei- Angesichts der mediävalen Finsternis, die liegt. Jedoch steht auch fest, dass man mich nem George W. Bush, der keine Gelegen- uns aus Mekka und anderen heiligen Stät- niemals bedingungslos akzeptieren wird, heit auslässt, den „Nahen Osten“ als Ur- ten des Islam droht, scheint der obsolet wenn ich als Hochschulabsolventin mit ei- sprung des Bösen zu bezeichnen, regen nicht nur zur Diskussion an, sondern ver- anlassen auch Gruppierungen von Dumm- Vor 50 Jahren der spiegel vom 19. März 1952 köpfen, Moscheen anzuzünden, oder jun- Agentenaffäre belastet Bundesregierung Jeder behauptet das ge verwirrte Menschen, sich Terrorgrup- Gegenteil. Rund 12,5 Millionen Mark Einnahmen durch neue Kfz- pen anzuschließen, die Religion als Ausre- Kennzeichen Zwang der Nummernnot. Interzonale Autoschmuggler de für Attentate nehmen. vor dem Aus? Einer der letzten Überlebenden. Stellvertretender Müden (Nieders.) Phillip Hartwig Sowjetischer Außenminister Gromyko schlägt bewaffnete Neutralität Gesamtdeutschlands vor Nachricht wie eine Atombombe. Präsident- schaftswahlkampf in den USA Jeder gegen jeden. Billy Wilders Kino- Ein gewagtes Titelbild und eine schon lan- film „Reporter des Satans“ Gier nach Geld, Macht und Sensationen. ge überfällige Reportage über das Leben in Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de Saudi-Arabien. Titel: General Charles de Gaulle Marktredwitz (Bayern) Georg M. Fidel

8 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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Werbeseite STEFAN ENDERS STEFAN Türkische Frauen in Duisburg: Leben in Absurdistan? nem deutschen Pass einen angesehenen wird es aber den ewigen Anhängern und Beruf ausübe, aber ein Kopftuch trage, Verharmlosern dieser schlimmen Entwick- auch wenn das von Pierre Cardin ist. lung schwer fallen, diesen Beitrag in eine, Schwerte (Nrdrh.-Westf.) Havva Avci wie üblich, rechte Ecke zu stellen, denn gerade der SPIEGEL ist in dieser Hinsicht Wir leben wahrlich in Absurdistan: Da wer- unantastbar. Machen Sie weiter so, lassen den ausländische Mitbürger aus dem Land Sie sich in keine Richtung verbiegen. gejagt, die seit Jahrzehnten hier leben und Berlin S. Köppen arbeiten, Steuern und Sozialabgaben zah- len und nicht straffällig geworden sind. Gleichzeitig holt man Sozialhilfeempfän- Auf dem Rücken der Ausländer ger aus dem Ausland, die weder integra- Nr. 10/2002, Reformen: Wie die Streitfrage tionsfähig noch -willig sind. Ich kann dazu Zuwanderung zum ersten großen Wahlkampfthema wird nur feststellen: Es ist zwar Wahnsinn, doch hat es Methode! Die Ursachen liegen wohl Eine Chipfabrik und ein Flughafenausbau in einer absoluten Realitätsferne der Poli- gegen die Zustimmung Brandenburgs zum tiker und ihrem naiven Gutmenschentum. Zuwanderungsgesetz im Bundesrat. Diese Ethnische Konflikte und Auseinanderset- wichtige Instanz der demokratischen Le- zungen wie in den USA und in Großbri- gislative verkommt leider immer mehr zu tannien werden nicht mehr lange auf sich einem Instrument der politischen Beste- warten lassen. chung und Erpressung. Die Väter des Altleiningen (Rhld.-Pf.) Wolfgang E. Schaefer Grundgesetzes würden sich im Grabe um- drehen. In der öffentlichen Diskussion ist immer Reinbek Johann Bures nur von den Kosten die Rede, die Auslän- der für unsere Gesellschaft verursachen. Die Union plädiert unter Integrationsge- Es ist aber auch wichtig, zur Kenntnis sichtspunkten für eine Absenkung des zu nehmen, dass viele Ausländer hier Un- Nachzugsalters auf 6, höchstens 10 Jahre, ternehmen gründen und Arbeitsplätze damit die Erziehung und Schulausbildung schaffen. Im Übrigen darf ein dringend not- überwiegend in Deutschland und nicht im wendiges Einwanderungsgesetz nicht zwi- Ausland stattfinden. Der rot-grüne Ge- schen guten und weniger guten Einwande- setzentwurf sah zunächst eine Absenkung rern unterscheiden. Hier ist vor allem dem auf 14 Jahre und dann auf 12 Jahre vor – al- humanitären Gedanken Rechnung zu tra- lerdings mit neuen, sehr weit reichenden gen. Die Union und in Sonderheit ihr Ausnahmevorschriften, so dass in der Pra- Kanzlerkandidat lehnen in Wahrheit aber xis die Absenkung des Nachzugsalters die ein Zuwanderungsgesetz ab. Parallelge- Ausnahme und die Heraufsetzung auf 18 sellschaften entstehen nicht zuletzt des- Jahre die Regel wäre. In dieser Situation halb, weil die schon immer vorhandene habe ich als Kompromiss eine Einigung auf Einwanderung ignoriert wurde und keine 12 Jahre angeboten – unter Beibehaltung Mechanismen zu ihrer Regelung konzipiert der jetzt schon bestehenden Ausnahme- wurden. Eine echte Zuwanderungspolitik vorschriften einschließlich der geltenden gibt es bis jetzt in Deutschland nicht. Härtefallregelung. Das wäre dann ein ech- Dresden Andreas Meißner ter Kompromiss gewesen, der allerdings von der Koalition nicht gewollt war. Vielen Dank für diesen mutigen und ehr- Berlin Wolfgang Bosbach lichen Artikel über ein Thema, das viele Stellvertretender Vorsitzender beschäftigt und bewegt. Offensichtlich neh- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion men Sie am wahren Leben noch so teil, dass Sie ohne ideologische Scheuklappen Dass die Opposition dem Einwanderungs- zu solchen Darstellungen kommen. Nun gesetz nicht zustimmt, ist meines Erach-

12 der spiegel 12/2002 Briefe tens mit dem Wahlkampf zu begründen, denn inhaltlich herrscht nach häufiger An- passung weitgehend eine Übereinstim- mung mit der Regierung. Anstatt das Ge- setz weiter zu blockieren, sollten Stoiber und Co. endlich anerkennen, dass der Be- griff „Einwanderungsland“ für Deutsch- land zutrifft, und das von der Wirtschaft ge- stützte Gesetz akzeptieren. Es ist nicht richtig, den Wahlkampf auf dem Rücken der Ausländer auszutragen, fehlt ihnen doch das Recht, sich mit einer Stimme bei der Wahl zu wehren. Freiburg Florian Schulz

Zur Unterstützung Nr. 10/2002, Prisma: Fluggeräte – Wackelige Luftnummer

Warum wird mit aller Gewalt versucht, den Cargolifter kaputtzureden? Sollten wir nicht besser froh und stolz darauf sein, dass in Deutschland (ohnehin selten genug) ein geniales und zukunftsträchtiges System entwickelt wird? Statt es zu zerstören, soll- ten wir es unterstützen und fördern, um in einem neuen Segment Marktführer sein zu können. Und nur ganz nebenbei kann auch RAINER WEISFLOG RAINER Cargolifter-Werft in der Niederlausitz Genial und zukunftsträchtig? eine Reihe von Arbeitsplätzen geschaffen werden, die wir in unserer alt eingesesse- nen Industrie mehr und mehr verlieren werden. Wenn wir unsere Ideen und Ent- wicklungen im Keim ersticken, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir das gleiche Produkt im Ausland nachher kaufen kön- nen oder sogar müssen. Buchholz (Rhld.-Pf.) Ralph Firk

Als Kleinaktionär habe ich mich bei Car- golifter engagiert, um diese meines Erach- tens ökonomisch und ökologisch sinnvolle Idee zu unterstützen. Von der technischen Machbarkeit war und bin ich überzeugt. Dass bis zur Ausschüttung von Dividen- den mehrere Jahre vergehen würden, war von Anfang an klar. Ihr sehr kurzer, wenig differenzierter Beitrag kann aus meiner Sicht wohl kaum auf gewissenhafter Re- cherche beruhen. Ich hoffe, dass ausrei- chend Kapital gesammelt werden kann, um dieses Projekt voranzutreiben. Die Höhe des Aktienkurses ist für mich nicht so ent- scheidend. Gülzow (Schl.-Holst.) Helmut Märkert der spiegel 12/2002 13 Briefe

Fast jede Stadt in Deutsch- dingungen für normale wirtschaftliche land hat mittlerweile eine Betätigung nicht vorzufinden sind. Und ein Endstation wie die Siedlung Neubeginn ist nicht zu erkennen. Die ehe- in der Berzeliusstraße in maligen Exponenten der DDR-Staats- Hamburg. Die Schilderung sicherheit sind allgegenwärtig in politischen der Lebensumstände des Ver- Parteien, Stadtverwaltung, Stadtparlament. storbenen mag vielen Lesern Die Jugend ist abgewandert. Strausberg grausam und unmenschlich könnte als Lehr- und Übungsfeld dienen, vorkommen, aber ich kann um darzustellen, wie die Wiedervereini- nur empfehlen, mit offenen gung nicht sein sollte. Augen durch die eigene Hei- Strausberg Patrick Villiers matstadt zu gehen. In 13 Jah- The Vintage Aircraft Co. ren, in denen ich im Ret- tungsdienst einer Stadt mit Bei der Interessengemeinschaft gegen Ver- 150000 Einwohnern tätig bin, mögensunrecht (IgV) melden sich immer musste ich leider mehrfach mehr Alteigentümer, die in und um Straus- ähnliche Fälle erleben. Bei berg auf ähnliche Art und Weise um ihre Schilderungen, unter welchen Grundstücke gebracht wurden, wie Sie es Bedingungen Menschen in beschreiben. Die letzte uns bekannt ge- diesem Land leben, ernte ich wordene Enteignung fand im Jahr 1997 fast immer nur ungläubiges statt – nach dem so genannten Aufbauge- Entsetzen. Die Maschen des setz –, obwohl der rechtmäßige Eigentümer sozialen Netzes in Deutsch- nachweislich zu diesem Zeitpunkt noch land sind größer, als man im Grundbuch stand. Man hatte es an- denkt, und wer einmal ent- geblich versäumt, die Umschreibung noch

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL wurzelt ist, hat gute Chancen, zu DDR-Zeiten vorzunehmen – bedauer- Berzeliusstraßen-Siedlung: Behördliches Desinteresse im Dschungel des „Nicht-zu- licherweise zu Lasten des im Nachhin- ständig-Seins“ sein Leben zu ein Enteigneten. Der Rechtsstaat macht’s lassen. Wer Slums sehen möchte, muss möglich. Mit offenen Augen nicht mehr unbedingt nach Brasilien oder Berlin Hans-Joachim Elgt Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit IgV Nr. 10/2002, Armut: Unter staatlicher Mexiko fahren… Aufsicht – der dubiose Tod eines Osnabrück Helmut Wilker Obdachlosen in einer Hamburger Wohnunterkunft Ein lebendiges Geschichtsbuch Armut ist sicherlich ein Grund für diese Der Rechtsstaat macht’s möglich Nr. 10/2002, Serie: Das Europa menschenunwürdigen Zustände, aber der Europäer – Der weite Weg in die Zukunft Nr. 10/2002, Immobilien: Wie alte Seilschaften schlimmer sind Schlamperei und behörd- im brandenburgischen Strausberg liches Desinteresse, und es gibt noch mehr systematisch Grundbücher manipuliert haben Seit mehreren Jahren unterrichte ich bei dieser „Schandflecken“ in unserer „feinen der Zoll-Lehranstalt Krefeld die Nach- Hansestadt“. Das „Pik As“ in der Neu- Mit Genugtuung und auch Bedauern lasen wuchskräfte der Zollverwaltung im „Eu- städter Straße, ein Wohnheim für obdach- wir Ihre Enthüllungen über die Grund- ropa-Recht“. Mit Spannung habe ich Ihre lose Männer, wird auch von „Pflegen und stücksschiebereien in Strausberg. Gleich Beiträge zur Entwicklung der Europäi- Wohnen“ geleitet, der Firma, bei der nach der deutschen Neuvereinigung er- schen Einigung gelesen und bin begeistert. angeblich der Mensch im Mittelpunkt schien uns die Lage als optimal, und wir Die Art und Weise, wie Ihre Autoren die steht. Fragt sich nur, welcher Mensch! waren die ersten Investoren auf dem einzelnen Zeitepochen dargestellt haben, Sicher nicht einer von den Schwächsten Flugplatz der ehemaligen Kommandozen- war höchst interessant und sehr informativ. in der Kette der hanseatischen Sozialord- trale der NVA. Seither aber bleiben wir Die übersichtliche, verständliche Form der nung, dem aber diese Unterkunft zuge- auf den Flugbetriebsflächen auch das ein- geschichtlichen Darstellung, einschließlich wiesen wird. „Hausen“ und „Verwahren“ zige Unternehmen. Denn: In der Ge- der Begriffserklärungen und Grafiken, ha- sind adäquate Ausdrücke für das, was dort schäftswelt der alten Bundesländer, Ber- ben Ihre Serie zu einem lebendigen Ge- stattfindet, sicher nicht „Wohnen“ und lins und bis in die USA hat sich herum- schichtsbuch gemacht. Ich kann nur hoffen, bestimmt nicht „Pflegen“. Hamburg, teu- gesprochen, dass in Strausberg die Be- dass viele jungen Menschen Ihre Serie re Schöne – was leistest du dir für Be- gelesen haben und ihnen klar geworden hörden? ist, dass ein friedliches Europa, so wie wir Hamburg Heidi Zimmermann es heute haben, keine Selbstverständlich- keit ist. Leider verfehlt Ihr sehr emotionaler Ar- Bedburg-Hau (Nrdrh.-Westf.) tikel seinen Hauptsinn. Zwar ist das Schick- Friedrich Bachmann sal des Herrn Aschberg eine Tragödie, die sich nicht nur mit kalt-rationalen Wor- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- ten darstellen lässt. Doch geht es viel- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. mehr um die Gesamtproblematik eines Ge- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] bietes wie Billbrook. Und da ist keinem mit einem gefühlsgeladenen Bericht ge- In der Mitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in ei- holfen, der Politiker eher zu medienwirk- ner Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Firma Peek samem Aktionismus bringt als zu über- & Cloppenburg, Hamburg. Eine Teilauflage enthält Bei- kleber der Firmen Benz, Nagold, und Media Markt, Mün- legten, längerfristig sinnvollen Maßnah- BILDERDIENST / ULLSTEIN & PRESSEFOTO LUFTBILD chen, sowie Beilagen der Firmen Maison de la France, men. Strausberg am Straussee Frankfurt am Main, Schweiz Tourismus, Zürich, und des Hamburg Hannes Schwandt Optimale Lage für Investoren? Zeit Verlags, Hamburg.

14 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland

MILITÄRFLUGZEUGE 5 Ausgaben für Großvorhaben der Bundeswehr 4,6 in Milliarden Euro Luftnummern 4 mit A400M 3,3 im Etat 3 2,6 m Streit um den Militärtransporter IA400M, dessen Flotte 9,4 Milliarden 2 Euro kosten soll, gibt Verteidigungsminister Großvorhaben ohne das Transportflugzeug A400M Rudolf Scharping (SPD) seinen erbitterten (z. B. Helikopter „NH-90“ und „Tiger“; „Eurofighter“) Widerstand gegen eine Forderung des 1 Haushaltsausschusses auf. Er will den Par- lamentariern vor der entscheidenden Sit- 0 zung in dieser Woche nun doch eine Über- sicht zu den übrigen Großprojekten der 20022004 2006 2008 2010 2012 2014 Bundeswehr zukommen lassen. Das Wehr- ressort hatte dies bisher abgelehnt – aus Furcht, der Ausschuss werde das Militär- Airbus-Projekt wegen der enormen Kosten der übrigen Rüstungskäufe kippen. Laut einer vertraulichen Aufstellung werden die wichtigsten Großvorhaben, darunter der Airbus, der Eurofighter, der Transportheli- kopter NH 90 und der Kampfhubschrauber „Tiger“, im Jahr 2010 bereits gut 4,6 Mil-

liarden Euro verschlingen. Dazu kommen AP H. C. PLAMBECK / HCP-FOTO „sonstige Beschaffungen“, etwa Funk- Militär-Airbus A400M (Computersimulation) Scharping geräte und Fahrzeuge, deren jährliche Kos- ten der Bundesrechnungshof auf etwa 1,4 Milliarden Euro 30-Milliarden-Marke überschreiten. Weil die Rüstungskosten aber schätzt. In diesem Jahr sind für alle „militärischen Beschaffungen“ bereits von 2005 an explosionsartig steigen, lässt Bundeswehr-Ge- nur 3,3 Milliarden Euro vorgesehen. Um die hochfliegenden Plä- neralinspekteur Harald Kujat nun prüfen, ob vertraglich schon ne zu verwirklichen, müsste der Wehretat, derzeit insgesamt vereinbarte Projekte verschoben werden könnten – notfalls ohne 24,4 Milliarden Euro, deshalb rapide anwachsen – und 2010 die Rücksicht auf drohende Konventionalstrafen.

spitze am vergangenen Frei- JUSTIZ tag. Damit ist der Weg frei für eine Ergänzung der Ver- Mehr Rechte für Schöffen fassung im Artikel 20a. Noch im April 2000 hatte die er ehrenamtlich als Schöffe bei Straf- Union im Bundestag die Wgerichten tätig ist, soll in Zukunft bes- Aufnahme des Tierschutzes ser vor Benachteiligungen geschützt wer- ins Grundgesetz verhindert. den. Dies sieht ein von allen Bundesländern Nahezu geschlossen stimm- unterstützter Gesetzentwurf aus Baden- ten die Abgeordneten von Württemberg zur Reform des Schöffen- CDU und CSU damals gegen rechts vor. Danach muss ein Arbeitgeber einen gemeinsamen Gesetz- einem Schöffen für eine Verhandlung frei- entwurf von SPD, Grünen, geben; Kündigungen wegen der Übernahme FDP und PDS und verhin- eines Schöffenamtes sind unzulässig. Zu- derten so die notwendige dem sollen bei der Wahl zu ehrenamtlichen

MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER Zweidrittelmehrheit. Richtern künftig „Männer und Frauen je- Stoiber (auf der Grünen Woche in Berlin) Seinen Meinungswechsel weils angemessen berücksichtigt werden“. begründete Stoiber mit Schöffen wirken mit gleichem Stimmrecht TIERSCHUTZ einem im Januar ergangenen Urteil wie die Berufsrichter am Urteil mit. Wer des Bundesverfassungsgerichts. zum Schöffen gewählt ist, kann das Amt nur Union schwenkt ein Die Richter hatten damit Muslimen aus besonderen Gründen ablehnen. In der das Schlachten von Tieren ohne Regel müssen Schöffen an zwölf Verhand- uf Betreiben von Kanzlerkandidat Betäubung erlaubt. Zahlreiche Pro- lungstagen pro Jahr teilnehmen und mit AEdmund Stoiber gibt die CDU/ teste der Bevölkerung hätten den Ordnungsgeld rechnen, wenn sie nicht er- CSU ihren Widerstand gegen die Ver- CSU-Chef anschließend für das The- scheinen. Bislang sind Schöffen oftmals ge- ankerung des Tierschutzes im Grund- ma sensibilisiert, hieß es aus der zwungen, für Verhandlungstage Urlaub zu gesetz auf. Das beschloss die Unions- Unionsspitze. nehmen.

der spiegel 12/2002 17 Panorama

HAMBURG Schöngeredet m Zusammenhang mit dem geplan- Iten Verkauf des 5,99-Prozent-An- teils der Stadt Hamburg an der Daim- lerChrysler Luft- und Raumfahrt Hol- ding hat der Senat die Bürgerschaft offenbar zweimal falsch informiert. 403 Millionen Euro sollten durch das Aktiengeschäft in die Stadtkasse kom- men – zur Finanzierung der 665 Mil- lionen Euro teuren Elb-Aufschüttung im Mühlenberger Loch. Die war Vor- aussetzung für die umstrittene Erwei- terung des Hamburger Airbus-Werks (SPIEGEL 11/2002). Sowohl Wirt- schaftssenator Thomas Mirow (SPD) als auch sein Nachfolger Gunnar Uldall (CDU) hatten in „Mitteilungen an die Bürgerschaft“ (Mai 2001 und Januar 2002) behauptet, es gebe „Ver-

kaufsverhandlungen“ zwischen der / SKY PHOTO HELMERS FLORIS Stadt und DaimlerChrysler, bei denen Bauarbeiten am Mühlenberger Loch in Hamburg das Unternehmen sich „grundsätzlich an einem Erwerb der Hamburger Anteile interessiert“ gezeigt günstig zu haben, beträgt der Börsenwert des Pakets zurzeit doch habe. Ein Sprecher des Konzerns wies diese Darstellung zurück: nur noch rund 200 Millionen Euro. Ein Sprecher der Hamburger „Wir haben nie eine Absichtserklärung bezüglich eines Erwerbs Wirtschaftsbehörde gab sich wortkarg: „Über die Gespräche mit der Anteile abgegeben und sind auch heute an einem solchen Vertretern von DaimlerChrysler ist Stillschweigen vereinbart. Kauf nicht interessiert.“ Dabei wären sie, im Vergleich zu früher, Dazu gibt es keine weiteren Kommentare.“

AFFÄREN DISKRIMINIERUNG isten, die etwa in kirchlichen Pflegeeinrichtungen aufgenom- Strafbefehl für Ex-CSU-General Gesetz gekappt men werden wollen. Sollte Alter als Anti-Diskriminierungsgrund ie Staatsanwaltschaft Hof lässt dem Bundestags- ines der Vorzeigeprojekte der gesetzlich verankert werden, Dabgeordneten und ehemaligen CSU-General- Erot-grünen Regierung, das ge- stünden zudem sämtliche Ver- sekretär Bernd Protzner einen Strafbefehl wegen plante Anti-Diskriminierungsge- günstigungen für Senioren auf Steuerhinterziehung zu- setz, wird voraussichtlich nicht dem Prüfstand, da sich Jüngere schicken. Das Parlament hat wie geplant verabschiedet. Das benachteiligt fühlen könnten. dafür schon die Immunität Regelwerk sollte Betroffene nach Bedenken hat die SPD auch bei Protzners aufgehoben. dem Vorbild der USA vor Diskri- dem Punkt „Weltanschauung“. Durch die Steueraffäre gerät minierungen „aus Gründen des Rechtsextreme Vereinigungen auch Protzners erneute Bun- Geschlechts, der Rasse, der eth- wie die NPD könnten erfolgreich destagskandidatur im Wahl- nischen Herkunft, der Religion vor Gericht ziehen, wenn ihnen kreis Kulmbach ins Wanken. oder der Weltanschauung, einer etwa ein Wirt seine Gaststätte als Der CSU-Politiker hatte 1995 Behinderung, des Alters oder der Tagungsraum verweigere.

BENJAMIN WOLFGARTEN / MELDEPRESS WOLFGARTEN BENJAMIN für einen Umbau an seinem sexuellen Identität“ schützen. Protzner Haus 150000 Mark an das Nach massiven Protesten von Bauunternehmen Dechant Lobbyverbänden will die SPD gezahlt. Nach Ermittlungen des Finanzamts Coburg nun „die Gründe Religion, und der Staatsanwaltschaft wurden jedoch weitere Weltanschauung und Alter Dechant-Rechnungen für den Umbau in Höhe von nicht mit in das Gesetz auf- 500000 Mark in Baukosten für Protzners Firma Alt- nehmen“, so der rechtspoliti- mann Karosserie- & Lackiertechnik versteckt. Da- sche Sprecher der SPD-Bun- durch habe Protzner die Steuerschuld um 200000 destagsfraktion, Alfred Har- Mark verkürzt. Der Politiker, der wegen der Affäre tenbach. sein Parteiamt ruhen lässt, hatte gehofft, einem Straf- Vor allem die Kirchen hatten befehl zu entgehen. Mit dem Finanzamt hat sich vor unerwünschten Nebenef-

Protzner inzwischen verständigt und die Nachforde- fekten gewarnt. Sie fürchten S. RHEKER / PHOTOGUERILLA.COM rung beglichen. eine Klagewelle von Athe- Neonazi-Liederabend im Gasthaus

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CSU schätzen die Kirch-Programmmacher auf Grund einer zwei Jahre alten Stu- Pornos für Kirch? die, würde der verschlüsselte Schmud- delkanal bringen. Damit soll das stark ie Kirch-Gruppe prüft Pläne, das defizitäre Pay-TV des Münchner Me- DAbo-Fernsehen Premiere durch die dienhändlers noch gerettet werden. Ausstrahlung von scharfen Pornos zu Doch die Porno-Offerte, die sich vom sanieren. 500000 neue Kunden, so Soft-Sex anderer Privatsender deutlich abheben soll, dürfte ohne Gesetzes- änderung oder aufwendige techni- sche Sicherungen nicht zu realisie- ren sein. Ausstrahlung von Porno- grafie im Fernsehen ist in Deutsch- land strafbar. Eine Reform des Strafrechtsparagrafen lehnt die kir- chentreue CSU ab. In München si- gnalisierte Fraktionschef Alois Glück schon mal Entrüstung: Er nannte die Rettung des Bezahlfern- sehens durch „solche Programme“

STEFAN PIELOW STEFAN einen unternehmerischen und kul- Porno-Dreharbeiten (in Dortmund) turellen Niedergang.

PDS des Hessischen Rundfunks, Luc Jochim- sen. Dagegen wehren sich sächsische Genossen zuerst Parteimitglieder gegen eine Kandidatur von Florian Havemann, Sohn des DDR- ffene Listen“, auf denen prominente Regimekritikers Robert Havemann. Ha- OParteilose bei Bundestagswahl- vemann junior, seit 1999 auf Vorschlag kämpfen für die PDS kandidieren kön- der PDS Verfassungsrichter in Branden- nen, haben bei den Postkommu- burg, war 1971 aus der DDR gen nisten immer weniger Chancen. Westen geflohen. Zum Leidwesen der Berliner Sächsischer Spitzenkandidat Parteiführung macht die Basis könnte auch DDR-Radsportidol Druck, diesmal vor allem lang- Gustav-Adolf „Täve“ Schur, 71, jährige PDS-Mitglieder zu ver- werden. Damit zielt die PDS sorgen. Zu den wenigen Sei- auf das Alterspräsidentenamt teneinsteigern, die voraussicht- des Bundestags. 1994 war dies

lich antreten werden, gehört die DPA der Schriftsteller Stefan Heym frühere Fernsehchefredakteurin Havemann auf PDS-Ticket geworden.

WIRTSCHAFTSKRIMINALITÄT Eilfertige Staatsanwälte? m Zusammenhang mit der FlowTex- Verdachts der Korruption. Dabei han- IAffäre, dem bislang größten Wirt- delt es sich auch um ein Verfahren ge- schaftsbetrug Deutschlands, ermittelt die gen einen Bankvorstand. Gegen zwei Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe langjährige Steueranwälte der FlowTex- jetzt auch gegen zwei Staatsanwälte aus Gruppe läuft inzwischen ein Verfahren Karlsruhe und Mannheim. Sie stehen im wegen des Verdachts der Strafvereite- Verdacht, schon 1996 möglicherweise lung und der Beihilfe zur Steuerhinter- durch Urkundenunterdrückung Akten ziehung. Auch gegen den ehemaligen manipuliert und dann die damaligen Er- FDP-Landesvorsitzenden Jürgen Mor- mittlungsverfahren gegen die FlowTex- lok, der selbst seine Unschuld beteuert, Chefs schnell wieder eingestellt zu ha- wird auf Grund einer anonymen Anzei- ben. Insgesamt sind im FlowTex-Kom- ge ermittelt. Zu den Beschuldigten plex derzeit 63 Verfahren anhängig. gehört jetzt zudem die Ehefrau des Weitere würden noch folgen, so der Haupttäters Manfred Schmider. Die zu Mannheimer Oberstaatsanwalt Hubert hohen Freiheitsstrafen verurteilten Ge- Jobski. Allein in acht Fällen ermittelt schäftsführer der FlowTex-Gruppe hat- seine Behörde wegen des Verdachts der ten Banken und Leasinggesellschaften Strafvereitelung im Amt oder wegen des um rund zwei Milliarden Euro betrogen.

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weise im Rechtsausschuss Am Rande der Länderkammer jeweils schon eine Mehrheit gab. Die miteinander konkurrie- Heiter bis wolkig renden Entwürfe sehen vor, dass die so genannte Siche- Worüber spre- rungsverwahrung für rück- chen Politiker fallgefährdete Täter auch eigentlich, wenn noch während einer Haft an- sie beim Foto- geordnet werden kann – al- termin zusam- lerdings unter verschiedenen menstehen und Voraussetzungen. Bisher nicht wissen, wor- darf eine solche Unterbrin- gung in einer Vollzugsanstalt über sie gerade im Anschluss an eine sprechen sollen Haftstrafe nur mit dem (aber sprechen Strafurteil angeordnet wer- müssen, weil es den, also nur dann, wenn sonst nach Sprachlosigkeit aus- die Rückfallgefahr bereits sähe)? Für den Fall, dass sie nicht zum Zeitpunkt der Verurtei- „Rhabarber“ oder „Cheese“ sa- lung klar ist. Der Entwurf gen, vermutlich übers Wetter. des baden-württembergi- schen Justizministers Ulrich Über das Wetter kann man im- Goll (FDP) sieht nun vor, mer reden, bei jeder Großwetter- dass eine Sicherungsverwah- lage, denn das Wetter ist gut oder rung für Sex-Täter und an- schlecht, aber als Thema immer dere Schwerverbrecher, bei

harmlos. Es sei denn, ein Neuling / DDP ALTWEIN ANDREAS denen sich eine Rückfallge- wie Hamid Karzai hat den Schalk Gedenkstätte für ermordetes Kind (in Eberswalde) fahr erst im Lauf der Haft im Nacken. Karzai, der afghani- herausstellt, auch noch sche Übergangspremier, hat näm- KRIMINALITÄT nachträglich gerichtlich angeordnet lich bei seiner Visite in Berlin werden kann. Nach einem hessischen Schutz vor Sex-Tätern Gesetzentwurf käme eine nachträgliche Kanzler Gerhard Schröder zum Sicherungsverwahrung dagegen nur in Gegenbesuch nach Kabul einge- er Bundesrat muss sich am Freitag Frage, wenn ein entsprechender Vorbe- laden und bei einer Pressekonfe- Ddieser Woche zwischen zwei Ge- halt bereits im Strafurteil steht. Einen renz auch übers Wetter geplau- setzentwürfen entscheiden, die beide ähnlichen Entwurf hat auch die Bun- dert: In Afghanistan werde dann die Bevölkerung besser vor Sex-Tätern desregierung vergangene Woche be- bestimmt die Sonne scheinen. schützen sollen und für die es kurioser- schlossen. Natürlich hat der listige Karzai ge- wusst, dass er damit ausgerechnet den wundesten Punkt deutscher Außenbeziehungen getroffen hat. REGIERUNG Nachgefragt Zweimal hat Außenminister Heye geht Joschka Fischer in den vergange- nen Wochen vergeblich Kabul or der Bundestagswahl stellt die Re- zu erreichen versucht: Einmal Vgierung personelle Weichen. Regie- schaffte er es immerhin bis Us- rungssprecher Uwe-Karsten Heye, 61, ist Eingeschränkte bekistan. Auch einen Flug zum amtsmüde und scheidet im Einverneh- men mit Kanzler Gerhard Schröder peruanischen Inka-Heiligtum Ma- (SPD) zum Ende der Legislaturperiode Solidarität chu Picchu musste er jüngst we- aus. Heye würde dann gern den vakanten Befürworten Sie die ‚unein- gen starker Regenfälle abbrechen; Posten als Vertreter der Bundesrepublik geschränkte Solidarität‘ mit in der chilenischen Atacama- bei der Uno in New York übernehmen. den USA, wie sie Bundeskanzler Wüste erwischte er dann einen Diesen Job hält Außenminister Joschka Schröder nach den Terror- von rund 20 Tagen im Jahr, an Fischer (Grüne) aber noch für seinen anschlägen am 11. September denen überhaupt Wolken zu Staatssekretär Gunter Pleuger, 60, frei. ausgerufen hat? sehen sind. Kanzler Schröder Die größten Chancen auf Heyes Nachfol- ge hat sein Stellvertreter Bèla Anda, 38. 3 Wochen 6 Monate nach den Terroranschlägen kürzte Karzais Small Talk über Fischer entschied vergangene Woche die Wettervorhersage für Afgha- über ein größeres Personalrevirement JA 71 53 nistan denn auch so direkt wie di- unter deutschen Diplomaten. So geht plomatisch möglich ab: „Unab- der Botschafter in London, Hans-Fried- NEIN 23 % 41 rich von Ploetz, nach Moskau. Dessen hängig vom Wetter komme ich NFO-Infratest-Umfragen für den SPIEGEL vom 1. bis 4. Okt. gern.“ Platz nimmt der Leiter der Dritte-Welt- 2001 (841 Befragte) und vom 12. bis 14. März 2002 (1001 Abteilung, Thomas Matussek, ein. Befragte) an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe

20 der spiegel 12/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel „Nach Art der Mafia“

Spendenverteiler Rüther, Landeschef Müntefering (1999) Deutschland verkommt zur Bananenrepublik: Nach dem Spen- denskandal der CDU wird nun auch das Ansehen der SPD schwer beschädigt. In der Kölner Müllaffäre, aber auch in vielen anderen Städten geraten Sozialdemokraten unter Korruptionsverdacht.

ie Affäre begann mit einer Szene, und, als Spenden getarnt, in die Parteikas- die aus einem Kriminalstück stam- se schleuste – wofür verdiente Freunde der Dmen könnte. Schauplatz: das noble Partei dann auch noch finanzamtstaugli- Hotel Hilton, natürlich in der Geldwä- che Spendenquittungen bekamen. scher-Metropole Zürich. Nach allem, was Eine lokal begrenzte Affäre, ein Einzel- deutsche Staatsanwälte heute wissen, tra- fall? Mitnichten: Als hätten die Kölner fen sich dort an einem Sommertag im Jahr Fahnder einen gewaltigen Scheinwerfer 1994 mehrere Männer. Es ging um acht eingeschaltet, geraten jetzt gleich in meh- Millionen Mark Schwarzgeld, die es auf- reren Städten Sozialdemokraten in Kor- Wuppertaler OB Kremendahl (r.), Bundespräsident Rau (2001) zuteilen galt. ruptionsverdacht: In Wuppertal soll ein Einer in der Runde: Karl Wienand, Ur- Bauunternehmer dem SPD-Oberbürger- gestein der deutschen Sozialdemokratie, meister eine halbe Million Mark für den ein Trickser mit besten Beziehungen zu Wahlkampf spendiert haben; in Reckling- einflussreichen SPD-Männern und einem hausen musste jetzt der SPD-Chef zurück- gerichtsnotorischen Hang zu dubiosen Ge- treten, weil Fahnder gegen ihn wegen des schäften. Zu ihm stießen Hellmut Triene- Verdachts auf Untreue und Bestechlichkeit kens, millionenschwerer Chef des rheini- ermitteln; in Sachsen-Anhalt, glauben Fahn- schen Müllkonzerns Trienekens AG, so- der, habe ein Klinikbetreiber das Haus der wie Ulrich Eisermann, Geschäftsführer der kommunalen Kölner Abfall-Entsor- gungs- und Verwertungsgesellschaft (AVG). Kanzler Schröder, Anwesend auch: Sigfrid Michelfelder, Generalsekretär Müntefering Chef des Gummersbacher Anlagenbauers Steinmüller. Und dann war da noch der Staatskanzleichef Gärtner, Ministerpräsidentin Simonis (2001) Mann mit dem Geldkoffer: Arthur Hof- mann, Geschäftsführer einer Schweizer Firma namens Stenna Umwelttechnik AG. Das Zocken konnte beginnen. 2 Mil- lionen steckte Eisermann ein. 1,6 Millio- nen bekam der einstige Spitzen-Sozi Wienand. Und für ihn gab es offenbar noch einen kräftigen Nachschlag: Weitere 2 Millionen, so gestand mittlerweile Müll- magnat Trienekens den Staatsanwälten, seien zwar sein eigener Anteil gewesen – er habe das Geld aber Wienand rüberge- schoben, dem er noch was schuldig gewe- sen sei. Die restlichen 2,4 Millionen hatte Hoffmann schon für sich einbehalten – als Lübecker Bürgermeister Saxe, KWL-Aufseher Puschaddel Lohn für den diskreten Geldtransfer über seine Stenna. Die Zürcher Herrenrunde nutzte wohl erstmalig jenes System schwarzer Kassen in der Schweiz, das jetzt auch die SPD, ausgerechnet im Wahljahr, in einen Schmiergeldsumpf zieht: Unternehmen, die vom 820 Millionen Mark teuren Bau einer überdimensionierten Müllverbren- nungsanlage im Kölner Stadtteil Niehl profitierten, zweigten Millionen ab, wu- schen sie in der Schweiz und verteilten sie bar auf all jene, die ihnen helfen konn- ten. Hunderttausende Mark gingen bei-

JENS DIETRICH / NETZHAUT; KIRSTEN NEUMANN / DDP; FRANK OSSENBRINK; TBF; TORSTEN BIEL (V.O.N.U.); FOTOBEARBEITUNG DER SPIEGEL FOTOBEARBEITUNG BIEL (V.O.N.U.); OSSENBRINK; TBF; TORSTEN / DDP; FRANK NEUMANN KIRSTEN / NETZHAUT; JENS DIETRICH spielsweise an die Kölner SPD, die das SPD-Mann Lewering (r.), Gesundheitsministerin Schmidt (2001) Geld in unauffällige Summen aufteilte

22 der spiegel 12/2002 Frau eines SPD-Bundestagsabgeordneten zu Sonderkonditionen gebaut; und in Kiel droht SPD-Ministerpräsidentin Heide Si- monis, in den Sumpf dubioser Genossen- Deals zu rutschen. Wie einst die Union im Spendenskandal verspricht auch die Bundes-SPD brutalst- mögliche Aufklärung – und zwar schnell. Die Partei kämpfe um ihre Ehre, so NRW- Ministerpräsident Wolfgang Clement. Doch der Kampf könnte schnell zum Him- melfahrtskommando werden. Denn was Staatsanwälte jetzt schon zusammengetra- gen haben, lässt auf ein Korruptionssystem schließen, dessen Ausmaße noch längst nicht erkennbar sind. In Berlin schwindet so mit jedem Tag die Hoffnung der Sozialdemokraten, die Affäre rasch wieder von der politischen Tagesordnung zu verbannen. Die sorgsam vorbereitete Wahlkampfplanung wird bei- nahe täglich neu erschüttert. Das Interes- se an programmatischen Reden des Bun- deskanzlers? Derzeit gleich null. Auf- merksamkeit für das anstehende Mega- Thema Familie? Kaum zu wecken. Neu- gier auf das SPD-Wahlprogramm? Nicht zu erkennen. Nur eine Frage zählt: Wer alles hat kas- siert?

Besonders zerknirscht zeigte sich Gene- / ARTUR WERNER HUTHMACHER ralsekretär Franz Müntefering, zuvor über Müllverbrennungsanlage (in Hamburg-Altenwerder): System von Scheinrechnungen

viele Monate ein zuverlässiger Polterer ge- gen die CDU und deren halbherzigen Auf- klärungsbemühungen. Nicht nur, dass er den Frankfurter Oberstaatsanwalt und Kor- ruptionsexperten Wolfgang Schaupenstei- ner um Rat und um einen Besuch im Wil- ly-Brandt-Haus bat. Zugleich forderte er, Gipfel der Selbstkasteiung, seinen Auftritt vor dem Berliner Parteispenden-Untersu- chungsausschuss diese Woche live über- tragen lassen. Während Verunsicherung, Verdächti- gungen und Zorn das Klima bei den Sozial- demokraten vergiften, während Kölner Ge- nossen im Dutzend austreten, sonnt sich die Union im Glanz anhaltend guter Um- fragewerte – und hält ansonsten still, aus gutem Grund: Auch die CDU ist in den Müllsumpf um den Unternehmer Triene- kens tiefer verstrickt. Der christdemokra- tische Müll-Mann, Chef von knapp 5000 Mitarbeitern im Rheinland, hat nicht nur Parteifreunde als Verbindungsleute in Köln, Pulheim und anderen kleinen Orten unter Vertrag. Auch in Bonn, wo Triene- kens sich zuletzt als Teilhaber der Müll- verbrennungsanlage einkaufen wollte, stan- den führende CDU-Ratsherren über Toch- terunternehmen bei ihm auf der Pay-Roll. Wegen der Kölner Vorgänge hat die Bon- ner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieck- mann (SPD) das laufende Ausschreibungs- verfahren vorsichtshalber gestoppt. Für triumphale Töne haben die Christ- demokraten zudem keinen Anlass – denn

BERLIN PRESS / ACTION PRESS PRESS / ACTION BERLIN auch in ihrer weit größeren Spendenaffä- 23 System: Mehr als 33 Millionen Mark, so die vorläufige Addition der Kölner Ermitt- ler, haben allein zwei NRW-Firmen zwi- schen 1993 und 2000 auf Konten in der Schweiz überwiesen: der Gummersbacher Anlagenbauer Steinmüller GmbH und der Konzern des Müllmultis Trienekens. Stein- müller erhielt den Auftrag, die Müllver- brennungsanlage in Köln-Niehl zu bauen, Trienekens gehört zu den Betreibern. Gut 70 Prozent der Millionen aus den Kriegskassen, davon sind die Ermittler über- zeugt, seien von den Konten wieder abge- hoben und an die unterschiedlichsten Emp- fänger im In- und Ausland verteilt worden.

DPA Schlimm genug, dass Eisermann, Ge- Spendensammler Kohl: Schwarze Kassen, graues Geld schäftsführer der AVG, der größtenteils kommunalen Betreiberge- re, die 1999 aufflog, gibt es noch immer die sellschaft des Kölner Müll- eine oder andere Unbekannte. Bis heute ofens, über die Jahre insge- hat Altkanzler Helmut Kohl die Namen samt etwa acht Millionen der anonymen Geldgeber nicht genannt, Mark in die eigene Tasche die ihm rund zwei Millionen Mark zuge- gesteckt haben soll. Noch steckt hatten – Beträge, die in dem Re- schlimmer jene Hunderttau- chenschaftsbericht der Union nicht or- sende, die an die Kölner SPD dentlich verbucht wurden. gingen. Die dubiose Spendenpraxis der CDU Aber wo liegen die restli- mit schwarzen Koffern, schwarzen Kassen chen Millionen? Wurden die und grauem Geld des Waffenlobbyisten Gelder gezielt eingesetzt, um Karlheinz Schreiber erfasste nicht nur den im großen Stil Politiker, Par- Bundesverband. Auch die Hessen-Union teien und Beamte sowie an- geriet in arge Schwierigkeiten. Weil der dere Entscheidungsträger im

Landesverband rund 20 Millionen Mark HUSCH / TERZ! STEFAN Milliardengeschäft Müllver- ungeklärter Herkunft in der Schweiz de- Koch, Kanther: Sprudelnde Geldquelle in der Schweiz brennung zu schmieren? poniert hatte, verfügte er stets über eine Hinweise darauf haben die sprudelnde Schwarzgeldquelle. berichten Teilnehmer von Parteiversamm- Ermittler inzwischen zuhauf. Denn das Sys- Ausgerechnet der gescheitelte Sauber- lungen. tem der schwarzen Kassen war für große mann Manfred Kanther, als Bundesinnen- Vor allem aber geht in der Parteizentra- Dimensionen ausgelegt. Und auch die zeit- minister einst Agitator gegen Moralverfall le die Angst um, aus dem Fall Köln könn- lichen Abläufe zwischen Genehmigung der im Allgemeinen und Geldwäsche im Be- te sich ein Flächenbrand entwickeln, der Kölner Müllanlage, der Auftragsvergabe sonderen, musste Anfang 2000 zweifelhaf- nicht mehr beherrschbar ist. Deshalb gilt und den Überweisungen in die Schweiz te Transaktionen einräumen: Kanther gab intern die Devise: möglichst wenig Schlag- sprechen eine eindeutige Sprache. zu, Millionen Mark ins Ausland verscho- zeilen produzieren. So riefen Müntefering Schon im Dezember 1993 – noch war of-

ben zu haben. Wenn sich die hessischen in der Fraktion und Landesvorsitzender fiziell nicht entschieden, wer den Kölner / AP (V.L.O.N.R.U.) STADTANZEIGER WORRING / KÖLNER STEFAN BERND SCHULLER; DPA; STADTANZEIGER; / KÖLNER GRÖNERT MAX Herren aus ihren dunklen Töpfen bedien- Harald Schartau in der NRW-Landesgrup- Großauftrag bekommen würde – sollen ten, tarnten sie die Buchungen perfide als pe die Bundestagsabgeordneten dazu auf, Hellmut Trienekens und der damalige Ge- „jüdische Vermächtnisse“. Ministerpräsi- jetzt „den Mund zu halten“. schäftsführer der Firma Steinmüller, Sigfrid dent Roland Koch überstand die Affäre, Die Affäre trifft nicht nur die SPD ins Michelfelder, erstmals eine der Schweizer obwohl er die Öffentlichkeit trotz kritischer Mark. Sie macht der ganzen Republik klar, Briefkastenfirmen kontaktiert haben. Nachfragen verspätet über seine Kenntnis wie weit die Korruption sich inzwischen Der Grund – AVG-Geschäftsführer Ei- der illegalen Praxis informierte. ausgedehnt hat. Beamte und Politiker kas- sermann hatte nach Erkenntnissen der Er- Welche personellen Folgen die Müllaf- sieren allerorten, lassen sich kaufen mit mittler gleich zu Beginn des Projektes eine färe für die SPD haben wird, bleibt vorerst Geld, Gefälligkeiten, Posten oder Aufträ- saftige Provisionszahlung verlangt. Mit ei- noch offen. Mit Hilfe neutraler Ermittler gen, sie werden, so der Jargon der Krimi- nem guten Argument: Er war verantwort- demonstriert die Partei immerhin Auf- nellen in Vorstandsetagen, „beatmet“, „an- lich für die Vergabe und den ordnungs- klärungswillen. Vergangenen Freitag nahm gefüttert“ oder mit „nützlichen Aufwen- gemäßen Ablauf des 820-Millionen-Mark- eine „Festsetzungskommission“ unter dem dungen“ beeinflusst. Und die Bürger müs- Auftrags. EKD-Synoden-Präses Jürgen Schmude die sen zahlen für das schmierige Alltagsge- Michelfelder soll prompt reagiert haben. Arbeit auf; sie soll im Wesentlichen Akten schäft – mit ihren Steuern oder etwa stei- Er besuchte – nach derzeitiger Aktenlage – und Ehrenerklärungen bewerten. Schmu- genden Müllgebühren. Vor allem aber den NRW-Müllmagnaten Trienekens, um des erster Eindruck: Es habe „vermutlich untergräbt die Korruption die Fundamen- für das Problem Eisermann eine diskrete nur sehr wenige Verantwortliche für die te des Rechtsstaates. Das Vertrauen in Lösung zu finden. Und die hatte Triene- gravierenden Vorgänge gegeben“. staatliche Entscheidungen geht dahin, und kens parat: die Schweizer Firma Stenna AG. Knapp zwei Dutzend Empfänger von das fördert die Politikverdrossenheit. Stenna, so der Plan, müsse auf der Rie- Quittungen über nie gezahlte Spenden ha- Denn der Kölner Sumpf – er ist nur ein senbaustelle Aufträge für Überwachungs- ben sich bisher selbst angezeigt. Es werden Paradebeispiel für die enorme kriminelle und Koordinierungsaufgaben erhalten. wohl noch mehr werden: „Da hat doch je- Energie und Raffinesse von korrupten Ent- Schein- oder Teilaufträge, aber gegen volle der eine Quittung bekommen, der nicht scheidungsträgern, wenngleich mit einem Bezahlung, versteht sich. Die so bei Sten- schnell genug den Hintern hochbekam“, ungewöhnlich diskreten und effizienten na gewaschenen Millionen sollten dann

24 der spiegel 12/2002 Titel nach den Ermittlungen in der Schweiz als sein; damit hätte der Altgenosse nach bekannte Schweizer Anwalt Heinz Egli von Schmiergeld bereitliegen. Rechnung der Ermittler mit 466000 Mark der Aktiengesellschaft für Industrieförde- Und da der Plan so genial einfach war, insgesamt mehr als vier Millionen Mark rung (AIF) mit Sitz in Glarus. Der Jurist ist sicherte Steinmüller-Mann Michelfelder aus dem Kölner Müllprojekt abgesahnt. nicht nur Honorarkonsul des Südsee-Steu- nach Erkenntnissen der Staatsanwälte zu, Doch angesichts der horrenden Summen, erparadieses Vanuatu, sondern als Buch- gleich „zwei bis drei Prozent der Auf- die in den folgenden Jahren noch in die autor („Grundformen der Wirtschaftskri- tragssumme“ abzuzwacken. Schweiz fließen sollten, können Eisermann, minalität“) eine anerkannte Kapazität. Neben Eisermann sollte, so Fahnder, Wienand und Trienekens nicht die einzigen Mit Hilfe des Systems aus Schweizer Fir- auch noch der Uralt-Sozi Wienand bedient Empfänger gewesen sein. men und Scheinrechnungen wurden nach werden. Der frühere Vertraute der SPD- Bald soll sich Steinmüller neben Stenna Kenntnissen der Staatsanwälte auch Mil- Legende Herbert Wehner hatte bei Stein- zudem noch anderer Schweizer Firmen be- lionenbeträge beim Bau der Müllverwer- müller und Trienekens langjährige Bera- dient haben: Nach ähnlichem Muster, ver- tungsanlage Rugenberger Damm in Ham- terverträge und war als „Türöffner“ im muten Ermittler, seien nach den Ermitt- burg und beim Bau des Restmüllheizkraft- SPD-Zirkel tätig. Der alte Strippenzieher lungen etwa die Firma Ecoling in Zürich werks im schwäbischen Böblingen abge- Wienand, 75, soll auf Auszahlung seines eingeschaltet worden sowie der einschlägig zweigt. Auch in diesen Projekten war

Kölner Klüngel Bestechung im 2000: 1243 großen Stil Zahl der Korruptionsverfahren in Deutschland

1998: 1072 1999: 1034 1997: 993 Quelle: Bundeskriminalamt

Unternehmer Trienekens Steinmüller-Chef Michelfelder (1998) Wo geschmiert wird ... Korrumpierte Personen* nach Arbeitsgebieten

Sonstige 20,9 % Baubehörden 35,7 %

Kommunal- 17,0% behörden AVG-Geschäftsführer Eisermann Ehemaliger Kölner SPD-Schatzmeister Biciste 1,4 % Hauptfiguren im Müllskandal Wirtschafts- 8,8 % Geld unauffällig aufgeteilt 1996: 410 unternehmen 16,2 % 1995: Polizeibehörden Gesundheit Geldes in der Schweiz bestanden ha- 1994: *1564 Tatverdächtige, gegen ben. 291 die 2000 ermittelt wurde Schon kurze Zeit später – inzwischen sollen rund acht Millionen von Stein- 258 müller an Stenna in die Schweiz über- 42,7% wiesen worden sein – traf sich die klei- Zuschlag bei Aufträgen ne Gruppe zum Kassieren im Zürcher Hilton. Wienand schweigt zu den Vor- andere Wettbewerbsvorteile 10,0 % würfen, auch der Bonner Anwalt Eiser- Bezahlung fingierter oder 5,7 % ... und weshalb manns äußert sich nicht. Die Stenna ließ überhöhter Rechnungen Vorteile, die Schmiergeld- eine SPIEGEL-Anfrage unbeantwortet. behördliche Genehmigungen 5,6 % Zahler* erlangten Trienekens Kölner Anwalt Norbert Gatzweiler bestreitet das Treffen in Beeinflussung der Strafverfolgung 4,0 % Zürich nicht. Sein Mandant habe aller- dings „zu keinem Zeitpunkt an irgend- behördeninterne Informationen 2,0 % welchen illegalen Geldtransaktionen *aus 1045 ausgewerteten Korruptionsverfahren teilgenommen“ und kein Geld für sich Aufenthaltserlaubnisse 0,1 % „vereinnahmt“ – was auch niemand be- hauptet. Wienand aber soll, so die Fahn- sonstige Vorteile 29,9 % der, später noch einmal bedient worden

der spiegel 12/2002 25 Titel Charly auf der Achterbahn Wegen seiner Müllprovisionen bekommt der frühere SPD-Fraktionsmanager Karl Wienand Ärger mit der Justiz.

on seinem politischen Ziehvater Wienand so lange mit den Kollegen von Herbert Wehner hat Karl Wienand, der Union, bis man sich einig war. Wehner V75, einen derben Spruch gelernt. habe das Paktieren mit den Schwarzen „nie Den zitiert er, wenn er sich ertappt oder zu kapiert“, berichtet er. „Der saß dann er- Unrecht verdächtigt sieht – also eigentlich starrt in seinem Büro, rauchte, trank Tee immer: „Selbst der Sauberste stinkt, wenn oder Kaffee und ging nicht nach Hause, er in einen Eimer Scheiße steigt.“ bis ich kam und sagte: ‚Das ist gelaufen.‘“ Jetzt stinkt es wieder gewaltig – nach 1970 wollte die CSU beim Parteitag in Müll, Korruption und sehr viel Geld. Und Nürnberg mit großem Getöse den Übertritt abermals fühlt sich Wienand sauber, ob- des FDP-Abgeordneten Karl Geldner ver- wohl er mittendrin sitzt. Klar hat er mit- künden – aber Wienand war schneller: gemischt und seine Beziehungen spielen „Den haben wir konfirmiert.“ Geldner, ein

lassen. Einflussreich ist er noch immer. notorisch klammer Bäckermeister aus / DPA SCHEIDEMANN ACHIM Er bahnte das anrüchige Geschäft mit Franken, bekam einen großzügigen Kredit Berater Wienand der Müllverbrennung in Köln an. Beiden und blieb bei den Liberalen. Wienand ließ „Selbst der Sauberste stinkt“ Firmen, die davon profitieren, diente er als ihn eine Erklärung unterschreiben, dass er Berater – dem Anlagenbauer Steinmüller nur zum Schein auf die Abwerbeversuche heute verschweigt Wienand die Namen. in Gummersbach, der inzwischen zu Bab- der CSU eingegangen sei. Immerhin nennt er inzwischen eine Zahl: cock Borsig gehört, und dem Müllentsor- Aber Wienand werkelte auch auf eigene „Es waren vier.“ ger Hellmut Trienekens aus Viersen. Weil Rechnung. Am 6. September 1971 musste Der CDU-Abgeordnete Julius Steiner er aber eine Provision von 3,6 Millionen eine voll besetzte Maschine der Charter- aus Biberach behauptete 1973, Wienand Mark, die er in der Schweiz kassiert haben fluggesellschaft Paninternational mit Trieb- habe ihm 50000 Mark gegeben. Der be- soll, angeblich nicht versteuerte, rückten werkschaden auf der Autobahn bei Ham- stritt dies – aber keiner glaubte ihm. Der letzte Woche erneut die Staatsanwälte an. burg notlanden. Es gab Tote. Wienand, Skandal wurde nie richtig aufgeklärt. Erst In den siebziger Jahren gehörte Wie- hieß es nach der Untersuchung des Un- nach dem Ende der DDR kam heraus, dass nand zu den Mächtigsten und Einfluss- glücks, habe sich bei der Luftfahrtbehörde CDU-Mann Steiner das Geld von der Sta- reichsten in Bonn. Sein Name tauchte in für das Überleben des Münchner Skandal- si bekommen hatte. fast allen Skandalen auf, die damals die Unternehmens eingesetzt. Seither nannten Wer die anderen waren, ob und wie viel Republik erschütterten. 1967 bis 1969 war sie ihn in Bonn „Charter Charly“. Geld floss, blieb im Dunkeln. „Ich kenne er Fraktionsgeschäftsführer unter Helmut Das politische Meisterstück gelang dem zwei Leute, die das wirklich bewerkstelligt Schmidt. Dann erledigte er bis 1974 für den Kungler 1972 beim konstruktiven Miss- haben“, orakelte Wehner Jahre später in SPD-Zuchtmeister Herbert Wehner als trauensvotum der Union gegen Kanzler einem Interview. „Der eine bin ich. Der an- „Mann fürs Grobe“ die Drecksarbeit hin- Willy Brandt. In letzter Sekunde „kon- dere ist nicht mehr im Parlament.“ ter den Kulissen. firmierte“ Wienand mehrere Unions- Schon im Dezember 1973 war Wienands Ohne seine Kungelkünste wären viele abgeordnete, die ihrem Kandidaten Rai- Immunität aufgehoben worden: Verdacht Projekte der sozial-liberalen Koalition ge- ner Barzel die Stimme verweigerten und auf Steuerhinterziehung. Ein Jahr später scheitert. Im Vermittlungsausschuss soff der SPD so die Macht erhielten. Noch legte der Affärengeschüttelte sein Mandat

SPIEGEL-Titel 24/1973, Genossen Wehner, Wienand (1973): „Ich kenne zwei Leute, die das wirklich bewerkstelligt haben“

26 der spiegel 12/2002 nieder. Im November 1975 wurde er zu 102000 Mark Geldstrafe verurteilt. Fortan startete Wienand seine zweite Karriere und nutzte sein dichtes Netz von Kontakten, Freundschaften und Verwandtschaften über Parteigrenzen hinweg – als Unter- nehmensberater. In Bonn wurde einer seiner Ziehsöhne, der Kommunalpolitiker Theodor Blank – ein Sohn des gleichnamigen ersten Vertei- digungsministers im Adenauer-Kabinett –, 1983 CDU-Fraktionschef im Stadtrat. Wienand stand dem Freund mit Rat und Tat zur Seite. Im Gegenzug hoffte er, die Firma Steinmüller beim Bau einer Müll- verbrennungsanlage auch in Bonn ins Ge- schäft zu bringen – vergebens. Den Zu- schlag bekam eine Firma aus Zürich. Kaufobjekt Kieler Schloss Zielstrebig arbeitete Wienand in den Dubiose Doppelfunktion achtziger Jahren an einem Comeback in Deutschland eingelöst, der SPD. Er saß wieder im Unterbezirks- Steinmüller als Anlagen- wenn Trienekens-Töchter vorstand des Kreises Rhein-Sieg und im bauer tätig, auch diese Gel- kurz zuvor Gelder in die Bezirksvorstand Mittelrhein, zu dem auch der seien in die Schweiz ge- Schweiz überwiesen hatten. Köln gehört. Politik und Geschäft lagen flossen. Von diesen schweizeri- stets eng beisammen – zum Beispiel in Wie sicher die Müllma- schen Geldverschiebungen Troisdorf. Die dortige SPD gehört zu den nager sich fühlten und wie profitierte bald auch die wohlhabendsten Ortsvereinen des Landes. ungeniert Millionensum- Kölner SPD, die von 1956 Mit dem langjährigen Kölner Oberstadt- men abgezogen wurden, bis zur verloren gegange- direktor Lothar Ruschmeier (SPD), der zeigt nach Einschätzung nen Kommunalwahl 1999

in Troisdorf wohnt, und dem lokalen der „Ermittlungskommissi- (O.) (L.); MICHAEL AUGUST / DPA ERNERT MATHIAS Deutschlands viertgrößte SPD-Bundestagsabgeordneten Uwe Göll- on Niehl“ ein Vertrag, den SAP-Zentrale Stadt regelrecht verein- ner bildet Wienand ein Trio, das in Par- Ecoling mit dem Betreiber Job für den Staatssekretär nahmt hatte. Während die teikreisen „Troisdorfer Mafia“ genannt des Kölner Müllofens 1993 Staatsanwälte ermitteln, wird. In Ruschmeiers Sauna, so heißt es, abschloss. Für insgesamt acht Millionen werden die Summen, die Kölner Sozialde- wurde schon manches öffentlich-private Mark übernahm Ecoling danach die Bau- mokraten zugeben, immer höher; sie stei- Ding gefingert. überwachung des gesamten Projekts. Ge- gen wie alljährlich der Rhein zur Advents- Bis 1994 liefen die Geschäfte glänzend. nau dieselbe Leistung stellte Ecoling auch zeit – was bekanntlich schon mal zur Ka- Im Januar wurde der Vertrag zum Bau der der ausführenden Firma Steinmüller mit tastrophe führen kann. Müllverbrennungsanlage in Köln unter- rund 4,5 Millionen Mark in Rechnung. Erst waren es gut 500000 Mark. Dann zeichnet. Vier Monate später aber geriet Insgesamt soll Steinmüller auf diese oder 650000. Dann über 700000. Jetzt hat der Wienand unter Spionageverdacht. Die ähnliche Weise mehr als 21 Millionen Mark zurückgetretene SPD-Ratsfraktionsvorsit- Bundesanwaltschaft behauptete, er habe auf Schweizer Konten transferiert haben. zende Norbert Rüther, bis dahin einer der von der DDR 1,5 Millionen Mark kassiert. Rund 14,2 Millionen Mark liefen über die mächtigsten Sozialdemokraten in Nord- Wienand beteuert bis heute seine Un- Stenna AG. Weitere sieben bis neun Mil- rhein-Westfalen, das Inkasso von 830000 schuld, und namhafte Zeugen gaben ihm lionen über Ecoling oder die AIF. Mark „illegaler Parteispenden“ eingeräumt Recht. Er wurde 1996 trotzdem zu zwei- Doch nicht nur der Anlagenbauer Stein- – und die Existenz von insgesamt drei einhalb Jahren Haft und einer Million müller unterhielt in der Schweiz schwarze schwarzen Kassen, aus denen SPD-Hono- Mark Geldstrafe verurteilt. 1999 begnadig- Kassen. Auch Trienekens baute nach Er- ratioren bedient wurden. Eine davon, te ihn Bundespräsident Roman Herzog. kenntnissen der Kölner Staatsanwälte in den schon in den siebziger Jahren eingerich- Zwischen Verurteilung und Begnadi- Jahren 1995 bis 2000 eine mächtige Kriegs- tet, war stets gut gefüllt – mit mindestens dung wurden Wienand die Altersbezüge kasse auf. Insgesamt soll er mehr als zwölf 600000 Mark. aberkannt – und später nicht nachgezahlt. Millionen Mark über Scheinrechnungen an Acht Stunden lang wurde Rüther am Nicht nur beruflich, auch privat glich sein Töchterfirmen auf Konten der Stenna AG Dienstag vergangener Woche vernommen, Leben einer Achterbahnfahrt. Seit mehr überwiesen haben. Die Gelder, so hat Trie- 25 Seiten stark ist das Protokoll. „Eigent- als drei Jahren liegt seine Frau Margret nekens inzwischen eingeräumt, sollten dazu lich wollte ich nicht glauben, was der Mann nach einem Schlaganfall im Wachkoma. verwandt werden, „Türen zu öffnen“. berichtete“, so ein Ermittler. Die Behandlung kostet ihn monatlich 5000 Allerdings seien sie ausschließlich für Jahrelang, habe Rüther gestanden, sei Euro – die Kasse zahlt nicht mehr. Ein den Aufbau einer Tochterfirma in der bei der Kölner SPD ein schlichtes, aber er- Sohn verunglückte tödlich in den USA, der Schweiz benötigt worden. Außerdem, be- tragreiches System angewandt worden – andere ist heroinsüchtig und fing sich eine hauptet Trienekens’ Verteidiger Gatzwei- sie kassierte Gelder von Firmen, denen der unheilbare Hepatitis ein. ler, liege die Summe „weit“ niedriger. SPD-dominierte Stadtrat fette Aufträge zu- Manchmal resigniert der schwer Kriegs- Rückflüsse nach Deutschland habe es eben- schanzte. Ermittlern ist noch im Ohr, wie versehrte, dem eine russische Handgrana- so wenig gegeben wie Bestechungen von Rüther diese Praxis nannte: „Dankeschön- te ein Bein abriss. „Wenn die Margret und Beamten oder Mandatsträgern. Spenden.“ der Junge nicht wären“, so gestand Wie- Doch genau an dieser Darstellung he- So ging es auch um Dankeschön-Spen- nand kürzlich einem Freund, „hätte ich gen die Ermittler erhebliche Zweifel. Denn den, als der Vertrag für die Kölner Müll-

J. H. DARCHINGER J. längst Schluss gemacht.“ Hartmut Palmer auf wundersame Weise wurden Schecks verbrennungsanlage längst unterzeichnet der Firma Stenna ausgerechnet dann in war: Anfang 1995 meldete Fraktionschef

der spiegel 12/2002 27 Titel

lungen für die Müllverbrennungsanlagen in Böblingen, Pirmasens oder Fürstenfeld- „Nur noch cash“ bruck ging, das Heizkraftwerk in Bonn oder das Kraftwerk in Rostock – stets steht ABB im Zentrum der Ermittlungen. Kurierfahrten, Scheinhonorare und Bargeld-Deals – Das liegt nicht unbedingt daran, dass bei in kaum einem anderen Konzern ist die ABB besonders viele Dunkelmänner ver- Kultur der Korruption so minutiös belegt wie bei ABB. sammelt wären. Nach Ansicht der Ermitt- ler zeigen die verschiedenen Fälle eher, s kann ziemlich unangenehm sein, Drei Firmen (CC-Partner, Boresta und dass Korruption, wenn sie in Teilen eines 1,4 Millionen Mark mit sich herum- Technacount) schickten ABB Rechnun- Konzerns erst einmal geduldet wird, sich Eschleppen zu müssen. Vor allem, gen für angeblich erbrachte Beratungs- wie ein hochinfektiöses Virus schnell im wenn man das Geld in Zürich im Hotel leistungen. ABB zahlte allein zwischen ganzen Unternehmen ausbreiten kann. Hilton in bar bekommen hat und es dann 1994 und 1995 insgesamt 19,3 Millionen Ausgangspunkt bei ABB waren nach mit dem Auto bis Frankfurt bringen soll, Mark an die drei Unternehmen, die einen Angaben ehemaliger Manager vor allem um es dort zu übergeben. kleinen Teil des Geldes für ihre Mühen große Aufträge aus dem Ausland. Wenn ABB-Manager U., der am 18. April 1994 behalten durften. der Konzern Lackierereien, Kraftwerke als Geldtransporteur unterwegs war, Das Gros, insgesamt 16,3 Millionen und Müllverbrennungsanlagen im Wert hatte Angst vor jedem Tankstopp. Sollte Mark, gaben sie in Genf oder Zürich dem von mehreren hundert Millionen Mark an er mit dem Koffer in der Hand zur Zapf- Abgesandten von ABB in bar wieder Länder in Südeuropa oder Asien verkaufen säule gehen? Das würde seltsam aussehen zurück. Der transportierte das Geld in kof- wollte, dann sei ohne Schmiergeld oft und zeigen, dass er offenbar sehr wert- ferkompatiblen Tranchen von 250000 bis nichts zu machen gewesen. volle Ware bei sich hat. Im Auto lassen 2,5 Millionen Mark nach Deutschland, wo BBC, eine Vorgängerfirma der späteren konnte er das Geld aber auch schlecht. es für Aufträge des General-Motors- und ABB, benutzte bereits Ende der achtziger Also nahm er den Koffer doch mit. Beim des VW-Konzerns geflossen sein soll. Jahre ein internes Formblatt, auf dem so- nächsten Geldtransport bat U. dann sei- Für ABB war das Prinzip ebenso schlicht gar die Details der Zahlungsweise ange- ne geschiedene Frau samt Tochter, ihn wie effektiv: Der Konzern hatte Rechnun- kreuzt werden konnten: „Überweisung zu begleiten. So fühlte er sich ein wenig gen, die er steuerlich absetzen konnte, und über einen neutralen Bankplatz außerhalb sicherer. zugleich Bargeld, das völlig frei verwendet der BRD“ konnte ebenso gewählt werden Dass solche Fahrten zu seinen Dienst- werden konnte. wie „Bitte ohne Absenderangabe“. pflichten gehören würden, hatte U. nicht Die Staatsanwaltschaft und das Bundes- Bis ins Jahr 1999 hätten die Zahlungen

geahnt, als er seinen Job als kaufmänni- kriminalamt gehen davon aus, dass der nicht einmal getarnt werden müssen, weil / ZEITENSPIEGEL DENIZ SAYLAN scher Leiter bei dem Anlagenbauer ABB Konzern jahrelang Millionen an Provisio- sie nach deutschem Recht noch erlaubt und angetreten hatte. Doch er erhielt schnell nen gezahlt hat, um Großaufträge aus der als „Nützliche Aufwendungen“ (NA) steu- Einblick in eine, wie er fand, ganz alltägli- Autoindustrie, aber auch von Städten und erlich absetzbar waren. Doch die auslän- che Schmiergeldpraxis bei dem schwe- Gemeinden zu bekommen. Ganz gleich, dischen Empfänger, Funktionäre, Staats- disch-schweizerischen Konzern, in dem of- ob es um mutmaßliche Schmiergeldzah- sekretäre und Minister, wollten die Her- fenbar eine besonders ausgeprägte Kultur kunft des Geldes in der der Korruption gepflegt wurde. Regel lieber im Verborgenen U. war zusammen mit seinem Chef R. lassen – ohne Absender auf seltsame Provisionsforderungen einer eben. Liechtensteiner Firma gestoßen, die für Solche Zahlungen an Aufträge aus der Autoindustrie ihren ausländische Auftraggeber Anteil kassieren wollte. Die beiden Ma- mussten aber auch eine nager meldeten den Vorgang dem da- ständige Verlockung für jene maligen Vorstandsvorsitzenden der deut- Manager darstellen, die Auf- schen ABB, Michael Pohr. Der sei, so träge in Deutschland akqui- schildert es nun R.s Anwalt Siegfried rierten. Warum sollten sie Walther, entsetzt gewesen. Allerdings Umsatz und Erfolg ihres Un- nicht etwa darüber, dass Schmiergeld ternehmensbereichs nicht fließen sollte, sondern über Art und Wei- ebenfalls mit einigen dis- se der Transaktionen. kreten Geldübergaben för- Pohr habe gesagt: „Was sind das für dern? Zudem forderten nach Amateure? Da werden ja nachvollziehbare Angaben von R.s Anwalt Zahlungen dokumentiert.“ Dann habe der Walther auch viele Auftrag- Vorstandschef die beiden Manager ange- geber Bares. wiesen: „Suchen Sie den direkten Weg. Es Als sein Mandant 1994 wird nur noch cash bezahlt.“ Pohr bestrei- seine Arbeit aufnahm, habe tet dies. Fortan aber lief das System nach er feststellen müssen, dass genau diesem Muster. für die Lieferanten der Au- ABB-Finanzexperte B. hatte ein System toindustrie „eine Zwangs- entwickelt, das Schmiergeldzahlungen situation bestand. Es gab ermöglichte und, wie ein Beteiligter es praktisch keinen einzigen beschreibt, zwei Bedingungen erfüllte: Auftrag, für den nicht ein „Die Buchhaltung darf nicht aufschreien und der Steuerprüfer nicht ins Grübeln ABB-Chef Pohr (1995)

kommen.“ KLINK THOMAS Hochinfektiöses Virus

28 beteiligt, zahlte in die Kasse des Kölner Paten – nach Rüthers Addition insgesamt 200000 Mark. Trienekens-An- walt Gatzweiler räumt inzwi- schen 150000 Mark ein – an- geblich „aus dem versteuerten Vermögen“ Trienekens’ , also privat. Die anderen Gaben an die Kölner SPD stammen unter anderem von großen Bauun- ternehmen. Als schließlich die Frage akut wurde, wie jene Gelder legal umzurubeln sei- en, kamen Rüther und der damalige Kölner SPD-Schatz- meister Manfred Biciste schnell auf den Trichter: Spen- denquittungen mussten her. Beide, sagt ein Szene-Ken- ner, hätten ein „Grundprin- zip“ vereinbart: Quittungen über angebliche Spenden soll- ten nur jene Parteifreunde er- halten, die sich ihrem Ein- kommen nach auch größere Spenden hätten leisten kön- nen. Sonst wären „Finanzbe- amte ziemlich schnell hell- hörig“ geworden. Bislang ist die Liste getürk- ter Spenden in Köln geheime Müllverbrennungsanlage Böblingen: „Die Buchhaltung darf nicht aufschreien“ Kommandosache. Die Spitze der SPD-Bundestagsfraktion Provisionsanteil in Höhe von circa fünf Rüther sich bei AVG-Chef Eisermann. Die befürchtet, dass auch Abgeordnete aus Prozent bezahlt werden musste“. beiden verabredeten sich mit Steinmüller- Köln und Umgebung mitgemacht haben Das System, das Finanzmann B. mit den Geschäftsführer Michelfelder. Im vorneh- könnten. Für den Kölner Bundestagsdi- Firmen CC-Partner, Boresta und Tech- men Kölner Restaurant „Goldener Pflug“ rektkandidaten Werner Jung ist die Kar- nacount entwickelt hatte, passte wie ge- sei dann geredet worden. riere schon mal vorbei. Der Landesvorstand schmiert zum Problem, hatte jedoch eine Um die erste Tranche Dankeschön- entzog ihm am vergangenen Freitag wegen Schwachstelle: Wo es keine Überweisun- Spenden zu kassieren, flogen Michelfelder Zweifeln an seiner Ehrenerklärung vorerst gen und keine Quittungen gibt, wo Millio- und Rüther, so die Ermittlungen, im Früh- das Vertrauen. Drei Landtagsabgeordnete nen in bar den Besitzer wechseln, kann jahr 1995 nach Zürich, vergeblich. Aber im haben sich zudem geoutet. auch niemand prüfen, wer das Geld letzt- Juli wurde dann für SPD-Rüther ein wei- Im Epizentrum der Schmiergeldaffäre lich erhält. Ein Umstand, den der ABB- terer Übergabetermin vereinbart. Diesmal steht Sigfrid Michelfelder, Rüthers Reise- Manager R. nach Überzeugung der Mann- klappte es, nach den Erkenntnissen der Er- genosse und ehedem Chef des Anlagen- heimer Staatsanwälte zu seinen Gunsten mittler bei Rechtsanwalt Egli, was der aber bauers Steinmüller GmbH. Er war einer nutzte. bestreitet: Rüther, so Egli, „war nie bei der Kandidaten für den Job des Vor- R. behauptet, er habe das Schmiergeld mir“. standsvorsitzenden des renommierten an einen Unbekannten übergeben, der sich Egli überließ Rüther, so dessen Aussage, Technologiekonzerns Babcock Borsig, das als Mittelsmann für die Empfänger ausge- einen verschlossenen Umschlag mit 150000 Unternehmen hat zwischenzeitlich die geben habe. Die Fahnder aber stellten fest, Mark. Tagelang, so Rüther, habe er das Mehrheit bei Steinmüller. dass R. oft wenige Tage nachdem er Bar- Geld in seiner Aktentasche herumge- Stattdessen sitzt Michelfelder nun hinter geld für angebliche Schmiergeldzahlungen schleppt, dann erst sei ihm eine Idee ge- Gittern. Bevor er Ende Februar dort lan- übernommen hatte, hohe Summen auf sein kommen, was damit zu machen sei: eine dete, habe er sich „in düsteren Andeutun- eigenes Konto bei der DG Bank in Lu- schwarze Kasse für Bundestags- und Kom- gen“ ergangen, so ein Babcock-Manager. xemburg einzahlte. Mal waren es 500000 munalwahlkämpfe anzulegen. Als beide einmal über die Schmiergeld- Mark, mal 1,3 Millionen, einmal gar 3 Mil- Die füllte sich schnell. Im April 1997 hol- Affäre in Böblingen redeten, habe Michel- lionen. te Rüther weitere 100000 Mark, im Sep- felder nur gesagt: „Das ist klein-klein. Der Verdacht, dass R. zumindest einen tember 1998 steckte ihm ein für das Kölner Wenn jemand mal in Köln reinsticht, dann Teil des vermeintlichen Schmiergeldes auf Müllofenprojekt zuständiger Steinmüller- wackelt die Republik.“ das eigene Konto leitete, liegt nahe. Das Manager im Zürcher Hotel Baur au Lac Nach bisheriger Aufrechnung der Kölner aber wäre gewiss nicht im Sinne seines nochmals 70000 Mark zu – summa sum- Staatsanwaltschaft soll Michelfelder mindes- einstigen Arbeitgebers gewesen. ABB hat marum 320000 Mark Dankeschön-Spen- tens 21 Millionen Mark Steinmüller-Gelder den ehemaligen Geschäftsführer deshalb den, die Rüther aus der Schweiz geholt auf unterschiedliche Schweizer Kon- auf Schadensersatz in Höhe von 18 Millio- hatte, alles in bar. ten transferiert haben. Doch den Vorwurf nen Mark verklagt. Dietmar Hawranek Auch Trienekens, zu einem Viertel an schwerer Untreue, ursprünglich im Haftbe- der Müllofen-Betreibergesellschaft AVB fehl so formuliert, halten die Ermittler nicht

der spiegel 12/2002 29 Titel

mehr aufrecht: Gegen Michel- felder wird ausschließlich we- gen des Verdachts der Beste- chung ermittelt – die Fahnder glauben, er habe seine Millio- nen an andere weitergeleitet. Michelfelder-Anwältin Weh- nert schließt Bestechung und persönliche Bereicherung aus. Ihr Mandant schweigt. Warum? Weil er doch selbst kassier- te? Oder weil hochmögende Politiker verwickelt sind und die Republik sonst tatsächlich Angeklagter wackeln würde? In ihrem Kernland NRW gerät die SPD auch noch wegen anderer Dankeschön- Spenden unter Druck. So hat die Staats- anwaltschaft Wuppertal nach „sehr gründ- licher Prüfung“ vergangene Woche ein Er- mittlungsverfahren gegen den dortigen SPD-Oberbürgermeister Hans Kremendahl eingeleitet. Er hatte von dem Bauunter- nehmer Uwe Clees eine halbe Million Mark für seinen Wahlkampf im Jahr 1999 bekommen. Die Fahnder glauben, dass Kremendahl im Gegenzug bei Bauprojek- ten half – was Clees bestreitet. Der Oberbürgermeister ist sich ebenfalls keiner Schuld bewusst, er sei sogar, selbst- verständlich, an schonungsloser Aufklä- rung interessiert. In Recklinghausen musste vergangene Woche der SPD-Chef Peter Rausch, 52, zurücktreten. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft, denn als Geschäftsfüh- rer der städtischen Wohnungsgesellschaft soll er Baufirmen Aufträge gegeben haben, die im Gegenzug sein Privathaus verschö- nerten – natürlich kostenlos. Im Windschatten des NRW-Filzes wach- sen derweil im Norden der Republik gleich zwei Affären zu beträchtlicher Größe: Mit Tränen kämpfend, gab Heide Simonis (SPD), Ministerpräsi- dentin von Schleswig-Holstein, am vergangenen Dienstag be- kannt, dass ihr langjähriger po- litischer Weggefährte und Chef der Staatskanzlei, Klaus Gärt- ner (FDP), in den einstweiligen Ruhestand gehe. Gärtner über- nehme „für das Fehlverhalten eines Mitarbeiters die politische Verantwortung“. Als eigentlichen Sünder be- nannte Simonis Karl Pröhl, der von der Staatskanzlei als Koordinator des Landes für die Expo 2000 zur Investiti- onsbank Schleswig-Holstein abgeordnet worden war. Ne- benher war Pröhl aber für fünf Immobilienfirmen tätig – als Vorstandsmitglied, Geschäfts- führer, Kommanditist und Geldbeschaffer. Trotz der fristlosen Entlas- sung Pröhls bleiben Zweifel,

30 der spiegel 12/2002 lionen-Euro-Projekt erhalten – obwohl sie traggeber an das Unternehmen aber an- fast dreimal so teuer war wie der günstigs- geblich nur 550000 Mark. te Mitbewerber. „Das ausgewählte Verfah- Die von Lielje angeblich mit mehr als ren“, so die Prüfer, „rangierte unter fach- einer Million Mark subventionierte Immo- lichen und finanziellen Aspekten … auf bilie gehört Lewerings Ehefrau Dagmar. Rang fünf von sechs in die engere Wahl ge- Die Staatsanwälte glauben an ein unzuläs- zogenen Anbietern.“ siges Mauschelgeschäft. Denn Dagmar Le- Verdächtig, dass die Projektleiterin im wering ist als Direktorin der Landesversi- Finanzministerium später mit einem schö- cherungsanstalt Sachsen-Anhalt (LVA) für nen Vertrag zu SAP wechselte. Und der die Zuweisung von Patienten in Reha-Ein- ehemalige Finanzstaatssekretär Joachim richtungen zuständig. Mehr als jeden drit- Lohmann (SPD), der die Entscheidung ten Patienten der Lielje-Klinik in Bad

RAINER JATSCH-KOESLING RAINER kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Kösen vermittelt die LVA. Reimer*: „Clearingstelle für Schwarzgelder“ Ministerium durchgedrückt hatte, ver- LVA-Managerin Lewering kannte die diente schon ab April 1999 als Berater Lielje-Gruppe zudem aus eigener Anschau- ob Simonis und Gärtner wirklich so ah- zunächst bei Debis, später auch bei SAP ung: Sie stand Anfang der neunziger Jahre nungslos waren, wie die Regierungschefin viel Geld. 50 000 Mark 1999, je 200 000 als Juristin auf der Payroll des Klinikunter- am Dienstag glauben machen wollte. Denn Mark in den Jahren 2000 und 2001 – zu- nehmens. Auch der Ehemann fand, bevor er die Dreistigkeit, mit der Pröhl agierte, ist sätzlich zur Pension. Volksvertreter wurde, sein Auskommen bei ohne Filzgeflecht und ohne Rücken- SPD-Finanzminister Claus Möller gab Lielje. Während Sozialdemokrat Lewering deckung kaum vorstellbar, wie das Beispiel sich im Januar vergangenen Jahres „ge- auf Truppenbesuch im Kosovo weilt, be- Kieler Schloss zeigt. Für die landeseigene Immobilie sollte nach monatelangen Verhandlungen mit Anrüchiges Doppelspiel mehreren Interessenten Ende Februar das HONORAR 2 Gleichzeitig beriet Projektentwicklungsunternehmen B&B 1 Kommunen HONORAR Ingenieurbüro Reimer auch die Anla- den Zuschlag erhalten. Das Schloss sollte beauftragten das Göpfert, genbauer – wohl ohne zur Luxus-Seniorenresidenz samt Hotel Ingenieurbüro Göpfert, Reimer & Wissen der Kommunen. umgebaut werden. Partner, für geplante Müllver- Reimer & Partner Dabei sollen Honorare an B&B-Chef Falk Brückner hatte einen brennungsanlagen (MVA) Aus- war an der Planung Reimer persönlich ge- kompetenten Berater: Karl Pröhl. Der ent- schreibungen zu konzipieren und von rund der Hälfte aller flossen sein, angeblich deutschen MVA beteiligt. warf mit ihm zusammen auch das Grund- die Angebote der Anlagenbauer auch über die Schweiz. konzept des Schlossumbaus, und seit April auszuwerten. 2001 firmierte Pröhl sogar als Mitglied 4 3 Im laufenden Steuerstrafverfahren 0 wird Reimer vorgeworfen, umgerechnet des B&B-Vorstands im Handelsre- 3 gister. Zeitweise stand sein 2 10,2 Millionen Euro Provisionen, die er 2 1 von den Anlagenbauern kassiert haben Name im Briefkopf des Unter- 0 0 nehmens. 16 soll, nicht versteuert zu haben. Die Doppelfunktion war 0 1 4 ?4 Reimer behauptet nun, dieses Geld nie erhalten praktisch, denn so konnte 2 Müllverbren- Pröhl teilweise mit sich selbst nungsanlagen zu haben. Die Anlagenbauer würden ihm die Zahlun- über die Landesimmobilie ver- pro Bundes- gen unterstellen, um deren eigene Schmiergeldflüs- 17 land se zu verdecken. handeln: Pröhl, so der zustän- 2 7 dige Finanzstaatssekretär Uwe Döring, habe B&B nicht nur empfohlen, sondern auch mit schockt“. Von Loh- streitet die Ehefrau, jemals das Klinikunter- falschen Bonitätsunterlagen schöngeredet. manns Beratertätigkeit habe er nichts ge- nehmen bevorzugt zu haben. Doch am Don- Der hässliche Hintergrund muss in der wusst. Der behauptet freilich, er habe nie nerstag hob der Bundestag schon mal die Staatskanzlei bekannt gewesen sein. Denn einen Hehl aus seiner Tätigkeit gemacht. Immunität ihres Gatten auf. im Herbst vergangenen Jahres hatte Pröhl, Und auch im nahen Lübeck muss sich All die prominenten Fälle von Köln bis ganz offiziell, einen Antrag auf Genehmi- derzeit SPD-Bürgermeister Bernd Saxe zu- Kiel treffen die SPD – doch Filz gibt es in- gung einer Nebentätigkeit für B&B gestellt. sammen mit Klaus Puschaddel, dem Auf- zwischen überall. Beamte und Politiker ent- Er selbst ist sich deshalb „keiner Verfeh- sichtsratschef des städtischen Koordinie- scheiden über die Milliardenaufträge an lung bewusst“. rungsbüros Wirtschaft (KWL), gegen einen Unternehmen, die Versuchung ist gewaltig. Womöglich wollten SPD-Leute in Kiel Filzvorwurf wehren. Unter dubiosen Um- Und wo immer Staatsanwälte sich in Amts- aber auch nichts wissen. Denn hinter B&B ständen soll Puschaddels Vize eine 150000- stuben umschauen, werden sie inzwischen stand inkognito eine Immobilientochter Euro-Bürgschaft bekommen haben. fündig. Allein für das Jahr 2000 registrier- der SPD-dominierten Westdeutschen Lan- In den meisten solcher Fälle fühlen sich te das Bundeskriminalamt (BKA) in Wies- desbank. Und die hatte gleich auch das die Verdächtigen völlig unschuldig. So auch baden 20,2 Prozent mehr Fälle als 1999, die Wertgutachten für das Schloss erstellt. die Beteiligten einer Affäre, in die der sach- Zahl der Tatverdächtigen stieg von rund Simonis steht unter Druck, hatte sie sich sen-anhaltinische SPD-Bundestagsabge- 2500 auf etwa 2850, dazu kommen noch doch erst Anfang des Jahres in einem an- ordnete Eckhart Lewering verwickelt ist. Verfahren, die etwa beim Zoll laufen. deren Korruptionsfall ausgesprochen milde Aufmerksam wurden die Fahnder auf den Und die Dunkelziffer, so eine BKA-Ana- gezeigt. Bei der Einführung eines neuen Vorgang Ende vorigen Jahres. In den Ak- lyse, sei „vermutlich enorm“, denn „so- Computersystems für die Landesverwal- ten einer Tochterfirma des westfälischen lange sich niemand darum kümmert“, sagt tung hatte die Bietergemeinschaft Debis/ Klinikkonzerns Lielje fanden sich merk- Leo Schuster, Erster Direktor beim BKA, SAP 1998 den Zuschlag für das 10,8-Mil- würdige Rechnungen für den Bau eines „gibt es keine Korruption“: Opfer wie bei Privathauses in Bad Kösen über rund 1,6 Raub oder Körperverletzung gibt es selten * Am 13. März im Hamburger Landgericht. Millionen Mark. Bezahlt hatte der Auf- – nur zwei Täter.

der spiegel 12/2002 31 Besonders schlimm ging es schon immer strierten Bestochenen in Behördenstuben in der Müllbranche zu: 24 Jahre diente sitzen, liegt auch daran, dass Privatunter- etwa Jan Schmitt-Tegge im Berliner Um- nehmen Korruptionsfälle lieber diskret weltbundesamt (UBA). Dass sich sein Job klären. Ohne dass je ein Strafverfolger ei- als Abteilungsleiter für Entsorgung unge- nen Tipp bekommt, werfen sie geschmier- mein gelohnt hat, wird inzwischen immer te Mitarbeiter einfach raus. Für Tagessätze wahrscheinlicher. Schon vor vier Jahren von bis zu 5000 Mark pro Mann mieten schauten Staatsanwalt und Bundeskrimi- Konzerne inzwischen Spezialisten aus den nalamt bei ihm vorbei, der Vorwurf laute- so genannten Forensic-Service-Abteilun- te auf Bestechlichkeit. gen großer Beraterfirmen, die schwarze Bis vergangene Woche sah es so aus, als Schafe, etwa im Einkauf von Konzernen, ja- wäre der ehemalige UBA-Beamte einer gen. Der Blick für Korruption, klagt Tho- von vielen, die ein bisschen mitverdien- mas Spemann, Chef-Ermittler der Unter- ten. Womöglich aber ging es über die Jah- nehmensberatung Arthur Anderson, sei re um andere Größenordnungen als jene freilich immer noch zu wenig geschärft. 30000 Mark, die auf einem Konto seiner „Wir haben das Gefühl, dass wir in einem Tochter in der Schweiz eingegangen waren: ordentlichen Land leben, aber faktisch ist Müllunternehmer nutzten – laut Ermitt- das eine Bananenrepublik.“

lungen mit seiner Hilfe – staatliche För- VARNHORN ANDREAS Er fürchte die Entstehung von „Parallel- derprogramme für innovative Umwelt- Korruptionsermittler Schaupensteiner und Schattenwelten“, in denen, sagt BKA- technologien. In einem Zürcher Depot des Wühlen im Frankfurter Sumpf Mann Schuster, „Illegalität und Legalität Beamten lagen Wertpapiere in Höhe von verschwimmen und es kein Unrechtsbe- etwa einer halben Million Franken. ger zu zwei Zahlungen in Höhe von über wusstsein mehr gibt“. Auch der Leitende Schmitt-Tegge bestreitet, jemals Schmier- drei Millionen Schweizer Franken im Jahr Oberstaatsanwalt Manfred Wick aus Mün- geld kassiert zu haben. 1994 befragte. Ob Reimer der Grund für chen hat festgestellt, dass Beschuldigte oft Einer der ganz Großen im Geschäft ist die Zahlungen sei, konnte der Zeuge nicht „aus allen Wolken fielen“, weil sie ihr klei- der Hamburger Ingenieur Hans Reimer – mit Sicherheit sagen. nes schmutziges Geschäft nicht für ein Ver- er gilt in der Wiesbadener BKA-Zentrale Die weiträumigen Erinnerungslücken brechen halten; außerdem würden es doch als „eine der zentralen Figuren“ im bun- des Babcock-Mannes passen perfekt ins alle tun. desweiten Geflecht von Anlagenbauern, Konzept des Hamburger Müllpaten. Selbst- Leider wahr: Vor acht Monaten wurden Müllmanagern und Politikern. verständlich hat er mit den dubiosen Rech- in Frankfurt mit einem Schlag über hun- Ähnlich wie Rüstungslobbyist Karlheinz nungen nichts zu tun. Glaubt man Reimers dert Fälle bekannt, in denen Staatsdiener Schreiber schob sich Reimer zwischen die jüngstem medialen Frontalangriff auf die die Hand aufgehalten haben sollen. Allein meist staatlichen Auftraggeber und die pri- Politik, haben stattdessen immer wieder im Hochbauamt und dem städtischen Un- vaten Lieferanten – eine Spinne im Netz. andere abgegriffen: In einem Interview mit ternehmen Frankfurter Aufbau AG ermit- Bei Ausschreibungen kamen die wenigen der Wochenzeitung „Zeit“ packte er vori- telt die Staatsanwaltschaft gegen 120 Mit- tonangebenden Anlagenbauer wie ABB, ge Woche über „Kartelle und Korruption“ arbeiter, im Fall der Messe am Main, wo lu- Steinmüller, Martini, Noell, Babcock oder aus – als Insider und Unschuldslamm. krative Aufträge vergeben werden, stehen die Schweizer Von Roll schwerlich an ihm Laut Reimer handelt es sich bei den un- noch mal 70 Beschuldigte in den Akten. vorbei. erklärten Millionen um Schmiergeldzah- Mal gab es plump Bargeld etwa von be- Jetzt steht Reimer in Hamburg vor Ge- lungen an Politiker. Handfeste Beweise? günstigten Bauunternehmern, mal reno- richt, denn allein zwischen 1994 und 1998 Fehlanzeige. Um seinen Kopf aus der vierten die edlen Spender ein privates soll er dem Fiskus 8,5 Millionen Mark vor- Schlinge zu ziehen, plauderte Reimer bei- Haus, mal legten sie einem Staatsdiener enthalten haben. Steuerfahnder ordnen spielsweise über die Preussag und deren für seine Gefälligkeiten einen Stroman- ihm millionenschwere Schwarzgeldtrans- „Clearingstelle in Genf zur Umverteilung schluss auf den Balkon – zu Weihnachten, aktionen aus Scheingeschäften zu – was von Schwarzgeldern“. Gemeint ist die da- hatte der Mann wissen lassen, wünsche er Reimer bestreitet. malige Preussag-Tochter Noell, die heute sich dort einen beleuchteten Christbaum. Betont gelassen hörte sich der sonnen- zu Babcock Borsig gehört. In Hannover sollen Sachbearbeiter im gebräunte Reimer jetzt etwa an, wie der Doch dabei könnte Reimer die Weisheit Bauordnungsamt ihren Kunden ihr Richter einen ehemaligen Babcock-Mana- vom Glashaus und den Steinen zum Ver- Schmiersystem geradezu aufgezwungen hängnis werden. Denn am haben, Staatsanwälte kamen auf 270 Be- Geldwäscher-Metropole Zürich: Fette Bündel Bares 18. Februar, dem zweiten schuldigte, erst wenige Verfahren sind ab- Verhandlungstag seines Pro- geschlossen. Die Methode war schlicht: Die zesses, stand Sigurd Leh- Angestellten der Behörde mimten bei An- mann-Tolkmitt im Zeugen- tragstellern stets die Hilfsbereiten – ob man stand, Ex-Manager von No- denn schon jemanden habe, der die Bau- ell. Seine Aussagen belasten skizzen erstelle? Nein? Ein Zimmer weiter Reimer schwer. Als New- sitze da ein Profi, der das nebenberuflich comer in der Branche habe mache. So schanzten sich die Sachbear- Noell mit Zahlungen an den beiter gegenseitig Aufträge zu, nur Quit- Hamburger „ein gutes Ein- tungen gab es nie. vernehmen erzielen wollen, Wegen der komplizierten Materie bei um eine Chance zu bekom- Wirtschaftsdelikten kommen die Ermittler men“, erzählte Lehmann- oft nicht nach – meist bringen sie von ei- Tolkmitt. „Wegelagerer-Zoll nem Komplex nur die dicksten Fische vor nach Art der Mafia“, warf Gericht. Eine noch unveröffentlichte BKA- spontan der Richter ein. Studie, die 280 Korruptionsverfahren aus Dass aber mehr als zwei den neunziger Jahren analysierte, kommt

COMET PHOTOSHOPPING Drittel der vom BKA regi- zu dem Schluss, dass es in gerade 18 Pro-

32 der spiegel 12/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel

Köln berichten …“ Er redete, als wären das da unten am Rhein Vorgänge aus einem Katsche in der Klemme fernen fremden Land. Franz Müntefering war von 1998 bis 2001 Landesvorsitzender der SPD in Nordrhein- SPD-Generalsekretär Franz Müntefering muss Westfalen. Die Kölner Affäre ging bis 1999. die Spendenaffäre von seiner Partei und vom Bundeskanzler Er hat dieser Tage einen Satz gesagt, der fern halten – aber auch von sich selbst. verwundern muss: „Als Landesvorsitzen- der konnte ich davon nichts wissen.“ Das s war der Dienstag letzter Woche, als stehe. Er ist ein Bewunderer von Hans-Ge- klingt ganz so, als wären die Parteigliede- Franz Müntefering plötzlich begann org „Katsche“ Schwarzenbeck, jenem le- rungen in Nordrhein-Westfalen durch Be- Emit seinem Badezimmerspiegel zu gendären Ausputzer Bayern Münchens zu tonmauern voneinander getrennt. Richtig sprechen. Er trug noch seinen Schlafan- Franz Beckenbauers Zeiten, der seine Auf- ist wohl, dass er von schwarzen Kassen zug, es war halb sechs am Morgen. gabe darin sah, seinem Chef unauffällig nichts wissen konnte. Er „kontrolliert“ Der Generalsekretär der SPD musste und entschlossen den Rücken freizuhalten gern – das konnte er nicht kontrollieren. seine Stimme in Gang bringen, zwei Ra- und gelegentlich den Ball nach vorn zu Aber konnte er nicht ahnen, dass es bei diosender wollten ein Interview von ihm. schießen. den Sozen am Rhein zum Himmel stinkt? Er musste frisch wirken. Jetzt ist nicht die Zeit für Vorwärtsdrang. Gibt es einen, der das eher hätte ahnen Die Nacht war kurz gewesen, er war erst Franz Müntefering muss den Ball flach hal- können als er? um eins ins Bett gegangen, er kam von ei- ten und verteidigen. Er muss diese Affäre Der Generalsekretär ist seit 36 Jahren in ner Dienstreise – aus Nordrhein-Westfalen von der Bundespartei wegrücken, vom der SPD und seit 35 Jahren in der IG Me- natürlich. Die Welt in Nordrhein-Westfalen Kanzler – und von sich selbst. tall, er ist seit 1984 im Vorstand des mit- hat die Welt der SPD kaputtgemacht, und Müntefering hat nur noch Auswärts- gliederstärksten SPD-Bezirks Westliches Franz Müntefering ist dafür zuständig, die- spiele. Selbst im Willy-Brandt-Haus, der Westfalen, er war Minister unter Johannes se Welt wieder ganz zu machen. Schon vor Heimstatt der SPD. Letzte Woche stand er Rau. Man kann nicht sagen, die nordrhein- Sonnenaufgang beginnt derzeit sein Job, da auf dem Podest, die Kameras guckten westfälische Sozialdemokratie sei nicht von das Land auf SPD-Linie zu trimmen. Alles ihn an, seine Augen traten hervor wie bei Franz Müntefering mit geprägt worden. eine rein Kölner Angelegenheit, sagt er einem, der an Morbus Basedow leidet. Ne- Als Helmut Kohl die CDU in den Spen- dann. Wir werden mit aller Härte dagegen ben ihm erhob sich die Büste von Willy denskandal zog, hätte der SPD-General am vorgehen. Alles anders als bei der CDU. Brandt, Brandt hat die rechte Hand ausge- liebsten gleich die ganze Union aus den Und: Ich, der Franz, kann nichts dafür. streckt, es sah aus, als wollte er dem Enkel Ämtern gejagt. Koch „ein Feigling“, Als ob es vorher nicht schon dicke genug eine langen. Müntefering stand vor einem Schäuble „ein verbrannter Mann“, Rühe, gekommen wäre. Die Wirtschaft im Keller, Plakat, das unter anderem die Türme des Rüttgers, alle Teil eines Systems. Müntefe- die Arbeitslosenzahlen auf der Zinne, die Kölner Doms zeigt. Auf dem Plakat stand: ring hatte gesagt, so was könne es bei den Pannenstatistik der Regierung ziemlich ein- „Wir in Deutschland“. Roten nicht geben. drucksvoll. Und er, Müntefering, muss al- Man könnte es auch anders lesen. Wir Jetzt begegnet er jeden Tag seinen Zita- les so drehen, dass die Leute glauben: Wird im Sumpf. ten von damals. „Ich weiß nur, dass ich schon wieder. Nebenbei soll er der Oppo- Müntefering, der Sauerländer, trug ei- nichts gewusst habe“, sagt er. Der Satz sition ans Bein fahren, Stoiber vor allem. nen grauen Anzug und redete von der „Er- könnte von Roland Koch stammen. Und jetzt das. Der Spendenskandal. Kor- folgs-Schtory“ der Regierung. Dann frag- Der Unterschied zwischen den Roten rupte Genossen. Seine Genossen. te ihn jemand nach Köln. Er sagte: „Ich und den Schwarzen besteht im Moment Franz Müntefering, 62, sagt, dass er sich kann im Moment nicht sagen …“, oder: darin, dass Franz Müntefering die „scho- als Vorstopper der Sozialdemokraten ver- „Ich kann nicht jeden Tag etwas Neues aus nungslose Aufklärung“ mit großem Ge- räusch ins Land hinausknattert. Mit Blick SPD-Führungstrio Lafontaine, Scharping, Schröder (1994): „Wir in Deutschland“ auf die Wahlkampfmonate versucht er da- mit eine Schutzmauer aufzubauen, hinter der sich die Bundespartei einstweilen ver- schanzen soll. Bloß: Aufgeklärt ist noch gar nichts. So gesehen gibt es schon jetzt keinen großen Unterschied mehr zwischen den Roten und den Schwarzen. Letzte Woche saß Müntefering in einem Flugzeug der Deutschen BA, Platz 5 c, es ging von Berlin nach Nordrhein-Westfalen. Er hatte einen Stapel mit Zeitungsaus- schnitten aus seinem schwarzen Piloten- koffer gezogen. Die Zeitungen schrieben, dass er jetzt vom Untersuchungsausschuss vernommen werde. Wie Kohl. Weil er meint, dass in der SPD alles an- ders ist als in der CDU, beantragte Mün- tefering, dass das Fernsehen bei seinem Verhör dabei sein soll. Aber vielleicht macht das Fernsehen alles nur noch schlim- mer. Vielleicht tauchen mit jeder Antwort, die Müntefering gibt, neue Fragen auf. Wie

FRANK OSSENBRINK FRANK bei Kohl.

34 der spiegel 12/2002 zent der Verfahren zu Verurteilungen kam. Scharping von Lafontaine gestürzt. Jetzt „Wir kommen kaum nach, die bestehenden diente er Lafontaine – und als Schröder Akten abzuarbeiten“, stöhnt der Frank- Kanzlerkandidat wurde, diente er eben La- furter Oberstaatsanwalt und Korruptions- fontaine und Schröder. experte Schaupensteiner, „da landen schon Manche sagen, Müntefering sei ein Par- wieder neue Fälle bei uns.“ teisoldat. Andere sagen, er sei ein Partei- Allein in Berlin, der Hauptstadt von In- Karrierist. Das kommt auf die Perspektive vestitionen und öffentlichen Aufträgen in an. Er ist jedenfalls kein Generalsekretär, den neunziger Jahren, schnellte die Zahl wie Heiner Geißler bei der CDU einer war. der Verfahren von 103 Verfahren (1991) auf Die SPD-Zentrale ist keine Denkfabrik ne- 655 (2000) hoch – eine glatte Versechsfa- ben dem Kanzleramt. chung. Seit der Wiedervereinigung, glaubt „Partei“, sagt Müntefering, „muss sich der Chef der Innenrevision der Berliner an der Regierung abarbeiten.“ Immerhin Bauverwaltung, Lothar Mewes, sei am Bau hat er die SPD hinter einem Kanzler ver- durch Korruption ein Schaden von rund sammelt, den diese Partei lange auf Ab- 51 Millionen Euro entstanden. stand hielt. Auch Müntefering quälte sich „Korruption ist ein bestimmender Fak- mit Gerhard Schröder. Nur: Die Partei tor im Alltag der Hauptstadt“, sagt Krimi- braucht Schröder. Und Schröder braucht naloberrat Andreas Maaß, Chef von drei die Partei. Deshalb braucht Schröder auch Anti-Korruptions-Kommissariaten im Lan- Müntefering. deskriminalamt Berlin. Letzte Woche Dienstag saßen sie ne- Die großen Filzfälle, wie jetzt in Köln, so

STEPHANIE PILICK / DPA PILICK STEPHANIE beneinander im Museum „Kunst-Palast“ meint Fahnder Maaß, wirkten oft enthem- Generalsekretär Müntefering in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen. Der mend auf viele untere Sachbearbeiter: „Sie „Ich kann nur kurze Sätze“ Kanzler musste eine Rede halten, das The- sind schlecht bezahlt oder haben persön- ma hieß: „Wirtschaft und Arbeit in liche Finanzprobleme. Da fragen die sich Vielleicht wird etwas kleben bleiben an Deutschland“. Man kann sich die Themen doch: Warum sollen wir nicht auch zu- Franz Müntefering. Ausgerechnet an ihm, nicht immer aussuchen. langen?“ dem sozialdemokratischsten aller Sozial- Müntefering hörte in der ersten Reihe In den vergangenen Jahren ließen Bund demokraten. Münteferings Vater arbeitete zu, und manchmal fielen ihm die Augenli- und Länder sich deshalb eine Reihe Ge- erst als Knecht auf dem Bauernhof und der runter. Schröders Rede endete mit dem genstrategien einfallen, Schwerpunkt- dann als Fabrikarbeiter, die Familie war Satz: „Deutschland ist gut, und wir sind staatsanwaltschaften in München, Frank- katholisch und wählte CDU. In Sundern, stolz darauf.“ Da klatschten die Leute. furt und anderen Städten kümmern sich dem Dorf, in dem Müntefering aufwuchs, Auch der SPD-General ließ die Hände ausschließlich um das schmierige Geschäft. gab es einen Kinobesitzer, der vom Bür- etwas matt ineinander fallen, dann sprang Der nordrhein-westfälische Innenminister germeister Honorar dafür bekam, „dass er er auf und eilte ins Freie. Er keine unkeuschen Filme zeigte“, wie Mün- musste noch zu einer Sitzung mit tefering das noch heute nennt. Er fand die Harald Schartau und Jochen Ott, Republik damals „ziemlich vermieft“ und wegen Köln. Unterwegs hielt ihm trat in die SPD ein. jemand ein Mikrofon hin und Er ist durch diesen Parteiapparat nach fragte, ob es sich tatsächlich nur oben gekommen, anders als Schröder, der um eine Kölner Angelegenheit in den entscheidenden Phasen gegen die handle. Müntefering antwortete Funktionärs-SPD etwas geworden ist. Der mit einem kurzen Satz: „Sie Generalsekretär musste wie der Kanzler spielt nur in Köln.“ um seinen Aufstieg kämpfen. Er hat kein Zwei Tage später war sie schon Abitur, und manchmal scheint es, als wür- in Wuppertal angekommen. de er sich darauf etwas einbilden. Franz Müntefering saß im Bistro „Ich kann nur kurze Sätze“, sagt er. Er des Willy-Brandt-Hauses und

kann die Tonlage in diesen kurzen Sätzen rauchte ein Zigarillo, Marke JOCHEN GÜNTHER nicht wechseln – und wenn er mit diesen „Christian of Denmark“. Er wur- Messe Frankfurt: Die Hand aufgehalten kurzen Sätzen zum Beispiel auf Stoiber de gefragt, ob es nicht ganz egal losgeht, wirkt er manchmal wie ein Sprech- sei, wo diese Affäre spielt, ob in Köln oder Fritz Behrens (SPD) wies im Herbst alle automat. „Stoiber ist nicht gut für Ost- in Oer-Erkenschwick, ob es nicht vielmehr Polizisten an, bei Korruptionsfällen ver- deutschland. Er wäre nicht gut für Deutsch- darauf ankomme, dass diese Affäre mitten stärkt illegale Gewinne einzuziehen, und land insgesamt. Und er ist nicht re- in der SPD spielt. rheinland-pfälzische Staatsdiener sollen gierungsfähig.“ Bums, aus. So hat auch Müntefering blies Rauch in die Luft und Verdachtsfälle an das Referat 512 des Jus- „Katsche“ Schwarzenbeck geredet. sagte: „Ja, das stimmt.“ tizministeriums melden, Kennwort: „Ver- Das Gute an diesen kurzen Sätzen ist, Er sieht so aus, als hätte er nicht mehr trauliche Personalsache“. dass sie da verstanden werden, wo die SPD viel in seinem Besteckkasten für den Wahl- In der Verwaltung des Bundes gilt seit zu Hause ist – am Erbseneintopf im Orts- kampf. Nicht mal mehr anständige Rote Juli 1998 die „Richtlinie zur Korruptions- verein. Müntefering hält die rote Ursuppe gegen unanständige Schwarze. prävention“. Nach dem von der Bundes- unter Dampf. Es gibt einen Satz von Heinrich Heine, regierung erstellten Katalog sollen Als der Parteivorsitzende Rudolf Schar- den Franz Müntefering einmal zu seinem • Mitarbeiter in sensiblen Bereichen der ping 1995 in höchster Not war, halfen ihm Lebensmotto erklärt hat. „Schlage die Verwaltung regelmäßig rotieren; die Nordrhein-Westfalen und schickten Trommel und fürchte dich nicht.“ • Geschäftsvorgänge von mehreren Mit- ihren „Münte“ als Bundesgeschäftsführer Jetzt haben sie ihm die Stöcke geklaut. arbeitern kontrolliert werden; nach Bonn. Vier Wochen später wurde Matthias Geyer • Planung, Vergabe und Abrechnung öf- fentlicher Aufträge getrennt werden;

der spiegel 12/2002 35 Titel

• eigene Abteilungen gegründet werden, Vergabe von Aufträgen Vorteile ver- die als Innenrevisionen die Kollegen Die Affären-Republik schaffte. kontrollieren; 1949/50: Hauptstadtwahl Vor allem der Aufbau Ost, in den zwei • Unternehmen von Ausschreibungen aus- Bundestagsabgeordnete sollen bis zu 20000 Billionen Mark investiert wurden, erweist geschlossen werden, die früher bereits Mark bekommen haben, damit sie für Bonn sich immer wieder als idealer Nährboden als unzuverlässig aufgefallen waren. statt Frankfurt als Hauptstadt votieren. für Korruption. Mitunter begannen regel- Ein Korruptionsregister, in rechte kriminelle Karrieren mit kleinen Ge- dem bundesweit ertappte Fir- 1959: Starfighter schenken. So ließ sich der ehemalige bran- men erfasst werden, fordern Die BRD bestellt die ersten von 917 denburgische Bauminister Jochen Wolf von Experten schon seit Mitte der Kampfflugzeugen. US-Ermittlungsergeb- einem Makler angeblich kostenlos ein Bau- neunziger Jahre – doch ein- nisse über Schmiergelder in Millio- grundstück für seine Ehefrau vermitteln – gerichtet ist es bis heute nenhöhe lassen sich nicht bestätigen. dafür wollte er auf Behörden einwirken, nicht. Immerhin hat die Bun- 1972: Misstrauensvotum dass sie dem Freund bei Bau- desregierung im Dezember CDU-Hinterbänkler Julius projekten entgegenkommen. ein Gesetz auf den Weg ge- Steiner stimmt für Kanzler Die Vorwürfe bestritt Wolf. bracht, das – wenn es denn Brandt statt für Parteikollege Vor wenigen Wochen wurde das parlamentarische Verfah- Barzel. Dafür erhält er er in erster Instanz verurteilt: ren übersteht – die Voraus- 50 000 Mark von der Stasi. Um die Frau loszuwerden, setzungen dafür schafft. 1981: Flick-Affäre für die er einst unredlich das Für eine der effektivsten Waffen gegen Grundstück erwarb, hatte er Flick-Manager spenden am Steiner die Korruption halten Experten die Perso- Finanzamt vorbei Millionenbeträge einen Killer angeheuert. nalrotation, den regelmäßigen Tausch von an CDU/CSU, FDP und SPD. Die Und je mehr die neuen Arbeitsgebieten innerhalb der Verwaltung. Flick-Affäre gilt als Synonym für Bundesländer mit Kläranla- Die Rotation stoße jedoch auf „erhebliche die Verschränkung von Politik und gen, Spaßbädern, Gewerbe- Schwierigkeiten“, konstatieren die Innen- Wirtschaft. gebieten überzogen wur- minister der Länder in einer Bestandsauf- den, desto anfälliger wurden nahme – zu wenig Leute, bürokratische 1985: Wolfgang Antes die Staatsdiener. Hürden. Für positiv beschiedene Bauvor- Wie groß der Aufklä- Und auch die Fahnder müssen impro- haben nimmt der Charlottenburger Brauchitsch, Flick rungsbedarf tatsächlich ist, visieren: In Frankfurt etwa verkündete Baustadtrat mindestens 300 000 erfuhren die Brandenbur- Mark Bestechungsgelder entgegen. Strafverfolger Schaupenstei- ger, nachdem im Januar ner zu Beginn der Ermitt- Spürpanzer „Fuchs“ 1991: Spürpanzer vergangenen Jahres eine lungen im jüngsten Groß- „Fuchs“ Schwerpunktstaatsanwalt- skandal, er werde 48 Stunden Beim Panzerverkauf von schaft ihre Arbeit aufnahm. lang erst mal gar nichts tun – Thyssen Henschel an Allein in den ersten zwölf wer beichten wolle, könne Saudi-Arabien sollen Monaten leiteten die sieben sich ja melden. 20 Sünder ka- 220 Millionen Mark für Antes Staatsanwälte rund 150 Er- men. Sie dürfen mit Milde Provisionen und Berater mittlungsverfahren ein. rechnen. geflossen sein. Mitunter entpuppen sich Ohne derartige Tricks ist der Masse der 1991: Traumschiff-Affäre ganze Biotope als anfällig – inzwischen alltäglichen Korruption kaum Baden-Württembergs Minister- wobei die Summen eine un- beizukommen. So steht derzeit ein Bestat- präsident Lothar Späth lässt sich tergeordnete Rolle spielen. tungsunternehmer vor Gericht, weil er Po- Segeltörns in der Ägäis und private So machte Obst im Dresd- lizisten und Sanitäter in Berlin mit 100 Flugreisen von einem Unternehmen ner Rathaus eine Abteilung Mark pro Sterbefall versorgt haben soll, zahlen und tritt zurück. Späth hungrig. Als eine Sachge- von dem er früher erfuhr als die Konkur- bietsleiterin des Ortsamtes 1993: Amigo-Affäre renz. Und in Darmstadt gestand ein Mit- Südvorstadt den Obststand arbeiter des Ausländeramts, Aufenthalts- Der bayerische Ministerpräsident der Straßenhändlerin Mer- Max Streibl gibt sein Amt auf. Er genehmigungen gegen durchschnittlich räumt ein, dass ein Unternehmen vat O. überprüfte, packte 4000 Mark in bar beschafft zu haben. ihm Privatreisen finanziert hat. die ihr eine Obsttüte im Aber als besonders durchseucht gilt Wert von etwa zehn Mark. Fahndern die Baubranche: „Wer nicht im 1996: Frankfurter Flughafen Die Kontrolleurin schaute Kartell sitzt, hat eigentlich keine Chance“, Mehr als 30 Firmen zahlen Millio- Streibl daraufhin 13-mal vorbei – sagt Strafverfolger Wick. nenbeträge an Flughafenangestellte, und ging immer mit Tüte. Weil allein die Deutsche Bahn AG seit um an Bauaufträge zu gelangen. Schließlich kam auch ein höherer Be- 1994 rund 110 Milliarden Mark investiert 1999: CDU-Parteispendenskandal amter des Straßen- und Tiefbauamtes zur hat, war dort die Versuchung groß. So ließ Nach der Entdeckung schwarzer CDU-Kassen Inspektion. Ihm richtete die Frau gleich sich ein Rechnungsprüfer der Bahn von ei- und -Konten gibt Helmut Kohl zu, bis zu zwei eine ganze Kiste – und legte zwischen ein nem Baukonzern bezahlen, für den er Millionen Mark Barspenden nicht ordnungs- paar Kohlköpfe auch gleich ein Bündel nebenberuflich Rechnungen an die Bahn gemäß deklariert zu haben. Geldscheine, je nach Erinnerung 5000 oder stellte, die er wiederum 8000 Mark. Schließlich durfte die ge- selbst prüfte. Im Frühjahr 2001: Berliner Bankenskandal schäftstüchtige Dame an 23 Verkaufsstän- 2000 flöhte die interne Revi- CDU-Fraktionschef und Bank- den verdienen. „Ich dachte, das ist wie bei sion der Bahn die Akten von vorstand Klaus Landowsky uns zu Hause“, so die Jordanierin, „ohne Bahnoberrat Hermann R. in nimmt von Kreditnehmern Backschisch läuft gar nichts.“ Leipzig. Der Mann hatte bis eine Parteispende von 40 000 Beat Balzli, Georg Bönisch, Dominik Mark an. Darüber stürzt die zu drei Prozent der Auftrags- Cziesche, Frank Dohmen, Horand Knaup, Regierung Diepgen. Felix Kurz, Gunther Latsch, Barbara Schmid, summen dafür kassiert, dass Landowsky Holger Stark, Andrea Stuppe er seinen Spezis bei der

36 der spiegel 12/2002 sens seit ihrem Amtsantritt ex- plodieren. Über elf Prozent mehr als im Vorjahr gaben die Kassen 2001 für Pillen, Salben und Zäpfchen aus, insgesamt 22,4 Milliarden Euro – so viel wie nie zuvor. Unterm Strich machten die gesetzlichen Kran- kenkassen, deren durchschnitt- licher Beitragssatz prompt von 13,5 auf 14 Prozent eines Brut- tolohns anstieg, ein Minus von 2,8 Milliarden Euro. Ein Ende ist nicht in Sicht. Während Schmidt noch am ver- gangenen Mittwoch im Bundes- tag versprach, die Finanzen im Wahljahr in Ordnung zu brin- gen, wussten es ihre Fachbeam- ten schon besser. So mussten die Krankenkassen im Januar noch einmal 5,5 Prozent mehr für Medikamente ausgeben als im ohnehin schon extrem teu- ren Januar des Vorjahres.

EDGAR R. SCHOEPAL Um an das Geld der Patien- Ärzteteam bei Operation: Zwischen Gier und Ahnungslosigkeit ten heranzukommen, ist der Pharmaindustrie – fast – jedes Mittel recht: Von Desinforma- tion in Studien und Fortbildungskursen über Preistrickserei und aggressives Mar- keting bis hin zu – juristisch fragwürdigen – Kaffeefahrten der Konzerne Werbegeschenken und offener Korruption reicht das Instrumentarium. Systematisch Selbst in Krisenzeiten gelingt es der Pharmaindustrie, nutzen manche Hersteller dabei die Gier wie die Ahnungslosigkeit der Ärzte aus. ihre Umsätze zu steigern – mit aggressivem Marketing, das immer In Berlin versuchen Fahnder und Kran- wieder die Grenzen zur Korruption durchbricht. kenkassen zurzeit, ein trickreich verwobe- nes Beziehungsgeflecht zwischen Pharma- as Angebot war so attraktiv wie ein- weit gegen 1300 Ärzte ermittelt. Hunderte herstellern und Medizinern aufzuklären. deutig: Im April 1998 bat die Frank- Ermittlungen laufen unter anderem in Ber- In den Aids-Praxen der Hauptstadt hatten Dfurter PR-Agentur Publicis Vital lin, Hamburg und Dresden. Der Rechts- Ärzte jahrelang Immunglobuline verord- interessierte Ärzte zum verlängerten Som- nachfolger der Firma, GlaxoSmithKline, net und in Millionenhöhe mit den Kassen merwochenende in die französische Haupt- verspricht lückenlose Aufklärung. abgerechnet. stadt – „angemessene Unterbringung“ und Wieder einmal – so scheint es – hat ei- Der Nutzen für die Patienten hat dabei „interessantes Rahmenprogramm“ selbst- nes der großen Pharmaunternehmen die offenbar nicht im Vordergrund gestanden, verständlich „für Sie und eine kompeten- diffuse Grenze zwischen Marketing und denn diese Stoffe sind von den Kassen zur te Begleitperson“ inklusive. Korruption überschritten. Zu groß ist of- Behandlung von erwachsenen HIV-Infi- Anstrengender wurde es nur kurzzeitig: fenbar die Versuchung, selbst mit frag- zierten nicht zugelassen. Experten warnen Gemeinsam wolle man in Paris („der Stadt würdigen Methoden von den gewaltigen sogar vor einem erhöhten Infektionsrisiko. des Fußball-Weltmeisterschafts-Endspiels“) Gesundheitsbudgets zu profitieren. Die außerordentliche Beliebtheit der die „Praxisrelevanz“ des Blutdruckmittels So gelang es der Pharmaindustrie im Präparate ist denn auch, so meinen die Teveten auf die „Sympathikusaktivität“ vergangenen Jahr, ihren Umsatz um im- Krankenkassen, vor allem auf das ausge- diskutieren. Danach ging es fröhlich weiter: merhin acht Prozent zu klügelte Vertriebsmarketing „Sollte Interesse bestehen, sich das End- steigern, während gleich- der Hersteller zurückzu- spiel anzusehen, wird sich dazu bestimmt zeitig beinahe alle anderen führen. So verteilte die auch eine Möglichkeit finden lassen.“ Branchen unter der schlap- Octapharma Deutschland Um sein neues Blutdruckmittel Teveten pen Konjunktur litten. Fast GmbH in einer internen in den Markt zu drücken, war dem Phar- jede Mark, die Versicher- „Mitteilung an alle Au- magiganten SmithKlineBeecham offenbar te zusätzlich für ihre Ge- ßendienstmitarbeiter“ zur nichts zu teuer – selbst wenn die Wirkung sundheitsvorsorge bezah- „Neuakquisition von HIV- des Medikaments unter Experten umstrit- len mussten, wanderte um- Praxen“ dicke Papierstapel. ten ist. Immerhin 16 Millionen Menschen gehend in die Kassen der „Für die Rückgabe der leiden in Deutschland unter zu hohem Pillenindustrie. Mappe mit 30 ausgefüllten Blutdruck – bei geschätzten Teveten-Kos- Hilflos registriert die Bögen erhält der Arzt für ten von 744 Mark pro Patient und Jahr ein Gesundheitsministerin Ulla seinen Aufwand ein Hono-

potenziell glänzendes Geschäft. Schmidt (SPD), dass die PICTURES / GEPA PAMMER FRANZ rar von DM 4500“, heißt es Auf Grund von Hinweisen der Staats- Kosten des von ihr verant- Pharmakritiker Sawicki in dem Schreiben, das für anwaltschaft München wird nun bundes- worteten Gesundheitswe- Überraschung beim Test unvollständige Mappen im-

der spiegel 12/2002 37 Ein frommer Wunsch. Das zeigt das Bei- spiel Lindopharm. Die Mini-Pharmafirma im rheinischen Hilden hielt bislang nur eine Nische besetzt. Apothekern war der Familienbetrieb vor allem als Produzent von Säuglingszäpfchen und Durchfallmit- teln bekannt. Bis Firmenchef Friedrich Wil- helm von der Linde Ende vergangenen Jahres seine Klitsche an die Hexal AG ver- kaufte, einem der drei größten deutschen Anbieter von Generika, also Medikamen- ten, deren Patentschutz inzwischen abge- laufen ist. Seither bietet Lindopharm fast alles an, was in Deutschlands Apotheken für Mil- liardenumsätze sorgt – zu konkurrenzlos hohen Preisen.

DPA / REUTERS (L.); STEFFEN LEIPRECHT / DDP (U.) LEIPRECHT (L.); STEFFEN / REUTERS DPA Während Hexal, Ratiopharm oder Stada Bundeskanzler Schröder*: Ablasshandel mit der Pillenbranche die 20-Milligramm-Tablette Omeprazol, dem gängigsten Wirkstoff gegen mer noch „das anteilige Honorar“ in Aus- Magengeschwüre, für rund 1,40 sicht stellte. Ein lohnendes Geschäft. Euro verkaufen, verlangen die Hemmungslos nutzen viele Pharmakon- Hildener für das gleiche Präparat zerne den Umstand aus, dass die meisten deftige 5 Euro. Ärzte den Überblick über die mehr als Kein Wunder, dass niemand auf 40000 in Deutschland erhältlichen Medi- die Idee kommt, bei Lindopharm kamente längst verloren haben. So sind zu ordern. Er wäre auch ent- Fortbildungsrunden, in denen sich Medizi- täuscht – laut dem deutschen Me- ner über neue Präparate informieren sol- dikamentenverzeichnis ist der Ma- len, nach Beobachtungen von Peter Sa- gentröster aus Hilden „nicht lie- wicki, Chefarzt im Kölner St. Franziskus- ferbar“. Hospital, zum großen Teil zu „Propagan- Möglicher Hintergrund: Lindo- da“ im Auftrag der Industrie verkommen. pharm scheint vor allem einen Innerhalb von zwei Jahren besuchte ein Zweck zu erfüllen – die Firma soll von Sawicki geleitetes Team mehr als 50 Glaxo-Zentrale: „Interessantes Rahmenprogramm“ den anderen Generika-Herstellern angeblich neutrale Fortbildungen, die das offensichtlich dabei helfen, das offizielle „Rheinische Ärzteblatt“ als Ver- Blutdrucksenker Mibefradil – ein Präpa- entsprechende Gesetz der Gesundheitsmi- anstaltungen von Ärztekammer und Kas- rat, das der Konzern Hoffmann-LaRoche nisterin zu unterlaufen. Laut Vorgabe aus senärztlicher Vereinigung angekündigt hat- wegen seiner mitunter tödlichen Neben- Berlin muss jedes Mittel, das der Apothe- te. Überrascht registrierten die Tester, dass wirkungen inzwischen vom Markt nahm. ker auswählt, im unteren Preisdrittel der sich zwei von drei Fortbildungsrunden als Ebenso verzweifelt wie vergebens ver- jeweiligen Gruppe gleicher Wirkstoffe lie- Kaffeefahrten einzelner Pharmakonzerne sucht Bundesgesundheitsministerin Schmidt gen. Der Durchschnitt der drei teuersten entpuppten. inzwischen, die Pillenkos- und der drei billigsten Medikamente hilft Mal hatten sie Informati- ten zu deckeln. Anfang bei der Ermittlung der Obergrenze. onsbroschüren ausgelegt, mal PR-Shows November musste sie ihren Da viele Hexal-Präparate und die der stellte sich der Referent als werden Plan aufgeben, die Pharma- beiden großen Konkurrenten Ratiopharm Pharmavertreter heraus. Auf- als Fortbildung hersteller zu Preisrabatten und Stada jedoch teurer sind als das unte- fallend häufig stießen die Te- getarnt – für zu zwingen. Zu stark war re Drittel, musste wohl ein weiterer Anbie- ster auf PR-Shows für den ein Präparat mit die gemeinsame Lobby aus ter mit Mondpreisen her. Nun verschiebt bisweilen IG-Chemie-Boss Hubertus die neue Hexal-Tochter Lindopharm die Schmoldt und dem Verband obere Preisgrenze und sorgt dafür, dass tödlicher Wirkung Forschender Arzneimittel- alle Anbieter ohne Preissenkung den An- hersteller. forderungen der Gesundheitsministerin in Gemeinsam hatte man beim Kanzler in- Berlin entsprechen können. Dort ist die terveniert – und einen Ablasshandel ver- Stimmung entsprechend schlecht. einbart. 200 Millionen Euro zahlten die Pil- Hatte die Ministerin ursprünglich an- lenfabrikanten für die Zusage von Kanzler gekündigt, durch ihr Gesetz jährlich min- Gerhard Schröder, sie zwei Jahre lang in destens 250 Millionen Euro einsparen zu Ruhe zu lassen – politische Korruption auf können, korrigierten ihre Berater das Spar- höchster Ebene. ziel inzwischen intern auf „allenfalls 50 Auch andere Sparpläne der Ministerin Millionen Euro“. drohen an der Macht des Pharmakartells Einige Spitzenbeamte meldeten denn zu scheitern. Zwar setzte Schmidt zum 23. auch Zweifel an der 240000 Euro teuren Februar durch, dass Ärzte ihren Patienten Werbekampagne an, mit der die SPD-Poli- lediglich Wirkstoffe statt Präparate ver- tikerin in den kommenden Wochen die ordnen sollen. Die Apotheker, so die Hoff- Patienten informieren will. Er habe große nung der Ministerin, würden dann ein Zweifel, so ein Ministerialer, ob sich der * Mit Merck-Chef Bernhard Scheuble (M.) und Flavio Battisti, Arbeitnehmervertreter im Merck-Aufsichtsrat, bei möglichst preiswertes Präparat heraus- „ganze Rummel überhaupt noch lohnt“. einem Firmenbesuch am 16. Oktober 2001 in Darmstadt. suchen. Heiko Martens, Alexander Neubacher

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Werbeseite Deutschland FASI / ACTION PRESS / ACTION FASI Wirtschaftssenator Gysi auf der Berliner Regierungsbank*: „Seine populistische Karriere wird er beenden müssen“

Unsicher zuppelt er an seiner Umlauf- mappe, blickt zu den drei Pressesprechern, HAUPTSTADT die ihm assistieren, und sagt Sätze, die ihm noch nie über die Lippen gekommen sind: „Das kann ich jetzt nicht sagen.“ „Da bin Senator Azubi ich ja nicht zuständig.“ „Das weiß ich nicht aus dem Kopf.“ Aus dem Talkshow-Star wird ein normaler Politiker. Statt Bis vor kurzem hatte er noch viel größe- re Probleme scheinbar mühelos im Griff, um den Weltfrieden kämpft Gregor Gysi als Wirtschaftssenator konnte erklären, wie der Jugoslawienkrieg gegen den Haushaltsnotstand und den Sitzungssozialismus. zu verhindern gewesen wäre („Kohl hätte das mit Geld gemacht“) oder die Attentä- m Plenarsaal des Berliner Abgeordne- schlüssen; wer die „Straßenreinigungs- ter von New York zu ergreifen sind tenhauses hat die Aussprache über die sonderkosten“ der Love Parade bezahlen („schnelle Eingreiftruppe wie bei Eich- IRegierungserklärung des Regierenden wird und warum die Firma Spreequell ihre mann“). Und nun solch ein Gestammel. Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) be- Getränke nicht länger in Glas- sondern in Klar, er hat es geschafft. Der Ossi und reits begonnen. Da streift Volker Holtfre- Plasteflaschen abfüllen will. Ex-SED-Mann residiert im einstigen Do- rich, dessen persönlicher Referent, wie ein Und immer soll einer antworten – er, mizil der Deutschen Erdöl-AG. Die Spur Polizist durch das Kasino: „Hat jemand Gregor Gysi, 54, zuständig für Wirtschaft, der Kapitalisten findet sich noch in den Gysi gesehen?“ Arbeit und Frauen. Kaminen, hier ist der Schriftzug DEA in die Der Chef hat seinen Wirtschaftssena- Ob er sich den neuen Job so vorgestellt Eisenplatten geprägt. Gysi ist Chef von tor und Stellvertreter im großen Saal hat? 726 Mitarbeitern, beschäftigt Referatsleiter des Preußischen Landtages vermisst – und 61 Tage ist er jetzt Senator und Stellver- für „Grundsatzangelegenheiten der Wirt- lässt nun demonstrativ nach ihm suchen. treter des Regierungschefs und noch immer schaftspolitik“ (Zimmer 257) und für das „Wowereit möchte“, raunt der Referent fremd in der neuen Rolle. Gysi von Tisch zu Tisch, „dass Gysi auf der Re- wirkt wie ein Schauspieler, der gierungsbank sitzt.“ Schließlich wird der nur für einen Kollegen einge- Schwänzer entdeckt, versteckt hinter ei- sprungen ist. Da agiert nicht ner Säule, im Raucherbereich. Wieder flüs- mehr der unschlagbare Talk- tert der Referent, dann läuft Gregor Gysi show-Liebling, nicht mehr los, mit kurzen, schnellen Schritten – und der wortgewandte Dialektiker. setzt sich im Plenarsaal brav an die Seite Jetzt ist Gysi, was er einerseits des Koalitions-Herrn. werden und andererseits nie Wenige Tage später überlässt Wowereit und nimmer werden wollte – es erstmals Gysi, die Ergebnisse einer Se- ein ganz gewöhnlicher Politi- natssitzung darzustellen. Da pumpt sich ker. Und als Senator ist er ein der Senator auf, strafft die Schultern und Azubi. schließt den obersten Jackettknopf vor dem Bauch – ein Zeichen, dass er gerade * Oben: mit Justiz-Senatorin Karin Schu- mit sich selbst besonders zufrieden ist. So bert und dem Regierenden Bürgermeister genießt er seine Premiere im Roten Rat- Klaus Wowereit; unten: mit der Modera- torin Janin Reinhardt beim Medientreff haus. Bis ihn die ersten Fragen treffen. Was des Fernsehsenders Viva am 15. Novem- PRESS HERCHER / ADOLPH denn wirklich neu sei an den Senatsbe- ber 2001 in Berlin. Medienheld Gysi*: „Unbefangener Zugang zum Problem“

42 der spiegel 12/2002 „Kongresswesen“ (Zimmer 291). Er darf sogar ein Wörtchen mitreden im Bundes- rat und wird wieder vom Kanzler empfan- gen. Und dem selbst gestellten Auftrag, die innere Einheit entscheidend vor- anzubringen, ist er auch schon ein bisschen nachgekommen. Er hat die urostdeutschen Begriffe „Plaste“ und „Arbeitskollektiv“ bei der Senatspressekonferenz ins Regie- rungsdeutsch übernommen. Aber um welchen Preis? Im Wahlkampf hat er viel über die Glaubwürdigkeit von Politik sinniert. Inzwischen aber hat auch er seine Wahlversprechen gebrochen. We- der bei Bildung, bei Wissenschaft noch Kul- tur dürfe gespart werden, hatte er auf den Plätzen Berlins verkündet und angesichts des Beifalls sogar noch zehn Prozent drauflegen wollen. Doch schon beim zwei- ten Blick in den Haushaltsplan gab Gysi die Forderung auf. So verblasst der Mythos Gysi zwischen unendlich vielen Akten- deckeln. „Ich dachte, ich werde Wirt- schaftssenator im Kapitalismus“, kalauert er im Senat, „doch nun habe ich nur marode volkseigene Betriebe“ – womit er die landeseigenen Firmen meint. Vor allem der Sitzungssozialismus macht den Senator Azubi kirre. Was ist ein Ge- schäftsverteilungsplan, was eine Termin- übernahme? Gönnerhaft geben ihm altge- diente Senatoren, immer noch neidisch auf Schlagfertigkeit und Charme des Popu- listen, Nachhilfe in Sachen Bürokratie. Schulsenator Klaus Böger (SPD), Nachbar auf der Regierungsbank, erklärt ihm, mit welchem Stift Gysi welche Senatsvorlage zu unterschreiben hat. Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) weist ihn unsanft ins parlamentarische Procedere ein: Er könne sich, lässt er den „Herrn Senator“ bei einer Fragestunde wissen, zwischen den Anfragen der Parlamentarier getrost wieder hinsetzen – „motiviert sind die Ab- geordneten so oder so, Fragen zu stellen“. Und genüsslich registrieren die Sozial- demokraten, wenn sich „Monsieur le Schwadroneur“ (SPD-Spott) im Senat beim Poker ums Geld mal wieder zu seinem Fraktionschef Harald Wolf umdreht und den Finanzexperten fragt: „Harald, sind die Zahlen wirklich so schlimm?“ Freunde wie Feinde haben auf solche Szenen geradezu gelauert. Er sei gespannt, wie der „Akten und Zahlen studiert“, hat- te Wowereit schon vor Gysis Amtsantritt gelästert. Jetzt sei „Kärrnerarbeit statt Jo- hannes B. Kerner“ angesagt, hatte Werner Schulz vom Bündnis 90 gegiftet. Regie- rungssprecher Michael Donnermeyer (SPD) wagt ein erstes Fazit in Sachen Gysi: „Seine populistische Karriere“, erklärt er in der Manier eines Erziehungsberechtig- ten, „wird er beenden müssen.“ Doch auch in der eigenen Partei reiben sich viele die Hände, wenn der Frontmann nun mit dem Genossen Sachzwang hadert. Zu oft hatte Gysi über die eigenen Leute die Nase gerümpft, sich selbst und nur sich der spiegel 12/2002 43 Werbeseite

Werbeseite Deutschland selbst als den „intellektuellen Schub“ für bereits frohlockt. Die wollen, so mutmaßt Berlin angepriesen, als dass er nun auf So- ein SPD-Senator, „zu Hause ihrer Frau er- lidarität hoffen könnte. Misstrauisch zählen zählen, dass sie tatsächlich dem Gysi die seine Parteigänger die Fraktionssitzungen, Hand gedrückt haben“. an denen er nicht teilnimmt. Ohne son- Für den Fall, dass einer aus den Chef- derliche Anteilnahme hören sie Gysis Kla- etagen doch noch das Gespenst des Kom- gen über seine schwindende Popularität. munismus fürchtet, schickt Gysi seinen Während seine Umfragewerte fallen, stei- Staatssekretär vorbei, einen freundlichen gen die des Finanzsenators Thilo Sarrazin Herrn mit grauem Haar und eindringli- (SPD), obwohl der ein ausgesprochener cher Stimme. Volkmar Strauch, vor seiner Kommunikationsmuffel ist. Gysi kann es Berufung in den Senatsdienst Geschäfts- nicht fassen. führer der Industrie- und Handelskam- Im Außendienst, bei den Wirtschafts- mer und seit 1971 Sozialdemokrat, weiß bossen, geht Gysi ganz auf Nummer Sicher. um die Sorgen der Unternehmer und Noch profitiert er vom Feindbild SED, das kennt sich auch mit Akten aus. Er rauscht in diesen Kreisen weiterlebt und das der für Gysi im silbernen Mercedes durch die eloquente Postkommunist so grandios Stadt, und kein schlechtes Wort über kleinreden kann. Und er nutzt die Er- seinen Chef kommt ihm über die Lippen, leichterung seiner Gegenüber, die froh allenfalls Sätze, die Spielraum für Inter- sind, endlich mal keinen sozialdemokrati- pretationen lassen: Der Senator, lobt er, „habe einen unbefangenen Zu- Arme Hauptstadt gang zum Problem“. BERLIN HAMBURG Die Nummer eins der Stadt, der Vergleich der Stadt- Regierende Bürgermeister, hält der- staaten Berlin und weil sichtbar Distanz zu seinem Hamburg 3,4 Mio. 1,7 Mio. Stellvertreter. „Sie beobachten alle Angaben in Euro umgerechnet Einwohner Einwohner sich“, glaubt Justizsenatorin Karin Schubert (SPD). In den Senatssit- Bruttoinlandsprodukt zungen wechselt Wowereit vom pro Kopf 2001 22340¤ 43327¤ vertrauten „Du“ der Partys und Empfänge zur förmlichen Anrede. Pro-Kopf-Gemeinde- 686¤ 1423¤ Dann ist kein Glucksen mehr in der steuereinnahmen 1999 Stimme, dann spricht er seinen Se- nator streng mit „Herr Kollege“ an Schuldenstand je Einwohner 2000 9888¤ 9732¤ und freut sich hinterher, wie „lammfromm“ der Gysi doch sei. Arbeitslosenquote Wowereit weiß, dass er nicht nur im Februar 2002 17,0% 9,1% auf Gysi aufpassen muss, sondern dass auch auf ihn aufgepasst wird. Kanzler Schröder möchte nicht, schen Langweiler oder christdemokrati- dass „der Gysi“ die Berliner Polit-Bühne schen Filzokraten zu treffen. als Hauptdarsteller bespielt. Artig sitzen Ende Februar rund 100 Män- Und so weist der vermeintlich weiche ner, die alle ein wenig wie Berlusconi aus- „Wowi“ dem angeblich so ausgebufften schauen, im Max-Liebermann-Haus der Gysi regelmäßig Nebenrollen zu. Gysi Bankgesellschaft am Brandenburger Tor wollte gern medienwirksame Bürger- und erwarten den Gast. ,„PDS und Wirt- sprechstunden im Roten Rathaus abhalten. schaft: Warum nicht?“ ist das Thema des Wowereit winkte ab, das sei Sache des Re- Abends. Doch Gysi schlägt gekonnt um gierenden. Auch als Gysi fragte, wer von seine Partei einen weiten rhetorischen Ha- ihnen beiden denn bei welchen Anlässen ken. Er spricht über Berlin, ein wenig über die Berliner Landesregierung repräsentie- sich, über die Wirtschaft und verbreitet ren solle, war der bekennende „Kuschel- Plattitüden, die auch von Eberhard Diep- linke“ Wowereit alles andere als schmusig. gen (CDU) hätten stammen können: „Ber- Stünden an einem Wochenende zwei Ter- lin ist die einzige Stadt, die West und Ost mine an, sei klar, wer wohin dürfe: „Ich zugleich ist.“ Oder: „Auch der Tourismus- fahre nach Paris und Sie nach Cottbus.“ faktor ist wichtig für Berlin.“ Spurlos gehen solche Demütigungen Selbst dafür gibt es höflich Beifall, und nicht an Gysi vorbei. Er ist misstrauisch die Bosse gehen heim ohne Angst vorm geworden. Er könne auch empfindsam roten Gregor. Rückzug aus Berlin? Die sein, entfuhr es ihm einmal angesichts ei- Herren winken ab. „Für uns gilt selbstre- ner dieser Sticheleien seines Chefs. dend“, erklärt Matthias Kleinert, Gene- Das Amt könnte für ihn zu einer Falle ralbevollmächtigter von DaimlerChrysler, werden. Aber Fragen, ob er selbst das auch ,,dass wir business as usual machen.“ befürchte, lässt Gysi derzeit offiziell nicht Selbst ganz große Wirtschaftskapitäne zu. Nein, wimmelt sein Pressesprecher ab, reißen sich angeblich um Termine bei Gysi. der Senator stecke in den Haushaltsbera- „Big Shots“, wie Friedrich-Leopold von tungen und gebe derzeit keine Interviews. Stechow, der neue Chef der Hauptstadt- Auch das ist neu im Leben des Gregor Marketing-Agentur „Partner für Berlin“, Gysi. Stefan Berg

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Werbeseite Ministerin Wieczorek-Zeul, Flüchtlinge in Peschawar „Unglückliche Situation“

ihres Ministeriums („Einzel- plan 23“) waren für das Jahr 2002 schon fest eingeplant. Im Parlament schäumte von rechts der CSU-Abgeordnete Christian Ruck, die rot-grü- ne Entwicklungspolitik stehe „kurz vor der Kapitulation“. Linker Hand ätzte Carsten Hübner von der PDS: „Der Einzelplan 23 schrumpft, der Gesamtetat steigt.“

ANDREAS WAGNER / PHALANX WAGNER ANDREAS Auch der Schock der Ter- roranschläge von New York und Washington änderte am latenten Des- ENTWICKLUNGSHILFE interesse der rot-grünen Regierung wenig. Wieczorek-Zeul erreichte zwar einen schmalen Zuschlag von etwa 100 Millionen Rückfall ins Unverbindliche Euro und fast noch einmal so viel aus dem 1,5-Milliarden-Euro-Paket für den Anti-Ter- Die Bundesregierung scheitert bei ihrem Versuch, ror-Kampf – doch „der Auftakt für eine dauerhafte Trendwende des Entwick- eine „neue Südpolitik“ zu betreiben. Gerhard Schröder bleibt lungshaushalts“, den die Ministerin unter dem Weltgipfel zur Armutsbekämpfung fern. dem Schock des Qaida-Terrors in den USA eindringlich fordert, wird das kaum. ine halbe Stunde lang umgarnte Kofi Bruttosozialprodukts (BSP) für die Ent- Stattdessen haben Lippenbekenntnisse Annan das voll besetzte Hohe Haus, wicklungsländer zu reservieren, fand das und Heuchelei Konjunktur. Parteitage von Eer lobte den Friedenswillen der die auf Protest gepolte Alternativszene hier SPD und Grünen forderten in der Folge Deutschen, ihre „immer herausragendere zu Lande beschämend wenig. der eingestürzten Twin Towers die schritt- Rolle“ in den Krisenzentren der Welt, ihre Und nun? Die Generation der deutschen weise Annäherung an die alte 0,7-Prozent- demokratische Reife. Internationalisten regiert seit fast vier Vorgabe. Der Bundeskanzler bekräftigte Dann, fast schon am Ende seiner An- Jahren die drittgrößte Wirtschaftsmacht das hehre Ziel. Das Parlament flankierte sprache, kam der Generalsekretär der Ver- der Erde, doch der staatliche Entwick- sogar seinen Beschluss zur Entsendung einten Nationen im Berliner Reichstag auf lungsetat dümpelt gefährlich nahe am deutscher Soldaten nach Afghanistan im den Punkt: Er hoffe sehr, mahnte Annan – historischen Tiefststand. Mit 0,27 Prozent vergangenen November mit der Uralt-For- und seine Stimme klang noch etwas sanf- des BSP liegt die Bundesrepublik auch im derung. ter als üblich –, dass die Deutschen künf- internationalen Vergleich fast am Ende Bei den beiden EU-Gipfeltreffen im tig bereit seien, von ihrem Wohlstand der Skala (siehe Grafik). schwedischen Göteborg und im belgischen „einen höheren Prozentsatz des Brutto- Hätte es den 11. September nicht ge- Laeken kündigten die Regierungschefs sozialprodukts“ an die Ärmsten der Ar- geben, wäre Entwicklungshilfeministerin ebenfalls an, den Welt-Entwicklungsetat men abzugeben. Heidemarie Wieczorek-Zeul, die einst als verbindlich und stufenweise aufzustocken. Der Kanzler applaudierte artig, die Ent- „Rote Heidi“ von sich reden machte, von Doch das hoffnungsfrohe Wort von einer wicklungshilfeministerin begeistert, nur der Sparkommissar Hans Eichel noch einmal bevorstehenden „neuen Südpolitik“ – in Finanzminister rührte keine Hand. Auch so abgewiesen worden wie in den Jah- Anlehnung an Willy Brandts Ost-Ent- im Plenum blieb die Reaktion uneinheitlich ren zuvor. Weitere Einschnitte im Budget spannungspolitik – machte nur kurz die – vor allem auf der linken Seite des Hauses, wo die Abgeordne- Almosen für die Dritte Welt Deutschlands Entwicklungs- ten der Regierungsparteien dem ANTEIL AM BRUTTOSOZIAL- hilfeausgaben in Prozent drängenden Weltdiplomaten ENTWICKLUNGSHILFE IN MIO. DOLLAR PRODUKT IN PROZENT des Bruttosozialprodukts 1664 Dänemark 1,06 andächtig gelauscht hatten. 0,48 Manche fühlten sich ertappt. 3135 Niederlande 0,84 Denn im Parlament sitzen et- 1799 Schweden 0,80 liche, die vor 20 oder 30 Jahren 1264 Norwegen 0,80 auf deutschen Straßen die „In- 127 Luxemburg 0,71 ternationale Solidarität“ hatten 0,4 hochleben lassen, in „Dritte- 820 Belgien 0,36 Welt-Gruppen“ Unterstützung 890 Schweiz 0,34 für die Not Leidenden des Sü- 4105 Frankreich 0,32 CDU/CSU/ SPD/ FDP Grüne dens organisierten oder auf Kir- 4501 Großbritannien 0,32 Uno-Ziel chentagen engagiert die „Eine 0,32 Schätzung 13508 Japan 0,28 0,7% 0,3 2001 Welt“ beschworen. 5030 Deutschland 0,27 Regierung 0,27 Damals, als sich die Industrie- Ziel EU- 1376 Italien 0,13 SPD/FDP länder erstmals offiziell und öf- Durchschnitt Quelle: BMZ 9955 USA 0,10 bis 2006 fentlich darauf verständigten, 0,39% 1970 1980 1990 2000 0,7 Prozent ihres jeweiligen Quelle: OECD, Stand 2000

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Werbeseite Dabei wäre ein Durch- bruch in der Nord-Süd-Poli- tik dringlicher denn je. Der vergangene Woche pünktlich zum Gipfel veröffentlichte Report der Weltbank zur Fi- nanzlage der Entwicklungs- länder liest sich wie eine An- klageschrift von Terre des Hommes gegen die Ignoranz der reichen Länder. Fallende Weltmarktpreise für Rohstoffe, Handelspro- tektionismus und Konjunk- turflaute in den Industrie-

PABLO MARTINEZ MONSIVAIS / AP MONSIVAIS MARTINEZ PABLO staaten, vor allem aber der Entwicklungshelfer Bush*: Mitfühlender Kriegsherr Rückgang des weltweiten Tourismus nach dem 11. Sep- Runde. Tapfer bestreitet Wieczorek-Zeul, tember haben die Not in den Armutszonen dass das Fenster schon wieder geschlossen der Welt dramatisch verschärft. sein könnte: „Die Leute spüren, dass wir Allein für den Schuldendienst fließen was tun müssen, auch in unserem eigenen jährlich 200 Milliarden Dollar aus dem Sü- Interesse.“ den in den Norden. Gleichzeitig, klagen In Wahrheit herrscht von neuem Busi- die Banker, schrumpfte der private Kapi- ness as usual und der Glaube an die talfluss Richtung Süden im letzten Jahr militärische Lösung der terroristischen zum fünften Mal in Folge und liegt nun Bedrohung. Der US-Militärhaushalt er- schon um 100 Milliarden Dollar unter dem reicht mit einem Plus von 48 Milliarden Wert von 1997. Während 1,2 Milliarden Dollar Rekordniveau. Menschen, fast ein Fünftel der Erdbevöl- Das Kontrastprogramm steigt in dieser kerung, mit weniger als einem Dollar pro Woche. Im nordmexikanischen Monterrey Tag auskommen müssen, schrumpft auch treffen sich über 50 Staats- und Regie- die staatliche Entwicklungshilfe, seit 1990 rungschefs und noch mehr Ressortminister um 20 Prozent. zur ersten Uno-Weltkonferenz über die „Zur Prävention von Terrorismus“, ver- Entwicklungsfinanzierung. Jacques Chirac kündet Wieczorek-Zeul unverdrossen, „ist wird anreisen, der amtierende EU-Rats- die weltweite Armutsbekämpfung die rich- präsident José Maria Aznar aus Spanien, tige Antwort.“ Thabo Mbeki, der Präsident Südafrikas, Doch wie weit Wollen und Tun ausein- und Husni Mubarak aus Ägypten. ander klaffen, zeigte sich erneut in der ver- Sogar George Bush schaut vorbei. Vom gangenen Woche. Mühsam schleppten sich Kriegsherrn aus Washington erwarten Di- die EU-Länder im Vorfeld des Monterrey- plomaten, dass er die Gelegenheit nutzen Gipfels zu dem Beschluss, ihren durch- wird, das verblasste Bild vom „mitfühlen- schnittlichen Obolus bis 2006 auf 0,39 Pro- den Konservativen“ aufzufrischen. Erst zent des Bruttosozialprodukts anzuheben, letzte Woche kündigte er an, arme Län- wobei Nachzügler wie Deutschland min- der, die sich zu politischen und wirtschaft- destens 0,33 Prozent beizusteuern hätten. lichen Reformen verpflichten, mit fünf Mil- Das wären immerhin 1,2 Milliarden Euro liarden Dollar beglücken zu wollen. mehr als heute. Gerhard Schröder dagegen hat keine In Berlin ging das Gezerre weiter, bis Lust auf den Gipfelzirkus: Er schickt die schließlich Kanzler und Finanzminister den zuständige Ministerin – weil er ahnt, was Vorschlag der spanischen EU-Präsident- am Ende dabei herauskommt. Gern erin- schaft passieren ließen, um eine Blamage in nert der Kanzler an die Entschuldungsini- Monterrey zu vermeiden. Wieczorek-Zeul tiative für die ärmsten Entwicklungsländer, beklagte hinterher die „unglückliche Si- die auf deutschen Anstoß 1999 beim G-8- tuation“, in der Brüssel Deutschland erst Gipfel in Köln zu Stande kam. Das, findet mit „blauen Briefen“ wegen mangelnder Schröder, reicht für diese Wahlperiode. Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung Die Schlusserklärung des Finanzierungs- behellige und dann zu neuen Ausgaben gipfels („Monterrey Consensus“) steht verpflichte. schon seit Januar fest und löste im Vorfeld Andere haben solche Sorgen nicht. Über der Konferenz ein verheerendes Echo aus. das Nachrichtenmagazin „Newsweek“ ver- Unisono beklagen entwicklungspolitische breiteten Bill Gates und seine Frau Melin- Gruppen und kirchliche Organisationen da Anfang Februar die frohe Botschaft, einen Rückfall ins Unverbindliche. Jens Not leidenden Kindern in aller Welt helfen Martens von der Entwicklungsorganisation zu wollen – mit 24 Milliarden Dollar. Weed nennt das Papier einen „Minimal- Der Microsoft-Gründer ist damit welt- konsens ohne konkrete Perspektiven“. weit der großzügigste Spender, deutlich vor Japan, den USA oder Deutschland. Gerd Rosenkranz * Mit Mexikos Präsident Vicente Fox in Washington.

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Werbeseite sind. Nur: Niemand tut es. Den Organisationen der Pro- stituierten ist bundesweit kein einziger Fall bekannt. Auch das federführen- de Bundesfamilienministerium zog eine schonungslose Bi- lanz, nachdem Pächter und Prostituierte, Politiker und Mi- nisteriale im Februar bei ei- nem Workshop in Bonn über erste Erfahrungen berichtet hatten. Der Anteil von Huren mit Arbeitsverträgen werde „zumindest in der nächsten Zeit gering“ sein, heißt es in einem internen Protokoll. Kenner der Szene sind nicht überrascht. Das gut gemeinte Paragrafenwerk gehe „an der

PETER ENDIG / DDP Wirklichkeit des Gewerbes Arbeitsplatz Bordell (in Leipzig): Quittung über 500 Euro für drei Peitschen völlig vorbei“, sagt Detlef Ub- ben, Chef der Abteilung Mi- lieukriminalität im Hamburger Landeskri- PROSTITUTION minalamt. Auch Prostituierte halten das Gesetz für praxisfern. Den Freierlohn vor Gericht ein- „Das bringt uns gar nichts“ zuklagen sei „eine völlig verrückte Idee“, meint die Hamburger Hure Helen, 27. Nach einem neuen Gesetz dürfen Huren Arbeitsverträge mit „Wer nicht mit Vorkasse arbeitet, ist ein- fach zu blöd für diesen Job.“ Urlaubsanspruch abschließen. Das Paragrafenwerk erweist sich als Mit krimineller Energie profitieren gar untauglich: Die Frauen wollen lieber Schwarzgeld verdienen. inzwischen einige Bordellbetreiber davon, dass, so die Berliner Edelprosti- eun rote Laternen und tuierte Stefanie Klee, „Huren- elf große, leuchtende organisationen und Ministerien NHerzen weisen am vergessen haben, über das Ge- Abend den Weg ins „Herz As“, setz zu informieren“. Elke Reh- ein Nobelbordell an der Trieb- pöhler, Sozialarbeiterin bei der straße im Münchner Norden. Bochumer Huren-Hilfe „Ma- „In ist, wer drin ist“, steht in donna“, kennt örtliche Milieu- großen Lettern an den Mauern größen, die Frauen am Tag 10 des Etablissements, aber an die- Euro Wäschegeld abluchsen sem Tag sind die meisten oder auch monatlich 50 Euro für draußen geblieben. Nur vier „Abgaben“ – mit Hinweis auf Frauen kuscheln sich in den „die neue Gesetzeslage“. Sitzecken an Freier und säuseln Von den neuen Möglichkei- ihnen etwas über Techniken und ten wollen die Frauen auch Preise ins Ohr. nichts wissen. Denn: In Arbeits-

Entsprechend schlecht ge- / DDP MATZERATH FABIAN verträgen müssten sie ihre Iden- launt ist der durchtrainierte Bordellchefin Weigmann (M.), Politikerinnen*: Überall ein Flop tität preisgeben, und genau das Mittvierziger mit Goldkettchen schätzen die Biggis, Trixis und um den Stiernacken, der wie eine Karika- Dienst an etwa 20000 Männern in 22 Be- Monis des Gewerbes nicht, sie wollen tur des Milieus wirkt. Er stellt sich, sehr be- rufsjahren gehört, nicht allein. Gegen die Schwarzgeld verdienen. „Ich zahle genug scheiden, als Hausmeister vor und klagt Stimmen der Union verabschiedeten die Steuern“, sagt die Studentin Petra, 25, aus über die „Arbeitsmoral der Mädchen“. Sie Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen, dem Berliner Premium-Puff „Café Pssst!“ werde „immer schlechter“, andauernd FDP und PDS Ende vergangenen Jahres – und meint damit Abgaben „für Tabak nähmen „die“ sich frei. Wenn nun noch ein schwammig formuliertes Gesetz, mit und Benzin“. „dieser Quatsch mit den Arbeitsverträgen“ dem die Prostitution als Beruf anerkannt Die hehre Absicht des Gesetzes, Prosti- komme, „dann machen die blau und ar- wurde – doch landauf, landab entpuppt tuierten den Zugang zur Kranken-, Renten- beiten in der Zeit bei der Konkurrenz“. sich das neue Recht als Flop. Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu Auch im nahen Bordell „Leierkasten“ Zwar können Huren ihren Lohn nun von eröffnen, wird von den Sex-Dienstleiste- ist niemand gut auf das im Januar in Kraft renitenten Freiern einklagen und mit ihren rinnen nicht goutiert. Soziale Sicherheit getretene „Gesetz zur Verbesserung der Chefs Arbeitsverträge schließen, in denen steht nicht hoch im Kurs auf dem Strich – rechtlichen und sozialen Situation der Urlaubs- und Rentenanspruch verbrieft schon gar nicht bei den drogenabhängigen Prostituierten“ zu sprechen. „Das bringt Dirnen und den illegal in Deutschland le- uns gar nichts“, sagt die Hure Claudi. benden ausländischen Prostituierten, die * Familienministerin Christine Bergmann (SPD) und Grü- Mit ihrer Kritik steht die stolze Münch- nen-Fraktionschefin Kerstin Müller nach der Verabschie- zusammen etwa die Hälfte der rund nerin, zu deren Erwerbsbiografie der dung des Prostitutionsgesetzes im Bundestag. 400000 Huren ausmachen. „Die Frage ist,

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Werbeseite Deutschland ob ich am frühen Morgen 200 Euro schwarz sen, um den Arbeitsvertrag zu erfüllen? trag für Mitarbeiterinnen ausfeilen lassen. oder 90 Euro versteuert haben will“, sagt Darf sie bestimmte Liebespraktiken ver- Danach können Huren bei ihr ein Grund- Caro, 25, die auf dem Berliner Straßen- weigern? Kann ein Bordellbetreiber Preise gehalt von monatlich etwa 600 Euro für strich anschaffen geht. festsetzen? „Über alle Detailfragen wer- eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stun- Zudem treibt Prostituierte wie die Ber- den wohl Gerichte entscheiden, sobald es den erhalten, außerdem als Leistungsanreiz linerin Kati, 26, die in einem Sado-Maso- zu Klagen kommt“, prophezeit Utz. eine Umsatzbeteiligung von rund 40 Euro Club arbeitet, eine „große Angst vor dem Pächter größerer Etablissements wie Jo- pro Freier und Stunde. Finanzamt“ um. Sie bewahrt zwar eine sef Bunsen, Chef des „Annabella“-Eros- Doch auch Weigmann ist skeptisch, ob Quittung über 500 Euro für drei Peitschen Centers im Bahnhofsviertel von Frankfurt sie Frauen finden wird, die sich darauf ein- und einen Beleg über 400 Euro für ihren am Main, schütteln den Kopf darüber, dass lassen werden – denn im „Café Pssst!“ wer- neuen Lederdress auf – für den Fall, dass Prostituierte laut Gesetz besondere Rech- den Huren schon jetzt recht fair behan- sie doch mal eine Steuererklärung abge- te haben. So können Huren etwa fristlos delt. Bisher knöpft Weigmann den selb- ben möchte. Aber den Schritt zur ehrbaren ständig arbeitenden Frauen nur 30 Euro Steuerzahlerin will die strenge Herrin erst Muss eine Hure drei, vier ab, wenn sie von ihren Freiern für eine wagen, wenn ihr Steuerberater mit dem oder fünf Männer pro Schicht Stunde den hier üblichen Preis von 125 Fiskus „ein Agreement“ ausgehandelt hat. Euro kassieren. „Wegen meiner Kosten und Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ir- über sich ergehen lassen? der Sozialabgaben müsste ich künftig zwei mingard Schewe-Gerigk, eine der Vor- Drittel einbehalten, wenn ich jemand an- kämpferinnen für das Gesetz, plädiert da- kündigen, wenn sie aus dem Milieu aus- stelle“, sagt die Wirtin. her für eine Art Stunde null auf dem Strich. steigen möchten, Bordellbesitzer müssen Weigmann gehört zu einem Kreis um Es müsse „ausgeschlossen werden, dass die sich dagegen an Fristen halten. die Berliner Hure Stefanie Klee, der Finanzämter Nachforderungen für die Zeit Bunsen fordert deshalb, dass auch die „noch im März“ einen Bundesverband vor dem 1. Januar stellen können“. Chefs Angestellte umgehend feuern kön- für selbständige Prostituierte und Inha- Auch der Gewerkschafter Klaus Utz ver- nen, „wenn die keine Leistung bringen ber bordellartiger Betriebe mit Sitz in Ber- zweifelt oft an den „großen Lücken“ des oder laufend Ärger machen“. So werde er lin gründen will. Die Geschäfte soll haupt- Prostitutionsgesetzes. Mit Vertretern der nicht tolerieren, wenn Huren den Kunden amtlich ein Jurist führen, der Monatsbei- Hurenverbände werkelt der Ver.di-Se- zuerst für „25 Euro Paris bei Nacht“, also trag wird, je nach Größe des jeweiligen kretär an einem Muster-Arbeitsvertrag. eine ganze Palette an Lustbarkeiten, ver- Betriebs, „von 50 Euro aufwärts“ (Klee) „Völlig unklar“ sei, welche Leistung eine sprächen, sie dann aber enttäuschten. betragen. Prostituierte im Rahmen eines solchen Ver- Die Berlinerin Felicitas Weigmann in- Dem Bundesverband steht eine Menge trages mindestens zu erbringen habe. des, Inhaberin des „Café Pssst!“ im Stadt- Ärger ins Haus. Obwohl die Sittenwidrig- Muss eine Hure drei, vier oder fünf teil , hat sich von ihrem Steu- keit der Prostitution faktisch aufgehoben Männer pro Schicht über sich ergehen las- erberater den ersten Muster-Arbeitsver- wurde, weigern sich Kommunalverwal- die Front, kaum eine Stadt traut sich noch, Denn mit dem neuen Hurengesetz be- eine Entscheidung zu fällen. „Die schieben kommt ein Urteil des Europäischen Ge- alles auf und warten, dass jemand die Rich- richtshofes erhebliche Brisanz. In der tung zeigt“, sagt der zuständige Referats- Rechtssache C-268/99 gab das Gericht im leiter im Bundeswirtschaftsministerium, Ul- November einer Klage von vier Tschechin- rich Schönleiter. nen und einer Polin statt, die in Amsterda- Das wird allmählich Zeit. So will ein mer Bordellen freiberuflich arbeiten woll- Hamburger Bordellier endlich Lug und ten, aber dafür keine Aufenthaltserlaubnis Trug beenden und, als Pionier in St. Pau- der niederländischen Behörden erhielten. li, seine „Zimmervermietung“, in der sich Wenn ein EU-Land Prostitution als Er- Huren und Freier seit ewigen Zeiten tref- werbstätigkeit zulasse, argumentierte der fen, als Bordell anmelden. Der örtlichen Gerichtshof, dürften Bürgerinnen aus Staa-

NINA RUECKER Behörde für Wirtschaft und Arbeit aber ten so genannter Beitrittskandidaten nicht Hure Petra im Berliner „Café Pssst!“ „ist noch nicht klar, ob das ein Gewerbe benachteiligt werden – genau das gilt nun „Ich zahle genug Steuern“ sein kann“. Die Berlinerin Julia, 42, möch- auch für Deutschland. te ein Gewerbe mit dem Titel „Massage Auch außerhalb der EU hat sich die neue tungen nach wie vor, etwa Huren als Ge- am gesunden Körper“ eintragen lassen und Gesetzeslage herumgesprochen. Bei der werbetreibende anzuerkennen. befürchtet, „dass die Ämter das ablehnen“. Arbeitsgemeinschaft gegen internationale Im Milieu ist dadurch eine absurde Si- Im Juni wollen sich nun Bund und Län- sexuelle und rassistische Ausbeutung in tuation entstanden. Denn noch immer kön- der in Augsburg auf eine gemeinsame Li- Frankfurt am Main haben sich jüngst zwei nen Verwaltungsbeamte Bordelle wie auch nie einigen, das Ergebnis ist, so Referats- Frauen aus Kenia gemeldet, die demnächst Gaststätten mit Milieunähe nach „pflicht- chef Schönleiter, „völlig offen“. bei der Botschaft in Nairobi einen Antrag gemäßem Ermessen“ – im Volksmund: Die neue Gesetzgebung indes könnte auf Arbeitserlaubnis als Prostituierte stellen nach Gutdünken – schließen, wenn ein Wirt dazu führen, dass sich Huren aus aller Welt – und ihr Visum womöglich vor Gericht er- der „Unsittlichkeit Vorschub leistet“. Dazu ins gelobte Land Deutschland aufmachen streiten werden. Ihre Argumentation: Es reicht schon die „Duldung des Nackttanzes und legal einreisen. Frauen aus osteu- könne in Deutschland ein Bedarf an Pro- von Gästen durch den Wirt“ aus. ropäischen Ländern wie Polen, Ungarn, stituierten aus Kenia festgestellt werden, so Die Bundesländer sind, seit das Prostitu- Tschechien oder dem Baltikum, die sich wie die Behörden alljährlich auch einen Be- tionsgesetz gilt, eher hilflos. Im November wahrscheinlich als Prostituierte in Deutsch- darf an Spezialitätenköchen akzeptieren. hatte sich der Bund-Länder-Ausschuss Ge- land niederlassen dürfen, sobald ihre Hei- Auf diese Weise ließ das Auswärtige Amt al- werberecht darauf verständigt, dem ältesten matländer der EU beigetreten sind, müssen lein im vergangenen Jahr 780 Chinesen, 151 Gewerbe die Anmeldung eines Gewerbes nun möglicherweise schon früher ins hie- Thailänder und 119 Inder ins Land. weiter generell zu verweigern. Nun bröckelt sige Rotlichtmilieu gelassen werden. Zum Kochen allerdings. Carsten Holm Werbeseite

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werde noch auf dieses Jahr vorgezogen – Frankfurt und London aufgegeben. FLUGSICHERHEIT ein zentraler Bestandteil im Anti-Terror- Während der Attentäter auf der Mittel- Paket des Ministers. meerinsel blieb, ging seine tödliche Fracht Black Box im Doch daraus wird nichts. Nicht in den auf die Reise. nächsten Monaten und nicht mal zum Ja- Seit dem 11. September ist es nun of- nuar 2003. Das sei „derzeit nicht mach- fenkundig nicht mehr damit getan, unbe- Frachtraum bar“, sagt ein mit der Sicherheitsplanung gleitetes Gepäck aus dem Rumpf zu ho- vertrauter Mitarbeiter des größten deut- len. Denn die neue Generation von At- Leichtes Spiel für Terroristen: Wäh- schen Flughafens, des Frankfurter Airports tentätern geht mit ihrer Bombe an Bord. (Fraport). „Mindestens zwei weitere Jah- Der Praktiker Fongern kennt das Risiko rend Sicherheitskräfte jede re“, meint der Kenner, werde es dauern, bis und bedauert deshalb, dass Politiker Nagelschere aus dem Handgepäck die „erheblichen Umbauten“ für die Voll- Sicherheitspakete verkünden, die „nicht zupfen, werden nur wenige kontrolle abgeschlossen seien. Ähnliches, so und vor allem nicht so schnell umzuset- Koffer auf Bomben kontrolliert. so der Insider, gelte für München und Düs- zen“ seien. Auch Experten wie der Brite seldorf. Chris Yates vom Militärfachblatt „Jane’s s gibt Tage, da ist der Airbus-Kapitän Während Passagieren an den Sicher- Defence Weekly“ nennen das Versprechen, Georg Fongern ein gutgläubiger heitsschleusen deutscher Flughäfen von jedes Stück Reisegepäck auf Explosives zu EMensch, da geht er nämlich davon der Nagelschere bis zum vergoldeten Zahn- kontrollieren, „viel Lärm um nichts“. Das aus, dass die Koffer, Trollies und Reise- stocher alles aus dem Handgepäck ge- sei, so Yates, auch in den USA bis zum Jah- taschen, die sich beim Start in Frankfurt im klaubt wird, was eine Laufmasche in die re 2003 nicht zu schaffen. Nylons von Stewardessen Dabei gibt es durchaus Geräte, die im reißen könnte, bleibt der Rei- Großgepäck selbst Plastiksprengstoff voll- sekoffer für die Sicherheits- automatisch entdecken können (siehe Gra- kräfte eine Black Box. fik). Sie arbeiten, rühmen Hersteller wie Angesichts zahlloser Selbst- die Wiesbadener Firma Heimann Systems, mordattentate im Nahen Os- mit „hoher Zuverlässigkeit“. Dass dabei ten und des Versuchs des schon mal britischer Pudding oder die Briten Richard Reid, an Bord Hongkong-Spezialität Entenei in Zucker- einer American-Airlines-Ma- teig Sprengstoffalarm auslösen, gehört zu schine Sprengstoff im Schuh den seltenen Patzern. zu zünden, sei es, so Ex- Schon eher sind die Kosten für die perten, deshalb wohl nur Schnüffeltechnik, die bei einigen hundert-

MURAT TÜREMIS / LAIF MURAT eine Frage der Zeit, bis eine tausend Euro liegen können, ein Grund für ihren zögerlichen Einsatz; Strahlen gegen Sprengstoff dass die Gepäckabfertigung länger dauern könnte, kommt Gepäcküberwachung mit Bis zu noch hinzu. Um einen Trans- 1500 Gepäck- Röntgenprüfsystemen port-Infarkt zu vermeiden, stücke pro Stunde Unverdächtige Koffer müssen die Geräte deshalb in Reisegepäck in Frankfurt durchlaufen ein Röntgen- werden direkt zum Flug- sehr großer Zahl in die gi- „Viel Lärm um nichts“ prüfsystem, das Koffer zeug weitergeleitet. gantischen Gepäckförderan- auf Bomben untersucht. lagen von Airports integriert Bauch seines Jets stapeln, vor- Gepäckstücke mit verdächtigen werden, damit eine reibungs- her sorgfältig auf Bomben Gegenständen werden zu einer lose Abfertigung gewährleis- durchleuchtet worden sind. zweiten Anlage gelenkt, deren tet bleibt. Andernfalls, so ein Dann aber gibt es Tage, da besondere Strahlenquelle Fraport-Mitarbeiter, würden schlüpft Fongern in seine Rolle es erlaubt, bestimmte „unsere Warteschlangen vom als Leiter der „Arbeitsgruppe Se- Stoffe als Explosivstoffe Schalter bis zum Frankfurter curity“ der deutschen Piloten- zu identifizieren. Kreuz“ reichen. Vereinigung Cockpit, und an sol- Doch selbst wenn in chen Tagen weiß der Lufthansa- Spricht das Gerät Deutschland jeder Koffer nicht an, werden die Pilot, dass seine Sicherheit und Koffer ins Flugzeug ver- nach dem Einchecken ge- die seiner Passagiere keineswegs frachtet. Andernfalls röntgt würde, bliebe immer gewährleistet ist. Denn ob Koffer kontrollieren Sicherheits- noch das Transfergepäck als am Schalter aufgegeben oder als beamte den Kofferinhalt. Bombenversteck. In Frank- so genanntes Transfergut aus ei- furt wird etwa jeder zweite nem Jet in einen anderen umge- Koffer lediglich von einer laden werden: Nach Sprengstoff im Reise- Explosion im Fluggepäck einen Jet zer- Maschine in die nächste umgeladen. Auf gepäck wird, sieht man von Ausnahmen reiße. dieses Gepäck wird derzeit kaum mal ein wie den Flügen nach Israel mal ab, bislang Dass so etwas passieren kann, war früher Blick geworfen. Ein Koffer, der etwa in nur sporadisch gefahndet. so undenkbar wie der 11. September. Nach Ägypten ohne Sprengstoffcheck an Bord Dabei hatte Innenminister Otto Schily dem Anschlag auf einen PanAm-Jumbo, einer Maschine nach Frankfurt geht, landet nach dem Schock des 11. Septembers der 1988 über dem schottischen Ort so ungeprüft im Rumpf einer deutschen prompt eine „vollständige Einführung der Lockerbie explodierte und 270 Menschen oder französischen Linienmaschine. Nur 100-prozentigen vollautomatischen Reise- in den Tod riss, galt es als ausreichende Si- eine akribische Kontrolle am jeweiligen gepäckkontrolle“ für deutsche Flughäfen cherheitsvorkehrung, herrenloses Gepäck Startflughafen, so Fongern, könne also vor angekündigt. Die von den europäischen von Bord zu nehmen. Den Koffer mit der einer Bombe im Frachtraum schützen. Luftfahrtnationen erst für den 1. Januar Bombe hatte damals ein libyscher Agent Irgendwann vielleicht, in zwei, drei Jah- 2003 beschlossene Gepäck-Vollkontrolle auf Malta für einen New-York-Flug via ren. Ulrich Jaeger

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Werbeseite Deutschland SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG SCHERL / SÜDDEUTSCHER BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE Hitler mit HJ-Kämpfern in Berlin*, Neue Reichskanzlei (1939): Widerstand bis zur Selbstvernichtung

ZUM STURM AUF BERLIN überquerten Mitte April 1945 mehr als zweieinhalb Millionen sowjetischer Soldaten Oder und Neiße. Damit ging die schrecklichste Epoche der deutschen Geschichte zu Ende. Hitlers düstere Vision – „Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen“ – war zur grausigen Realität geworden: Millionen Menschenleben waren ausgelöscht, ganze Städte vernichtet, halb Europa lag in Trüm- mern. Der Publizist und Hitler-Biograf Joachim Fest, 75, beschreibt in seinem neuen Buch „Der Untergang“ die Agonie einer zerstörerischen Diktatur, die weder Zukunftsversprechen noch zivilisatorische Idee ent- hielt, nur auf Rassenkrieg und Landnahme hingearbeitet hatte. Bevor die Rote Armee am Nachmittag des 2. Mai 1945 die Ruine der Reichskanzlei erreichte, hatte sich dort, zehn Meter tief im Führerbunker, das personifizierte Ende des Dritten Reichs vollzogen. Endzeitstimmung grassierte neben aberwitzigen Über- lebenshoffnungen, grausame Kampfbefehle ergingen bis zuletzt. Mit dem Selbstmord Hitlers am 30. April und dem Exodus seiner letzten Handlanger schließt das blutige Kapitel – eine Geschichte „voll von Wider- spruch, Verblendung und Drama“, wie Fest bilanziert. Der SPIEGEL veröffentlicht Auszüge seines Buchs. Das Ende Die letzten Tage in Hitlers Reichskanzlei / Von Joachim Fest

m Abend des 30. April, nachdem die Leichen verbrannt Gegen zwei Uhr nachts brach Krebs auf und war rund an- und die Aschenreste verscharrt waren, kam die Runde derthalb Stunden später am Schulenburgring, wo Tschuikow in Ader führerlos Verbliebenen zu einer ausgedehnten Bera- einer Privatwohnung Quartier genommen hatte. Überrascht, wie tung zusammen. Nach einigem Hin und Her schlug Parteikanz- der sowjetische Kommandeur von dem unvermittelten Ge- leichef Bormann einen kriegsmäßigen Massenausbruch mit Hilfe sprächsangebot war, hatte er keine Zeit gefunden, seinen Stab der einigen hundert Angehörigen der „Leibstandarte“ vor, die zusammenzurufen und deshalb beschlossen, die zwei Schrift- zum Schutz der Reichskanzlei kommandiert waren. Doch Waffen- steller, mit denen er sich gerade zu Tisch setzen wollte, sowie SS-General Mohnke wies die Versammelten darauf hin, dass ein seinen Adjutanten und einige untere Chargen als seinen engsten solches Vorhaben aussichtslos und geradezu absurd sei. Schließ- „Kriegsrat“ auszugeben. lich einigte man sich, zunächst Verhandlungen mit dem sowjeti- Unter den Gästen befand sich auch der Komponist Matwej I. schen Oberkommando aufzunehmen und General Krebs zu Blanter, der von Stalin beaufragt worden war, eine Sinfonie über Befehlshaber Tschuikow nach Tempelhof zu entsenden. die Eroberung Berlins zu verfassen. Als sich aber herausstellte, dass Blanter keine Uniform besaß und daher nicht als Offizier der * Auszeichnung von Hitlerjungen am 20. März 1945; links: Reichsjugendführer Artur Roten Armee vorgestellt werden konnte, hatte der rabiate Gene- Axmann. © Alexander Fest Verlag, Berlin. Joachim Fest: „Der Untergang. Hitler und das Ende des ral ihn kurzerhand in den Schrank des Sitzungszimmers gesperrt Dritten Reiches“. 208 Seiten; 17,90 Euro. Erscheint am 22. März. und ihm befohlen, nicht den geringsten Laut von sich zu geben.

68 der spiegel 12/2002 IVAN SHAGIN / AGENTUR FOCUS Rotarmisten beim Kampf um Berlin: Blitze und Feuerstöße über der zerschlagenen Stadt

Krebs kam nach einigen Vorreden zur Sache. Als erstem Aus- man könne, meinte Tschuikow, nur die bedingungslose Kapitula- länder, begann er die Unterredung, teile er dem General ver- tion, sei es Berlins, sei es des Reiches insgesamt erörtern. traulich mit, dass Hitler am Vortag, zusammen mit der ihm kurz Wie in jeder Tragödie, fehlte auch in dieser der komödienhafte zuvor angetrauten Frau, im Bunker unter der Reichskanzlei Selbst- Einschuss nicht. Denn nach einigen Stunden fiel zu aller Überra- mord begangen habe. Doch Tschuikow, der bis dahin weder von schung der vergessene Blanter, der starr und wie angenagelt in sei- der Existenz eines Bunkers auf dem Reichskanzleigelände noch nem Versteck ausgeharrt hatte, polternd aus dem Schrank und der von die geringste Kenntnis gehabt hatte und schon gar Länge nach in den Sitzungsraum. Nachdem man den Ohnmächti- nicht über Hitlers Selbstmord unterrichtet war, gab sich unbe- gen versorgt und in einen der Nebenräume geschafft hatte, ging eindruckt und behauptete, das sei ihm bereits bekannt. Dann las die Verhandlung ohne jede Erklärung zu dem Zwischenfall weiter. ihm Krebs ein von Goebbels aufgesetztes Schreiben vor. Es mel- Ein längerer Streit erhob sich, als Krebs darauf verwies, dass dete die von Hitler getroffene Nachfolgeregelung und regte an- er ohne Rücksprache mit Goebbels oder Dönitz der Kapitula- schließend „Friedensverhandlungen zwischen den zwei Staaten“ tionsforderung nicht nachkommen könne. Am Ende erhielt er ein an, „die die größten Kriegsverluste zu verzeichnen“ hätten. aus fünf Sätzen bestehendes Papier mit den sowjetischen Bedin- Tschuikow zögerte keinen Augenblick. Ohne viele Worte ver- gungen: „1. Berlin kapituliert. 2. Alle Kapitulierenden haben die warf er den allzu durchsichtigen und allzu verspäteten Versuch, die Waffen niederzulegen. 3. Allen Soldaten und Offizieren wird das Alliierten durch eine Sonderabmachung doch noch auseinander zu Leben garantiert. 4. Den Verwundeten wird Hilfe geleistet. bringen. Dann gab es Hinhaltungen. Denn zunächst musste Mar- 5. Es wird die Möglichkeit für Verhandlungen mit den Alliierten schall Schukow in Strausberg benachrichtigt werden, der wieder- über Funk geschaffen.“ um Stalin aus dem Schlaf holen ließ, und der eine wie der ande- Würden diese Forderungen nicht erfüllt, erklärte Tschuikow re lehnten ebenfalls alle zweiseitigen Verhandlungen ab. Auch der dazu, werde die Kampftätigkeit augenblicklich und mit allen Kräf- Vorschlag einer einstweiligen Waffenruhe wurde zurückgewiesen, ten wieder aufgenommen. Nach nahezu zwölf Stunden machte Krebs sich auf den Rückweg in die Reichskanzlei. „Hier LVI. deutsches Panzerkorps! Wir bitten, Goebbels war empört. Er habe, sagte er, Berlin vor Jahren gegen die Roten erobert und werde die Stadt „bis zum letzten das Feuer einzustellen. Um 2.50 Uhr Atemzug gegen die Roten verteidigen. Die wenigen Stunden“, füg- Berliner Zeit entsenden wir Parlamentäre.“ te er hinzu, „die ich noch als deutscher Reichskanzler zu leben

der spiegel 12/2002 69 Deutschland AKG (2) AKG Kapitulierende Wehrmachtsgeneräle Hans Krebs, in Berlin*: „Es gibt nur verzweifelte Männer, keine verzweifelten Lagen“ habe, werde ich nicht dazu benutzen, meine Unterschrift unter Abschied mit der Bemerkung zu ihm hingetreten: „Es gibt nur ver- eine Kapitulationsurkunde zu setzen“. zweifelte Männer, keine verzweifelten Lagen.“ Angesichts der verstörten, aufgeregt durcheinander redenden Am Abend des 1. Mai forderte Weidling seine Truppen auf, die Runde, die sich nur darüber einig war, alle Verhandlungen abzu- Kampfhandlungen zu beenden. Einige Minuten nach Mitternacht brechen und keine weiteren Schritte zu unternehmen, entschloss ließ er fünfmal hintereinander einen offenen Funkspruch über die sich , einer der höheren Beamten des Goebbels- gegnerischen Linien senden: „Hier LVI. deutsches Panzerkorps! Ministeriums und ein bekannter Rundfunkkommentator, zu einem Hier LVI. deutsches Panzerkorps! Wir bitten, das Feuer einzu- Kapitulationsangebot auf eigene Faust. stellen! Um 2.50 Uhr Berliner Zeit entsenden wir Parlamentäre Er ging in sein Büro am Wilhelmplatz hinüber und formulier- auf die Potsdamer Brücke. Erkennungszeichen weiße Flagge vor te ein Schreiben an Marschall Schukow. Noch ehe es fertig gestellt rotem Licht. Wir bitten um Antwort! Wir warten!“ war, stürmte plötzlich der betrunkene General Wilhelm Burg- dorf, Hitlers Chefadjutant, in den Raum und fragte zornbebend, urz darauf meldete sich die andere Seite: „Verstanden! ob Fritzsche tatsächlich die Absicht habe, den Russen die Stadt Verstanden! Übermitteln Ihre Bitte an Chef des Stabes!“ zu übergeben. Als Fritzsche bejahte, schrie Burgdorf, dann müs- KWiederum wenig später ließ Tschuikow sein Einverständ- se er ihn erschießen, da der Führerbefehl, der jede Kapitulation nis funken, und zur angegebenen Zeit traf Weidling in Begleitung verbiete, noch immer gültig und Fritzsche überdies als Zivilist dreier Stabsoffiziere am Schulenburgring ein. Tschuikow bat ihn, ohne jede Verhandlungsbefugnis sei. einen Kapitulationsbefehl zu verfassen, doch Weidling lehnte ab. Mit unsicherer Hand hob er seine Pistole, doch der Rund- Aus der Gefangenschaft, erklärte er, könne er keine Befehle er- funktechniker, der ihn zu Fritzsche geführt und in der Tür gewartet teilen. Als der Streit sich hinzog, erlitt er einen Nervenzusam- hatte, schlug dem General im letzten Augenblick die Waffe aus der menbruch. Schließlich einigte man sich auf einen Aufruf, der mit Hand, so dass der Schuss in die Zimmerdecke ging. Lautsprechern an sämtlichen noch umkämpften Plätzen verkün- Unmittelbar darauf schickte Fritzsche zwei seiner Beamten det werden sollte. Weidling schrieb: über die Linien auf die sowjetische Seite hinüber und folgte kurz „Berlin, den 2. Mai 1945. Am 30. April 1945 hat der Führer danach selbst. Weniges macht die verworrene Lage in der Stadt, Selbstmord begangen und damit alle, die ihm die Treue in der die Kämpfe zumindest stellenweise mit unverminderter geschworen hatten, im Stich gelassen. Getreu dem Befehl des Heftigkeit weitergingen, deutlicher als die Vereinbarung, die er Führers wart ihr, deutsche Soldaten, bereit, den Kampf um binnen kurzer Zeit mit dem sowjetischen Oberkommando traf. Berlin fortzusetzen, obwohl eure Munition zur Neige ging und die Danach sollte er im Namen, wenn auch ohne jede Ermächtigung Gesamtlage den weiteren Widerstand sinnlos machte. Ich ordne der deutschen Regierung, über den Rundfunk bekannt geben, dass die sofortige Einstellung jeglichen Widerstandes an. Jede Stunde, die sowjetische Seite die Kapitulation angenommen habe. Darüber die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Im Einver- „Am 30. April 1945 hat der Führer Selbstmord nehmen mit dem Oberkommando der sowjetischen Truppen for- dere ich euch auf, sofort den Kampf einzustellen. Weidling, ehe- begangen und damit alle, die ihm die maliger Befehlshaber des Verteidigungsbereiches von Berlin.“ Treue geschworen hatten, im Stich gelassen.“ Erst damit bekam der konfuse, gleichsam nach Freikorpsart fortgesetzte Widerstand das Zeichen zur Aufgabe. Am Vortag hat- hinaus werde er den „Befehl“ erteilen, die Kämpfe einzustellen ten Goebbels und Bormann endlich auch den Marinebefehlshaber und die Truppen samt Waffen und Ausrüstung in Gefangenschaft Karl Dönitz vom Tod Hitlers unterrichtet. Fälschlicherweise war zu übergeben. ihm am Abend des 30. April einzig mitgeteilt worden, dass er an Inzwischen hatte sich jedoch auch der Stadtkommandant von Stelle des abgesetzten Reichsmarschalls zum Führernachfolger er- Berlin, General Weidling, entschlossen, das längst sinnlos gewor- nannt sei. In Wahrheit hatte Hitler dem Großadmiral lediglich das dene Blutvergießen zu beenden. Um keinen Widerspruch her- Amt des Reichspräsidenten sowie das des Obersten Befehlsha- auszufordern, hatte er im Bunker nur wenige Personen seines Ver- bers der Wehrmacht übertragen, nicht hingegen das des Kanzlers. trauens von seiner Absicht unterrichtet. Die Auffassung von Die Absicht, die Goebbels und Bormann leitete, war nicht nur, Goebbels war ihm ohnehin bekannt, und General Krebs war beim Hitlers Tod so lange wie möglich geheim zu halten. Vielmehr setz- ten sie mit ihrer Irreführung auch die gewohnten Machtraufereien * Links: vor Verhandlungen im sowjetischen Hauptgefechtsstand; rechts: bei Verlassen fort. Denn beide befürchteten, der nach Schleswig-Holstein aus- seines Kommandobunkers. gewichene Himmler könnte sich die Tatsache, dass Goebbels in Ber-

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Festung vor dem Fall Schultheiß- Frontverlauf in Berlin am 1. Mai 1945 Brauerei U-Bahn STETTINER

Schönhauser BAHNHOF Allee Fluchtweg aus NATIONAL ARCHIVES NATIONAL BERLIN Invalidenstraße der Reichskanzlei AKG Sowjetbefehlshaber Schukow, Tschuikow Stalin aus dem Schlaf geholt Spree Reichstag Wilhelmstr. FRIEDRICHSTRASSE Unter Brandenburger Tor den Linden Tiergarten Reichskanzlei Landwehr- KAISERHOF Kanal Leipziger Straße Reichsluftfahrtministerium

Die Reichskanzlei unterirdische Anlagen Gewächshaus „Führerbunker“ Werkstatt Garten Garagen Alte 2 Kilometer Reichskanzlei Wilhelmstraße Hitlers Luftschutz- Arbeitszimmer keller Hermann-Göring-Straße AKG Neue Reichskanzlei 04080 Voßstraße Hitler in der Reichskanzlei-Ruine* Meter Verblendung im Bunker lin so gut wie handlungsunfähig war, zunutze machen und darauf Später fanden sich auch Bormann und ein, und dringen, von Dönitz zum Kanzler ernannt zu werden. Der Groß- forderte sie zum Bleiben auf: „Wir wollen noch admiral würde aber, so rechneten sie, das Amt nicht hergeben, so- einmal so zusammensitzen“, sagte sie, „wie es in der Kampfzeit lange er sich selbst für den von Hitler eingesetzten Kanzler hielt. üblich war.“ Eine Zeit lang saßen sie um den Tisch und tausch- Am Abend ging Magda Goebbels zu ihrer Wohnung im Vor- ten Erinnerungen an die Jahre aus, als sie es noch mit schwachen bunker hinüber. Mehrfach bereits war sie mit Hitlers Begleitarzt Gegnern und großen Hoffnungen zu tun gehabt hatten. Gegen Dr. Stumpfegger und dem Adjutanten der SS-Sanitätsverwaltung halb neun Uhr erhob Goebbels sich unvermittelt und ging zur Gar- Dr. Kunz zusammengetroffen, um in Erfahrung zu bringen, wie derobe hinüber. Er setzte seine Mütze auf, zog die Handschuhe ihre Kinder rasch und schmerzlos getötet werden könnten. Auch an und begab sich schweigend, zusammen mit seiner Frau, vor- hatte sie der prominenten Pilotin ein Schreiben an bei an ein paar Herumstehenden, zum Bunkeraufgang. Magda ihren Sohn aus erster Ehe, Harald Quandt, mitgegeben, das ihre Goebbels hatte Hitlers Goldenes Parteiabzeichen angelegt, das ihr Entscheidung zu begründen versuchte. Sie habe sich entschlossen, drei Tage zuvor von diesem überreicht worden war. Halb schon schrieb sie, ihrem nationalsozialistischen Leben „den einzig mög- im Abgehen fügte er hinzu: „Les jeux sont faits.“ Oben am Aus- lichen, ehrenvollen Abschluss“ zu geben. „Die Welt, die nach dem gang angekommen, verhielt das Paar einen unmerklichen Augen- Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht wert, dar- blick und trat dann im Feuerschein der ringsum lodernden Brän- de ins Freie. Als Goebbels’ Adjutant, der SS-Hauptsturmführer „Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, Schwägermann, vom Treppenhaus her einen Schuss zu hören glaubte, gab er den bereitstehenden SS-Männern ein Zeichen, und verlängert die entsetzlichen gemeinsam trugen sie mehrere Benzinkanister die Stufen hinauf. Leiden der Zivilbevölkerung Berlins.“ Da Goebbels verlangt hatte, vor der Verbrennung sicherzustellen, dass er und seine Frau tatsächlich tot seien, ließ Schwägermann in zu leben, und deshalb habe ich die Kinder hierher mitgenom- einen Wachposten kommen, der ein oder zwei Schüsse gegen die men. Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben, und dicht am Ausgang liegenden Leichen richtete. Dann kamen eini- ein gnädiger Gott wird mich verstehen, wenn ich selbst ihnen die ge Ordonnanzen hinzu, übergossen die Toten mit Benzin und Erlösung geben werde.“ Am Abend des 1. Mai brachte Magda steckten sie in Brand. Goebbels ihre Kinder mit einem Schlaftrunk zu Bett, ließ ihnen womöglich noch eine Morphiumspritze geben und träufelte ihnen m die Räume, die während der vergangenen Monate nicht anschließend, im Beisein von Dr. Stumpfegger, Blausäure in die nur die Befehlszentrale des Reiches, sondern auch Hit- aufgehaltenen Münder. Nur die älteste Tochter Helga, die schon Ulers private Behausung gewesen waren, dem Feind nicht in den zurückliegenden Tagen unruhig gefragt hatte, was mit unversehrt in die Hände fallen zu lassen, gab Mohnke den Befehl, ihnen allen geschehen werde, scheint sich gewehrt zu haben, den Führerbunker in Brand zu setzen. Schwägermann und jedenfalls deuten die Prellungen, die der Körper des zwölf Jahre einige SS-Dienstgrade schafften daraufhin noch einmal Benzin alten Mädchens aufwies, darauf hin, dass ihm das Gift nicht ohne herbei, gossen es im Arbeitsraum Hitlers aus und zündeten es Anwendung von Gewalt eingeflößt worden war. Grau im Gesicht an. Da sie aber beim Verlassen des Bunkers die abgedichtete und mit den Worten „Es ist vollbracht!“ kam Magda Goebbels in Stahltür verschlossen hatten und die Ventilation abgeschaltet war, den Tiefbunker, wo ihr Mann sie erwartete, ging mit ihm in seinen Wohnraum und legte weinend eine Patience. * Mit Adjutant Ende April 1945.

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Werbeseite Deutschland STRENGHOLT TELEV. INT. / SPIEGEL TV INT. TELEV. STRENGHOLT SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Goebbels-Familie*, tote Goebbels-Kinder, Goebbels-Leiche: Patience nach dem Mord konnte sich das Feuer nicht ausbreiten und hinterließ nur einige die überwiegend aus Mannschaftsgraden und dem Personal der geschwärzte Möbel sowie zahlreiche Brandflecken. Reichskanzlei bestand und an die hundert Personen umfasste. Unterdessen teilte Mohnke den zusammengerufenen Kom- Schon unmittelbar nach dem Einstieg in den U-Bahn-Schacht mandeuren der im Regierungsviertel stationierten Einheiten die riss der Zusammenhalt ab, und wenig später fielen in der licht- wichtigsten Ereignisse der vergangenen Stunden mit. An- losen Tunnelwelt auch die einzelnen Gruppen auseinander. Ei- schließend schickte er die bestürzte Offiziersrunde, die von die- nige der Ausgebrochenen lösten sich aus ihrem Verband und sen Vorkommnissen allenfalls gerüchteweise gehört hatte, mit versuchten an einem der Stationsaufgänge ins Freie zu kommen, dem Bemerken zu ihren Einheiten zurück, dass der Stadtkom- wurden aber vom fortdauernden Beschuss und den Steinschau- mandant General Weidling verfügt habe, die Kämpfe eine Stun- ern überall in die Schächte zurückgetrieben. Der Plan, durch de vor Mitternacht einzustellen. Jeder Verband, setzte er hinzu, die russischen Linien hindurchzusickern und sich im Norden solle versuchen, sich nach Norden durchzuschlagen, um, wenn der Stadt einer vermeintlich weiterkämpfenden Einheit anzu- möglich, den Befehlsraum der Regierung Dönitz zu erreichen. schließen, erwies sich angesichts der Umstände als vollkommen widersinnig. urz vor elf Uhr begann der Auszug der Bunkerbewohner. Im Herumirren stießen einige der am Ausbruch Beteiligten ir- Krebs und Burgdorf blieben zurück. Mohnke hatte zehn gendwo wieder aufeinander. Andere schlugen sich auf Trampel- KGruppen zu jeweils 20 oder mehr Personen gebildet. Im pfaden, durch Kellerfluchten und über Hinterhöfe zu der Schult- Abstand von wenigen Minuten kamen sie aus dem Kellerfenster heißbrauerei an der Schönhauser Allee durch, die als einer der unterhalb des Führerbalkons an der Reichskanzlei hervorge- vorläufigen Sammelpunkte bezeichnet worden war. Viele kamen krochen, überquerten den verwüsteten, von Bränden taghell in den noch immer anhaltenden, oftmals Panzer gegen Panzer erleuchteten Wilhelmplatz und verschwanden dann, rutschend geführten Straßenschlachten oder Häuserkämpfen um. Walter und stolpernd, im schuttüberhäuften Eingang zum U-Bahnhof Hewel, Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes in der Reichs- „Kaiserhof“. An den Gleisen entlang machten sie sich gleichsam kanzlei, verübte – womöglich auf Grund eines ihm von Hitler unter den russischen Linien auf den Weg zur Station „Friedrich- abverlangten Versprechens – in der Weddinger Brauerei Selbst- straße“ und von dort, so war es geplant, im U-Bahn-Tunnel unter mord. Eine größere Gruppe, zu der Mohnke mitsamt seinem Stab der Spree zum Stettiner Bahnhof. Der blasse Schein der sowie der SS-Adjutant Günsche, Baur, Hitlers Kammerdiener Taschenlampen fiel auf Tote, Verwundete oder Schutzsuchende, Linge, Rattenhuber und andere gehörten, geriet im Lauf des fol- genden Tages in sowjetische Gefangenschaft, wieder anderen wie „Die Welt, die nach dem Führer Reichsjugendführer Axmann oder den Sekretärinnen des Bunkers gelang es, sich nach Westen durchzuschlagen. und dem Nationalsozialismus kommt, Als die Russen die Reichskanzlei besetzten, stießen sie im Tief- ist nicht wert, darin zu leben.“ bunker auf die Generale Burgdorf und Krebs, die, eine Vielzahl halbgeleerter Flaschen vor sich, tot am Kartentisch saßen. die dicht zusammengedrängt an den Schachtwänden oder auf galt lange als verschollen. Doch schon bald den Schwellen kauerten, überall lagen Uniformteile, Gasmasken, nach dem Krieg gingen Hinweise um, dass er zusammen mit dem Munitionskästen und Unrathaufen herum. SS-Arzt Dr. Stumpfegger in der Nähe des Lehrter Bahnhofs Selbst- Die erste Gruppe führte Mohnke selbst, die zweite Hitlers obers- mord begangen habe. Zu Beginn der siebziger Jahre bestätigte ein ter Leibwächter Rattenhuber, und der dritten Gruppe, die Goeb- Skelettfund die Aussage. Später wurden die inzwischen einge- bels’ Staatssekretär Naumann übernommen hatte, gehörten Hitlers äscherten Überreste über der Ostsee verstreut. Pilot Baur und der in der Uniform eines SS-Generals erschienene Trotz der „Aufforderung“ Weidlings, den Widerstand einzu- Martin Bormann an, der noch am Morgen Dönitz in einem Funk- stellen, gingen an einigen Punkten der Stadt die Kämpfe während telegramm mitgeteilt hatte, dass er „so schnell wie möglich“ zu ihm des ganzen 2. Mai weiter und endeten auch am darauf folgenden kommen werde. Hitlers Fahrer führte eine Gruppe, Tag noch nicht. Einige verlorene, im Ganzen immerhin nach ein paar Tausen- * Josef Goebbels (l.), Magda Goebbels (M.), Stiefsohn Harald Quandt (r.). den zählende Haufen betrachteten alle Verhandlungen als „Ver-

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Werbeseite Deutschland AKG Bormann (1942), mutmaß- licher Bormann-Schädel* Tod am Lehrter Bahnhof SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER Alliierte Militärs bei Inspektion der Reichskanzlei (Juli 1945): „Historische Eroberung“ rat“ und waren zum Weiterkämpfen entschlossen. Noch am 2. Mai die nun irgendwo herumstanden, bis die Tiere eins ums andere sprengte eine dieser Einheiten den Tunnel unter dem Landwehr- geschlachtet und von tanzenden oder singenden Mannschaften kanal, in den sich ungezählte Verwundete und Schutz suchende über offenen Feuern gebraten wurden. Und überall, gezogen Zivilisten geflüchtet hatten. Doch die große Katastrophe blieb von zottigen Steppenpferden, die kleinen Panjewagen, behängt aus, weil die Wassermassen sich rasch verliefen: Selbst die Natur mit billigem Beutegut: mit Töpfen und Kleidungsstücken, Gieß- sei des ewigen Mordens müde, sagten die Leute. kannen, Akkordeons, Puppen oder was sonst alles mitgegan- Gespenstischerweise waren eines Morgens, kurz vor der gen war. Manchmal auch Hundegespanne. An jeder grö- Einnahme des Regierungsviertels durch die Sowjettruppen, alle ßeren Straßenkreuzung waren Schilder in kyrillischer Schrift auf- Gebäude und Mauerreste im Umkreis der Reichskanzlei mit gestellt. Hakenkreuzfahnen behängt. Der zuständige Abschnittskom- Gleichzeitig strömten an ausgewiesenen Sammelplätzen Tag mandant, der 27 Jahre alte, hochdekorierte Oberst Erich Bären- und Nacht die Gefangenen zusammen. Heruntergekommen und fänger, hatte ein Lager mit Fahnen entdeckt und beschlossen, sie übermüdet, oftmals mit weißen Armbinden, kamen sie aus dem Gegner als eine Geste der Todesbereitschaft entgegen- Kellern, Erdlöchern oder Kanalisationsschächten hervor, viele zuhalten. „Wir haben in guten Zeiten unter dieser Flagge alte Volkssturmmänner darunter, 15-jährige Flakhelfer sowie gekämpft“, erklärte der junge Offizier, und er wisse nicht, Verwundete auf Krücken oder mit Blut durchtränkten Verbän- warum er sich „schämen sollte, sie jetzt, wo es uns dreckig geht, den. Stumm reihten sie sich irgendwo ein und zogen dann, ge- zu zeigen“. trieben und eskortiert von siegesstolzen, vielfach bereits or- Zu den verbissensten Verteidigern der Stadt zählten die Reste densgeschmückten Sowjetsoldaten, in riesigen, grauen Heer- der französischen SS-Division „Charlemagne“, die vor allem im haufen ab. Bereich des Luftfahrtministeriums erbarmungslosen Widerstand Allein die Schlacht um Berlin hatte die Rote Armee 300000 Tote leisteten. Aber auch niederländische und skandinavische SS-Ver- gekostet. Auf deutscher Seite waren an die 40000 Soldaten ge- bände sowie ein inzwischen kaum hundert Mann starkes lettisches Korps setzten sich schon deshalb bis nahe an die Selbstvernich- „1. Berlin kapituliert. 2. Alle Kapitulierenden tung zur Wehr, weil sie nie Gefangene gemacht hatten und jetzt nichts anderes als ihr eigenes Schicksal erwarteten. haben die Waffen niederzulegen. 3. Allen Soldaten Die Nächte der zerschlagenen Stadt waren erfüllt von beängs- und Offizieren wird das Leben garantiert.“ tigenden Geräuschen: dem fernen, von gewitterähnlichen Blitzen begleiteten Grollen der Geschütze, unvermittelt hochjagendem fallen. Keine verlässliche Zahl nennt die zivilen Opfer. Fast eine Motorenlärm, vereinzelten Feuerstößen und, nahebei, den Schrei- halbe Million zog in die Gefangenschaft. en der Frauen. Gefallene Soldaten und Zivilisten lagen zu Hun- Kurz vor Mitternacht donnerten in Moskau 24 Artilleriesalven derten in den Trümmern, doch kümmerte sich niemand darum. aus über 300 Geschützen in den Nachthimmel, gefolgt von einem Patrouillierende Rotarmisten in erdbraunen Kitteln zogen durch pompösen Feuerwerk. Die Stadt feierte die „historische Eroberung die Straßen, vorbei an ausgeglühten oder im Schwelbrand rau- Berlins“. Der Lärm hielt tagelang an. Er war bis in die Zellen chenden Trümmern, dessen Schwaden noch tagelang ganze Stadt- des Butyrka-Gefängnisses zu hören, in das Weidling, zwei seiner teile verdunkelten. Auf vielen Plätzen lagerten biwakierende Stabsoffiziere und einige ehemalige Bunkerinsassen eines ersten Truppen, häufig auch weibliche Soldaten darunter, die sich zwi- Gefangenentransports eingeliefert worden waren. Auch ein Ge- schen verbranntem oder umgestürztem Kriegsgerät zum Erinne- freiter des Volkssturms war unter den Häftlingen. Zu seinem Un- rungsfoto aufstellten und ihre Lederpeitschen über das Pflaster glück hatte er den Verdacht der Sowjets erregt, weil er, ähnlich dem knallen ließen. neuen amerikanischen Präsidenten, Trumann hieß. Er war aber ein Zigarrenhändler aus Potsdam. ndernorts warteten Gefangene in langen Reihen auf ihr Am frühen Nachmittag des 2. Mai, kurz nach drei Uhr, hatte die Verhör, während aus einiger Entfernung noch das Auf- Rote Armee, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, die Ablitzen der Mündungsfeuer kam. Auf ihrem Vormarsch Reichskanzlei besetzt. Anders als die zahlreichen, bis in die hatten die sowjetischen Einheiten ganze Kuhherden requiriert, Memoirenliteratur reichenden Darstellungen angeben, ist sie nicht im Sturm genommen worden. * Kriminaltechnisch identifizierte Knochenteile aus einem Skelettfund in West-Berlin Morgens gegen neun Uhr hatte der zurückgebliebene Chef- (1972). techniker des Tiefbunkers, , vom Verbin-

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Werbeseite Deutschland NOVOSTI STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE Hitler-Geliebte Eva Braun, verwüstetes Braun-Zimmer Kriegsbeute aus der Kommode

Falsche Hitler-Leiche auf Propagandafoto* Trophäe für die Weltöffentlichkeit dungstunnel her weibliche Stimmen vernommen. Beim Heraus- treten aus dem Schalterraum sah er sich zu seiner Überraschung etwa zwölf uniformierten Russinnen gegenüber, die, wie sich alsbald herausstellte, einem Sanitätskorps der Roten Armee angehörten. Ihr aufgeregt übermütiges Durcheinanderreden machte Hent- schel klar, dass er nichts von ihnen zu befürchten hatte. Bei sei- nem Erscheinen wandte sich eine der Frauen, die offenbar die An- führerin der Gruppe war und fließend Deutsch sprach, an ihn und liche Überreste gefunden. Eine vergleichsweise wohl erhaltene wollte wissen, wo Hitler sei. Doch schon die folgende Frage nach Leiche präparierten sie, womöglich mit Hilfe eines Maskenbild- „Hitlers Frau“ deutete an, was sie hergeführt hatte. Denn kaum ners, zum toten Hitler. Sie legten den Körper dekorativ zwischen hatte Hentschel ihr die erbetene Auskunft gegeben und sie, wie die Trümmerbrocken und boten ihn am 4. Mai der Weltöffent- verlangt, in den Ankleideraum Eva Brauns geführt, rissen sie den lichkeit als spektakuläre Trophäe dar. Schrank sowie die große Kommode auf und stopften, was immer Bald darauf widerriefen sie die selbst verfertigte Sensation, ihnen brauchbar schien, in mitgeführte Taschen und Beutel. „Mit sprachen zunächst von einem „Double“ des Führers und schließ- einem Freudengeheul“, so hat der Ingenieur berichtet, kamen die lich von einer „Fälschung“. Eine Zeit lang wurde offenbar erwo- Frauen wenig später zurück, schwenkten „mindestens ein Dut- gen, einen weiteren Toten als Körper des deutschen Diktators zu zend Büstenhalter“ sowie andere spitzenbesetzte Wäschestücke präsentieren, doch fiel einem der hinzugezogenen Experten recht- durch die Luft und zogen schließlich ausgelassen von dannen. zeitig auf, dass der Mann gestopfte Socken trug, was denn doch Auf ihrem Weg aus dem Bunker begegneten sie zwei inzwischen Zweifel an der Identität der Leiche hätte wecken müssen. Ende eingetroffenen sowjetischen Offizieren, die aber keine Notiz von April 1946 erschien am Gartenausgang des Führerbunkers eine ihnen nahmen. Auch sie fragten Hentschel nach dem Verbleib Hit- Kommission der Roten Armee, um nach den durchsichtigen, all- lers und hörten seinem Bericht von der Hochzeit des Führers, dem mählich auch die eigene Seite verwirrenden Farcen die unzwei- Selbstmord und der Verbrennung der Leichen ebenso gespannt deutigen Tatbestände festzustellen. In ihrer Begleitung befanden wie verblüfft zu. Anschließend ließen sie sich die Räume der Fa- sich einige Überlebende aus dem Bunker, die während der Er- milie Goebbels zeigen und schlugen nach einem kurzen Blick auf oberung der Stadt aufgegriffen worden waren. Filmkameras wurden aufgebaut und die Szene von der Ver- „Die Überreste vollständig verbrannt, brennung Adolf Hitlers und seiner Lebensgefährtin noch einmal in den Einzelheiten nachgestellt. Doch das Material verschwand dann zusammen mit ebenso wie die in endlosen Verhören von Günsche, Linge, Rat- Kohlestücken zu Aschepulver zerstampft.“ tenhuber und anderen erlangten Auskünfte ungenutzt in irgend- welchen geheimen Archiven. die toten Kinder entsetzt die Tür wieder zu. Später stellte sich her- Die angeblichen Überreste Hitlers, Eva Brauns und einiger wei- aus, dass sie, aller begründeten Vermutung nach, den Verbänden terer Bunkerinsassen hatte man Ende Mai 1945 zunächst am Marschall Konjews angehörten, die Stalin Tage zuvor angehalten Dienstsitz der Abteilung Gegenaufklärung im Raum Berlin-Buch hatte, weil Berlin Schukow gehören sollte. Aber das eine Vor- verscharrt. Mit der Einheit zogen die Holzkisten, in denen sie ver- kommnis verriet zu viel menschliche Schwäche, das andere zu viel wahrt wurden, zunächst nach Finow, von dort nach Rathenow Eigenmächtigkeit für die „Geschichte des Großen Vaterlän- und schließlich nach Magdeburg. Auf eine Anfrage hin entschied dischen Krieges“. Beide tauchen daher bis heute in keiner der im März 1970 das Politbüro der KPdSU, die Überbleibsel „streng sowjetischen Darstellungen über die Schlacht um Berlin auf. konspirativ“ auszugraben und „durch Verbrennung endgültig In der Nähe des Bunkerausgangs hatten die Eroberer, neben zu vernichten“. In dem Abschlussbericht über die „Operation zahllosen Toten im weiteren Bereich des Gartengeländes, Archiv“ heißt es: „In der Nacht zum 5. April 1970“ wurden „die annähernd 15 meist verbrannte oder verstümmelte mensch- Überreste vollständig verbrannt, dann zusammen mit Kohle- stücken zu Aschepulver zerstampft, anschließend in den Fluss * Sowjetische Inszenierung mit einem präparierten Toten im Garten der Reichskanzlei. geworfen.“ ™

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Werbeseite WOLFGANG RATTAY / REUTERS RATTAY WOLFGANG Heimkehr im Sarg*: „Das Verständnis unserer Bürger nicht überfordern“

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Wir müssen Grenzen ziehen“ Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) und der brandenburgische Innenminister, Ex-General Jörg Schönbohm (CDU), über die mit Auslandseinsätzen überforderte Bundeswehr, die Wehrpflicht und das Zuwanderungsgesetz

SPIEGEL: Herr Scharping, deutsche Soldaten also fünfmal so viele. Aus der Bundeswehr ten sind außerordentlich leistungswillig, stehen derzeit in Afghanistan, Kuweit, am mehren sich die Klagen über die Belastun- sehr professionell. Aber sie dürfen nicht Horn von Afrika und auf dem Balkan. gen; die Truppe ist überfordert. überfordert werden. Deshalb müssen wir Muss die Bundeswehr weltweit an allen Schönbohm: Ich glaube, wir sind in der Tat unser Engagement konsolidieren, auch in Fronten dabei sein? an der Grenze. Bevor wir darüber nach- Afghanistan. Dort ist eine Ausweitung für Scharping: Wir wollen und können nicht denken, noch mehr Aufgaben zu überneh- uns nicht zu leisten. Auf dem Balkan kön- weltweit militärisch dabei sein. Unsere men, müssen erst einmal die offensichtli- nen wir sogar reduzieren, wie es in der Außen- und Sicherheitspolitik ist umfas- chen Defizite bei den militärischen Fähig- Nato besprochen wird. send angelegt, geht zuerst von den politi- keiten abgebaut werden, auf die Herr SPIEGEL: Für Einsätze fern der Heimat schen, wirtschaftlichen und kulturellen Scharping selbst verschiedentlich hinge- benötigt die Bundeswehr leichteres Gerät, Kräften Deutschlands aus. Militärische wiesen hat. moderne Kommunikationsmittel und vor Fähigkeiten sind und bleiben „letztes Mit- Scharping: Die Entwicklung ist in der Tat allem größere Transportflugzeuge. Als Sie tel“. In Afghanistan leisten wir für die Uno rasant verlaufen. Sie darf dem öffentlichen vor zehn Jahren Heeresinspekteur und spä- mit 17 anderen Nationen einen Beitrag zu Bewusstsein nicht davoneilen. Sonst ent- ter Staatssekretär im Verteidigungsminis- friedlicher Entwicklung und Sicherheit in stehen Spannungen, leider auch Spekula- terium waren, Herr Schönbohm, kamen die Kabul. Man darf sich von friedlichen Bil- tionen oder Schlimmeres. Unsere Solda- ersten Auslandseinsätze in Kambodscha dern patrouillierender Soldaten und Somalia. Warum haben Sie mit afghanischen Polizisten nicht und der damalige CDU-Vertei- täuschen lassen, schon gar nicht digungsminister Volker Rühe über die Risiken. Ich weiß, dass nicht mehr für eine angemes- der Einsatz eine große Heraus- sene Ausrüstung getan? forderung ist, für die Soldaten Schönbohm: Wir haben erst ein- und für ihre Familien allemal. mal die Bundeswehr und Teile SPIEGEL: Als Sie 1998 Verteidi- der Nationalen Volksarmee der gungsminister wurden, waren DDR in eine gemeinsame Ar- etwa 2000 Soldaten auf dem Bal- mee überführt, die Einheit in kan im Einsatz. Jetzt sind es den Streitkräften geschaffen, rund 10000 in der ganzen Welt, hinzu kam die Einstellung auf neue Aufgaben. Und wir haben ja die Truppenstärke drastisch * Oben: Überführung eines in Kabul getö- teten Bundeswehrsoldaten auf dem Flug- verringert, auf 340000 Soldaten. hafen Köln-Wahn am 9. März; unten: nach Scharping: Hätten Sie doch nicht einem Streitgespräch für die Sendung nur reduziert, sondern auch SPIEGEL THEMA bei XXP am 11. März in mehr investiert! Berlin. Das Streitgespräch moderierten die SPIEGEL-Redakteure Gabor Steingart und MARCO-URBAN.DE Schönbohm: Ich bitte Sie, wir ha- Alexander Szandar. Kontrahenten Schönbohm, Scharping*: „Einsatz im Inneren“? ben investiert und auch eine

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Trendwende bei der Ausrüstung für die neuen Aufgaben eingeleitet, zum Beispiel mit neuen gepanzerten Fahrzeugen. Ich gebe zu, wir haben 1998 nicht alles vom Feinsten übergeben, es gab eine Investi- tionslücke. Aber es war die rot-grüne Re- gierung, die nach der Wahl die Finanzpla- nung geändert und der Bundeswehr fast 20 Milliarden Mark weggenommen hat. Scharping: … was falsch ist und durch Wie- derholung nicht richtiger wird. Lassen Sie uns die Tatsachen anschauen. Zwischen 1994 und 1998 hat die Bundeswehr im Jah- resdurchschnitt 5,6 Milliarden Mark in neue Ausrüstung investiert. In dieser Zeit haben Sie sogar aus beschlossenen Haus- halten über drei Milliarden zusätzlich raus- geschnitten, ein schwerer Schaden für die Bundeswehr und ein historischer Tiefstand. Schönbohm: Hören Sie doch auf mit Ihren Märchen, die SPD-Finanzminister haben die Verteidigungsausgaben danach weiter gekürzt … Scharping: … auch hier sprechen die Tatsa- chen eine andere Sprache: Seit 1999 haben wir jedes Jahr 1,7 Milliarden Mark für mo- dernes Gerät draufgelegt. Das sind 30 Pro- zent mehr als zu Ihrer Zeit. Und Deutsch- land hat als einziges Land neben den USA seine Investitionen in innere und äußere Si- cherheit erhöht, was unsere Freunde in Amerika besser wissen als die Opposition hier zu Lande. Insgesamt liegen die Vertei- digungsausgaben jetzt um rund vier Mil- liarden Mark – zwei Milliarden Euro – über dem Betrag, den der Finanzminister 1999 ge- plant hatte. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Deshalb dürfen wir nicht mehr fort- während von Friedensdividende reden und den Leuten damit „kürzen, kürzen“ sugge- rieren. Wir brauchen Friedensinvestitionen. Schönbohm: Beim Thema Friedensdividen- de stimme ich zu, aber erst reduzieren, dann erhöhen, reicht nicht. Sie liegen noch immer unter unseren Planungen. Scharping: Spielraum nach unten haben wir weder in der Außen- noch in der Entwick- lungspolitik. Auch nicht in der Verteidi- gungspolitik. Schönbohm: Wir müssen ehrlich über die Ziele des Staates diskutieren. Brauchen wir zum Beispiel für unsere Außenpolitik eine Bundeswehr, wie wir sie jetzt haben? Brau- chen wir eine andere? Wir sollten uns alle gemeinsam hinter die Bundeswehr stellen und uns dazu bekennen, dass wir teilhaben wollen an den Einsätzen der Vereinten Na- tionen und den Einsätzen des Nato-Bünd- nisses. Dann müssen wir aber auch sagen, dass wir dafür mehr Geld ausgeben wollen. SPIEGEL: Woher soll das ganze Geld kom- men? Will der Unionskanzlerkandidat Ed- mund Stoiber ausgerechnet bei der Sozial- hilfe sparen? Schönbohm: Das ist doch Unsinn. Wir werden aber im Entwurf für das Regie- rungsprogramm der ersten 100 Tage präzise Aussagen machen, das gehört zur Glaub- würdigkeit. der spiegel 12/2002 83 Werbeseite

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SPIEGEL: Herr Stoiber möchte das Grund- SPIEGEL: In Afghanistan sind Soldaten der relativ frühe Eingreifen im Kosovo hat je- gesetz ändern und Wehrpflichtige auch im Bundeswehr auch am Krieg beteiligt, denfalls verhindert, dass sich über 300000 Inneren einsetzen – für die Territorialver- nicht nur an der Friedenstruppe in Kabul. Flüchtlinge auf den Weg zu uns gemacht teidigung oder zum Objektschutz. Wie lan- Dort werden sogar um die 100 Wehr- haben, wie wir es im Bosnien-Konflikt er- ge, Herr Schönbohm, bilden Sie Polizisten pflichtige, die sich freiwillig gemeldet ha- lebt hatten. Und in Mazedonien hatten wir aus, ehe die mit der Waffe gegen Demon- ben, eingesetzt. Bürgerkrieg vorbeugend verhindert. stranten vorgehen dürfen? Schönbohm: Es ist kein Krieg, sondern die SPIEGEL: Herr Schönbohm, im Bundesrat ist Schönbohm: Ein Polizist wird nicht für Ter- Bekämpfung eines Terrornetzes mit zum jetzt die Zuwanderungsfrage zu entschei- ritorialverteidigung oder Objektschutz aus- Teil militärischen Mitteln. den. Sie gelten als Schlüsselfigur. Können gebildet, sondern viel breiter, in der Regel Scharping: Richtig. Es ist nicht der klassi- Sie dem rot-grünen Regierungsentwurf drei Jahre lang. Edmund Stoiber ging es um sche Krieg, nicht das, was die Menschen zustimmen, oder werden Sie Ihre rot- etwas anderes … mit diesem Wort verbinden, ein Krieg schwarze Koalition in Brandenburg plat- SPIEGEL: „Einsatz im Inneren“ war die For- zwischen Nationen, sondern es ist ein zen lassen? mulierung. Kampf gegen den Terrorismus. Der ist Schönbohm: Dem Gesetz, so wie es vor- Schönbohm: Es kann Situationen geben, wo sauber getrennt von den anderen Auf- liegt, können wir als CDU nicht zustim- wir nicht mehr über genug Polizeikräfte gaben in Kabul, die der zivilen Regierung men. Unser Koalitionsvertrag legt fest, dass verfügen. Wir haben das nach dem 11. Sep- helfen sollen. wir uns der Stimme enthalten, wenn sich SPD und CDU in Potsdam in einer wichti- gen Frage nicht einigen können. SPIEGEL: Aber Sie können nicht sicher sein, dass SPD-Ministerpräsident Manfred Stol- pe sich tatsächlich der Stimme enthält. Für diesen Fall haben Sie schon eine Rücktritts- erklärung in der Jackentasche. Schönbohm: Das ist Spekulation. Aber wenn jemand einen Vertrag bricht, kann man nicht gemeinsam weiterarbeiten. Das ist doch klar. Scharping: Die Bürger interessiert doch viel mehr, dass in der Sache endlich entschie- den wird, damit Zuwanderung begrenzt und gesteuert wird. Das leistet das Gesetz. Schönbohm: Da sind wir unterschiedlicher Auffassung, weil dieses Gesetz genau das nicht leistet. Scharping: Die Kirchen sind dafür, die Wirt- schaftsverbände, die Unternehmen, die Gewerkschaften, die Mehrheit der Bevöl- kerung.

KNUT MUELLER KNUT Schönbohm: Das ist doch Quatsch. Warum Soldaten bei Reparaturarbeiten*: „Hätten Sie doch mehr investiert!“ hat man dann nicht versucht, CDU und FDP an Bord zu bekommen? tember erlebt, zum Beispiel beim Schutz SPIEGEL: In beiden Fällen wird mit Waffen Scharping: Reichen Ihnen 80 Prozent amerikanischer Kasernen oder bei der Ab- gekämpft, und es gibt Tote. Ist die Wehr- Entgegenkommen nicht, oder dürfen Sie sicherung am Frankfurter Flughafen. Der pflichtarmee für solche Out-of-area-Einsät- nicht? Bundesgrenzschutz ist reduziert worden, in ze noch das richtige Instrument? Schönbohm: Herr Scharping, Sie kennen einigen Bundesländern auch die Bereit- Schönbohm: Die Wehrpflicht ist ein ganz Ihr eigenes Gesetz nicht – 80 Prozent, dass schaftspolizei, die besonders geeignet wäre. hohes Gut; da gibt es eine Grundüberein- ich nicht lache! Bei uns in Brandenburg hat es allerdings stimmung mit der SPD. Wenn wir sie nicht SPIEGEL: Herr Schönbohm, Sie sind da keine Reduzierung der Bereitschaftspoli- mehr haben, wird die Bundeswehr be- ja Teil des Wahlkampfs Schröder gegen zei gegeben. trachtet wie eine Art bewaffnete Berufs- Stoiber. In der CDU/CSU-Bundestags- Scharping: Dann müssen die anderen feuerwehr, die alle Risiken auf sich nimmt. fraktion haben Sie gesagt: „Ich möchte Länder eben mehr für die Polizei tun. Die Wehrpflicht verbindet den Staatsbür- nicht, dass man auf meinem Arsch durchs Auf dem Rücken der Bundeswehr wer- ger mit dem Staat. Schon aus staatspoli- Feuer reitet.“ den solche Versäumnisse der Länder nicht tischen Gründen bin ich dafür, sie zu er- Schönbohm: Ja, und ich habe darauf hinge- ausgetragen. Ich bleibe dabei: Klares Nein halten. wiesen, dass es vielleicht Möglichkeiten zum Einsatz im Inneren. SPIEGEL: Der frühere Bundespräsident und gibt, im Vermittlungsausschuss ein Ergeb- Ich bin auch dagegen, das Grundgesetz Verfassungsgerichtspräsident Roman Her- nis zu erreichen. Die Bundesregierung will zu ändern. Die Bundeswehr hat im Rah- zog hat 1995 erklärt, die Wehrpflicht müs- aber keinen Vermittlungsausschuss. men der geltenden Verfassung Amtshilfe se „sicherheitspolitisch“ begründet wer- SPIEGEL: Werden Sie ihn denn anrufen? zum Beispiel bei der Verbrechensbe- den. Deutschland ist aber militärisch nicht Schönbohm: Das sollte man nur versuchen, kämpfung oder zur Sicherung amerikani- bedroht. wenn man Aussicht auf eine Mehrheit hat. scher Kasernen geleistet. Wir dürfen sie Scharping: Es geht um die Verteidigung Im Augenblick ist die Gemengelage un- gerade auch in einer Zeit grundlegender Deutschlands und des Bündnisgebiets. Wir klar: Was machen andere Länder, zum Bei- Erneuerung und enormer internationaler denken aber zu kurz, wenn wir nur die spiel die SPD/FDP-Koalition in Rheinland- Verpflichtungen nicht noch zusätzlich Bedrohung durch einen anderen Staat be- Pfalz? Eine reine Schau-Veranstaltung will belasten. trachten. Wir müssen uns viel mehr an den ich nicht machen. Quellen von Krisen und Konflikten enga- SPIEGEL: Herr Scharping, Herr Schönbohm, * Beim deutschen Kfor-Kontingent in Prizren (Kosovo). gieren, um die Quellen auszutrocknen. Das wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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„Alle Seiten versuchen, den Bundesrat für ihre parteipolitischen Zwecke zu in- strumentalisieren“, moniert Heribert Blens (CDU), der Vorsitzende des Vermittlungs- ausschusses. Das Gerangel um die Zuwanderung ist kein Einzelfall. Selten war es so schwierig, im Bundesrat Mehrheiten zu organisieren. Eine noch nie da gewesene Vielfalt an Ko- alitionsregierungen lasse die Länderkam- mer „immer unberechenbarer werden“, sagt der Direktor des Bundesrats, Georg- Berndt Oschatz. Sooft die Ländervertreter im ehemali- gen Preußischen Herrenhaus an der Leip- ziger Straße in Berlin zusammenkommen, haben die wichtigen Debatten längst statt- gefunden – in Kungelrunden und Hinter- zimmern. „Die Bundesregierung“, so Oschatz, „ist darauf angewiesen, sich hin- ter den Kulissen zu arrangieren.“ Mehr als die Hälfte der Gesetzes- vorhaben muss sich der Bundeskanzler in

ARIS der Länderkammer absegnen lassen. Da- Bündnispartner Schönbohm, Stolpe: Arrangement hinter den Kulissen? bei geht es oft zu wie auf einem Basar – jedes Land versucht, für eine Zustimmung irgendeine Gegenleistung herauszuschla- BUNDESRAT gen. Und häufiger denn je spielen dabei völlig sachfremde Entscheidungen eine Rolle. Machtprobe auf dem Basar Nur unter Einsatz von Barmitteln ge- lingt es derzeit Schröder und Co., das zur Verabschiedung anstehende Bundesbank- Vor der Entscheidung im Kampf zwischen Kanzler Schröder gesetz durchzubringen. Der nordrhein- und Kandidat Stoiber um das Zuwanderungsgesetz: Die Mehrheiten westfälische Ministerpräsident Wolfgang in der Länderkammer werden immer weniger berechenbar. Clement wird an diesem Freitag auf das geplante „Nein“ verzichten, nachdem ihm erhard Schröder spielte den Staats- Auch die Liberalen melden sich plötzlich der Kanzler einen Milliardenzuschuss zum mann. „Mir liegt daran“, spreizte lautstark als Mitspieler zu Wort. Mit er- Metrorapid schriftlich zugesagt hat. Gsich der Kanzler in der Zuwande- kennbarem Erfolg: Seit die FDP in Rhein- Der Bürger hat bei diesen Deals, die der rungsdebatte im Berliner Parlament, „aus land-Pfalz als Bündnispartner des SPD-Mi- Erlanger Professor Roland Sturm „Weih- dieser personalisierten Auseinanderset- nisterpräsidenten Kurt Beck eine Enthal- nachtsbaumpolitik“ nennt, das Nachsehen. zung herauszukommen.“ Der Bundesrat tung ankündigte, kümmert sich Gerhard Der Öffentlichkeit sei „nicht klar, wer für dürfe nicht als „Platz, wo es um einen Schröder höchstpersönlich um die Mehr- was verantwortlich ist“, kritisiert auch Di- Zweikampf zwischen einem Kandidaten heitsbeschaffung. Am Montag vergange- rektor Oschatz, „das ist ein völlig un- und einem Bundeskanzler geht“, miss- ner Woche bearbeitete er Beck und den durchschaubarer Prozess“. braucht werden. FDP-Landesvorsitzenden Rainer Brüderle Das Zünglein an der Waage spielen seit So ist das aber. Zu Beginn der Wahl- im Kanzleramt. der Hessen-Wahl 1999 die Großen Koali- schlacht bereiten sich Union und SPD auf einen Showdown in der Länderkammer Föderale Vielfalt Länder-Koalitionen und Stimmen im Bundesrat vor. An diesem Freitag steht nur noch dem Anschein nach die Frage im Vordergrund, UNIONSGEFÜHRTE LÄNDER SPD-GEFÜHRTE LÄNDER wie viele Ausländer Deutschland aufneh- KOALITION MIT DER FDP KOALITION MIT DER PDS men soll und kann. Längst ist aus der Sach- UND DER SCHILL-PARTEI Berlin Hamburg frage eine Machtfrage geworden. Mecklenburg-Vorpommern GROSSE KOALITION Mit offenem Ausgang: Denn weder die KOALITION MIT DER FDP DULDUNG DURCH DIE PDS Hessen MIT EINEM SPD- SPD noch die von der Union geführten MINISTER- Sachsen-Anhalt Baden-Württemberg PRÄSIDENTEN Länder haben im Bundesrat eine Mehr- KOALITION MIT DEN GRÜNEN heit. Daher buhlen beide um die Gunst der MIT ABSOLUTER Brandenburg Nordrhein-Westfalen Großen Koalition in Brandenburg. MEHRHEIT Bremen Schleswig-Holstein Die Bundesregierung hat die vier For- Saarland derungen von Ministerpräsident Manfred Thüringen KOALITION MIT 3 4 3 4 Stolpe (SPD) zum Zuwanderungsgesetz Bayern 6 5 3 4 DER FDP 3 6 Rheinland-Pfalz weitgehend erfüllt, dessen Innenminister Sachsen 4 7 4 Jörg Schönbohm (CDU) ist aber noch im- 6 4 MIT ABSOLUTER 4 31 6 MEHRHEIT mer gegen das Gesetz. Der Koalitionsver- BUNDESRAT 31 Niedersachsen trag sieht für diesen Fall eine Enthaltung 69 Stimmen, vor, die aber faktisch als Nein-Stimme Mehrheit mit 35 Stimmen zählt.

der spiegel 12/2002 87 Deutschland tionen in Bremen und Brandenburg. Bei doch bis heute die Geschäfte, weil sich Uni- ihnen erkaufte sich Finanzminister Hans on und SPD nicht auf eine Lösung einigen Eichel im Juli 2000 die Mehrheit für die rot- konnten. grüne Steuerreform. Brandenburg ver- In drei Wochen, zum 65. Geburtstag des sprach er Hilfen für den Straßenbau in der Beamten, wird die Länderkammer ohne Niederlausitz, Bremen die Unterstützung Führung sein. Denn auch der Stellvertre- des Bundes bei den Verhandlungen über terposten ist bereits seit längerem vakant – den Länderfinanzausgleich. aus dem gleichen Grund. Die Niederlage für die Union war in die- Selbst auf seinen niedersächsischen Zög- sem Fall umso schmerzlicher, als auch der ling Sigmar Gabriel kann sich Schröder damalige Berliner Bürgermeister Eberhard nicht immer verlassen. Aktuelles Beispiel: Diepgen aus der Unionsdisziplin ausscher- das Verbraucherinformationsgesetz von te. Der konnte dem Angebot Eichels nicht Landwirtschaftsministerin Renate Künast. widerstehen, die Kosten für die Sanierung Weil die Ernährungsindustrie „wochenlang des Olympiastadions übernehmen zu wol- Powerplay“ spielte, lud der Kanzler die len. Mit demonstrativer Entrüstung kriti- Lobbyisten Anfang des Jahres zur Audienz sierte der CDU/CSU-Fraktionschef Fried- – und knickte ein. rich Merz danach die „Skrupellosigkeit“ Nun melden sich ausgerechnet die Ge- der rot-grünen Bundesregierung. nossen aus Hannover mit einem konkur- Dabei hatte auch die Regierung Kohl nie rierenden Plan. Ziel der Initiative: Die vom lange gezögert, SPD-geführte Länder mit Kanzler gerade gekippte Informations- der Brieftasche zu ködern. So erwarb 1992 der dama- lige Finanzminister Theo Waigel (CSU) die Zustim- mung des brandenbur- gischen Regierungschefs Stolpe zu einer Mehrwert- steuererhöhung. „Auch wir waren keine Heiligen“, gesteht heute Hans-Peter Repnik, erster Parlamen- tarischer Geschäftsführer der Union. Zu Kohls Zeiten gestal- tete sich die Lage in der Länderkammer allerdings noch halbwegs übersicht- lich. Inzwischen kann selbst jede der kleinen Par- teien – ob FDP, Grüne KATJA LENZ / DDP LENZ KATJA oder PDS – über ihre / AP AXEL SEIDEMANN Bündnisse in den Ländern Unterhändler Brüderle, Beck: Vom Kanzler bearbeitet eine bei mindestens 35 Stimmen liegende Mehrheit im Bundesrat pflicht der Unternehmen gegenüber den verhindern. Verbrauchern soll jetzt doch ins Gesetz. • Drängt die FDP in Rheinland-Pfalz auf Auch die grüne Umweltministerin Nord- eine Enthaltung, fallen 4 Stimmen weg, rhein-Westfalens, Bärbel Höhn, und Hes- und die Bundesregierung kommt ins- sens Sozialministerin Silke Lautenschläger gesamt nur auf 34. (CDU) signalisieren Zustimmung: So er- • Blockiert die PDS in Mecklenburg-Vor- wartet den Kanzler im Bundesrat womög- pommern und Berlin, sind es gleich lich ein rot-grün-schwarz-gelber Gegen- 7 Stimmen weniger, also nur 31. entwurf – Politik paradox. • Verweigern sich die Grünen in Nord- Beim Zuwanderungsgesetz könnte der rhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, parteipolitische Flickenteppich in der Län- bleiben 10 Stimmen auf der Strecke – derkammer am Ende dazu führen, dass alle und der Kanzler erreicht insgesamt le- sich gegenseitig blockieren. Union und FDP diglich 28. beharren auf ihrem Nein, wollen freilich Schröder muss es also jedem recht zu Anfang dieser Woche anbieten, eine Lö- machen versuchen. Als „Einheitssoße und sung im Vermittlungsausschuss zu erzielen. Kompromissfindung auf niedrigem Ni- Genau das aber, erklärt der rheinland- veau“ kritisiert das der Bevollmächtigte ei- pfälzische Ministerpräsident Beck, werde nes der 16 Bundesländer. er den Liberalen nicht gönnen. Insofern Das Geschacher macht selbst vor Be- sei er „eher pessimistisch“, dass es noch amtenposten nicht Halt. So streiten CDU in dieser Legislaturperiode zu einer Ei- und SPD seit einem Jahr um Oschatz’ nigung komme. Damit wäre wieder ein- Nachfolge. Der 64-jährige Sachse hatte aus mal der Kompromiss auf niedrigstem gesundheitlichen Gründen um eine vor- Niveau erzielt: auf unbestimmte Zeit ver- zeitige Pensionierung gebeten, versieht je- schoben. Christoph Schult

88 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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Im Wettstreit mit FDP-Fraktionschef LIBERALE Wolfgang Gerhardt hatte der forsche Wes- terwelle den Kanzler derart provoziert, Der heimliche dass Gerhard Schröder schließlich aus der Haut fuhr. „Tun Sie doch nicht so, als ob Sie es als Außenminister anders machen Minister würden“, raunzte Schröder Westerwelle an. Und fügte, nach Erinnerung einiger Notfalls auch mit der SPD will die Teilnehmer, flapsig hinzu: „Sie werden so- wieso nicht Außenminister.“ FDP im Bund wieder mitregieren. Das saß – und markiert nun eine deutli- Doch die Chemie zwischen che Zäsur des rot-gelben Flirts. Vorbei die Parteichef Guido Westerwelle und zelebrierten Zigarrenrunden und gemein-

dem Bundeskanzler stimmt nicht. samen Fototermine oben an der Brüstung / REUTERS ARND WIEGMANN des Kanzleramts, mit denen Schröder den Grüne Schlauch, Fischer ie CDU-Vorsitzende Angela Mer- Oberliberalen Westerwelle vergangenen Gefeixe im Kanzleramt kel litt stumm, CSU-Landesgrup- Sommer beglückte. Der Traum des FDP- Dpenchef Michael Glos rollte mit den Chefs, er könne Schröder von den Grü- Bei aller Flexibilität würde ein Bündnis Augen, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden nen loseisen, scheint vorerst geplatzt. mit der FDP wohl nicht nur den meisten Peter Struck stieg Zornesröte ins Gesicht. Bis zur Bundestagswahl will der Kanzler SPD-Abgeordneten, sondern auch Schrö- Die Grünen dagegen hörten feixend zu, Erfolgsbilanzen seiner Regierung präsen- der selbst einige Überwindung abverlan- wie die FDP-Männer den Regierungschef tieren – und die ist nun einmal rot-grün. gen. Kulturell „liegen Welten zwischen im kleinen Kabinettssaal des Kanzleramts Außerdem hält Schröder ein rot-gelbes Schröder und Westerwelle“, befindet ein zunehmend vergrätzten. Bündnis nach dem 22. September für bei- Teilnehmer der Runde im Kanzleramt. Ihm Was am Montag vergangener Woche nahe so unwahrscheinlich wie die Fortset- sei nun deutlich: „Die kommen menschlich gegen 21 Uhr als Unterrichtung über den zung der amtierenden Koalition. Nur in nicht miteinander klar.“ Auslandseinsatz der Bundeswehr in einer einzigen Umfrage der vergangenen Schröders Lieblings-Grüne sind der sin- Afghanistan begonnen hatte, endete als zwei Monate, vorgelegt von der For- nenfrohe Schwabe Rezzo Schlauch, 54, der „Katastrophe“, jammert ein führender schungsgruppe Wahlen, verfügen SPD und nicht alles so genau nimmt, und Joschka Liberaler. Missmutig wie selten erleb- FDP gemeinsam über eine sichere Mehr- Fischer, 53, dessen Kompetenz dem Kanz- ten FDP-Leute ihren Vorsitzenden Guido heit. In allen anderen Erhebungen reicht es ler schwer imponiert. Dagegen Westerwel- Westerwelle am Tag darauf in der Partei- bloß noch für die Große Koalition – oder le, 40: Krawattenmann des Jahres mit eis- zentrale. für eine schwarz-gelbe Regierung. blauem Blick und belehrender Attitüde – dazu Anführer des vom Kanz- kanzler, ich fordere Sie auf, fallen Sie den ler mit seinen 57 Jahren im- Amerikanern in den Arm. Unverzüglich mer heftiger attackierten „Ju- müssen Sie zu Bush reisen.“ Schröder gendwahns“ in Deutschland. knurrte zurück: „Der kommt doch im Mai Westerwelles aufgepluster- nach Berlin.“ ter Auftritt vergangenen Mon- Die nächste Attacke galt wieder Fischer, tag in einer Runde, in der ei- der sich nicht hinreichend im Nahost-Kon- gentlich ruhig Informationen flikt engagiere („Stehen Sie überhaupt mit und Gedanken ausgetauscht denen in regelmäßigem Kontakt?“). Fi- werden sollten, passte da ins scher, bei dem sich permanent entweder Bild. Im anmaßenden Ton Palästinenser-Chef Jassir Arafat oder Isra- eines heimlichen Außenmi- els Außenminister Schimon Peres am Han- nisters las der FDP-Chef dem dy meldet, blickte den Angreifer spöttisch Kanzler und dessen Vize Fi- an. Jetzt folgte Schröders Attacke gegen scher die Leviten. den Möchtegern-Weltpolitiker. Wann der Chefdiplomat Die Wut des Kanzlers entlud sich nach denn nun gefälligst nach Wa- dem Ende der Veranstaltung auch im rot- shington reise, um die Ameri- grünen Koalitionskreis. Wenn die grünen kaner von einem Krieg gegen Haushaltspolitiker im Bundestag nicht auf- den Irak abzuhalten? „Ich rei- hörten mit ihren Querschüssen beim Kauf se Ende April“, entgegnete Fi- des Militärtransporters A400M, stelle sich scher knapp. Mit hoher Stim- die Koalitionsfrage, teilte Schröder barsch me rief Westerwelle: „Das ist mit. Fischer, selbst sauer über seine Partei- viel zu spät, jetzt fallen die freunde, gelobte eine strenge Ermahnung. Entscheidungen.“ Das wisse So hellte sich gegen Mitternacht die Lau- er genau, denn: „Ich habe vie- ne beim Rotwein wieder auf. Erste Agen- le Freunde in den USA.“ turmeldungen von einem Pressegespräch, Dann knöpfte er sich das Westerwelle nach dem vertraulichen

MARC DARCHINGER MARC Schröder vor: „Herr Bundes- Treffen im Kanzleramt einberufen hatte, wurden hereingereicht. „Na dann viel Spaß Kontrahenten Westerwelle, mit den Liberalen“, pflaumte Fischer den Schröder: „Die kommen Kanzler an. Gequält gab Schröder zurück: menschlich nicht klar“ „Hör auf, du Sadist.“ Petra Bornhöft Deutschland

ten Verdachtsfall erfolgen oder bei beson- ders herausgehobenen Funktionen. DDR-VERGANGENHEIT SPIEGEL: Das klingt nach Schlussstrich. Thierse: Historisch, moralisch, wissen- schaftlich muss die Beschäftigung mit der „Die Zeit der Regel- DDR selbstverständlich weitergehen. Aber wer sich zwölf Jahre in der Demokratie bewährt hat, darf nicht wegen einer Akte Anfragen ist vorbei“ von vor 20 Jahren aus der Bahn geworfen werden. SPIEGEL: Das fordert auch die PDS. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sieht Thierse: Wäre es nach der gegangen, wäre nach dem Gerichtsurteil über die Stasi-Akten von Helmut Kohl die Beschäftigung mit der Geschichte ohne jede Folge gewesen. Die PDS wollte nie die Bedeutung der Birthler-Behörde schwinden. Aufarbeitung mit Konsequenzen, nicht ein- mal für die Schützen an der Das Bundesverwaltungsgericht entschied Mauer. am 8. März, dass die Birthler-Behörde Bilanz nach 10 Jahren SPIEGEL: Dennoch verblüfft die Stasi-Dokumente über Helmut Kohl aus dem Tätigkeitsbericht die Allianz gegen die Birth- nicht herausgeben darf. Das Urteil hat der „Birthler-Behörde“ ler-Behörde. Sie reicht von eine Debatte über eine mögliche Überar- Helmut Kohl über Gerhard beitung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 1,9 Millionen Schröder bis hin zu Gabi ausgelöst. Am 25. April ist im Bundestag Anträge auf Akteneinsicht, Zimmer von der PDS. eine Anhörung geplant. Wolfgang Thier- davon 1,75 Millionen Thierse: Auch die CDU-Bun- se, 58, hat bereits in der DDR-Volkskam- Anträge bearbeitet destagsabgeordnete Vera mer das Gesetz mit erarbeitet. Lengsfeld, für große Nähe

JOCHEN LUEBKE / DDP JOCHEN LUEBKE 1,6 Millionen Ersuchen zur PDS nun gerade nicht SPIEGEL: Herr Thierse, von Ihnen stammt SPD-Politiker Thierse zum Zweck der Überprüfung bekannt, hat das Urteil be- der Satz: „Wenn Kohl durchkommt, ist die „Ende des Übergangs“ des Öffentlichen Dienstes grüßt. Würde der Hinweis Behörde tot.“ Kann Marianne Birthler nun 362000 Anträge auf die Haltung der PDS die ihre Behörde schließen? Thierse: Der Aktenzu- zur Rehabilitierung, zur Diskussion über die Zukunft Thierse: Schließen nicht. Aber natürlich gang wird durch die Wiedergutmachung und des Stasi-Unterlagen-Geset- wird sie – respektieren wir die Gerichts- Einspruchsmöglichkeit zu Ermittlungsverfahren zes beenden, bekämen die entscheidung – an Bedeutung verlieren. Betroffener deutlich be- SED-Erben etwas zu viel SPIEGEL: Warum? grenzt. Und der Rich- Einfluss. Thierse: Weil der Urteilsspruch eine Aus- terspruch wird letztlich auch Konsequen- SPIEGEL: Wie soll das neue Gesetz aus- nahmesituation beendet, die sowohl die zen für die Praxis der Stasi-Überprüfungen sehen? Volkskammer als auch der Bundestag bei haben. Thierse: Zum einen hoffe ich auf eine De- der Erarbeitung des Stasi-Unterlagen-Ge- SPIEGEL: Davon ist im Urteil doch gar nicht batte, die nicht von parteipolitischen In- setzes bewusst herbeigeführt haben. Wir die Rede. teressen geleitet wird. Nach meinem Ein- haben damals den Schutz der Persönlich- Thierse: Auf den ersten Blick nicht. Aber druck wird in allen Parteien sehr ernsthaft keitsrechte dem Anspruch auf Aufklärung das Urteil verschärft bei den Menschen das darum gerungen, wie Aufklärung weiter untergeordnet. Das war nötig, um die Ma- Asymmetrie-Problem, das immer bestan- möglich bleibt, Persönlichkeitsrechte da- chenschaften der Staatssicherheit aufzu- den hat. Es vergrößert das Gefühl, Promis bei jedoch besser geschützt werden kön- klären, was dann auch weitgehend gelun- und normale Bürger, Ossis und Wessis sei- nen. Zum anderen glaube ich, dass nach gen ist. Das Gericht beendet nun diese en vor dem Gesetz nicht gleich. Kohl ist ge- der Novellierung jeder denselben Persön- Übergangsphase. Es schränkt unweigerlich schützt, Thierse nicht. Ossis haben eine lichkeitsschutz genießen sollte wie Helmut die Arbeit von Marianne Birthler und ih- Vergangenheit und müssen im Zweifel an- Kohl. rer Behörde ein. hand der Akte nachweisen, dass sie un- SPIEGEL: Das klingt aber nun doch wie ein SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? schuldig sind. Wessis dagegen kommen wie Nachruf auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Schlemihl schattenlos aus der Thierse: Keineswegs. Das Gesetz zählt zu Vergangenheit. Auf diese Wahr- den großen Errungenschaften des Herbstes nehmung sollte der Gesetzge- 1989. Wir wissen weitgehend, wer Täter ber reagieren. und wer Opfer war und was sie getan ha- SPIEGEL: Plädieren Sie deshalb ben. Und wir haben diesen Prozess ohne für eine Änderung der Stasi- große Schrammen hingekriegt. Doch nun Überprüfungen im Öffentlichen treibt uns das Kohl-Urteil unweigerlich in Dienst? eine neue Phase der Entwicklung. Thierse: Die Gesellschaft muss SPIEGEL: Was bleibt noch zu tun für die darüber diskutieren, welche Be- Birthler-Behörde? deutung es heute haben soll, Thierse: Vor allem muss sie den Opfern was einer in der DDR getan hat. den Zugang zu ihren Akten erhalten. Zwölf Jahre nach der Einheit Und wem Stasi-Zusammenarbeit vorge- kann es nicht dieselben Folgen worfen wird, der muss dies mit Hilfe haben wie unmittelbar nach der dieser Behörde aufklären können. Und Revolution. Die Zeit der Regel- wissenschaftliche Arbeit muss möglich Anfragen bei der Behörde ist bleiben. Das alles unter Wahrung von Per-

MARCO-URBAN.DE vorbei. In Zukunft sollten Über- sönlichkeitsrechten. Eine Quadratur des Stasi-Archiv: „Errungenschaft des Herbstes 1989“ prüfungen nur noch im konkre- Kreises. Interview: Stefan Berg

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WEBERBANK Bankgesellschaft räumt auf

ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH ei der maroden Bankgesellschaft Deutschkurs für Ausländer BBerlin (BGB) verlieren nicht nur 4000 kleine Angestellte ihren Job. EU-FÖRDERGELDER Die Entlassungswelle trifft nun auch die zweite Führungsebene des Kon- Riester-Beamte zerns. Bankchef Hans-Jörg Vetter führte am vorvergangenen Wochen- unter Druck ende mit allen 64 Managern unter- halb des Vorstands Einzelgespräche, rbeitsminister Walter Riester gerät die Hälfte soll gehen. Doch auch die Ain der Affäre um die Vergabe von wenigen noch verbliebenen Vorstän- EU-Fördergeldern erneut in Bedrängnis. de der BGB müssen zittern. Kon- Schon vor Monaten hatte die EU-Kom- zern-Vorstand und Aufsichtsrat prü- mission gerügt, dass Riesters Behörde fen derzeit, ob die Freistellungser- den Auftrag für das europäische Ar- klärungen für die Vorstände der We- beitsmarktprogramm Equal ohne Aus- berbank rechtsgültig sind. Die drei schreibung an die Bonner Firma Efp Manager des BGB-Tochterinstituts vergeben hatte. Nun weist ein Urteil des treten zwar nach außen als persön- Oberlandesgerichts Düsseldorf dem lich haftende Gesellschafter auf – Ministerium neue schwere Verstöße tatsächlich jedoch sind sie seit 1996 nach: Demnach haben Riesters Beamte von der Haftung bis zu einer Höhe bei dem EU-Programm, das benachtei- von zuletzt rund 250000 Euro frei- ligten Gruppen – etwa Ausländern ohne gestellt. Rechnet man die üppigen Deutschkenntnisse – helfen soll, nicht Sondervergünstigungen der Herren nur gegen Wettbewerbsregeln ver- mit, entspricht das weniger als der stoßen. Sie haben auch ihre Kollegen Hälfte eines Jahresgehalts. Grün hat aus dem Berliner Finanzministerium sich zudem eine 1,14 Millionen Euro getäuscht und nachweislich falsche An- teure Villa der Bank für 1,43 Millio- gaben gemacht, wie aus dem Urteil her- nen Euro umbauen und sich LANGROCK / ZENIT PAUL vorgeht. Die Efp-Verträge seien deshalb ein Kaufrecht zum Buchwert „unwirksam“ und sollten neu ausge- geben lassen. Damit könnte er schrieben werden, urteilten die Richter. das Nobelgebäude für weni- Die Berliner Beratungsfirma BBJ, die ger als 1,5 Millionen Euro kau- sich ebenfalls um den Auftrag beworben fen. Die Vergünstigungen sol- hatte, will rund eine Million Euro Scha- len auf der nächsten Konzern- densersatz einklagen, wenn Riester dem Aufsichtsratssitzung der BGB Richterspruch nicht nachkommt. Zu- thematisiert werden. Insbe- dem muss das Arbeitsministerium einen sondere wollen die Kontrol- Vetter, BGB-Zentrale Großteil der Prozesskosten tragen. leure der Bank erörtern, ob

Riester will der Empfehlung der Richter die Sondervergütungen von / DPA STROHFELDT MARC dennoch nicht folgen. Der umstrittene Grün und dessen Kollegen ge- Auftrag soll nun im eigenen Hause rechtfertigt sind. durchgeführt werden. Dafür hat Riester in seiner Bonner Zweigstelle bereits 20 neue Mitarbeiter eingestellt.

LUFTHANSA Protest zu Protokoll: der Vertreter der Piloten. Die Flugzeugführer machen Mayrhuber dafür mitverant- Pilotenprotest gegen den wortlich, dass die Tarifverhandlungen um Gehaltsauf- besserungen für das Cockpit-Personal im vergangenen künftigen Chef Frühjahr so erbittert wie nie zuvor geführt wurden. Die Piloten nehmen Mayrhuber zudem übel, dass er er designierte Lufthansa-Chef Wolfgang Mayr- vor einigen Jahren öffentlich über die Entbehrlichkeit Dhuber, 54, der spätestens Ende nächsten Jahres von Piloten sinnierte und seine Vision von der techni- Jürgen Weber, 60, ablösen soll, stößt bereits jetzt auf schen Machbarkeit ferngesteuerter Verkehrsflugzeuge Kritik. Bei der Aufsichtsratssitzung am Dienstag ver- entwickelte. Der damalige Lufthansa-Technikchef ge-

gangener Woche, auf der Mayrhuber zu Webers Stell- / PHALANX KOEHLER THOMAS riet intern so stark unter Druck, dass er seine Äuße- vertreter befördert wurde, gab ein wichtiges Mitglied Mayrhuber rungen öffentlich zurechtrücken musste.

der spiegel 12/2002 95 Trends

HIGHTECH-JOBS Pleitehochburg München ünchens Ruf als Mekka für Start- Mups ist lädiert: Die Stadt verzeich- net einen drastischen Rückgang von IT- Arbeitsplätzen. Nach einer Umfrage der Internet-Arbeitsvermittlung Worldwide- jobs unter 464 führenden Cebit-Ausstel- lern haben diese in der Landeshaupt- stadt nur noch 252 IT-Jobs zu bieten. „Insgesamt verzeichnet München derzeit gerade mal 540 offene Stellen für IT- Fachkräfte“, sagt Gerhard Kimmeringer vom Arbeitsamt München. Dem stehen jedoch knapp 2000 arbeitslose IT-Spezia- listen gegenüber. Vor gut einem Jahr gab

ALEXANDER HEIMANN / DDP HEIMANN ALEXANDER es noch mehr als 3000 offene Stellen. Ur- Baustelle (in Frankfurt am Main) sache: Neben der Auftragsflaute bei Konzernen wie Siemens und Infineon HOLZMANN gingen Gründerfirmen reihenweise Plei- te. Mit 64 Internet- oder E-Commerce- Unternehmen, die zwischen Anfang 2000 „Der Markt hat sein Urteil gefällt“ und Herbst 2001 in der bayerischen Lan- deshauptstadt dichtmachten, ist Mün- chwere Vorwürfe gegen das Manage- linien wegen der erneuten Probleme ge- chen Deutschlands Insolvenzhauptstadt. Sment der Philipp Holzmann AG ha- sperrt haben, nicht mehr leisten kann. ben die an den Rettungsverhandlungen Unter den Bankern herrscht Skepsis, ob beteiligten Banker erhoben. Die Kre- eine Rettung – es wäre die dritte in fünf ditgeber bemängeln, dass der marode Jahren – überhaupt möglich ist. „Der Baukonzern noch immer kein funktio- Markt hat sein endgültiges Urteil über nierendes Controlling-System einge- den Konzern gefällt“, so ein beteiligter führt habe. „Sonst könnte sich der noch Banker. Unterdessen erwägt auch die im Dezember prognostizierte Jahres- Wertpapier-Aufsicht, sich einzuschalten: verlust von unter 80 Millionen Euro Noch am Mittwoch hatte sich Rolf Breu- nicht binnen weniger Wochen verdrei- er, Chef der Deutschen Bank und damit

fachen“, schimpfte der Vertreter einer des größten Holzmann-Aktionärs, äu- / DPA JANSEN STEPHAN großen Gläubigerbank. Nach wie vor ßerst optimistisch über die Sanierungs- Infineon-Zentrale in München lehnen HypoVereinsbank, Dresdner chancen geäußert – was möglicherwei- Bank, Commerzbank und Bankgesell- se ad-hoc-mitteilungspflichtig gewesen schaft Berlin den bisherigen Rettungs- wäre und obendrein den Tatbestand der plan der Deutschen Bank ab. Doch die Marktmanipulation erfüllen könnte. Der FINANZEN Zeit drängt. In den nächsten Tagen wer- Aktienkurs kletterte um rund 11 Pro- den Gehaltszahlungen und Sozialversi- zent nach oben, brach in den beiden Eichels Korsett cherungsbeiträge fällig, die Holzmann folgenden Tagen aber um mehr als 20 ohne Hilfe der Banken, die ihre Kredit- Prozent ein. für die Länder undesfinanzminister Hans Eichel B(SPD) will den Ländern strenge Haushaltsdisziplin verordnen, damit GEHÄLTER Deutschland, wie gegenüber der EU ver- sprochen, 2004 einen nahezu ausgegli- Kein Geld für den Finanzsenator chenen Staatshaushalt vorweist. Für die Sondersitzung des Finanzplanungsrats er Berliner Finanzsenator hatte: Ende vergangenen Jahres von Bund und Ländern in dieser Woche DThilo Sarrazin steht auch war Sarrazin aus dem Vorstand hat Eichel das Konzept eines nationalen persönlich vor einem finan- der Bahn-Tochter DB Netz AG Stabilitätspakts ausarbeiten lassen, der ziellen Problem: Er erhält seit ausgeschieden und hat seiner die Länder verpflichtet, ihre Ausgaben Monaten kein Gehalt. Bei sei- Ansicht nach Anspruch auf jährlich um nicht mehr als ein Prozent nem Eintritt in den Berliner Se- Zahlungen. Doch Bahnchef zu steigern. Nur so könne das Defizit nat im Januar verzichtete Sar- Hartmut Mehdorn, der auch Deutschlands im nächsten Jahr auf 1,5 razin vorerst auf seine Bezüge persönlich mit seinem Ex-Ma- Prozent und 2004 auf die erforderlichen von rund 10500 Euro, weil er nager über Kreuz liegt, sperrt 0,5 Prozent gesenkt werden. Im vergan- mit einem deutlich höheren die Gehaltsüberweisung. Der genen Jahr waren die Etats vor allem der

„Gehalt aus einem ruhenden ARIS Finanzsenator will nun sein westdeutschen Bundesländer zum Teil Dienstverhältnis“ gerechnet Sarrazin Geld vor Gericht einklagen. um mehr als 4 Prozent gestiegen.

96 der spiegel 12/2002 Geld Versicherungen Aktien in Euro 290 130 30 32

270 30 120 26 28 250

110 22 26 230 Quelle: Thomson Financial 24 210 Datastream 100 18 2001 2002 2001 2002 2001 2002 2001 2002 22 Sept. Jan. März Sept. Jan. März Sept. Jan. März Sept. Jan. März

VERSICHERUNGEN warten weitere Verluste. So haben viele Versicherer in den Pleite gegangenen US-Energieriesen Enron investiert. Außer- dem drohen in den USA Schadensersatzklagen wegen asbest- Unsichere Investition verseuchter Gebäude, für die – da es sich meist um Bürokom- plexe handelt – die Gesellschaften gerade stehen müssen. Zu- enerell scheinen die Aktienmärkte ihre starken Einbußen dem dürften die Leitzinsen in den nächsten Monaten wieder Güberwunden zu haben, selbst die Airlines erholen sich steigen, weil die Zentralbanken nach dem 11. September Hun- deutlich. Lediglich die Versicherungen laufen schlecht. So ent- derte Milliarden Dollar in die Wirtschaft gepumpt haben, die wickelte sich die Allianz seit dem 1. August vergangenen Jah- sie nun abziehen, um der Inflationsgefahr entgegenzuwirken. res knapp 40 Prozent schlechter als der Dax, bei der Axa sind Dadurch aber sinken die Kurse von Anleihen. Mit ihnen leiden es 68 Prozent. AMB Generali und die Aegon liegen 6 bezie- die Depots der Versicherer, die ihr Vermögen in Deutschland hungsweise 50 Prozent unter dem Index. Denn die Anleger er- zu 70 Prozent in Schuldpapieren anlegen müssen.

T-AKTIE BÖRSEN Mit Analysten spekulieren „Synchroner Aufschwung“ ie Deutsche Telekom präsentierte Anlegern in jüngster Neil Williams, 39, Chef für globale An- DZeit eine Flut guter Nachrichten: Die Sponsoren-Zusam- lagestrategien bei der US-Investmentbank menarbeit mit dem FC Bayern, die Kooperation mit Microsoft Goldman Sachs, über den neuen Optimis- und die Übertragung von Live-Konzerten im Internet konnten mus an den Aktienmärkten potenzielle Aktienkäufer jedoch nicht vom Wert der T-Aktie überzeugen. Denn der Konzern denkt über eine Verschiebung SPIEGEL: Die Kurse an den Weltbörsen sind seit ihrem Tief im des für Juni oder November geplanten Börsengangs seiner September deutlich gestiegen. Ist das Schlimmste vorbei? Mobilfunktochter nach. Um für T-Mobile die anvisierten Williams: Im September haben wir eindeutig die tiefsten Kurse 60 bis 70 Milliarden Euro zu erlösen, ist die allgemeine Lage in einem Bärenmarkt gesehen. Die Börsen hatten überreagiert, an den Börsen noch zu schlecht. Ohne den Börsengang aber die Aktien waren sehr billig. kann die Telekom ihre Schulden bis Ende des Jahres nicht auf SPIEGEL: Ist Goldman Sachs in das Lager der optimistischen 50 Milliarden Euro drücken. Anleger sollten das Papier jedoch Bullen gewechselt? gut beobachten. Williams: Wir waren seit Ende September sehr optimistisch. 32 Telekom-Aktie in Euro Denn im Vorfeld Natürlich sind Aktien nun nicht mehr billig. Doch nach einer des Börsengangs, Rezession sind in der Regel Gewinne von 30 bis 40 Prozent im prophezeien Vergleich zu den Tiefpunkten zu erzielen. Deshalb erwarten Aktienexperten, wir, zumindest mittelfristig, dass Aktien deutlich besser als fest werden viele In- verzinsliche Wertpapiere abschneiden werden. 26 vestmentbanken SPIEGEL: Manche Experten erwarten in den USA einen zweiten das Papier auf Kauf Rückfall in die Rezession wie Anfang der neunziger Jahre. stellen, um sich bei Williams: Der Lagerabbau in der Industrie war viermal so stark dem Konzern ein- ausgeprägt wie damals. Zudem wird es diesmal einen synchro- 20 zuschmeicheln. Die nen Aufschwung in allen wichtigen Industrieländern geben. Institute erhoffen Die aggressiven Steuerkürzungen und Ausgabenerhöhungen in sich so, an dem lu- den USA werden ein Übriges tun. krativen Deal betei- SPIEGEL: Sind Anleger, die Bewertungen der Technologieaktien Quelle: Thomson Financial Datastream ligt zu werden. Den zuletzt in die Höhe trieben, nicht zu optimistisch? 14 Kurs würden die Williams: Computerchips werden teurer, ein untrügliches Zei- März Jan. März positiven Einschät- chen für die Wende. Auch wenn Aktien keine Riesensprünge 2001 2002 zungen beflügeln. mehr machen, das Schlimmste sollten wir hinter uns haben.

der spiegel 12/2002 97 Wirtschaft JAN BECKER / VISUM JAN Strand in Hurghada (Ägypten): Schwere Flaute in Nahost

TOURISMUS Ballermann in Not Mallorca ist out, die Angst vorm Fliegen hält an, und die Deutschen buchen ihre Urlaubsreisen immer kurzfristiger. Nun wollen die großen Urlaubskonzerne mit ausgeklügelten Steuerungssystemen die Probleme unter Kontrolle bringen.

as geheime Machtzentrum des legung einer einzelnen Bettenburg kon- der TUI oder der Lufthansa-KarstadtQuel- weltgrößten Touristikriesen liegt in trolliert. Hier werden die Verkehrsströme le-Tochter Thomas Cook Wachstumsraten Deinem schmucklosen Bürogebäude in komplette Urlaubszielgebiete fernge- von bis zu fünf Prozent jährlich. gleich hinter dem Autobahnkreuz Hanno- steuert. Jetzt sind die schönen Zeiten, als die ver-Buchholz. Wer es schafft, in den streng Erweist sich ein Reiseziel als Ladenhüter, Touristikmanager zweimal im Jahr ihre abgeschirmten dritten Stock der deutschen kombinieren die firmeneigenen Ferien- bunten Kataloge druckten, stolz die Bu- TUI-Zentrale vorzudringen, fühlt sich dann Controller sofort neue Schnäppchenange- chungszahlen studierten und das verblie- jedoch wie in einer Garagenfirma des Sili- bote und stellen sie ins Internet oder die bene Restangebot zu Schleuderpreisen auf con Valley. Buchungssysteme der Reisebüros. Hilft den Markt warfen, fürs Erste vorbei. Von früh um acht bis oft spät in die auch das nichts, werden die frei gebliebe- In der erfolgsverwöhnten Branche steht Nacht sitzen dort über 70 junge Leute in nen Flugsitze an den konzernnahen Last- ein Paradigmenwechsel an, der das Ge- Jeans, Sweatshirts und Turnschuhen an Minute-Spezialisten LTur verhökert. schäft mit den schönsten Wochen des Jah- ihren Computern und studieren die Aus- Die massentouristische Spezialtruppe der res stärker revolutionieren könnte als einst lastung der konzerneigenen Flieger wie TUI zählt zu einer völlig neuen Spezies von die Erfindung der Pauschalreise durch den auch die Belegungszahlen ihrer Ferienho- Reisemanagern, die auf Umsatz und Ge- Briten Thomas Cook. Auslöser sind Än- tels. Die lautlose Lässigkeit täuscht. winne der großen Urlaubsgiganten schon derungen im Verbraucherverhalten, die Lassen die Buchungseingänge zu wün- jetzt mehr Einfluss haben, als mancher Vor- sich bereits in den vergangenen Jahren schen übrig, und das ist zu Beginn dieses stand wahrhaben will. ankündigten und den Planern in dieser Sai- Jahres häufig der Fall, können die EDV- Kaum ein anderer Wirtschaftszweig in son erstmals schwer zu schaffen machen. Profis schnell rabiat werden. Dann werden der Bundesrepublik wurde von seinen Während die Deutschen früher schon schlecht frequentierte Verbindungen flugs Kunden in den vergangenen Jahren so kurz nach Weihnachten entschieden, wo- zusammengelegt oder eigene wie ange- verwöhnt wie die Anbieter von Pau- hin die Reise im Sommer gehen sollte, las- mietete Jets einfach aus dem Verkehr ge- schaltrips. Egal, ob es mit der Konjunktur sen sie sich neuerdings viel Zeit. Zu viel. zogen. bergauf oder bergab ging – die Deutschen „Es wird verstärkt in den letzten vier Hier geht es nicht mehr um den einzel- buchten artig früh, reisten wie die Welt- bis sechs Wochen vor Abflug gebucht“, nen Kunden. Hier wird nicht nur die Be- meister und bescherten Konzernen wie stöhnt Michael Frenzel, Vorstandschef des

98 der spiegel 12/2002 GERHARD WESTRICH / LAIF GERHARD WESTRICH Massentourismus im spanischen Badeort Lloret de Mar: „Einfach zu teuer geworden“

TUI-Mutterkonzerns Preussag. Für Frenzel Die Angst vorm Fliegen ließ die Bu- tiger Branchentreff gilt, als auch als Bran- und seine Kollegen wird die Planung des chungen nach den Anschlägen des 11. Sep- chenbarometer angesehen wird. Angebots deshalb immer mehr zu einem tember um fast zehn Prozent absacken. Nun setzen die Ferienbosse auf die be- Vabanque-Spiel. „Wir müssen alle lernen, Nahost-Ziele wie Ägypten erlebten eine vorstehende Sommersaison. Doch auch die nicht mehr in den alten Buchungsmustern schwere Flaute. Auch die gestiegenen Prei- begann bisher eher mau. Ausgerechnet und Zeitfristen zu denken“, konstatiert der se in den Katalogen schrecken viele po- die Balearen-Insel Mallorca, jahrelang als Konzernchef selbstkritisch. tenzielle Urlauber ab. In den vergangenen Hochburg und Inbegriff des germanischen Völlig überraschend trifft die Urlaubs- Monaten kletterten die Kosten pro Trip um Massentourismus gefeiert, zählt schon jetzt manager zudem ein zweiter Trend: „Vor über vier Prozent auf durchschnittlich 575 zu den Verlierern. allem Familienväter, die Angst um ihren Euro. Dabei hatten sich die Deutschen in Bei etlichen Veranstaltern brachen die Job haben, wollen kein Risiko eingehen den vergangenen Jahren daran gewöhnt, Buchungszahlen um bis zu einem Drittel und halten sich bei den Buchungen auffal- dass fast alles teurer wurde, mit einer Aus- ein. Dabei gilt das Ballermann-Ziel als lend zurück“, sagt TUI-Deutschland-Chef nahme: Pauschaltrips der großen Reise- Brot-und-Butter-Geschäft der großen Kon- Volker Böttcher. „So etwas habe ich in mei- veranstalter, die sich mit Dumpingangebo- zerne. „Die Spanier sind im Vergleich zu nen 27 Jahren in der Touristik noch nicht ten gegenseitig die Kunden abjagten. anderen Ländern einfach zu teuer gewor- erlebt“, flankiert Dietmar Kastner, Chef Intern haben fast alle großen Reisekon- den“, erklärt TUI-Manager Böttcher den der Rewe-Reisetochter ITS. zerne inzwischen rigide Sparprogramme Einbruch. Die Einbußen ließen sich leichter ver- verabschiedet. Einige sagten sogar die Teil- Besser verkaufen sich dagegen neuer- kraften, wenn wenigstens die Wintersaison nahme an der Internationalen Tourismus- dings Billigziele wie Bulgarien, Kroatien von November bis Ende März gut gelaufen börse ab, die am Samstag vergangener Wo- oder die Türkei. Ebenfalls gut gebucht wer- wäre. Doch das Gegenteil war der Fall. che in Berlin begann und sowohl als wich- den teure Spartenangebote wie Studien- reisen, Kreuzfahrten oder Cluburlaube (siehe Seite 102), für die sich vor allem Bes- Wer die Deutschen serverdiener interessieren, die selbst in in den Urlaub schickt ...... und wohin sie fahren wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht auf Die beliebtesten Reiseländer 2001 den Euro achten müssen. Die wenigen Angaben in Prozent Renner reichen jedoch nicht aus, um die Umsatzeinbrüche in anderen Gegenden Reiseveranstalter Deutschland 29,2 Marktanteile in Prozent 2000/01 oder Bereichen auszugleichen. Spanien 13,6 Ob die laufende Sommersaison noch zu retten ist oder den Konzernen erstmals ein Sonstige Öger 4 TUI Italien 9,4 Loch in die Bilanzen reißen wird, ent- Alltours 5 29 scheidet sich in den nächsten Wochen. So 6 Österreich 7,6 gut wie ausgebucht sind bei den Ver- FTI anstaltern zurzeit nur Angebote in den 17 Türkei 5,2 Oster-, Pfingst- und Herbstferien. Dazwi- Rewe 23 schen klafft bislang noch eine gewaltige Touristik Frankreich 3,9 Lücke. (u.a. Tjaereborg, Thomas Selbst die vom 31. Mai bis zum 30. Juni Quelle: Forschungsgem. Urlaub und Reisen Dertour) Cook stattfindende Fußballweltmeisterschaft be-

der spiegel 12/2002 99 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft reitet den Massenmanagern Kopfzerbre- leer zu bleiben, wird nachgebessert. chen: Nach den Erfahrungen aus früheren „Dann“, plaudert TUI-Task-Force-Mit- Jahren füllen sich dann zwar die heimi- arbeiterin Claudia Ruhl aus der Schule, schen Kneipen, die Betten der großen Ver- „gibt’s schon mal einen Mietwagen, ein anstalter aber bleiben trotzdem leer. Wellness-Paket oder einen Golf-Schnup- Um nicht auf ihren Kontingenten sitzen perkurs gratis dazu.“ zu bleiben, ködern die Unternehmen des- Reicht auch das noch nicht, um den Kun- halb Familien verstärkt mit Frühbucherra- den Flügel zu verleihen, wird mit den Ho- batten und Vergünstigungen für Kinder. tels nachverhandelt und der Preisvorteil in Einige Veranstalter locken zudem die Rei- Form von Sonderangeboten an die Reise- sebüros mit höheren Provisionen. So wol- büros weitergegeben. „Das funktioniert len sie die Vermittler dazu animieren, den natürlich nur in Häusern, wo noch keine Kunden die eigenen Kataloge zuerst zu Gäste zum vollen Preis reserviert haben“, präsentieren. sagt Ruhl. Zumindest bei der TUI hat sich der Kin- Weitgehend unbemerkt von der Öffent- derbonus schon bezahlt gemacht. Seit Be- lichkeit ist auf diese Weise auch in der Rei- ginn der Aktion Anfang März konnte der sebranche, ähnlich wie bei den großen Li- Marktführer 30000 zusätzliche Gäste ver- nienfluggesellschaften, ein Schattenmarkt buchen, deutlich mehr als erwartet, aber entstanden, auf dem die Preise von den noch immer nicht genug. offiziell ausgedruckten Raten teilweise erheblich abweichen. Die Feinsteuerung des Angebots wurde möglich, weil sich die großen Unternehmen in den vergangenen Jahren zu ver- tikal integrierten Konzernen mit Reisebüros, Fluggesell- schaften und Hotelablegern entwickelt haben. Die ein- zelnen Bausteine einer Rei- se können nun viel schneller als früher immer neu zu- sammengesetzt und ver-

FRED / ACTION PRESS FRED / ACTION marktet werden. Ferienjet im Anflug auf die Karibikinsel St. Martin Allzu große Hoffnungen Wellness-Paket gratis sollten sich Schnäppchenjä- ger trotz Puzzle-Urlaub aus Aktuelle Umfragen belegen, dass rund dem Baukasten der Konzerne allerdings ein Viertel der Bundesbürger seine Ferien nicht machen, in diesem Jahr besonders in diesem Jahr auf dem heimischen Balkon preiswert verreisen zu können. Denn auch verbringen will. In ihrer Not setzen die das können die neuen Steuerungssysteme: Konzerne deshalb nun auf neuartige Zieht die Nachfrage in den kommenden „Ertragssteuerungssysteme“ wie jenes in Wochen nicht deutlich an, sollen über- Hannover. Große Airlines wenden derlei schüssige Angebote, anders als früher, bereits seit Jahren erfolgreich an. Mit High- nicht mehr zu Dumpingpreisen vermarktet tech soll sichergestellt werden, dass die werden. Stattdessen werden Flugzeuge Ferienangebote kurzfristig an die schwan- stillgelegt und den Hoteliers Ausfallho- kende Nachfrage angepasst werden kön- norare für leer gebliebene Betten bezahlt. nen und helfen, auch in Flautezeiten noch Dem berufsmäßigen Optimismus in der Gewinne zu erwirtschaften oder wenigs- Branche tut das keinen Abbruch. „Ich tens die Verluste gering zu halten. glaube, dass die Deutschen spätestens in Ist ein Flieger nur mangelhaft ausgelas- der kommenden Saison das Versäumte tet, werden zum Beispiel Direktverbin- nachholen und wieder verreisen werden“, dungen gestrichen und Zwischenstopps macht Thomas-Cook-Chef Stefan Pichler eingelegt, um zusätzliche Passagiere ein- sich und seinen Kollegen Mut. Auch zusammeln. „Für die Kunden“, gesteht während des Golfkriegs seien die Urlauber LTur-Chef Karlheinz Kögel, „ist das oft we- zunächst in Scharen zu Hause geblieben – nig kommod, weil sie bei der Anreise zum um in den Jahren danach umso fleißiger zu Urlaubsziel Zeit verlieren.“ reisen. Statt zwei Wochen vor dem Start, wie Die größte Gefahr geht denn auch mo- bislang üblich, erhält der Resteverwerter mentan von einem Politiker aus: US-Prä- frei bleibende Sitze von den Partnern neu- sident George Bush. Sollte der amerika- erdings schon vier Wochen vorher. „Wenn nische Regierungschef seine Drohung die sehen, ein Flug ist hoffnungslos, wird wahr machen und demnächst den Irak gnadenlos optimiert.“ oder andere Ziele im Nahen Osten an- Tag für Tag überprüfen die Ertrags- greifen, brechen für die Touristikbosse wächter zudem, ob die Zimmer in den schwere Zeiten an. Ein Ferienmanager eigenen oder eingekauften Hotels aus- räumt ein: „Dann sind all unsere Pläne reichend belegt sind. Drohen die Betten schnell Makulatur.“ Dinah Deckstein

der spiegel 12/2002 101 Wirtschaft

Robinson, das war die alte Bundesrepu- Millionen Euro. In diesem Jahr soll es, bei blik, wie man sie aus ZDF-Serien kennt: 70 Prozent Stammkunden, so weitergehen. Gemeinsam ein Reservat für Anwälte und Zahnärzte, Die Voraussetzung: „Wir müssen das Ohr die im Urlaub gemeinsam was erleben am Gast haben“, sagt Pojer. wollten. Eine Menge Moden hat der oberste auf dem Egotrip Nun müssen Leute wie Ernie umden- Clubchef in den vergangenen Jahren schon ken: Dass Gäste nicht mehr zwei Stunden erlebt. Längst ist zum Beispiel die große, Bei ihrem Jahrestreffen fahndeten täglich auf der Probebühne Stücke einstu- einige Robinson-Familie zerfallen und in 130 Robinson-Club-Manager dieren wollen. Dass der ganz normale den Clubs fein segmentiert – nach „cou- Clubwahnsinn, das Duzen und die organi- ples“, „singles“ oder „family“. Im Klar- nach den Trends der Sommersaison. sierte Geselligkeit am Achter-Tisch keine text: Lärmende Kinder sollen den er- Ergebnis: Die Gäste sind Erfolgsgaranten mehr sind. schöpften Art Director nicht bei der „Anti- so unberechenbar wie noch nie. „Emotionales Wohlfühlen“ und Sport, Stress-Kur“ stören. daraus haben die Robinson-Manager ihren Vielleicht ist Robinson ja wirklich ein ülltonnen brennen im Hinterhof. eigenen Trend gerührt, modisch „WellFit“ Spiegel der Gesellschaft, wie Pojer glaubt; Ein paar Jungs aus der Bronx rap- genannt und auf ihrer Jahrestagung für einer Gesellschaft, die vor allem zwei Din- Mpen gegen die herrschenden Ver- die Saison aufbereitet. Denn WellFit er- ge prägt. Erstens emotionales Wohlbefin- hältnisse an. Was jahrelang in zahlreichen fordert von den Animateuren viel Zartge- den, „ein Megatrend“. Zweitens die Indi- HipHop-Videos verschreckte, soll in die- fühl, vor allem beim sensibelsten Punkt: vidualisierung der Bevölkerung, also ein ser Saison Hunderttausende deutscher Ur- dem Messen des Körperfetts am Urlaubs- eigentlich nicht Club-kompatibler Egotrip. lauber begeistern. So jedenfalls will es Er- beginn. Jeder kann, niemand muss: Der Spruch nie, der als Unterhaltungschef in weltweit Damit hier nichts schief läuft und bei aus der unermüdlichen Robinsonschen Slo- 26 Robinson-Clubs für gute Laune zustän- den Gästen eine Missstimmung erst gar ganmaschine („Ferien für Gleichgesinnte“) dig ist. nicht aufkommt, trimmte im mecklenbur- bezeichnet deshalb auch das Problem für Deren Slogan lautet zwar „Zeit für Ge- gischen Trainingslager eine US-gedrillte die lokalen Clubmanager. Denen dämmert, fühle“. Und nicht „Feuer für die Tonnen“. Fitness-Queen die Animateure auf Linie. dass ihre Gäste zuweilen einfach nur ab- Weil aber all der vorproduzierte „Cats“- „Bei dicken Kunden messe ich nicht“, do- hängen, entspannen, ja, Urlaub machen Zauber auf Ernies Club-Bühnen immer we- zierte Jennifer Wade, die durch Auftritte in wollen. MILAN HORACEK / BILDERBERG (L.); JÖRG MÜLLER / VISUM (L.); JÖRG MÜLLER / BILDERBERG MILAN HORACEK Club-Animation bei Antalya (1990), Robinson-Training in Mecklenburg: „Wir müssen das Ohr am Gast haben“ niger ankommt beim jünger werdenden der RTL-2-Show „Big Diet“ bekannt wur- Deshalb war Verkaufstraining für die Ani- Publikum, setzt Ernie in dieser Saison auf de und ganz sicher weiß: „Unter allem Fett mateure im mecklenburgischen Übungsla- Provokation. Ein bisschen. „Hippe Kla- steckt immer noch ein Mensch.“ ger ein Topthema. Da saßen sie dann im motten, schnelle Bilder und danach eine Nicht nur ein Mensch, sondern ein Gast, Seminarraum, Aydin, Ümit und Sabine, Hinterhofparty“, fasst der ehemalige Mu- der lediglich einen Panzer um sich gebaut und überlegten nur kurz, wenn der Ex- sical-Manager sein neues Show-Konzept hat. Jetzt soll er lernen, Dinge zu bewe- perte fragte, welche zentrale Botschaft sie („MTV – Live your dreams“) zusammen. gen. Seinen Bauch zum Beispiel. Wenn’s aus dem Seminar vom Vormittag mitge- Hip? Hinterhof? Provokation? sein muss, in Privatstunden. Es muss sein, nommen hätten. „Jeder Mensch“, sagte Etwas ist anders geworden in den Ferien- weil auch kollektive Dehnübungen nicht Aydin, „ist manipulierbar.“ anlagen – so viel zumindest wussten die 130 mehr en vogue sind. Ein Marketingprofi drückt so was mit Si- Duz-Maschinen um Robinson-Geschäfts- Mineralwasserklar perlten die Einsich- cherheit gewandter aus. Aber das ist nicht führer Karl (Pojer) und Chef-Entertainer ten auf die jungen Robins, die sich in we- wichtig. Wichtig sind das Fett, der Mensch, Ernie (Brümmer), die sich jüngst in Meck- nigen Wochen als „Personal Trainer“ am der Gast und das passende „Livetainment“ lenburg zu einem „Kreativpool“ zusam- Objekt beweisen müssen. Dann strömen, für die Clubs. menfanden. Nur was? Die Trends kommen wie im Vorjahr, wieder über 300000 meist 340 Produktionen hat Ernie auf seinen und gehen in einem Tempo, dass man gut betuchte Gäste in ihre Anlagen. Bühnen laufen. Passend zum raschen Wech- kaum noch darauf reagieren kann. Der TUI-Tochter Robinson beschert die- sel der Fit- und Foodtrends im Club ist vor Jahrzehntelang hatten ihre Frohsinns- se Klientel ein relativ krisensicheres Ge- allem ein Musikstück über das Hochge- fabriken nach einem Prinzip funktioniert, schäft: Trotz Terror und schwacher Kon- schwindigkeitsmedium Internet: www.show- das mit dem Duopol von Pappnase und junktur stieg der Umsatz im vergangenen time.de. Womöglich ist aber auch das schon Eiertanz hinreichend beschrieben schien. Jahr erneut um 2,5 Prozent auf fast 200 wieder überholt. Frank Hornig

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Werbeseite Wirtschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Spielregeln für die Globalisierung“ Versandhaus-Unternehmer Michael Otto, 58, über Umweltschutz und Ökoprodukte, den Druck der Weltbörsen und seine Geschäfte mit der Dritten Welt

SPIEGEL: Herr Otto, Sie leiten eines der SPIEGEL: Ist die Dominanz der Kapital- kratie-, sondern um Stilfragen. Und daran erfolgreichsten Unternehmen in Deutsch- märkte ein Irrweg der Wirtschaft? mangelt es manchen Aktionären. land. Dennoch wollen Sie nicht an die Otto: Früher haben wir immer über die SPIEGEL: Wann haben Sie mit der 68er-Be- Börse gehen. Fürchten Sie den Druck der Amerikaner gelächelt und gesagt: Die wegung gebrochen? Finanzmärkte? schauen nur von Quartal zu Quartal und Otto: Als in München bei einer Demonstra- Otto: Ich habe in der Tat oft den Eindruck, bewerten weniger die langfristige Ent- tion, an der ich teilgenommen habe, Steine dass sich Manager zu Aktionen drängen wicklung. Genau an dieser Kurzatmigkeit geworfen wurden und dabei ein Student lassen, nur um in der Börsenbewertung leiden wir inzwischen auch, und das ist tödlich getroffen wurde – irrtümlich, denn positiv dazustehen. Dabei laufen sie Ge- eine große Gefahr. der Stein war auf Polizisten gezielt. Dass fahr, Entscheidungen zu treffen, die zwar SPIEGEL: Sind auch die Erfahrungen, die man bereit war, einen Polizisten für eine im Trend liegen, aber deswegen noch lan- Sie als Mitglied verschiedener Aufsichts- Idee zu töten, das war für mich nicht ak- ge nicht richtig und gut sein müssen. räte machen, ein abschreckendes Beispiel zeptabel. Von da an habe ich mich von ge- SPIEGEL: Woran denken Sie dabei? für Sie? walttätigen Demonstrationen fern gehalten. Otto: Merger lagen in den vergangenen Otto: So krass würde ich es nicht sagen. SPIEGEL: Haben Sie überhaupt jemals Un- Jahren voll im Trend. Schon jede An- Aber es gibt bei Hauptversammlungen ternehmertum und Privateigentum in Fra- kündigung hat die Kurse nach oben ge- schon Beiträge von Aktionären, die unter ge gestellt? bracht. Aber ich bin fest überzeugt: Die die Gürtellinie gehen. Meine Lebensqua- Otto: Niemals. Ich habe schon damals er- meisten Fusionen wird man in einigen lität würde sich nicht verbessern, wenn ich kannt, dass Kommunismus und Sozialis- Jahren wieder zurückdrehen, oder sie wer- mir so etwas anhören müsste. mus die Armut nur verwalten. Mir war von den sich als nicht sehr erfolgreich heraus- SPIEGEL: Als ehemaliger 68er müssten Sie vornherein klar, dass Eigentum, dass Leis- stellen. doch ein gewisses Verständnis für die Ak- tungsanreize und Belohnung von Verdiens- tionärsdemokratie haben. ten ein ganz wesentliches Element sind, Das Gespräch führten die Redakteure Klaus-Peter Kerbusk Otto: Ich bin ja allenfalls ein Spät-68er. um den Wohlstand der breiten Masse vor- und Armin Mahler. Außerdem geht es hier nicht um Demo- anzubringen. Deshalb ist das Unterneh-

Michael Otto ließ in den Büros seines Hamburger Versandhauses schon Müll trennen, als der Grüne Punkt noch gar nicht erfunden war. Früh verbannte er Pelze und Tropenhölzer aus seinen Katalogen. 1943 im heute polni- schen Kulm geboren, trat der ge- lernte Bankkaufmann mit 28 Jahren in das von seinem Vater Werner 1949 gegründete Unternehmen ein und übernahm 1981 die Führung. Innerhalb von 20 Jahren machte er daraus den größten Versandhändler der Welt mit einem Umsatz von über 23 Milliarden Euro und rund 76000 Mitarbeitern. Weil er früh auf das Internet als Vertriebsform setzte, gelang dem promovierten Volkswirt die erfolgreiche Synthese von Old und New Economy: Hinter dem Online-Buchhändler Amazon ist der Familienkonzern heute auch der weltgrößte Internet-Versender. Otto, der sich in zahlreichen Gre- mien für den Umweltschutz einsetzt, erwartet auch von seinen leitenden Mitarbeitern soziales Engagement. Schon 1991 wurde er zum „Öko- manager des Jahres“ gewählt. ARNE WEYCHARDT

104 der spiegel 12/2002 mertum so wichtig – allerdings mit einer SPIEGEL: … aus dem die bekannten moralischen Verpflichtung gegenüber Mit- Parkbänke und Videokassetten gemacht arbeitern und Gesellschaft. wurden. SPIEGEL: Haben Sie sich deshalb so stark für Otto: Ja, aber so viele Parkbänke und Vi- den Umweltschutz engagiert? deokassetten brauchen wir nicht. Deswe- Otto: Mich hat das Buch des Club of Rome gen beginnen wir mit dem Recycling schon „Grenzen des Wachstums“ sehr beein- bei der Konstruktion. Wir haben in Zu- druckt. Da war manches vielleicht über- sammenarbeit mit den Herstellern bei- zogen, aber es zeigte auf, worauf es hin- spielsweise Elektronik- und Haushalts- ausläuft, wenn wir nichts ändern. Gleich- geräte entwickelt, bei denen die einzelnen zeitig wurde mir klar, dass ich bei mir selbst Kunststoffe sortenrein verarbeitet und ge- anfangen muss, privat, aber auch bei mir trennt werden können. Auch die Kabel von im Unternehmen, um die Zerstörung der Elektrogeräten, die man früher nur in den Umwelt zu stoppen. Heute gibt es erfreu- Sondermüll geben konnte, werden jetzt mit licherweise eine ganze Reihe von Unter- Steckverschlüssen versehen und vollwertig nehmern, die sich intensiv mit der Thema- in den Stoffkreislauf zurückgeführt. tik beschäftigen und zum Teil auch schon SPIEGEL: Honorieren es die Kunden, wenn sehr viel getan haben. Sie solche Ökogeräte anbieten? SPIEGEL: Was kann die Wirtschaft noch tun? Otto: Die werden bei einem höheren Preis Otto: Es ist gut, dass die Wirtschaft auf vie- nur dann gekauft, wenn ein wirtschaft- len Sektoren Selbstverpflichtungen ein- licher Vorteil damit verbunden ist. Bei geht. Das ist der beste Weg, denn wir ha- Waschmaschinen zum Beispiel, die einen ben ohnehin zu viele Gesetze. geringeren Energie- und Wasserverbrauch SPIEGEL: Während in den siebziger Jahren haben, akzeptiert der Kunde einen höhe- über die „Grenzen des Wachstums“ ge- ren Preis, weil er weiß: Ich habe entspre- stritten wurde, reden wir heute genau vom chende Kosteneinsparungen. SPIEGEL: Nicht bei al- len Produkten erschließt sich der Vorteil so leicht. Otto: Dann wird auch das Verkaufen schwieri- ger. Wir sehen das bei der Bekleidung. Da müs- sen wir umweltfreundli- che Produkte zumindest für eine Übergangszeit preislich subventionie- ren, weil wir erst mal ge- wisse Mengen brauchen, um einen kostengünsti- gen Produktionsprozess anzuschieben. SPIEGEL: Viele Ihrer Pro- dukte werden in der Dritten Welt hergestellt, Bekleidung etwa, aber auch Spielwaren oder Otto-Website: „Übertriebene Depression“ Möbel. Neben dem Um- weltschutz geht es dort Gegenteil: Wir brauchten mehr Wachstum, um soziale Probleme wie die Kinderarbeit. um unsere sozialen Probleme zu lösen. Ist Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Lieferan- das aus ökologischer Sicht zu vertreten? ten gewisse Sozialstandards einhalten? Otto: Ich meine, der Widerspruch ist durch- Otto: Da haben wir verbindliche Anforde- aus lösbar. Wir benötigen Wachstum, um rungen definiert. Dazu gehörten zum Bei- weltweit den Lebensstandard zu verbes- spiel Arbeitszeitregelungen, die Zahlung sern. Gleichzeitig müssen wir die Umwelt von Mindestlöhnen, die den Lebensunter- für die künftigen Generationen erhalten. halt sichern, aber auch das Verbot von Der Schlüsselhebel ist für mich dabei die Zwangs- und Kinderarbeit. Das alles ist Verbesserung der Ressourceneffizienz. Bestandteil unserer Einkaufsverträge, die SPIEGEL: Was heißt das konkret? jeder Produzent unterschreiben muss. Otto: Nehmen Sie das Thema Recycling im SPIEGEL: Papier ist bekanntlich geduldig. Kunststoffbereich: Was da in den letzten Otto: Natürlich kommt es darauf an, dass Jahrzehnten gemacht wurde, war im We- die Sozialstandards umgesetzt werden. sentlichen ein Downcycling. Wir haben die Deshalb haben wir zunächst Workshops Kunststoffe gesammelt, und dann wurden mit den Produzenten veranstaltet und daraus andere Kunststoffe hergestellt. dabei klar gemacht, weshalb die Anfor- Durch die Vermischung unterschiedlicher derungen wichtig sind und wie sie erreicht Sorten konnte nur ein sehr minderwertiger werden können. Kunststoff hergestellt werden … SPIEGEL: Wie war die Resonanz?

der spiegel 12/2002 105 Wirtschaft PIERRE BESSARD / REA LAIF (L.); (R.) JÖRG GLÄSCHER PIERRE BESSARD Textilarbeiterinnen in Nordkorea, Otto-Hochlager in Haldensleben: „In vielen Länden geht es ums nackte Überleben“

Otto: Sehr positiv. Als nächste Stufe haben ten als auch bei Politikern und Wirtschafts- mentane Depression ist genauso übertrie- wir ein Audit bei unseren Lieferanten experten. Alle behaupten zu wissen, was ben. Ich bin sicher, dass der Geist, der in durchgeführt. Dabei überprüfen Otto-Mit- das Beste für die Dritte Welt ist. Die Be- den Start-ups herrschte, sich bald in der arbeiter vor Ort die Verhältnisse. Außer- troffenen aber kommen kaum zu Wort. Old Economy wieder findet. dem befragen wir auch Arbeiter, ohne dass Otto: Das irritiert mich auch. Aus vielen SPIEGEL: Ist es nicht eine besondere Ironie die Geschäftsführung dabei ist. Round-Table-Gesprächen, die ich als Bei- des Schicksals, dass am Ende der ganzen SPIEGEL: Wie sahen die Ergebnisse nach ratsvorsitzender der Übersee-Importmesse Hysterie um die New Economy ausge- den ersten Kontrollen aus? in Berlin geführt habe, weiß ich, dass es in rechnet der 50 Jahre alte Otto-Versand das Otto: In fast allen geprüften Ländern hatte der Dritten Welt durchaus Ängste gibt, mit erfolgreichste deutsche E-Commerce-Un- nur eine Minderheit der Firmen unsere zu hohen Auflagen für Umwelt- und Sozial- ternehmen ist? Standards komplett erfüllt. standards konfrontiert zu werden. In vielen Otto: Das zeigt einfach, dass man auch mit SPIEGEL: Was passiert mit den anderen? Be- Ländern geht es ums nackte Überleben. Da den neuen Medien nicht die Gesetze der kommen die keine Aufträge mehr? können wir nicht verlangen, sofort westliche Wirtschaftlichkeit aushebeln kann. Otto: Das wäre der falsche Weg. Dann wür- Industriestandards einzuführen. Denen ist SPIEGEL: Wird Ihr Katalog irgendwann den wir die soziale Situation in diesen Län- es gleich, ob sie 35 oder 45 oder 55 Stunden überflüssig? dern nur verschlechtern. Nein, wir setzen arbeiten, wenn sie nur Essen und ein Dach Otto: In absehbarer Zeit sicher nicht. Er uns mit den Produzenten zusammen und über dem Kopf haben. Deshalb finde ich es hat ja auch Vorteile. Man kann ihn unter machen deutlich, wo nachgebessert werden den Arm nehmen, schnell mal muss. Nach einem halben Jahr erfolgt ein nachblättern und damit vom ei- so genanntes Re-Audit. Dann ist die Er- nen Zimmer zum anderen gehen. folgsquote schon deutlich höher. Nach- SPIEGEL: Herr Otto, Sie werden züglern geben wir noch eine letzte Chan- Die größte Versandhandelskette der bald 59. Ihr Vater ist mit 57 zu- ce. Erst danach listen wir die Firmen aus. Welt mit global 76 000 Mitarbeitern rückgetreten, sein Nachfolger Aber das sind dann nur sehr, sehr wenige. ebenfalls. Wie lange werden Sie SPIEGEL: Wie vermeiden Sie, dass Ihre Lie- Der Otto-Gruppe gehören weltweit den Konzern noch führen? feranten Aufträge an möglicherweise du- 90 Unternehmen in 23 Ländern an Otto: Ein genaues Datum gibt es biose Sublieferanten vergeben? nicht, aber ich habe immer gesagt: Otto: Zunächst müssen wir die wesentli- Der Gesamtumsatz beträgt für Vor meinem 65. Lebensjahr höre chen Lieferanten und Sublieferanten un- 2000/2001: 23,5 Milliarden Euro ich auf. serer Handelspartner erst einmal erfassen, SPIEGEL: Und die Führung soll in das ist nicht einfach. Dann gehen wir den Umsatzsteigerung gegenüber dem der Familie bleiben? gleichen Prozess durch und sperren gege- Vorjahr: 14,7 Prozent Otto: Mein Sohn ist auf dem Weg, benenfalls gewisse Sublieferanten, die dann hat Spaß, und ich sehe auch seine nicht für uns fertigen dürfen. Online-Umsatz: rund 1,1 Milliarden Fähigkeiten. Er wird aber nicht SPIEGEL: Die Armut, die Arbeitsbedingun- Euro, nach Amazon weltweit die Nr. 2 mein direkter Nachfolger. Vorher gen in der Dritten Welt und die Expansion wird ein Vorstandsvorsitzender, der internationalen Konzerne haben in den der nicht aus der Familie kommt, vergangenen Jahren dazu geführt, dass der die Geschäfte übernehmen. Widerstand gegen die Globalisierung sehr so wichtig, dass sich erst einmal die Länder SPIEGEL: Was haben Sie dann vor? stark zugenommen hat. Können Sie diese der Dritten Welt artikulieren. Otto: Ich werde zunächst einmal ein aktiver Bewegung nachvollziehen? SPIEGEL: Nicht nur die Globalisierungsde- Aufsichtsratsvorsitzender sein und mich an Otto: Der Widerstand kommt natürlich sehr batte hat die Wirtschaft heftig erschüttert. wichtigen strategischen Entscheidungen be- stark aus dem Bauch heraus. Aber ich sehe Genauso stark hat das Internet die Welt be- teiligen. Dann habe ich eine Reihe von Eh- keine Alternative zur Globalisierung. Sie wegt. Der Traum von einer jungen Ökono- renämtern, etwa beim WWF oder der Ham- ist die einzige Chance, um die ärmsten mie ohne Hierarchien, der ja kurzfristig wie burger Bewerbung für die Olympiade 2012. Länder überhaupt voranzubringen. Wir eine Frischzellenkur für die Deutschland Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass ich müssen jedoch Spielregeln aufstellen, um AG wirkte, ist geplatzt. Hat die alte ver- noch mal unternehmerisch etwas anpacke. zu verhindern, dass es zu solchen Ent- krustete deutsche Wirtschaft gesiegt? SPIEGEL: Wollen Sie etwa selbst noch ein wicklungen kommt, wie sie von den Glo- Otto: Nein. Die Euphorie, die mit dem Auf- Start-up gründen? balisierungsgegnern befürchtet werden. kommen des Internet und mit der Grün- Otto: Genau. Vielleicht auf einem ganz an- SPIEGEL: Im Augenblick wird die Diskus- dung vieler Start-ups einsetzte, war zwar deren Sektor. Warten Sie’s ab. sion von Vertretern der Industrienationen absolut überzogen. Das Ende musste frü- SPIEGEL: Herr Otto, wir danken Ihnen für beherrscht – sowohl bei den Demonstran- her oder später kommen. Aber die mo- dieses Gespräch.

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Werbeseite Wirtschaft SPENCER PLATT / GETTY IMAGES SPENCER PLATT New Yorker Börse: „Viele wollen ihre Bank verklagen“

nerhalb eines Jahres von 212 Milliarden GELDANLAGE Euro auf 173 Milliarden. Eine Diät mit bö- sen Folgen: Die volumenabhängigen Ge- bühreneinnahmen brechen ein. Nachbeben im Depot „Vor allem Spezialitätsfonds, die in der Boomphase eine gute Verkaufsstory lie- Trotz jüngster Kurserholungen an den Weltbörsen zittert die einst ferten, kämpfen jetzt mit zu kleinen Volumina“, beobachtet Pia Frei vom In- so boomende Fondsbranche gewaltig: Etliche Aktienfonds stitut für Marktbearbeitung. Unter Ex- stehen vor dem Aus. Frustrierte Kleinsparer proben den Aufstand. perten gilt eine Fondsgröße von fünf bis zehn Millionen Euro als kritische Gren- ie Fahrradtruppe der königlichen Die im Bundesverband Deutscher Invest- ze. Darunter werde es eng, sagt Horst Zi- Polizei auf den Bahamas wird ihrem ment- und Vermögensverwaltungs-Gesell- rener, Chef des BVI und Vorstandsvor- DTeilzeitbürger Thomas Bachmann schaften (BVI) organisierten Kapitalanla- sitzender des Branchenzweiten Deka In- noch lange verbunden sein. Der Aufsichts- gegesellschaften konnten im Boomjahr 2000 vestment. Ein Fondsmanager verfügt dann ratsvorsitzende der Fondsgesellschaft Or- netto 65,8 Milliarden Euro an Frischgeld schlicht über zu wenig Geld, um die wich- bitex Capital Management AG spendete für ihre Aktienfonds einsammeln. 2001 wa- tigsten Aktien seines Anlagegebietes zu den Südsee-Beamten 1999 50 Zweiräder ren es gerade noch 8,3 Milliarden – und das kaufen. mit Elektromotor. auch nur dank starrer Sparpläne, aus denen Auch Nobelmarken sind bedroht. So Von derartiger Großzügigkeit können Anleger nicht so leicht aussteigen können. mussten die Privatbankiers von Delbrück Bachmanns deutsche Kunden nur träumen. Die anhaltende Aktienabstinenz lässt die & Co. vor Weihnachten den Verkauf ihres Ein Teil seiner Orbitex-Produkte fiel in den Vermögen der Fonds rasant schmelzen: in- „Delbrück Neue Märkte Europa“ einstel- vergangenen zwei Jahren nur durch exor- len. Das geringe Fondsvolumen „lässt eine bitante Verluste auf. Allein der Orbitex Na- Starker Einbruch wirtschaftliche Verwaltung nicht zu“, heißt tural Resources Fund verlor im Jahr 2001 es lapidar im Geschäftsbericht. Vermögen deutscher Aktienfonds... 84,4 Prozent seines Wertes. Vergleichbare in Milliarden Euro Im vergangenen Jahr zählte die Bera- Rohstoff-Fonds, die unter anderem in Ak- 212,6 tungsfirma Feri Trust 69 Liquidationen von tien von Ölfirmen investieren, schafften 176,0 in- und ausländischen Aktienfonds – Fu- mitunter ein zehnprozentiges Plus. sionen nicht eingerechnet. Im Jahr davor Die Folge des Debakels: Ende Januar 173,3 waren es nicht mal halb so viele. gab Orbitex beim Bundesaufsichtsamt für 87,1 Zwar nimmt sich die Zahl der Pleiten das Kreditwesen für den Rohstoff-Fonds 60,0 noch vergleichsweise bescheiden aus. Im- 33,3 sowie vier weitere die Vertriebslizenz zu- 26,2 merhin sind in Deutschland mehrere tau- rück. Dem Kleinsparer bleibt nicht mal die send Aktienfonds zugelassen. Doch die Hoffnung auf bessere Zeiten. Er bekommt 1995 96 97 98 99 2000 01 Beerdigung eines Fonds gilt in der Finanz- den mickrigen Restwert in Form anderer gemeinde noch immer als tabu. Fonds derselben Gesellschaft oder direkt ...und ihr jährlicher Geldzufluss* „Die Kapitalanlagegesellschaften scheuen ausbezahlt. in Milliarden Euro 65,8 den Imageverlust“, sagt Adriaan Bonauer Während die Weltbörsen derzeit erst- von der US-Rating-Agentur Morningstar. * Saldo aus Geldzu- mals wieder Kurserholungen erleben, lei- und -abflüssen; Verlustbringer werden mitgeschleppt, so- det die Fondsbranche unter heftigen Quelle: BVI 33,2 lange es geht. Laut einer neuen Analyse Nachbeben der Krisenjahre. „Konsolidie- von Morningstar sind in Deutschland der- 19,5 rungsphase“ nennen es die Geldmanager 15,1 zeit rund 250 Fonds auf dem Markt, die vornehm, wenn ihr Absatz einbricht, die 8,3 unter der Schwelle von zehn Millionen Pleiten sich häufen und nach den wüten- 0,6 1,3 Euro vor sich hin hungern. den Kleinaktionären nun auch immer Diese potenziellen Todeskandidaten lie- mehr enttäuschte Fondssparer auftauchen. 1995 96 97 98 99 2000 01 gen jedoch nicht nur den Fondsgesell-

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Werbeseite Wirtschaft schaften schwer auf der Tasche, sondern Zwei Anwaltteams versuchen es trotz- te die Firma hemmungslos ihr Fondsver- kommen vor allem die Kunden teuer zu dem. Die Münchner Kanzlei Rotter hat mögen. Neben der zweiprozentigen Ver- stehen. Neben den volumenabhängigen gegen die Anlagetochter der Schweizer Pri- waltungsgebühr buchte man ein Vielfaches Gebühren von ein bis zwei Prozent pro vatbank Julius Bär Klage eingereicht. Im davon unter „Sonstige Aufwendungen“ ab. Jahr „belasten Fixkosten wie Wirtschafts- Verkaufsprospekt des Creativ Fonds, der Beim Japan Fund, der schon im Mai 2001 prüfer und Rechenschaftsberichte die vom Ex-König des Neuen Marktes, Kurt vom Markt genommen wurde, genehmig- Anleger überproportional“, sagt Expertin Ochner, gemanagt wurde, seien „keine te sich Orbitex bis Ende September 2000 Frei. Kein Wunder also, dass die Abzocke- Hinweise auf das überdurchschnittliche Gebühren und sonstige Aufwendungen rei mit ständig steigenden Gebühren und Anlagerisiko des Fonds enthalten“, argu- von 1,85 Millionen Dollar – bei einem Net- die miese Performance immer mehr Fonds- mentieren die Münchner Juristen. tovermögen von rund 4 Millionen. sparer auf die Barrikaden treiben. Der Frankfurter Rechtsanwalt Klaus Von solchen Praktiken will Nieding „kei- „In letzter Zeit stehen erboste Fonds- Nieding klagt derweil für einen prominen- ne Kenntnis“ gehabt haben. Sein Mandat anleger bei uns Schlange“, sagt Volker teren Mandanten gegen die gleiche Geld- habe sich auf die deutsche Orbitex-Ver- Pietsch, Finanzfachmann der Berliner Ver- vernichtungsmaschine. Der Schlagerpro- triebsgesellschaft beschränkt. Warum er braucherzentrale. „Viele wollen ihre Bank duzent Jack White hatte Ochner Ende 1999 bereits sieben Monate nach Gründung der verklagen.“ umgerechnet rund 3,5 Millionen Euro an- Orbitex Capital Management das Mandat Den Unmut bekommen Leute wie Tho- vertraut. Davon blieb mittlerweile nur noch niederlegte, will er wegen seiner „Ver- mas Reinhold, Vertriebschef bei der Nord- eine halbe Million übrig. Nieding plädiert schwiegenheitspflicht“ nicht kommentieren. invest, hautnah zu spüren. Die Gesellschaft auf „mangelhafte Risikostreuung und feh- Sein ehemaliger Auftraggeber macht der Hamburger Vereins- und Westbank lerhafte Anlegerberatung“. Die Schweizer derweil auch in den USA Erfahrungen mit verkauft seit Januar 2000 den Internet- Banker weisen alle Vorwürfe zurück. wütenden Anlegern. Vor vier Monaten Fonds nordasia.com. Mit wurde in Kalifornien unter dem Ex-Liebling der Fi- anderem gegen eine Orbi- nanzpresse versenkten Tau- tex-Gesellschaft und den sende ihr Vermögen im Cy- Waffenhändler Adnan Ka- berspace. shoggi eine Sammelklage „Teilweise kam die Kri- wegen angeblicher Insider- tik direkt zu uns“, erzählt vergehen eingereicht. Die Reinhold, „teilweise droh- Orbitex-Verantwortlichen ten Kunden unseren Ver- wollen zu den Vorfällen kei- triebspartnern mit juristi- ne Stellung nehmen. schen Schritten.“ Dabei Der Versicherungskon- habe man immer vor den zern Axa hat bereits rea- Gefahren gewarnt, vertei- giert: 4000 Kunden inves- digt er sich. tierten in Lebens- und Ren- Tatsächlich verdrängten tenversicherungen auf Basis viele Anleger die Gefahr, des Orbitexschen Fonds- dass nicht nur einzelne fundus. „Wir werden den Aktien, sondern komplette Vertrag in kürzester Zeit Branchen abrutschen kön- beenden“, sagt Axa-Spre- nen. Sie hatten „die Illu- cherin Ursula Roeben.

sion, dass sie im Gegensatz (R.) / STOCK4B PRESS (L.); POHLMANN ANDREAS / ACTION KRUG / CAT FRANZISKA Für depressive Anleger, zu Einzelaktien mit dem Ehepaar White, Fondsmanager Ochner: „Überdurchschnittliches Risiko“ die derzeit europaweit über Kauf von Fondsanteilen 500 Milliarden Euro in si- kein Risiko eingehen“, sagt Verbraucher- Bei seiner Attacke auf die eidgenössi- cheren Renten- und Geldmarktfonds par- schützer Pietsch. sche Hochfinanz dürfte jedoch Niedings ken, gibt es immerhin Hoffnung: so ge- Die Branchengrößen sind sich keiner Glaubwürdigkeit leiden. Der Präsident des nannte Index-Fonds, die sich stur an In- Schuld bewusst. Viele Anleger seien Deutsche-Anleger-Schutzbundes, der auch dices wie Dax oder EuroStoxx50 orientie- „schlicht zu gierig“ gewesen, sagt Deka- bei der Schutzvereinigung für Wertpapier- ren. Fondsmanager können kaum noch Chef Zirener. Doch in etlichen Fällen wur- besitz in der Führung mitmischt, saß bis etwas falsch machen. Und weil sie kaum den die Ersparnisse ahnungsloser Anleger Mitte 2001 ausgerechnet im Aufsichtsrat etwas zu tun haben, sind die Gebühren mit angeblich todsicheren Tipps verspielt. der Orbitex Capital Management AG. niedriger als bei normalen Produkten. Im Rausch der hohen Verkaufsprovisionen Peinlich für den Anlegeranwalt, denn Den Marktführern läuft der neue Trend blieb eine nüchterne Beratung durch die Beschwerden häufen sich. „Wir hatten entsprechend gegen den Strich. Sie scheu- Fondsverkäufer von Banken und Finanz- in den letzten Wochen verschiedene An- en die „tiefen Margen“, glaubt Peter Ivan- gesellschaften mitunter auf der Strecke. fragen von Anlegern bezüglich der Orbi- fy, Analyst bei Feri Trust. Weder die DWS „Zum Beispiel wurden einer über 70- tex-Fonds“, heißt es im Bundesaufsichts- von der Deutschen Bank noch die Deka Jährigen, die kurz vor dem Umzug in ein amt für das Kreditwesen. Ähnliches spielt der Sparkassen wollen reine Indexfonds in Altenheim stand, hochriskante Aktien- sich bei Verbraucherzentralen ab. „Die ihr Programm nehmen. Begründung: Über fonds des Neuen Marktes verkauft“, er- Anleger wollten vor allem wissen, ob ein einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren zählt Verbraucherschützer Pietsch. Ging gerichtliches Vorgehen Sinn macht“, sagt seien „65 bis 70 Prozent“ der aktiv gema- die Beratung so krass an den Bedürfnissen Berater Pietsch. Die Antwort heißt nein. nagten DWS-Aktienfonds besser als der des Anlegers vorbei, kann sich nun ein ju- Das Fondsdomizil befindet sich auf den Ba- Index, behauptet Sprecher Carsten Böhme. ristischer Angriff auf den verantwortlichen hamas, astronomische Anwaltskosten wä- Es gebe eben erhebliche Qualitätsunter- Finanzberater durchaus lohnen. Eine Kla- ren die Folge. schiede zwischen den einzelnen Anbietern. ge direkt gegen die Fondsgesellschaft macht Die Wut der Orbitex-Kunden erstaunt Erst auf Platz drei der Branche beginnt laut Pietsch aber „keinen Sinn“. Die juris- nicht. Abgesehen von den massiven Wert- das Umdenken: Die Luxemburger Tochter tischen Hürden seien hoch, die fondsinter- verlusten der vergangenen zwei Jahre, die der Union Investment bietet börsengehan- nen Abläufe kaum zu durchschauen. sich kein Experte erklären kann, plünder- delte Index-Fonds an. Beat Balzli

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ner „Dom Hotel“. An seiner Seite: Tatjana ten Hand“ stilisiert. Nur vor drei Dingen HANDEL Gsell, 31. Beide sind verheiratet, nur nicht hatte der alte Becker Angst: „Krankheit, miteinander. Becker verdankt Gsell eine Krieg und Kommunismus“. Der Dreisatz Ausgebremst auf Menge Schlagzeilen. Gsell verdankt ihrem zog im Wirtschaftswunderland. Mann, einem Nürnberger Schönheitschir- Aus dem kleinen Gebrauchtwagenhan- urgen, eine kosmetische Runderneuerung del wurde ein Autowunderhaus. Als einer dem Boulevard und viele Neureichen-Accessoires. der Ersten importierte Becker Bentley und „Luxus und Lifestyle“, sinnierte Becker, Ferrari und verkaufte sie an Prominente Deutschlands schillerndster sicherten „die Arbeitsplätze von morgen“. wie den Künstler Joseph Beuys oder den Während er sich Lachstartar und Rinder- Fußballer Günter Netzer. Autoverkäufer ist pleite. Während carpaccio schmecken ließ, verkauften und Seinen Sohn ließ der Alte erst in die der Insolvenzverwalter die Bücher reparierten seine unbezahlten Mitarbeiter Firma, nachdem der sich zur „Charakter- prüft, wähnt sich Helmut Becker weiter, damit wenigstens ein bisschen Geld läuterung“ bei der Bundeswehr verpflich- schon wieder auf der Überholspur. in die leere Kasse kam. tet hatte. Vor Dienstbeginn sprintete der Wer Becker fragt, wovor er jetzt Angst Junior mitunter barfuß über das 20 000 igentlich wollte Antonio Zurera am habe, dem antwortet er nicht: „Davor, dass Quadratmeter große Firmengelände, auf vergangenen Mittwoch mit seinen alles hier den Bach runtergeht“, sondern: dem nur eines zählte: der Wille des Alten. EKollegen feiern. Es war sein Dienst- „Dass mein Bild in der Öffentlichkeit be- Peter Egerer, Geschäftsführer der IG jubiläum. Seit 30 Jahren arbeitet er bei schädigt wird“. Wenige haben sich darum Metall in Düsseldorf, winkt beim Thema „Auto Becker“ in Düsseldorf. Doch der so gesorgt wie er. „Auto Becker“ resigniert ab. Von den 200 Mechaniker sagte den Umtrunk ab. Sollte Er inszenierte Ferrari-Corsos auf der Beschäftigten seien nur 3 in der Gewerk- er darauf anstoßen, dass er seit zwei Wo- Königsallee und hielt sich einen eigenen schaft gewesen. „Der Betriebsratsvorsit- chen keinen Lohn mehr bekommen hat Rennstall. Hyperaktiv gründete er eine zende ist ein Duz-Freund von Becker und hat jede Betriebsversammlung ver- hindert.“ Nun besannen sich einige Ange- stellte und sammelten innerhalb eines Ta- ges 70 Unterschriften für seine Absetzung. Aus seinem Büro in der einstigen Pfört- nerloge schaut Becker zu, wie Aston-Mar- tin-Sportwagen auf einen Laster geladen werden. Mit den Autos im Hof ist es fast wie mit seiner verheirateten Freundin – sie ste- hen unter „Eigentumsvorbehalt“. Auf Zet- teln weist die Nissan Bank darauf hin, dass jedes „Berühren“ untersagt ist. Vom defi- zitären Geschäft mit Opel und Nissan wol- le er sich trennen, sagt Becker. Was er nicht

STEFAN ENDERS (L.); BABIRAD PICTURE (U.) PICTURE (L.); BABIRAD ENDERS STEFAN sagt: Anfang vergangener Woche trennte Nissan sich von ihm und kün- digte den Händlervertrag. „Ich habe zu viel für die Traumwagen gemacht, die ganzen Galas und so.“ Vor al- lem und so. Die Staatsanwalt- schaft Düsseldorf ermittelt be- Autohändler Becker: „Wie ein Phönix aus der Asche“ reits seit Januar wegen Bi- lanzfälschung und Betrugs. Es und vielleicht bald seinen Job verliert? Unternehmerinitiative nach wird geprüft, ob Becker die „Wir haben die Firma mit nach oben ge- der anderen, kandidierte er- Umsätze der vergangenen bracht. Aber der Chef träumt immer folglos für den Bundestag und Jahre manipuliert hat. Becker noch.“ kramte dann, als alles nicht dementiert mit großer Geste Der Chef heißt Helmut Becker, 59, ist mehr zog, seine Wochenend- und glaubt, aus der Sache „wie Inhaber des angeblich größten deutschen beziehung zu dem Chirurgie- ein Phönix aus der Asche“ Autohauses und hat große Pläne. Er möch- Wunder Gsell hervor. klettern zu können. te eine „Becker World“ bauen – eine Auto- Im Hinterkopf schwirrte Becker-Freundin Gsell Warum seine neue Freun- Erlebniswelt, die „viermal so groß ist wie Becker bei solchen Eskapaden Gemeinsame Projekte din in so einer Situation nicht das alles hier“. Er will ein Buch schreiben, immer der PR-Erfolg seines bei ihm ist? „Das ist nicht das das erklären soll, „wie viel ich für den Fall Vaters herum. Doch gegen dessen Nach- Konzept der Beziehung“, sagt Becker. Das der Mauer getan habe“. Momentan klärt kriegskarriere war er chancenlos. Konzept scheinen PR-Termine zu sein, wo ihn erst mal der Insolvenzverwalter Frank Der Bauernsohn Wilhelm Becker hatte beide betonen, wie lieb sie sich und ihre je- Kebekus auf. 1947 in einer Düsseldorfer Bretterbude eine weiligen Ehepartner haben und dass man Becker darf keinen Schraubenzieher Tauschzentrale für gebrauchte Autoteile „gemeinsame Projekte im Auto- und mehr auf Firmenkosten kaufen, wenn Ke- eröffnet. Ein paar Jahre später zog er auf Beautybereich“ plane. Soll Becker unten bekus es nicht vorher genehmigt hat. „Ich das Gelände einer alten Papierfabrik. Einer Autos verkaufen, während sie oben in Kos- habe ihm auch geraten, von Interviews und der Grundsätze von Becker senior: „Auf metik macht? Fotos im Boulevard-Bereich abzusehen“, gutem Fuß mit der Presse leben“. „Ja, etwa so“, sagt Frau Gsell zu Hause sagt Kebekus. In seitenlangen Elogen wurde „der in Nürnberg. Genaues weiß sie nicht, denn Nur ein paar Tage zuvor saß der Auto- Mann mit dem Vornamen Auto“ zum mit ihrem Autohändler ist momentan alles händler für ein „Bunte“-Interview im Köl- „Vierradkönig“ oder „Ritter von der zwei- ein bisschen verfahren. Nils Klawitter

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KIRCH-GRUPPE Hilferuf an Hans Tietmeyer er frühere Bundesbank-Präsident

DHans Tietmeyer soll möglicherweise / DPA HUSCH / TERZ (L.); KLAUS FRANKE STEFAN bei der Rettung des Kirch-Konzerns die Tietmeyer Moderation und Koordination der Gläu- bigerbanken übernehmen. Dafür haben verfügt er kaum über Erfahrung sich hochrangige Frankfurter Banker aus- im Privatbankenbereich, doch die gesprochen, nachdem man sich bislang Geldmanager trauen ihm zu, sich nicht auf einen Kandidaten hatte einigen schnell einzuarbeiten. Wie nötig ein können. Einige Banker haben ihren Vor- Moderator ist, zeigen die Termine schlag bereits dem Kanzleramt signalisiert. vom Wochenende: Zu Gesprächen Daneben wird zurzeit noch der Name ei- mit dem von Leo Kirch bestellten nes weiteren Frankfurter Bankers gehan- Sanierer Wolfgang van Betteray wa- delt. „Tietmeyer hat in der Asien- und in ren nur die Finanziers der KirchMe- der Russland-Krise sowie beim Zusam- dia AG, also BayernLB, HypoVer- menbruch des Hedge-Fonds LTCM bewie- einsbank, DZ Bank und Commerz- sen, dass er der Aufgabe gewachsen ist“, bank, geladen. Die an anderen sagt der Vorstand einer Gläubigerbank. Zu- Konsortien – wie der Formel-1- dem sei Kirch ein politisches Problem – Finanzierung – beteiligten Institute Tietmeyer könne hier vermitteln. Zwar Kirch verhandeln in separaten Gruppen.

MARKETING PRESSE Manthey geht baden Traueranzeige n einer branchenweit schwierigen Anzeigenkon- abgelehnt Ijunktur setzt Dirk Manthey, Verleger der Milch- straßen-Gruppe („Max“, „Amica“), auf neue inen bizarren Streit um eine Geschäftsfelder: Ende April übernimmt sein Hoch- ETraueranzeige für Marion glanzblatt „Fit for fun“ einen Wellness-Tempel in Gräfin Dönhoff lieferten sich ver- Mecklenburg-Vorpommern. Mit dem mecklenburgi- gangene Woche die Verlage der

„Zeit“ und der „Frankfurter All- MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL gemeinen“ („FAZ“). Weil die Becker Hamburger Wochenzeitung in der Todesanzeige für ihre Mitbegrün- derin, Chefredakteurin und Herausgeberin auch das „Zeit“- Logo drucken wollte, verweiger- ten die Frankfurter die Annahme. Begründung: Es handle sich um verkappte Reklame. „Wir wollen trauern und nicht Werbung machen“, sagt „FAZ“-Geschäfts- führer Jochen Becker, der in ähnlichen Fällen, etwa mit Frank- „Fit for Fun-Pool“ in Mecklenburg-Vorpommern furter Großbanken, noch nie Ärger hatte. Im Verlagshaus der schen Badebetrieb namens „Fit for Fun-Spa“, für „Zeit“ sorgte der Vorgang für den Mantheys Manager auch die Option auf ein „Fit „Verblüffung“. Man könne das for Fun-Deli“ nach Vorbild von US-Imbissen verein- 50-jährige „Zeit“-Leben der barten, wird das Magazin nur noch zu einer von Gräfin in so einer Anzeige nicht mehreren Marketingaktivitäten: Nach einem Restau- einfach eliminieren, hieß es im rant in Hamburg, einem neuen Diätprogramm und Verlag, der den Auftrag schließ- eigens entwickelten Broten (mit Zwei-Scheiben- lich zurückzog. Zeitungen wie Packungen für den Single-Haushalt) sollen bis Jah- die „Süddeutsche“ oder der resende rund 40 lizenzierte Lebensmittel vom Brot- „Tagesspiegel“ druckten die Vor- aufstrich bis zum Fertigsalat auf den Markt kommen. Anzeigen-Entwurf lage anstandslos.

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Morpheus-TV n allem ist natürlich Thomas AEdison schuld. Früher ging der Mensch mit den Hühnern zu Bett und stand wieder auf, wenn bei Sonnenaufgang der Hahn krähte. Seit aber Edison vor 120 Jahren die erste brauchbare Glühbirne ent- wickelte, hat sich der Schlafrhyth-

mus empfindlich verschoben: Müde WITT MANFRED bin ich, geh zur Ruh? Von wegen: Nehberg (M.), „Mission: “-Bewerber Der Durchschnittsdeutsche legt UNTERHALTUNG an auf ProSieben laufen soll, brachte sich heutzutage um 23.04 Uhr in Nehberg, 66, vergangene Woche den die Heia, der Matratzenhorchdienst „Mission“-Bewerbern bei, wie man sich endet statistisch um 6.18 Uhr. Toren im eine (Schlaf-)Grube gräbt oder fachge- So etwas rächt sich: Der moderne recht eine Bisamratte grillt. Jede Kinder- Mensch ist ständig müde. Das be- geburtstagsfeier wäre durch solche Trai- legt jetzt auch eine Walde ningseinheiten zu retten; ProSieben indes hat Höheres im Sinn: eine Einschalt- Umfrage der Pro- n der Fernsehbranche kämpft jeder ge- quote über dem Senderdurchschnitt grammzeitschrift Igen jeden – und zurzeit alle gegen Leo (12,5 Prozent). Zwischen Friedrichshafen „Hörzu“: Da- Kirch. Ein Zufall, dass ausgerechnet jetzt und Rügen müssen die Kandidaten dafür nach schläft ein der Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg diverse Aufgaben lösen und sich mit Drittel aller Be- von der Produktionstochter KirchMedia Videokameras selbst filmen. Erklärtes fragten „gele- Entertainment angeheuert wurde? Neh- Vorbild ist der Horrorfilm „Blair Witch berg war 1981 ohne Geld von Hamburg Project“, in dem drei leichtsinnige Toren gentlich“ vor lau- nach Oberstorf marschiert und hatte sich im Walde umherirren und elend zu fendem Fernseher ein, mehr als dabei von Regenwürmern und überfah- Grunde gehen. Ein ähnliches Schicksal zwölf Prozent sogar „häufig“. Be- renen Igeln ernährt. Davon zehrt der soll den „Mission: Germany“-Kandida- sonders müde machen der Umfra- gelernte Konditor bis heute, zumindest ten allerdings vorerst erspart bleiben. ge zufolge die Sendungen von Al- beruflich: Für die neue Abenteuershow Nehberg: „In meinem Vertrag steht, dass fred Biolek und Sabine Christian- „Mission: Germany“, die von Ende April ich niemanden umbringen darf.“ sen, die – „Den Seinen gibt’s Gott im Schlafe“ – regelmäßig rund ein Drittel der Zuschauer zu einem QUOTEN gepflegten Nickerchen verleiten. Offenbar wirken Bioleks servil- Lolle floppt modulierende Stimme und Chris- ie ist das liebenswerteste und leben- tiansens Nicht-Moderation zuver- Sdigste Gesicht in den Blondinenwüs- lässiger als jede Schlaftablette. ten des TV-Vorabends: Felicitas Woll Handelt es sich beim Fernsehschlaf spielt in der ARD-Serie „Berlin, Berlin“ um angewandte TV-Kritik? Ist das eine junge Frau, die vom Landei zur Programm so schlecht, dass man es Großstadtpflanze mutiert (SPIEGEL 10/2002). Die Filme haben Schwung, die nur in Morpheus’ Armen ertragen Dialoge fetzen (Buch: David Safier), und kann? Natürlich nicht. Das Publi- eingestreute Comic-Sequenzen – Lolle kum zum Schlummern zu bringen rennt da der Filmheldin Lola nach – ma- ARD-Vorabendserien ist ein achtbarer Sender-Service. chen klar, dass sich die Filmkunst nicht Marktanteile in Prozent Denn vor dem Fernseher schlafen im „Forsthaus Falkenau“ zur Ruhe set- „Großstadtrevier“ 19,7 heißt: dem Moderator vertrauen. zen muss. Doch die kesse Lolle floppt: So bringt es das leicht ranzige „Großstadt- (Montag) Zuschauer in Millionen: 5,3 Jeder neue Auftritt von Biolek revier“, geboren aus dem Tran des Ohn- „Vebotene Liebe“ 16,6 weckt im Konsumenten die Erinne- sorg-Theater-Humors, auf doppelt so rung an den wohligen Schlummer, viele Zuschauer, die einfältigen und hu- (Montag bis Freitag) 3,1 den seine wattige Fragetechnik morfreien Soaps „Marienhof“ und „Ver- „Marienhof“ 14,4 botene Liebe“ überflügeln Lolle eben- schon vor vielen Jahren regelmäßig (Montag bis Freitag) 3,1 in ihm ausgelöst hat. Und schon ist falls. Offenbar hat Qualität vor der „Ta- gesschau“ wenig Chancen. Man hätte, ist „Berlin, Berlin“ 10,2 er wieder eingedöst. Felicitas Woll in jetzt in der ARD zu hören, Lolle lieber (Dienstag bis Freitag) 2,4 „Berlin, Berlin“

im Hauptabendprogramm senden sollen. JANDER ARD/THORSTEN

116 der spiegel 12/2002 Fernsehen TV-Vorschau spenstert in diesem Dramolett (Buch: eine Katastrophe mündende Eifer- Hanna – wo bist du? Peter Probst, Regie: Dror Zahavi), suchtsphantasien. Film und Buch sind wähnt sich der Zuschauer im üblichen bemüht, ihre Geschichte möglichst Montag, 20.15 Uhr, ZDF TV-Flachland. Wenn die rächenden Da- beiläufig zu erzählen und den Helden Fleischermeister Heinz Strom (Han- men in wildes Hexengelächter ausbre- nicht zum schäumenden Othello wer- nes Jaenicke) bekennt sich zum Le- chen und die Weinglä- ben in der Provinz. Die älteste Toch- ser kreisen lassen, ter Monika (Bernadette Heerwagen) kommt ein Hauch cha- soll dereinst die Metzgerei überneh- otischer Originalität men, mit Strenge und Treue zur Reli- auf. Davon hätte die gion wehrt Strom die Gespenster der „rabenschwarze Moderne ab, die Monika und die jün- Komödie“, so lobt der gere Hanna (Paula Kalenberg) zu Sender sein Werk, einem Leben in der Großstadt ver- mehr gebraucht. locken. Als Hanna entführt wird, gerät die Familie aus dem Gleichge- Vor meiner Zeit wicht, alte Wunden brechen auf. Re- gisseur Ben Verbong gelingt es, dem Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Film eine unverwechselbare Atmo- „Als sie mich noch sphäre zu verleihen. An keiner Stelle nicht kannte“ heißt der werden die Provinzler denunziert in den siebziger Jahren oder lächerlich gemacht. spielende Roman des englischen Erfolgs- Der Mann von nebenan schriftstellers Julian Barnes. Jetzt hat der Dienstag, 20.15 Uhr, Sat.1 NDR (Buch: Niklas NDR / ALLMEDIA Es kann der Frömmste nicht in Frie- Becker, Regie: Manfred Naujoks, Brennicke in „Vor meiner Zeit“ den leben, wenn es dem bösen Nach- Stelzer) aus dem Buch barn nicht gefällt. Die schöne Kate über die Wahnwelt der Eifersucht einen den zu lassen. Solche Zurückhaltung (Lisa Martinek), eine in Scheidung le- Film gemacht. Der Wissenschaftler Wal- macht dem Zuschauer die Handlung bende, bekannte Ex-Sportlerin, will ter (Ingo Naujoks) liebt seine neue Frau aber nicht glaubhafter. Es ist einfach Anne (Nadeshda Brennicke) heiß und nicht zu verstehen, warum der An- innig, bis er entdeckt, dass sie – lange griff der Vergangenheit auf die übrige bevor sich das Paar kennen lernte – in Zeit Walter so vollständig zerstört. drittklassigen Filmen mitgewirkt hat. Naujoks’ Ruhrgebietsphlegma passt Walter wird zum Kinogänger und stei- nicht zu der gestörten Person, die er gert sich in immer wildere, am Ende in zu spielen hat. TV-Rückblick Mehrparteiensystem, überhaupt die „Bildung von Parteien“ – das „vertieft Morgenmagazin die Gräben der Gesellschaft nur noch Szene aus „Der Mann von nebenan“ weiter“. Allein, der „Afrika-Experte“ 12. März, ARD/ZDF hatte noch etwas Tolles auf Lager: Kor- zwar kein frommes Leben führen, Fernsehen wird erst im Alter schön – ruption und Misswirtschaft wie in Nige- aber zusammen mit ihrem Sohn in Erich Böhme weiß es so gut wie Peter ria, das gebe es doch genauso im Raum einem oberbayerischen Dorf einen Scholl-Latour und Ulrich Wickert. Im Köln. Sein atemraubendes Resümee: möglichst ungestörten Neuanfang wa- ARD-Morgenmagazin durfte jetzt auch „Afrika ist wirklich überall.“ Na dann ist gen. Alles könnte so schön sein, wäre Hans-Josef Dreckmann, 63, langjähriger ja alles gut. Jetzt müssen es nur noch die da nicht der Nachbar Mattuschek Afrika-Korrespondent der ARD, mal Menschen in Simbabwe mitbekommen. (Axel Milberg), ein aufdringlicher wieder auf den Schirm. Hätte er nur ge- und notgeiler Frührentner. Der ver- schwiegen! Nach dem exzellenten Be- folgt die unter rätselhaften Ohn- richt des Reporters Stefan Schaaf aus machtsanfällen leidende junge Frau, Harare über die mörderische Wahlfarce demütigt den Jungen und schlägt die in Simbabwe verteidigte Dreckmann auf eigene Gattin. Mit dem Widerwillen abstruse Weise den greisen Diktator gegen das Ekelpaket steht die junge Robert Mugabe, der sich „wie ein alter Mutter zu ihrem Glück nicht allein Elefant in die Ecke gedrängt“ fühle. So da. Kate tut sich mit einem Trio kes- habe Mugabe angeblich „nur noch die ser Damen (Andrea Sawatzki, Barba- Möglichkeit, um sich zu schlagen“. ra Magdalena Ahren, Eva Hassmann) Auch auf Vorhalt der irritierten Mode- zusammen, und der Fiesling hat aus- ratorin Judith Schulte-Loh, der Mann gegiftet. Wenn es gewittert und ge- sei doch aber ein Diktator, wusste Dreckmann eine originelle Antwort: Ein Dreckmann

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ZDF „Ich werde gern unterschätzt“ Der neue ZDF-Intendant Markus Schächter galt in den Gremien als zweite Wahl. Er kam ins Amt, weil sie vollends versagten – und muss nun gleich zwei Imageprobleme meistern: das eigene und das des Senders. Gelingt ihm die überfällige Modernisierung des Programms?

agelang fahndeten die Mitarbeiter diversen Ministerpräsidenten, Stoltes siastische Reaktion. Sein Kollege Bern- der ZDF-Hauptabteilung Kommu- Freund Leo Kirch und neun Reden. „Bei hard Vogel ließ nach der Abstimmung Tnikation nach Interessantem über aller Bescheidenheit“, sagte Regisseur Die- durchblicken, ihm wäre der stellvertreten- ihren neuen Intendanten. Sie kramten in ter Wedel in einem launigen Abschieds- de Chefredakteur Helmut Reitze lieber seiner Vergangenheit, fragten nach Hob- film über den scheidenden Intendanten, gewesen. bys und Vorlieben – alles, um mit dem Vor- „war er auch immer ein kleiner Kurfürst.“ Nur einmal wirkte Schächter in der ver- urteil aufzuräumen, der Neue sei ein biss- Schächter stand in der Woche der Stab- gangenen Woche wirklich gelöst: Als ARD- chen blass und langweilig. übergabe noch im Schatten, immer zwei Chef Fritz Pleitgen ihn bei der offiziellen Am Ende reichte das Material Stolte-Verabschiedung direkt an- immerhin für eine halbe DIN-A4- sprach, ihm mehr als eine Floskel Seite. Der Mann war mal pfälzi- widmete und ihn als „engagiert“ scher Meister mit seiner Fußball- und „kompetent“ bezeichnete. Da Jugendmannschaft. Er sagt, er höre warf Schächter den Kopf in den gern Hardrock. Sogar als Roadie Nacken und schloss die Augen. Ein hat er mal gearbeitet und Boxen kurzer, stiller Triumph, dieselbe für Jimi Hendrix geschleppt. Die Geste wie am Samstag zuvor, als Verantwortlichen schöpften leise Fernsehratschef Konrad Kraske Hoffnung. Und dann das. nach zermürbenden Monaten end- Bei seinen ersten Interviews, lich ein Ergebnis verkünden konn- noch im alten Büro des Programm- te: 51 Stimmen, eine Dreiviertel- direktors, ist von Hardrock keine mehrheit für Schächter. Spur. Stattdessen stehen auf dem Anders als die Legende es will, Bücherbord von Markus Schächter, war er bei seiner Wahl nicht etwa 52, den der Fernsehrat am vorver- im heimischen Vorgarten, sondern gangenen Samstag überraschend saß längst in seinem Büro, obwohl

zum Nachfolger von Dieter Stolte HUSCH / TERZ! STEFAN ihm die Strippenzieher am Vortag kürte, Bändchen mit Titeln wie Scheidender Intendant Stolte, Nachfolger Schächter noch bedeutet hatten, er sei kein „Spiritualität entdecken“. Wenn Nach 20 Jahren eine neue Ära Kandidat mehr und könne sich am Bücherborde wirklich Bände über Wochenende der Familie widmen. ihre Besitzer sprechen, dann würde das Schritte hinter „Mr. Perfect“, wie „Bild“ Günter Struve war bei ihm, der ARD-Pro- ZDF in den nächsten fünf Jahren wohl wirk- Stolte am Freitag titulierte. Tatsächlich grammdirektor, der das letzte Abstim- lich bleiben, wie es ist. Wird es aber natür- wirkte der Ex-Intendant, braun gebrannt mungsopfer werden sollte in diesem Wahl- lich nicht. vom Skilanglauf im Engadin, in seiner letz- debakel, in dem es am Ende außer Schäch- Wenn Schächter an diesem Montag im ten Amtswoche wie der Kapitän auf jenem ter nur Verlierer gab. 14. Stock des ZDF-Hochhauses auf dem „Traumschiff“, dem das ZDF einen seiner Eine der bittersten Niederlagen erlebte Mainzer Lerchenberg ein paar Türen weiter großen Quotenerfolge verdankt. Sein ZDF-Fernsehspielchef Hans Janke, dessen zieht, wenn Stolte ihm symbolisch das In- Nachfolger mit der randlosen Brille und Chancen auf die Nachfolge von Schächter tendanten-Büro übergibt und den goldenen dem grauen Bart hätte eher bei den „Sem- als Programmdirektor in letzter Minute Universalschlüssel für alle Türen im ZDF, melings“ eine gute Besetzung abgegeben – vom SPD-nahen roten Freundeskreis ge- dann beginnt schon deshalb eine neue Ära, als Chef der Oberfinanzbehörde. opfert wurden – nach einem absurden Auf- weil eine sehr große, sehr alte endet. Das Abschiedspensum war Schächter, tritt der roten Rätin Anke Fuchs, die ur- 20 Jahre war Stolte Intendant des Zwei- der sich beim ZDF seit Anfang der Achtzi- plötzlich noch einmal Stoibers Lieblings- ten. Wie sehr er mit „seiner“ Anstalt ver- ger über die Kinder- und Kulturabteilungen kandidaten Gottfried Langenstein ins Spiel wachsen war, wie sehr er sie verkörperte, zum Programmdirektor hochgearbeitet hat- brachte. Beidhändig mussten ihre Partei- im Positiven wie im Negativen, das wurde te, sichtlich nicht nur Vergnügen. Kein Wun- freunde daraufhin zurückrudern, zu einem in der vergangenen Woche noch einmal der, wenn der bunte Chor der Chefredak- hohen Preis: Nicht nur die Intendanz, so überdeutlich: Stoltes Abgang wurde nicht tion singt: „Bei der Wahl von Stolte hat wurde ausgehandelt, auch die Programm- gefeiert, er wurde zelebriert. niemand sich gequält.“ Wenn auf den direktion soll wieder aus dem konservati- Am Mittwoch der Abschied von den Plakatwänden am Lerchenberg nur „Scha- ven Spektrum besetzt werden. Mitarbeitern, zwei Stunden Programm bei de …“ und „Danke, Dieter Stolte“ steht. Größter Verlierer der fast einjährigen Wein und Säften, ein Winkewinke-Beitrag Als wären die Kommentare nach der „Gruselbahnfahrt“ (Schächter) ist aber das im „heute-journal“, danach eine dreivier- Wahl nicht schlimm genug gewesen. ZDF. Nie in seiner Geschichte hatte der telstündige Hommage mit dem skurrilen „Eine vertretbare Lösung“ hatte ZDF- Sender so viel schlechte Presse, nie wurde Titel „Der Astronaut“. Am Donnerstag der Verwaltungsrat Kurt Beck Schächter ge- so viel Spott über der Anstalt ausgegossen offizielle Festakt mit Bundespräsident, nannt – noch eine vergleichsweise enthu- wie im Jahr des Intendantenstadls.

118 der spiegel 12/2002 LANGBEHN / ACTION PRESS LANGBEHN / ACTION JÜRGEN DETMERS / ZDF JÜRGEN DETMERS ZDF-Sendungen „Wetten, dass …?“, „Der grosse Preis“: „Einige Baustellen“ ZDF Sendezentrum auf dem Mainzer Lerchenberg: „Die Zeit des Attentismus ist vorbei“ ULI DECK / DPA ULI JENS KALAENE / DPA Talk-Highlights „Johannes B. Kerner Show“, „Berlin Mitte“ mit Maybrit Illner: Europa-Rekord beim Info-Anteil

Was nun, Herr Schächter? „Nach vorn auf, führte Gespräche im Hintergrund. Und die Einführung des Samstagskrimis und schauen“, sagt der neue Intendant. „Was als der konservative Freundeskreis ihn we- den Umbau des Nachmittagsprogramms. mit uns gemacht wurde, war nicht immer der zum ersten noch zum zweiten Wahl- Andererseits fragen die Enttäuschten of- lustig, aber ich habe es schon vergessen.“ termin ins Rennen schickte, schluckte fen, woher neue Ideen und Impulse kom- Haben sich die Skeptiker am Ende alle Schächter die Demütigung und gab nicht men sollen: Immerhin habe Schächter doch in ihm getäuscht? Kann Schächter doch für auf – obwohl er, wie er jetzt gesteht, schon als Programmdirektor alle Chancen den Aufbruch stehen, für ein modernes, „schon einmal daran gedacht“ habe. Am gehabt, das ZDF nach vorn zu bringen. jüngeres ZDF? Obwohl auch er schon seit Ende, das wusste er, könnte er der einzige Niemals würde Schächter offen sagen, 20 Jahren beim Sender arbeitet, seit mehr mehrheitsfähige Kandidat sein. Und ge- dass er nicht immer konnte, wie er wollte. als einem Jahrzehnt in verantwortlichen nauso kam es, in allerletzter Minute, auf Kritik am Vorgänger kommt nicht über sei- Positionen? Obwohl er sich, nach Gemein- Vorschlag des SPD-Mannes Beck, ein Pfäl- ne Lippen. Da ist er, wie Stolte, ganz Di- samkeiten mit Stolte gefragt, als wertkon- zer wie er. Nun hat Schächter als kleinster plomat. Der Satz: „Die Zeit des Attentis- servativ bezeichnet? Nenner eine große Chance – und eine dop- mus ist vorbei“, den er kürzlich sagte, war „Ich werde gern unterschätzt“, sagt pelte Aufgabe. Er muss gleich zwei Image- da fast schon eine Sensation. Wie die Be- Schächter. „Das bringt große Startvor- probleme lösen. Sein eigenes, vor allem merkung, dass es „ja doch einige Baustel- teile.“ aber das des ZDF. len“ gebe, womit er stark untertreibt. Tatsächlich hat er sein Ziel beharrlich Auf dem Lerchenberg ist das Urteil denn Auch wenn die ZDF-Studie der Boston verfolgt. Seine Ambition auf die Stolte- auch gespalten. Einerseits herrscht Er- Consulting Group, die der nordrhein-west- Nachfolge machte er dezent, aber deutlich leichterung. Schächter als Hausgewächs gilt fälische SPD-Ministerpräsident Wolfgang klar. Auffallend häufig tauchte Schächter als einer, der die Probleme von innen Clement ausgerechnet während der Wahl zuletzt bei Shows und Galas im Programm kennt. Viele verweisen auf seine Erfolge, in Auftrag gab, gravierende Mängel hat –

der spiegel 12/2002 119 Medien die Kernbefunde kann auch Schächter Ziel, das sich die Kollegen vorgenommen ha- nicht bestreiten: ben“. Insgesamt will er den Info-Anteil, bei • Im Schnitt sind die ZDF-Zuschauer dem sein Kanal mit 51 Prozent den Europa- 58 Jahre alt. Nur beim SWR ist das Rekord hält, „moderat zurückschrauben“. Publikum noch zwei Jahre älter. Weil Schächter zudem weiß, wie schwie- • Der Sender produziert zu teuer. Die rig es wird, gegen das Rentner-Image seines Eigenproduktionen sind deutlich kost- Senders anzukämpfen, hat er seine Ziele spieliger als bei der ARD. maßvoll gesteckt. Um ein bis zwei Prozent • Show-Innovationen? Fehlanzeige. Ver- will er in der „Zielgruppe der Entschei- suche, etwa mit „Cash“ an den Quiz- der“, bei den 30- bis 59-Jährigen, zulegen Boom anzuschließen, floppten. und dort Marktführer werden. • Top-Quoten bringen vor allem Ever- Er glaubt fest daran, dass derlei zu schaf- greens wie „Wetten, dass … ?“, auch fen ist. Es wäre ein erster Erfolg – ein Be- wenn die Show nach 21 Jahren Patina weis, dass er als Produkt des alten Systems angesetzt hat. Professionelle Gag-Schrei- auf dem Lerchenberg eben doch etwas ber sollen Gottschalk nun wieder auf bewegen kann. alte Humorhöhen heben. Zu dem Gesetzesvorschlag aus Nord- • Der deutsche Osten schaut lieber Pri- rhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, vatfernsehen und die Dritten der ARD. der nach den Erfahrungen bei seiner Kür Wenn Schächter sich am Dienstag mit zum Ziel hat, den Fernsehrat zu verklei- seinen Programmverantwortlichen trifft, nern und den Verwaltungsrat statt mit dann wird er ihnen eröffnen, dass er sich Politikern mit Experten zu besetzen, äußert

Alterndes ZDF

Durch- ZDF-Marktanteil 18,8 17 TV-Marktanteile schnitts- nach Alters- in Prozent alter der gruppen Zuschauer ab 3 Jahre Zuschauer* in Prozent Zuschauer* 14,7 14,8 RTL Quelle: AGF/GfK 15 ZDF Dezember 2001 58 Jahre 13,4 13,7 ARD ARD 13 56 Jahre 9,0 13,2 13,0 ZDF Sat.1 47 Jahre 5,0 4,5 11 RTL 10,1 Sat.1 45 Jahre ProSieben 9 Pro 36 Jahre 8,0 Sieben 3 14 30 über *Jan. bis Okt. 2001 bis bis bis 50 Quelle: ZDF 13 29 49 19951996 19971998 19992000 2001

„als Sparintendant“ profilieren muss, dass sich Schächter bislang diplomatisch. Das sie alle künftig mit weniger Mitteln mehr sei Aufgabe der Politik, sagt er. „Aber ich erreichen sollen. Sein erklärtes Ziel, das begrüße jede vernünftige Verkleinerung.“ ZDF vom Einkanalsender zur digitalen Eine erste echte Bewährungsprobe steht Senderfamilie auszubauen, liegt nicht nur am 31. Mai an, wenn ein Nachfolger für politisch in weiter Ferne. Schächters alte Position gewählt werden Im Sport will Schächter zweistellige Mil- soll. Bleibt Mainz weiter Mainz, weil lionen-Summen sparen, durch den Verzicht Schächter, wie man auf dem Lerchenberg auf Auslandsspiele der Fußball-National- munkelt, dann Thomas Bellut vorschlagen mannschaft, Uefa-Cup-Partien und Tennis- wird, den konservativ geprägten Leiter der Events. Kämen durch die Kirch-Krise die ZDF-Innenpolitik? Setzt er ein Signal und Bundesliga-Rechte auf den Markt, das ZDF entscheidet sich für einen externen Kandi- müsste abwinken. „Es wäre schön“, so daten? Oder setzt er sich gar über alle po- Schächter, „aber es geht nicht.“ An den litischen Kungeleien hinweg und schlägt Plänen, mit der ARD die WM-Rechte für doch noch seinen weithin respektierten 2006 zu erwerben, will er aber festhalten. Fernsehspielchef Janke vor? Unruhe hat die Wahl Schächters intern vor Wenn Markus Schächter Anfang dieser allem im Informationsbereich ausgelöst, denn Woche sein neues Büro bezieht, wird er je- als Programmdirektor kämpfte er bisher denfalls nicht nur seine spirituelle Lektüre primär für Spielfilme, Serien, Shows. Schon auspacken. Er wird auf dem neuen Schreib- länger stehen einige Formate auf der Kippe, tisch auch zwei kleine Metallskulpturen ar- das Frauenmagazin „Mona Lisa“ etwa und rangieren, das Geschenk eines befreunde- „Was nun,…?“. Die neuen Magazine „Fron- ten Künstlers. Das Werk heißt „Der Mutant tal 21“ und „ZDF.reporter“ seien, so Schäch- – manchmal muss man sich verändern, um ter, „auf gutem Wege, aber noch nicht am sich treu zu bleiben“. Marcel Rosenbach

120 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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s ist lange her, aber die am 11. Was die viel gereiste und sprach- viele, unter anderem auch ich, ihr ge- März verstorbene Marion Gräfin kundige Journalistin zu der sich wild raten hatten. Denn wir ahnten, dass ihr, EDönhoff hat mir vor acht Jahren, gebärdenden Regierung des George W. wie sich bald herausstellte, der Begriff anlässlich meines 70. Geburtstags, ge- Bush oder auf deutscher Seite zu den Fahrerflucht fremd war. schrieben: „Lieber Rudolf, erinnern Plänen von Otto Schily sagen würde, Nach mehreren Karambolagen wur- Sie sich? Wir haben vor Jahrzehnten in muss nun ungesagt bleiben. de sie zu 14000 Mark Geldstrafe ver- einem kollegialen Pakt verabredet, dass Seit drei Monaten beklagte sie sich urteilt, worüber sie ebenso verwundert zu gegebenem Anlass – also wenn es so darüber, dass sie nicht mehr schreiben wie empört war. weit ist – jeder, wer von beiden es im- könne. In Wahrheit tat ihr der rechte Der, was die Gräfin anging, spät be- mer sei, dem anderen einen Nekrolog Arm so fürchterlich weh, dass sie alle rufene Nannen, rief ihr 1989 das warm- schreibt.“ Nun, es ist so weit. Die meist- Kraft zusammennehmen musste. Im herzige Wort zu: Gräfin, schön, dass es gelesene und einflussreichste politische Dezember schickte sie mir ihr Buch Sie gibt. Journalistin unserer Tage ist von uns „Namen, die keiner mehr nennt; Ost- In der Nähe der Gräfin hielt ich mich gegangen. Nach quälendem Leiden. preußen – Menschen und Geschichte“ gern auf. Ich fühlte mich da irgendwie Sie erinnerte sich, dass geborgen. So saßen wir ich sie 1947 in ihrem bei einer Feier anlässlich NACHRUF sechs Quadratmeter mes- Nannens 80. Geburtstags senden Büro bei der nebeneinander, als der „Zeit“ besucht habe. „Gräfin, schön, dass „Stern“ über eine meh- Ressort: Politik. Das mag rere Meter große Lein- stimmen, ich war ja eine wand einen lachenden Art SPIEGEL-Gründer. es Sie gibt“ Henri Nannen darbot, Aber ich hatte nicht viel der immer wieder das- mehr Zeitungserfahrung Rudolf Augstein zum Tod der Publizistin selbe Lied, „Mariechen als sie. saß weinend im Garten“, Sie hieß „Die Gräfin“, Marion Gräfin Dönhoff (1909 bis 2002) sang, das war wohl in lehnte aber alle gut ge- Positano aufgenommen. meinten Epitheta wie Und siehe da, auch die etwa „Erste Dame des Gräfin konnte herzhaft Landes“ brüsk ab. Sie mitlachen. kenne andere Frauen des Auf ihre zahlreichen öffentlichen Lebens, die Orden und Ehrenzeichen ebenfalls keine Freude legte sie keinen Wert, al- verspürten, wenn man lenfalls auf den Ehren- sie als „Erste oder Große doktor von Birmingham. Dame“ anspreche. Freundschaften hielt Hinfort kreuzten sich sie für wichtig, und wen unsere Wege des Öfte- kannte sie nicht? ren. Sie und ich waren Dazu, 1999 Ehrenbür- die Ersten, die mit Karl gerin von Hamburg zu Eduard von Schnitzler, werden, musste man sie dem Parteipropagandis- drängen, und zwar mit

ten der SED, auch „Su- WIESE WOLFGANG dem Argument, wenn del-Ede“ geheißen, 1959 Gräfin Dönhoff mit Kissinger, Weizsäcker, Augstein (1989) sie das ablehne, würde ein Radiogespräch zu zu ihren Lebzeiten kein Stande brachten, das gleichen Wort- in dem Glauben, dass ich es gar nicht Ehrenbürger mehr ernannt werden lauts von den Radiostationen der Bun- kenne. Das war nun ein großer Irrtum. können. Sie lehnte nicht ab, und Sieg- desrepublik und der DDR ausgestrahlt Das 1962 erschienene beeindruckende fried Lenz wurde dann 2001 Ehrenbür- wurde. Es hat die Welt nicht verän- Werk wurde bis heute mehr als ein ger. Es war das letzte Mal, dass ich dert, hatte aber vorausschauenden Dutzend Mal aufgelegt, und natürlich sie gesund sah. Unsere beständige Ver- Charakter. musste ich es kennen. bindung wurde das Telefon. Wir hatten Marion, Gutsherrin in Ostpreußen Dass wir allmählich zum Du über- verabredet, uns endlich einmal wieder auf Gut Friedrichstein, wusste, dass sie gehen würden, merkte ich Anfang der zu sehen. Der Termin wurde von dorthin nicht zurückkehren würde. Sie Neunziger an ihrer Antwort auf ein Woche zu Woche verschoben, bis mir gab auf, was sie am meisten liebte. Geburtstagsgeschenk, einen Porsche, klar wurde, dass er nie mehr stattfin- Wir vertraten durchaus nicht immer der mit rosaroten Bändern wie ein den würde. dieselben Positionen, aber Willy Brandt Osterei verpackt war: „Rudolf, du Auch wenn man einen Schlag jeden und Egon Bahr fanden in ihr, Henri kannst mir in meinem Alter doch kei- Tag erwartet, ist man doch konster- Nannen und mir tatkräftige Mithelfer. nen Porsche mehr schenken. Aber niert, wenn er erfolgt. Gott Dank starb Gemeinsam veröffentlichten Marion wenn ich einmal aus dem Beruf aus- sie nicht im Krankenhaus, sondern auf und ich im Februar 1998 in der „Zeit“ scheide, darf es gern ein Kleinwagen Schloss Crottorf, dem Schloss eines ih- einen Artikel gegen den von der Re- wie die Ente sein…“ Nun wusste ich: rer Neffen im Siegerland. Was ihr an gierung Kohl promovierten Lausch- Sie würde nicht aus dem Berufsleben Verwandten geblieben war, hatte sich angriff (Wortlaut bei SPIEGEL ONLINE ausscheiden, aber sie würde auch das eingefunden. Wir werden ihresgleichen unter www.spiegel.de). Autofahren nicht aufgeben – wozu nicht mehr sehen.

122 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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afrikanische Entwicklungs- programme haben damit kaum noch eine Zukunft: Wir können nicht erwarten, dass man uns finanziell unterstützt, wenn wir den von uns selbst aufgestellten Anforderungen an Demokratisierung nicht treu bleiben. SPIEGEL: Warum kam es nicht zu Massenprotesten? Tsvangirai: Die Regierungs- partei wartet doch nur auf eine Konfrontation, um den Widerstand gewaltsam zu brechen. Wir wollen einen legitimen langfristigen Sieg, keine gewonnenen Straßen-

YOAV LEMMER / DPA LEMMER YOAV schlachten. Warteschlange vor Wahllokal SPIEGEL: Werden Sie das Wahlergebnis anfechten? SIMBABWE SPIEGEL: Der Stimmenvorsprung für Prä- Tsvangirai: Die Gerichte sind längst mit sident Robert Mugabe war gewaltig. Hät- regierungstreuen Richtern besetzt. Wir ten Sie nicht auch ohne Wahlbetrug haben keine Chance auf eine Annulie- „Unverhohlener verloren? rung der Wahlen. Tsvangirai: Selbst in Regionen, in denen SPIEGEL: Sie müssen damit rechnen, we- kaum Menschen bei der Stimmabgabe gen Hochverrats angeklagt zu werden. Betrug“ gesehen wurden, soll es eine Wahlbetei- Fürchten Sie um Ihr Leben? ligung von über 90 Prozent gegeben ha- Tsvangirai: Ich werde mir nicht die Angst Morgan Tsvangirai, 50, ben. Armee und Geheimdienst jagten un- zum Komplizen machen, sondern diesen ist Vorsitzender der sim- sere eigenen Wahlbeobachter davon und Kampf an der Seite der Bevölkerung babwischen Oppositions- spickten die Urnen mit gefälschten Wahl- durchstehen. partei „Bewegung für zetteln; dies war keine demokratische SPIEGEL: Sollte der Staatschef Ihnen und Demokratischen Wan- Wahl. Dies war unverhohlener Betrug. Ihrer Partei eine Rolle in der Regie- del“ (MDC). Bei den SPIEGEL: Im Gegensatz zum Common- rung zubilligen, würden Sie diese im Präsidentschaftswahlen wealth haben die von der Regierung Süd- Interesse nationaler Versöhnung an- am vorvergangenen Wo- afrikas entsandten Beobachter die Wah- nehmen?

ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH chenende unterlag er len für legitim erklärt. Tsvangirai: Nein. Mugabe ist unser Pro- dem seit 22 Jahren unan- Tsvangirai: Damit haben die Südafrika- blem. Er hält sich mit Gewalt an der gefochtenen Herrscher Robert Mugabe. ner ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie Macht. Wenn wir dieser Praxis kein Ende Doch die Opposition hält das Wahl- haben sich gegen den Willen des Volkes bereiten, wird Gewalt die Politik dieses ergebnis für manipuliert. mit Mugabe solidarisch erklärt. Neue Landes auch in Zukunft prägen.

GROSSBRITANNIEN London wächst zu schnell ie britische Hauptstadt platzt aus allen Nähten: Jedes Jahr Dmuss London einen Zuwachs von 50000 Bürgern verkraf- ten und ist damit die am schnellsten wachsende Metropole Eu- ropas. Das geht aus einem Bericht hervor, den Londons Bür- germeister Ken Livingstone jetzt vorgestellt hat: Dank eines kräftigen Geburtenüberschusses und Einwanderern aus aller Welt werden bis 2016 zu den 7,5 Millionen Londonern weitere 750000 hinzukommen. Um dann alle Kinder mit Schulplätzen zu versorgen, müssen 130 neue Schulen gebaut werden. Ebenso problematisch ist der Verkehr: Die marode U-Bahn ist

in der Rushhour hoffnungslos überfüllt, die Straßen mutieren CLARKE / REX FEATURES STUART immer mehr zu Parkplätzen. Wegen des Dauerstaus ist Lon- Verkehrschaos in London don nach Athen bereits die Stadt mit der schmutzigsten Luft Europas. „Die öffentlichen Dienstleistungen werden nicht Stadtsoziologe, „werden deshalb von privaten Dienstleistun- Schritt halten“, befürchtet Tony Travers von der London gen abhängig sein: im Gesundheitssektor, bei der Bildung oder School of Economics. „Mehr Menschen“, prognostiziert der im Bereich der Sicherheit.“

der spiegel 12/2002 131 Panorama

SINGAPUR Todesstrafe für deutsche Schülerin? iner 22-jährigen Deutschen droht die Todesstrafe. EAm vergangenen Mittwoch war Julia-Susanne Bohl, die erst kürzlich in der DaimlerChrysler-Zentrale Süd- ostasien den praktischen Teil ihrer Lehre als Groß- und Einzelhandelskauffrau abgeschlossen hatte, in Sin- gapur verhaftet worden. Die junge Frau war zuvor mit ihrem malaiischen Freund in der Restaurant- und Knei- penstraße Mount Elizabeth in die Fänge der Drogen- fahnder geraten. Bei einer anschließenden Durchsu-

chung in einem Apartmenthaus stellte die Polizei 687 SUKREE SUKPLANG / REUTERS Gramm Cannabis, 60 Ecstasy-Tabletten, 30 Gramm Ke- Thailändische Soldaten im Anti-Drogen-Einsatz, verhaftete Bohl tamin und 34 Gramm Methamphetaminkristalle sicher. Zwar gab es in Singapur bisher kaum Drogenmiss- „Goldenes Dreieck“ brauch, doch der Stadtstaat liegt in unmittelbarer Nähe bedeutender Drogenanbaugebiete. BURMA LAOS Nach der Festnahme von Bohl wurden weitere sechs Frauen und drei Männer inhaftiert. In der regierungs- THAILAND treuen Lokalzeitung „The Straits Times“ heißt es, die Deutsche habe gemeinsam mit ihrem 21-jährigen r Freund ein „Drogensyndikat geleitet“. Seit Wochen e e habe das Pärchen deswegen unter Beobachtung ge- M s standen. Auf der Wache sei Bohl tränenüberströmt Indischer he sc zusammengebrochen. Sollte der Vorwurf der Behörden Ozean esi Südchin bewiesen werden, steht es schlecht um die Deutsche: Nach den gesetzlichen Bestimmungen Singapurs steht MALAYSIA SINGAPUR

auf Drogenhandel die Todesstrafe. Zwischen 1991 AP INDONESIEN 500 km

CHINA gegen die Beschlagnahmung von 30000 Kubikmetern Mahagoniholz Aufruhr im Erdölfeld in ihrem Reservat zu protestieren. Holzhändler wollten die Ladung nhaltende Demonstrationen gegen im Wert von etwa 35 Millionen Adie sozialen Folgen der Wirtschafts- Euro mit gefälschten Papieren reform erschüttern die chinesische Re- nach Europa verschiffen, doch die gierung. Zum größten Massenprotest in Naturschutzbehörde Ibama war der jüngeren Geschichte des Landes ihnen zuvorgekommen. Vergange- kommt es dabei im Erdölfeld Daqing in ne Woche demonstrierten Hun- der Nordostprovinz Heilongjiang: Zeit- derte Indianer vor Regierungs- weise sollen bis zu 50000 Demonstran- gebäuden in Belém und der ten die Zentrale der „Daqing“-Erdölge- Hauptstadt Brasília. Die Caiapó sellschaft blockieren. Belegschaft und betreiben seit Jahren illegalen

Geschäftsführung streiten sich offenbar JOEL RODRIGUES / AP Handel mit dem Edelholz. Dabei über die Höhe der Abfindungen für jene Caiapó-Indianer fließt das Geld zum größten Teil Arbeiter, die freiwillig den Betrieb ver- in die Taschen von Holzhändlern lassen. Zahlreiche, mitunter stark ver- BRASILIEN und korrupten Häuptlingen. Brasilien schuldete Staatsunternehmen versuchen hatte den Mahagonihandel im Oktober derzeit die Beschäftigen auszuzahlen, Mahagonikrieg am vergangenen Jahres verboten. Nur Holz um die Kosten zu senken. Besonders pi- aus wenigen, staatlich kontrollierten kant: Daqing war unter Mao Tse-tung Amazonas Gebieten darf exportiert werden. Inter- ein von der Propaganda gefeiertes Mus- esse am Mahagonihandel haben aber terunternehmen. Auch in der Provinz eil die Regierung das Abholzen nicht nur die Indianer: Anfang März Liaoning protestierten vergangene Wo- Wvon Mahagonibäumen verboten gab ein englischer Richter die Einfuhr che rund 7000 Menschen, weil ihnen die hat, steht im Amazonasgebiet ein India- einer Ladung frei, obwohl das Tropen- Behörden über Monate hinweg Löhne neraufstand bevor. Die Caiapó haben holz nach Auskunft der brasilianischen und Arbeitslosengeld schuldig blieben. sich mit Holzkonzernen verbündet, um Naturschutzbehörde Schmuggelware ist.

132 der spiegel 12/2002 Ausland

ITALIEN nach einer ungerechtfertigten Kündi- gung und langem Rechtsstreit auf den Generalstreik gegen früheren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen, wollen die Gewerkschaften Berlusconi nicht opfern. Die Regierung hingegen plant, dieses Rückkehrrecht weitgehend ie Gewerkschaften Italiens machen durch eine finanzielle Entschädigung zu Dmobil. Einig wie lange nicht, wollen ersetzen und damit ein Versprechen an die drei größten Arbeitnehmerorganisa- die Wirtschaft zu erfüllen. Dass kom- tionen, die insgesamt etwa elf Millionen munistische, katholisch-christdemokra- Mitglieder vertreten, mit landesweiten tische und sozialdemokratische Ge- Protestaktionen und einem für April an- werkschafter gemeinsam auftreten, ist gedrohten achtstündigen Generalstreik selten und für die Regierung in Rom die von der Regierung beschlossene Ar- umso gefährlicher: Ihr Protest reicht beitsrechtsreform zu Fall bringen. Vor weit in die Mitgliedschaft und Wähler- allem den Anspruch aller Beschäftigten, klientel der Koalitionsparteien hinein.

und 2000 wurden mehr als 240 Drogentä- ter gehängt. Noch bezweifeln deutsche Stellen die Dar- stellung der Behörden. Schulleiter Gün- ter Boos, zu dessen Unterrichtsplänen die obligatorische Aufklärung über die stren- ge Drogenpolitik des Landes gehört, be- schreibt die Absolventin des berufsbil- denden Zweigs der deutschen Schule als „intelligente, fleißige und pünktliche Schü- lerin“. Vor drei Wochen erst hatte der Ge- schäftsträger der deutschen Botschaft Ju- lia-Susanne Bohl das Abschlusszeugnis überreicht. „Endlich geschafft“, zitiert die

Hauspostille der Schule die Abgängerin. X / STUDIO / GAMMA NUSCA ANTONELLO Anti-Berlusconi-Demonstration

SERBIEN UND MONTENEGRO gen Belgrad und Podgorica zum Einlenken bewegen können. Von einem faulem Kompromiss spricht Nationalbankchef Neuer Staat, alte Probleme Mladjan Dinkiƒ: Tatsächlich sei der neue Staat eine Fiktion, hinter der sich eine Konföderation mit zwei verschiedenen aum wurde der neue Balkanstaat „Serbien und Monte- Währungen, unterschiedlichen Markt-, Zoll- und Steuersyste- Knegro“ in der vergangenen Woche ausgerufen, kriselt es men verstecke. Auch die Sozialistische Partei (Vorsitzender im Nachfolgegebäude des früheren Jugoslawien. Nur mit mas- immer noch: Slobodan Milo∆eviƒ) kündigte im Parlament be- siven Drohungen, weiterer Widerstand werde auch eine Asso- reits Widerstand gegen dieses Staatsgebilde an. In Montenegro ziierung mit der Eu- wird trotz aller gegensätzlichen Beteuerungen des Ministerprä- DasEhemaliges ehemalige Jugoslawien Jugoslawien ropäischen Union in sidenten Filip Vujanoviƒ gar mit einer Regierungskrise gerech- Frage stellen, hatte net. Zwar sind in der Einigung Zugeständnisse für den kleinen UNGARN der EU-Beauftragte Bündnispartner vorgesehen, etwa die Verlegung einiger Minis- Slowenien RUMÄNIEN Javier Solana nach terien nach Podgorica. Doch Präsident Milo Djukanoviƒ hatte Kroatien monatelangem Rin- seinen Wählern seit Jahren Unabhängigkeit versprochen. Ko- alitionspartner bezichtigen ihn nun des Betrugs. Bosnien- Belgrad Herzegowina Die größte Enttäuschung war das neue Bündnis Serbien für die Kosovo-Albaner. Sie hatten gehofft, bei Monte- einem Zerfall Jugoslawiens die Unabhängigkeit negro KosovoKosovo zu erhalten, da die Uno-Resolution 1244 das Ko- Podgorica sovo formell als Teil Jugoslawiens deklariert. ITALIEN Maze- donien Zwar sieht die Verfassung des neuen Staates ein ALBANIEN dreijähriges Moratorium vor, nach dessen Ab- lauf sowohl Serbien wie auch Montenegro ihren GRIECHEN- Austritt aus dem neuen Bündnis erklären kön- LAND nen. Doch da liegt eine Fußangel: Falls Monte- negro selbständig werde, so heißt es, sei Serbien

100 km / AP ILIC SRDJAN alleiniger Nachfolger des jetzigen Staates und Djukanoviƒ, Solana, Vujanoviƒ Kosovo weiter sein Bestandteil.

der spiegel 12/2002 133 Ausland

USA

Atomwaffen weltweit Offizielle Atommächte De-facto- Atommächte Atomwaffen- programme eingestellt potenzielle Ziele der USA Argentinien J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J. Präsident Bush, Soldaten auf dem Luftwaffenstützpunkt Eglin in Florida (am 4. Februar): Scharfe Kritik von den Verbündeten

USA „Den Knüppel herausgeholt“ Im Kalten Krieg war der Einsatz von Atomwaffen nur als Vorstufe zum Jüngsten Gericht denkbar. Jetzt soll mit „Mini-Nukes“ auch Jagd auf missliebige Diktatoren gemacht werden. Die neue amerikanische Nuklearstrategie enthüllt die Pläne des Pentagon.

s kam knüppeldick, und es kam von schaft“. Kurz, ein Feldzug gegen Bagdad sei tyrer machen würde, kommt niemandem den besten Freunden, die Amerika in „mehr, als man hinnehmen“ könne. gelegen. Eder arabischen Welt – noch – hat: Er Dasselbe aus Kuweit, ausgerechnet Ku- Dennoch, die unerwartete Schärfe der sehe gar keinen Grund für einen US-An- weit, das kleine, stinkreiche Ölemirat, das Ablehnung aller amerikanischen Pläne, das griff auf den Irak, belehrte Ägyptens die Truppen aus dem Heimatland des Be- Zweistromland von seinem Machthaber zu Staatschef Husni Mubarak seinen Gast, suchers 1991 – Cheney war damals Vertei- befreien, hatte noch einen weiteren Grund: den amerikanischen Vizepräsidenten Ri- digungsminister in Washington – vom Zu- Wenige Tage bevor Cheney zu seiner chard Cheney. Er selbst, so Mubarak, wer- griff des bösen Nachbarn gerettet hatten. Rundreise aufbrach, war bekannt gewor- de den Kollegen Saddam Hussein unter Nun ließ Außenminister Scheich Sabbah den, dass sich die USA in Zukunft auch ei- Druck setzen, Waffeninspekteure der Uno al-Ahmed al-Sabbah, ein Bruder des Herr- nen Atomkrieg im Nahen Osten vorstellen ins Land zu lassen. Im Übrigen wisse er be- schers, verlauten: „Wenn dein Nachbar ge- können. Im geheimen Bericht zur Über- reits, dass Saddam „die Inspektoren ak- troffen wird, glaubst du, du wirst sicher prüfung der Nuklearstrategie, den das Pen- zeptieren wird“. Also, wofür noch Krieg? sein? Nein.“ tagon im Januar dem Kongress übergeben Vor dem hatte auch der jordanische Kö- Dass Cheneys Versuch schwer werden hatte, waren Libyen, Syrien, der Irak und nig Abdullah II. gewarnt und zwar mit Wor- würde, in der arabischen Welt um Ver- Iran ausdrücklich als potenzielle Ziele ame- ten, die viele einem so kleinen und so von ständnis für einen Feldzug gegen Saddam rikanischer Atomwaffen ausgewiesen. US-Hilfe abhängigen Verbündeten gar nicht Hussein zu werben, war bereits vor der Nach Israel, dessen militärische Über- zugetraut hätten. Der junge König las sei- Abreise klar. Arabiens Herrscher sind der- macht im Nahen Osten auch auf dem – nie nem Gast aus Washington regelrecht die Le- zeit vor allem daran interessiert, zu ver- eingestandenen, nie geleugneten – Besitz viten: Ein Schlag gegen den Irak sei „ver- hindern, dass sich der Nahost-Konflikt zu von über 200 Atomsprengköpfen beruht, heerend für die ganze Region, verheerend, einem Flächenbrand in der ganzen Region droht nun eine zweite Nuklearmacht mit weil er zur Ausbreitung der Instabilität bei- auswächst; ein Krieg, der Saddam in den unkalkulierbarer Verwüstung in einer der trage, und verheerend für Politik und Wirt- Augen vieler Araber zum Helden und Mär- weltweit krisenanfälligsten Regionen.

134 der spiegel 12/2002 Großbritannien Russland Weißrussland

Kasachstan Nordkorea Frankreich Ukraine

Israel Iran China

Libyen

Indien Syrien Pakistan

Irak Nukleare Bomben und Sprengköpfe Russland...... 9196 USA...... 8876 China...... 410 Frankreich...... 348 Großbritannien...... 185 Israel...... 200* Brasilien Indien...... 30* Südafrika Pakistan...... 30 – 50* *geschätzt; Quelle: SIPRI Yearbook, Stand: 2001

Der Bericht, aus dem die „Los Angeles China und Nordkorea als mögliche Ziele terzeichnen, von dem er nun im Vorhinein Times“ am vorvergangenen Wochenende für amerikanische Atomwaffen. Besonders weiß, dass seine Vertragspartner eine sol- brisante Einzelheiten enthüllt hatte, sorg- in Russland rief das Verbitterung hervor. che Übereinkunft eigentlich nur hinderlich te aber auch in anderen Weltgegenden für Präsident Wladimir Putin will vom finden. Empörung. Denn das Papier fasste zu einer 23. bis 26. Mai seinen amerikanischen Kol- Sofort höhnten Zeitungen wie etwa der weit reichenden Neuorientierung der ame- legen George W. Bush empfangen, um ge- Moskauer „Kommersant“, Russland werde rikanischen Nuklearstrategie zusammen, meinsam ein Abrüstungsabkommen zu un- offenbar zum Ziel für einen „freundlichen was bislang allenfalls als isolierte Nuklear-Angriff“. Dmitrij Rogosin, Vorstöße amerikanischer Militärs der Vorsitzende des Außenpoliti- und Politiker bekannt war. Die neue schen Ausschusses der Duma, klagt: „Nuclear Posture Review“ (NPR) „Die Amerikaner haben ihren lässt befürchten, dass die USA nach Atomknüppel herausgeholt, der uns dem Ende des Kalten Kriegs dabei erschrecken und kuschen lassen sind, die Zusammensetzung und die soll.“ Außenminister Igor Iwanow Einsatzbereiche ihres nuklearen Ar- hatte den Eindruck, das Papier läse senals dem Ziel anzupassen, ihre sich, als sei es auf dem „Höhepunkt Stellung als einzige verbliebene Su- des Kalten Kriegs geschrieben“. permacht auf Dauer zu zementie- Und selbst Putin, dem vor allem ren. Die NPR zielt auf an guten Beziehungen zu den USA • das Ende des bisherigen Abrüs- gelegen ist, vermutete angesichts tungsprozesses, des Ärgers in seinem Reich, dass die • den Aufbau eines Schutzschildes „Mentalität des Kalten Kriegs in gegen angreifende Nuklearra- den USA offenbar weiter verbrei- keten, tet“ sei als in Russland. Dass die • die Entwicklung neuer Atomwaf- Amerikaner ihren Abwehrschirm fen und errichten wollen, hat er zwar be- • eine fundamentale Erweiterung dauert, aber als unausweichliche ihrer Einsatzbedingungen. Gegebenheit hinnehmen müssen. Dafür sind die USA offenbar be- Auch Amerikas westeuropäische reit, in Kauf zu nehmen, dass der Verbündete setzten alles daran, um Vertrag über die Nichtweiterver- neuen Streit mit der Vormacht zu breitung von Atomwaffen aus- verhindern, wie er erst vor wenigen gehöhlt wird. Wochen um die Angriffspläne der Neben den vier nahöstlichen USA gegen den Irak entstanden Ländern nennt die Studie Russland, war. „Der Bericht aus dem Penta- gon beschreibe schließlich nur Atomangriff auf Nagasaki 1945 Überlegungen“, die sich bisher we-

„Schwelle überschritten“ AP der der Kongress noch der Präsi-

der spiegel 12/2002 135 Ausland Der Weltgendarm RUDOLF AUGSTEIN

ichael Walzer, derzeit Profes- fast ebenso starker Kontrahent gegen- Amerika bricht Verträge, bedient sich sor für Sozialwissenschaften am überstand? Man sollte nicht vergessen, umstrittener Waffen und behauptet MInstitute for Advanced Study dass Kennedy und Chruschtschow der dabei gleichzeitig, für Recht und Ord- in Princeton, hat am 11. März in Berlin Kuba-Krise durch kluges Management nung zu sorgen. Nur wenige Kriege sind festgestellt: Ein Krieg gegen den Irak ein Ende machten. eine unabwendbare Notwendigkeit. Der wäre ein ungerechter Krieg. Heute können die Vereinigten Staa- Krieg gegen Hitler-Deutschland ist die Die meisten Europäer glauben das ten und ihr Präsident sich erlauben, was uns nächstliegende. Da muss aber die auch. Gleichgültig, ob ihre Staatsführer immer sie wollen. Wer könnte ihnen wütige Natur Hitlers bedacht werden, sich zu einer Fronde gegen die USA noch in den Arm fallen? „Die USA wol- der ja auch einen Tod wie in König Et- zusammenschließen oder ob sie sich len die Weltherrschaft“, grollt der Lon- zels Halle in Kauf genommen hätte. ducken. doner Historiker Eric Hobsbawm. Das Präsident Roosevelt war sofort klar, Wie sehr die Lösung von Konflik- ist wohl wahr. dass er trotz der isolationistischen Strö- ten mit Hilfe der klassischen Diplo- Wie kann man überhaupt von einer mungen in seinem Land eingreifen matie ins Abseits geraten ist, sehen wir „Achse des Bösen“ sprechen, wenn müsse. Er wurde nicht in den Krieg hin- am Beispiel des ameri- eingezogen, sondern be- kanischen Außenministers nutzte seine Druckmittel Colin Powell. Er sprach gegenüber den in China sich anfänglich unmissver- stehenden Japanern, um ständlich dagegen aus, den auf diesem Umweg direkt Irak ohne weitere Gründe in den Krieg gegen Hitler mit Krieg zu überziehen. eintreten zu können. Schließlich hatte er den „We have a good re- Golfkrieg vor elf Jahren cord“, war seine Haltung als höchster Militär ge- unmittelbar vor dem japa- führt. Diese Position der nischen Angriff auf Pearl Vernunft hat er aber nicht Harbor. Die USA hätten durchhalten können. So sich tadellos verhalten. ließ er kürzlich verlauten, Diplomaten behaupten die Europäer sollten nicht heute noch, Deutschland auf Amerika schimpfen, hätte Amerika nicht selbst sondern ihre eigene Lage den Krieg erklären dür- gegenüber Saddam Hus- fen. Wieder wird Hitlers sein bedenken. Dazu fehlt Natur verkannt. Selbst den Europäern jeder An- Quelle: Int. Herald Tribune wenn er bei Dünkirchen trieb, weil sie in ihm keine mit den zurückflutenden Gefahr sehen. Den Golfkrieg mussten zu dieser Achse Iran und der Irak zu- alliierten Truppen nach England über- die Amerikaner führen, weil Saddam gleich gehören? Und gibt es ein ob- gesetzt wäre – ein zweifelhaftes Unter- Hussein in Kuweit eingedrungen war jektiv Böses überhaupt, wo seit Au- fangen –, hätte das den Krieg nur ver- und sich somit alle Opec-Staaten be- gustinus und Thomas von Aquin das längert. droht fühlten. Böse je nach Lage definiert werden Glaubt jemand, die Amerikaner hät- Mühelos hätte man den Diktator in musste. ten eine Besetzung Englands hinneh- Bagdad vertreiben können. Man sprach Als in dem Gefangenenlager Guan- men können? Das wäre auch für jeden offen über zwei Optionen: ihm die Flü- tanamo auf Kuba ein Wärter einem Ge- anderen Präsidenten unmöglich gewe- gel zu stutzen oder ihn ganz aus dem fangenen den selbst gefertigten Turban sen. Der Frontgefreite Hitler hatte aus Lande zu jagen. herunterriss – angeblich aus Sicher- dem Ersten Weltkrieg das Entscheiden- Bekanntermaßen wählten die USA heitsgründen –, ließen die muslimi- de nicht gelernt: dass es zuallererst auf bewusst die erste Option. Einerseits, schen Mitgefangenen ein 20-minütiges das Material und dann erst auf den Wil- weil man die Allianztreue der arabi- „Allahu akbar“ erschallen. Will Bush len der USA ankam. Die Flügelmächte schen Welt nicht über Gebühr strapa- Junior wirklich einen Kreuzzug? würden Gewinner des Krieges sein, so zieren wollte, vielleicht aber auch in der Der ägyptische Staatschef Husni Mu- viel stand fest. Befürchtung, dass sich ein noch schlim- barak machte dem amerikanischen Mit- Was die Amerikaner neuerdings mit merer Diktator finden ließe. Man han- telsmann Richard Cheney sehr deutlich ihrer Verniedlichung von Atombomben delte zurückhaltend, obwohl Vater Bush klar, dass die islamische Welt auf Seiten zu Atombömbchen betreiben, läuft auf seinem persönlichen Hass auf seinen des Irak stehe, auch wenn sie ihm nicht eine neue Hochrüstung hinaus. Und Gegner nahezu freien Lauf ließ. wirksam beistehen könnte. Das wäre dass sie außerdem noch auf den sinn- Nun ist die Zeit der Zurückhaltung dann ein Kampf verschiedener Kultu- reichen Einfall gekommen sind, Russ- endgültig vorbei. Wo sind die schönen ren, Zivilisationen und Religionen, den land und China als potenzielle Angrei- Zeiten hin, da dem mächtigen Staat man angeblich doch auf jeden Fall ver- fer in Rechnung zu stellen, ist geradezu Amerika in Gestalt der Sowjetunion ein meiden will. hirnrissig.

136 der spiegel 12/2002 dent unwiderruflich zu Eigen gemacht hät- ten, hieß es bei Mitarbeitern des Berliner Außenministers Joschka Fischer. Als der grüne Staatsminister Ludger Volmer von „äußerst bedenklichen Plänen“ sprach, wurde er prompt von der Fischer-Crew zurückgepfiffen: Volmers Einlassung sei „nicht besonders gelungen“. Dabei besteht in Deutschland wenig Zweifel, dass ein amerikanischer Kurs- wechsel, so wie das Dokument ihn ankün- digt, fatal wäre. Ein „Schlag gegen die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen“, schimpft SPD-Außenpolitiker Gernot Erler. Der FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt monierte einen „schweren strategischen Fehler“ der Amerikaner. Selbst in der Uni- on, die sich so gern auf der Linie der Ame- rikaner sieht, ist die Analyse, zumindest in- tern, glasklar: „Das bedeutet Aufrüstung.“ Wohl wahr. Denn die NPR sieht für die Atomstreitkräfte der Supermacht künftig drei Einsatzoptionen: • als Antwort auf einen Angriff mit Mas- senvernichtungswaffen – atomare eben- so wie biologische und chemische, • zur Bekämpfung von „Zielen, die An- griffen mit nichtnuklearen Waffen stand- halten können“, • oder „im Fall überraschender militäri- scher Entwicklungen“, etwa einem „ira- kischen Angriff auf Israel oder seine Nachbarn“. Schon Punkt eins erweitert den Kern der bisherigen amerikanischen Abschre- ckungsdoktrin und schließt erstmals expli- zit eine nukleare Antwort auf Angriffe mit B- und C-Waffen ein. Die beiden folgenden Optionen bergen eine strategische Hiobs- botschaft: Die Supermacht, militärisch J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J. Gast Cheney, Gastgeber Mubarak* Warnung vor dem Angriff auf Bagdad schon jetzt so überlegen wie kein anderer Staat der Weltgeschichte, will künftig Atomwaffen einsetzen wie andere kon- ventionelle Waffen auch. Aus der Doktrin „gegenseitig gesicherter Vernichtung“, mit der die beiden Super- mächte während des Kalten Kriegs sich und ihre Atomwaffen in Schach gehalten hatten, soll nun eine Doktrin der einseitig

* Am vorigen Mittwoch. der spiegel 12/2002 137 toren wie Iraks Saddam Hussein oder Nordkoreas Kim Jong Il aus ihren unter- irdischen Prachtbunkern sprengen, wäh- rend die Menschen in Bagdad und Pjöng- jang wenige Straßen weiter unbeschadet überleben sollen. Der Kampf gegen die „Achse des Bö- sen“ erhält eine nukleare Dimension. Doch die belegt für Joseph Cirincione von der angesehenen Carnegie Stiftung, dass „Atombesessene die Kontrolle des politi- schen Apparats übernommen haben“. „Neue Fähigkeiten müssen geschaffen werden, um neu heraufziehenden Bedro- hungen begegnen zu könne wie harte, tief eingegrabene Ziele“, verlangt die NPR. Nukleare „bunker-busters“, die sich tief ins Erdreich bohren und dabei sogar Fels und Beton durchschlagen, ehe sie detonie-

RAMZI HAIDAR / DPA HAIDAR RAMZI ren. Sie gelten als die neuen Wunderwaf- Saddam-Anhänger in Bagdad: Mini-Bomben gegen Führungsbunker? fen gegen unterirdische Fluchtburgen von Diktatoren ebenso wie gegen Höhlen- gesicherten Zerstörung werden. Denn über Nichtweitergabe von Massenvernichtungs- systeme von Terroristen oder tief in Berge die Abschreckung hinaus, die natürlich waffen. Bei dessen Verlängerung 1995 ha- gegrabene Produktionsanlagen für Bio- immer noch die wichtigste Funktion ame- ben die fünf erklärten Atommächte aus- Kampfstoffe, C-Waffen oder A-Bomben. rikanischer Nuklearrüstung bleibt, wie US- drücklich den Verzicht anderer Staaten auf Wie bei einem unterirdischen Atomtest Präsident George W. Bush vorige Woche Atomrüstung damit honoriert, dass sie würde die tödliche Strahlung von Mini- versicherte, schließt diese Doktrin das bis- selbst versprachen, keinen ausschließlich Nukes aufgefangen und unbeteiligte Zivi- her Undenkbare ein – die Anwendung nu- konventionell bewaffneten Staat jemals nu- listen auf diese Weise geschützt, behaupten klearer Waffen. Der Atomkrieg soll endlich klear angreifen zu wollen. die Ingenieure der US-Atomwaffenlabore. führbar werden. Fällt diese Garantie, schwindet ein star- Doch Robert Nelson, Physiker an der Uni- Ähnliche Versuche hat es immer wieder kes Motiv für viele Mittelmächte zum Ver- versität Princeton, kam bei seinen Unter- gegeben in der Geschichte der nuklearen zicht auf den Bau eigener Nuklearwaffen: suchungen zu einem ganz anderen Ergeb- Aufrüstung: Aus „massive retaliation“, Eines der angeblich wichtigsten Ziele Wa- nis: „Kein Sprengkopf kann so tief in die dem massiven Atomschlag gegen den be- shingtoner Außenpolitik, die Nichtver- Erde eindringen, dass die Explosion einer fürchteten Angriff überlegener sowjeti- breitung von Massenvernichtungswaffen, Nuklearwaffe völlig eingeschlossen blie- scher Panzerarmeen, wurde in den sechzi- könnte so Opfer der eigenen Rüstungs- be.“ Ein „gewaltiger Krater“ werde geris- ger Jahren die „flexible re- sen, Unmengen hochra- sponse“: Anders als beim dioaktiven Drecks hätten selbstmörderischen Ver- einen „besonders inten- geltungsschlag sollte eine siven, tödlichen Fallout Aggression abgestuft be- zufolge“ – das Ergebnis: antwortet werden – mit „eine enorme Zahl ziviler konventionellen Mitteln, Opfer“. mit taktischen Atomwaffen Während unterirdische und erst dann, falls alles Atomtests aus Sicherheits- andere nicht half, mit dem gründen je nach Spreng- großen Atom-Hammer. kraft viele hundert Meter Dann stellten deutsche tief in massivem Fels ge-

Strategen fest, dass die- KAUP / AFP / DPA DAVE zündet wurden, können se „abgestufte Antwort“ Pentagon-Chef Rumsfeld, B-2-Bomber: Kampf gegen die „Achse des Bösen“ selbst superharte Hoch- eine Schneise nuklearer geschwindigkeitsgeschosse Verwüstung von der Ostsee bis zu den Al- pläne werden. Sollten die in der NPR nie- allenfalls 30 Meter weit in Fels oder Beton pen schlagen würde. Als Abhilfe wurde dergelegten Grundzüge der neuen Nu- eindringen. Dann ist aus physikalischen die Neutronenwaffe angedient – eine klearstrategie zur gültigen Militärdoktrin Gründen Schluss. Atombombe, die ihre Energie weitgehend werden, dann, so befürchtet der ehemali- Die bisher einzige Atombombe im US- als Neutronenstrahlung abgibt. Sie tötet ge US-Verteidigungsminister Robert McNa- Arsenal, die B61-11, die mit einer extrem damit alles Leben im Umkreis, richtet aber mara, „werden wir in einer weit, weit ge- durchschlagskräftigen Spitze aus abgerei- vergleichsweise wenig Verwüstung bei un- fährlicheren Welt leben, und Amerika wird chertem Uran bereits für den Einsatz gegen belebter Materie an. viel, viel unsicherer sein“. unterirdische Ziele optimiert worden ist, Stets ging es darum, durch „glaubhafte- Neu aufnehmen in ihr Arsenal des schafft es kaum sieben Meter tief in den re“ Einsatzoptionen einen nuklear hoch- Schreckens wollen die Amerikaner so ge- Boden – viel zu wenig um zu verhindern, gerüsteten Gegner wirksamer abzuschre- nannte Mini-Nukes und andere Atom- dass der atomare Feuerball einen Pilz aus cken. Jetzt aber planen die Pentagon-Stra- sprengsätze mit „minimaler kollateraler tödlichem Strahlenstaub in die Atmosphä- tegen erstmals den Atomwaffeneinsatz ge- Wirkung“. Damit, so schwärmen die Pen- re steigen lässt. gen Gegner, die – noch – keine Massen- tagon-Strategen – nicht unähnlich jenem Amerikanische Tests, die vor vier Jahr- vernichtungswaffen besitzen. Dr. Seltsam aus Stanley Kubricks Filmsati- zehnten unter dem Codenamen „Plow- Massiv verstoßen diese Denkspiele ge- re über den höheren Irrsinn nuklearer share“ (Pflugschar) liefen, haben das be- gen die Grundlagen des Vertrags über die Planspiele – könne man ungeliebte Dikta- wiesen. Damals wollten die Amerikaner

138 der spiegel 12/2002 Werbeseite

Werbeseite Ausland herausfinden, ob unterirdische Nuklear- wegen war der Bericht zunächst als Abrüs- explosionen für zivile Zwecke zu nutzen tungsdokument gefeiert worden. seien, womöglich um Kanäle auszuheben, Doch der Abrüstungseffekt bleibt zwei- Hafenbecken aus felsigen Küsten heraus- felhaft. Denn erstens wollen die Amerika- zusprengen oder schwer zugängliche Erd- ner zumindest einen Teil der deaktivierten gasvorkommen zu erschließen. Sprengsätze als „strategische Reserve“ Doch die Hoffnung auf einen zivilen einlagern und einen anderen Teil zur Nutzen der atomaren Sprengsätze zerstob Entwicklung neuer Waffen umbauen. Und schnell: Die unterirdischen Detonationen zweitens ist die angestrebte Obergren- waren schwer zu dosieren, unbeabsichtig- ze noch immer mehr als ausreichend, te Schäden kaum zu vermeiden. Und vor um alle denkbaren Gegner zu vernichten. allem – die radioaktive Verstrahlung war Wie viel Nuklearwaffen dazu notwendig weit größer als zunächst angenommen. wären, haben Rüstungskritiker des Wa- Für ihre neuen Nuklearwaffen, so ah- shingtoner Natural Resources Defense nen die Pentagon-Planer, werden sie nicht Council jüngst in einem Computermodell ohne neue Nukleartests auskommen. Zwar errechnet. hat die US-Administration bekannt gege- Für Russland bräuchten die Amerikaner ben, dass sie vorerst nicht die Absicht habe, 51 Atomwaffen, für China wären wegen die seit 1992 beendeten Testexplosionen der sehr viel größeren Bevölkerung 368 wieder aufzunehmen. Ausdrücklich stellt nukleare Sprengsätze nötig. Umgekehrt die NPR aber fest: „In einer unbestimmten könnten die USA mit 124, die gesamte Nato Zukunft könnte sich das als un- möglich erweisen.“ Damit hat sich der Bericht weit- gehend die Ansicht der amerikani- schen Nuklearwaffenschmieden zu Eigen gemacht, die nach dem Ende des Kalten Kriegs um ihre Zukunft bangen mussten. So ist einer der einflussreichsten Verfechter der Mini-Nukes, Stephen Younger, Di- rektor im Los Alamos National La- boratory; sein Mitstreiter Paul Ro- binson ist Chef der Sandia National Laboratories. Viele Gesinnungsge-

nossen sind derzeit als Nuklearpla- DPA ner der Bush-Regierung tätig. Staatschefs Richard Nixon, Leonid Breschnew* Younger beispielsweise ist heute Klare Absage an die Rüstungskontrolle – wie praktisch – Chef der neu ge- schaffenen Pentagon-Behörde, die künfti- einschließlich ihrer Vormacht mit 300 ge Bedrohungen analysieren soll. Dort Atomwaffen ausradiert werden. kann er sich mit seinen Freunden, allesamt Dass nach dem Ende des Kalten Kriegs Mitautoren von Studien, die nukleare die Atomkriegsgefahr nicht erloschen ist, Kriegführungsoptionen schaffen wollen, sondern – weil konkret vorbereitet – sogar beraten. Steve Cambone etwa bestimmt wächst, hat nicht nur die jetzt bekannt ge- maßgeblich die politische Planung im Pen- wordene Überarbeitung der amerikani- tagon, Stephen Hadley, auch er ein ausge- schen Nuklearstrategie belegt. Wie ernst wiesener Nuklearstratege, ist stellvertre- diese neuen Optionen genommen werden, tender Sicherheitsberater des Präsidenten. ließ Verteidigungsminister Donald Rums- All diesen Planern ist gemeinsam, dass feld bereits beim Luftkrieg gegen Afghani- sie Rüstungskontrollabkommen ablehnen. stan erkennen. Man werde die Gegner mit Hatten sich die einstigen Supermächte un- allen Mitteln jagen, hatte der Pentagon- ter der Androhung gegenseitiger Vernich- Chef verkündet, „die USA haben den Ein- tung bereit erklärt, die Nuklearrüstung mit satz von Atomwaffen nie ausgeschlossen“. Verträgen zu begrenzen, erteilt die NPR Weil die NPR nun ausdrücklich festhält, dem bisherigen Rüstungskontrollsystem dass „nukleare Angriffsoperationen von eine klare Absage: „Dieser alte Prozess ist variabler Größe, Umfang und Optionen unvereinbar mit der Flexibilität, die bei der die anderen militärischen Fähigkeiten er- US-Planung und bei den Streitkräften jetzt gänzen“ sollen, fürchtet etwa Paul Rogers, erforderlich ist.“ Militärwissenschaftler an der britischen Dass die USA ihr strategisches Nuklear- Bradford Universität, dass die Amerikaner waffenarsenal von derzeit rund 7200 gegebenenfalls zu einem „präventiven Sprengsätzen auf 1700 bis 2200 begrenzen Atomschlag“ entschlossen seien. Er warnt: möchten, steht dazu nicht im Widerspruch „Selbst wenn die USA nur eine Nuklear- und wird auch in der NPR bekräftigt. Des- waffe von geringer Sprengkraft einsetzen, wird damit eine Schwelle überschritten – dann ist der Geist aus der Flasche.“ * Mit Außenminister Alexej Kossygin (M.) nach der Un- Ralf Beste, Hans Hoyng, terzeichnung des Vertrags über das Verbot der Raketen- Siegesmund von Ilsemann abwehr am 26. Mai 1972 in Moskau.

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Werbeseite REUTERS NEW MEDIA INC. / CORBIS (L.); AAMIR QURESHI / AFP / DPA (R.) NEW MEDIA INC. / CORBIS (L.); AAMIR QURESHI / AFPREUTERS / DPA New Yorker Siegesparade nach dem Golfkrieg (1991), anti-amerikanische Proteste in Pakistan (2001): „Ein riesiges Trauma“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Die USA wollen die Weltherrschaft“ Der britische Historiker Eric Hobsbawm über die globale amerikanische Dominanz und ihre Grenzen nach den Anschlägen vom 11. September, über das Zeitalter der Extreme und einen drohenden Krieg gegen den Irak

SPIEGEL: Professor Hobsbawm, Sie haben und gegen jede Gefahr gefeit fühlten, der ten umzubringen. Gleichwohl haben die das 20. Jahrhundert das mörderischs- große Schock. Anschläge vom 11. September nicht im Ge- te in der Geschichte der Menschheit ge- SPIEGEL: Aber wir haben es doch auch mit ringsten die strategische Situation verän- nannt. Müssen wir uns nach den Terror- einer neuen Dimension von Terrorismus dert: Die USA bleiben ebenso immun gegen anschlägen des 11. September und der zu tun. Angriffe von außen, wie sie es bisher waren. drohenden Verbreitung von Massenver- Hobsbawm: Die allermeisten terroristischen SPIEGEL: Gegen Angriffe vielleicht, aber nichtungswaffen nicht auf noch schlim- Bewegungen wählen eher einzelne Sym- nicht gegen Terroranschläge. mere Rückfälle in die Barbarei gefasst bolfiguren als Ziele aus und versuchen Hobsbawm: Die Anschläge haben bei den machen? nicht, eine größtmögliche Zahl von Zivilis- Amerikanern ein riesiges Trauma verur- Hobsbawm: Nein. Obwohl im sacht. Sie bedeuteten auch eine neuen Jahrhundert Kriege zu enorme öffentliche Erniedri- erwarten sind, unter denen wie- Eric Hobsbawm gung für die Vereinigten Staa- der Zivilisten am meisten lei- wurde 1917 als Spross einer jüdischen, öster- ten, denn die angegriffenen den werden, sind doch Welt- reichisch-englischen Familie im ägyptischen Ziele symbolisierten ihre wirt- kriege eher unwahrscheinlich. Alexandria geboren. Er gilt als einer der letzten schaftliche und militärische SPIEGEL: War der 11. September Universalgelehrten und einflussreichsten Histo- Macht. Amerikaner reagieren nicht eine historische Zäsur? riker unserer Zeit. In Wien und Berlin aufge- sehr, sehr empfindlich auf Er- Hobsbawm: In keiner Weise, wachsen, ging er, nach der Machtergreifung niedrigungen. Terrorismus ist alles andere als Hitlers, mit seiner Familie 1933 nach London. SPIEGEL: Gibt es nicht doch ein neu. Hier in England hatten wir Hobsbawm diente in der britischen Armee und neues Bedrohungspotenzial,

beispielsweise 30 Jahre lang ein lehrte nach seinem Studium in Cambridge den HALL ANDY zum Beispiel dass Terroristen in Problem mit der IRA. Spanien größten Teil seiner Karriere als Professor für Wirt- den Besitz von biologischen muss noch immer mit den Bom- schafts- und Sozialgeschichte am Birkbeck College der University of und chemischen Waffen oder ben der Eta leben. Neu ist nur, London. Zu einem Standardwerk des stark von Karl Marx beeinflussten einer Atombombe gelangen dass ein gewaltiger ausländi- Historikers und Sozialisten wurde seine Trilogie über das 19. Jahr- könnten? scher terroristischer Angriff die hundert. Zum internationalen Bestseller reüssierte sein Buch „Das Zeit- Hobsbawm: Die al-Qaida-Kom- USA traf. Dies war für die Ame- alter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. mandos haben Flugzeuge mit rikaner, die sich für allmächtig Hilfe von Teppichmessern ent-

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Werbeseite Ausland

Hobsbawm: Man ist bisher davon ausge- gangen, dass Atomwaffen ausschließlich die Aufgabe haben, vor dem Gebrauch von Atomwaffen abzuschrecken. Die USA ha- ben seit dem Verlust ihres Nuklearmono- pols während des Kalten Krieges niemals wirklich ernsthaft ihren Einsatz erwogen. Atomwaffen offensiv gegen andere Nu- klearmächte oder sogar gegen Länder, die keine Atomwaffen besitzen, einzusetzen, betrachte ich als amoralisch und vollkom- men inakzeptabel. Nur eine Macht, die nach absoluter globaler Vorherrschaft strebt, kann das überhaupt in Erwägung ziehen. SPIEGEL: Sehen Sie einen Unterschied zwischen republikanischen und demokra- tischen US-Präsidenten und ihren Regie- rungen? Hobsbawm: Nicht wirklich. Clintons Auf- treten gegenüber Lateinamerika war ge-

JIM VIDRINE / AP nauso imperialistisch wie das jetzige Auf- US-Flugzeugträger „George Washington“: „Viele potenzielle Krisenherde“ treten von George W. Bush gegenüber der gesamten Welt. führt. Eine neue Qualität liegt allein in der der Zahl, doch nur eine Hand voll davon SPIEGEL: Zur militärischen und politischen Bereitschaft der Attentäter, Selbstmord zu zählt – mit den Vereinigten Staaten als Dominanz der USA kommt auch noch die begehen. überwältigender Macht. wirtschaftliche hinzu. SPIEGEL: Jemand, der auf diese Weise SPIEGEL: Und der Präsident dieser domi- Hobsbawm: Der US-Wirtschaft kommt ent- Selbstmord begeht, würde auch chemische nanten Macht hat nun eine „Achse des Bö- gegen, dass das Land, und damit ihr Bin- oder nukleare Waffen einsetzen. sen“ ausgemacht. Die Amerikaner neigen nenmarkt, so groß ist und dass sie politisch Hobsbawm: Sicher, aber was hat die Gefahr offenbar zu manichäischen Kreuzzügen. von der Regierung unterstützt wird. Auch der Proliferation mit dem 11. September Hobsbawm: Das manichäische Denken in auf internationale Institutionen wie Welt- zu tun? Sie besteht verstärkt schon seit den Schwarz und Weiß, Gut und Böse war stets bank und Weltwährungsfonds hat die US- frühen neunziger Jahren, vor allem weil in der Politik der Vereinigten Staaten stark Regierung einen großen Einfluss. Nur Eu- noch immer eine Menge nukleares Mate- ausgeprägt. Es gibt den deutschen Aus- ropa können die Amerikaner nicht so leicht rial aus alten Sowjet-Arsenalen herumva- druck vom „Primat der Innenpolitik“. Er unter Druck setzen. gabundiert. Die Welt starrt vor Waffen. traf besonders für die USA zu mit ihrer de- SPIEGEL: Das Imperium Romanum begann SPIEGEL: Osama Bin Laden wollte sich eine mokratischen Öffentlichkeit. Um außenpo- auseinander zu brechen, als die Römer Atombombe beschaffen. litische Vorhaben durchzusetzen, muss man gleichzeitig Germanen, Perser und andere Hobsbawm: Er ist nicht der Einzige, der sie in den Vereinigten Staaten innenpoli- Barbaren niederhalten mussten. Die USA gern eine Atombombe hätte. Doch man tisch begründen. Also sagt man, Amerika haben 65 größere Militärstützpunkte auf musste nicht auf den 11. September warten, sei bedroht, von einer unmoralischen, na- der ganzen Welt. Können sie auf Dauer um sich darüber Sorgen zu machen. hezu satanischen Macht. Das war so im Kal- den ganzen Planeten kontrollieren? SPIEGEL: Jedenfalls betreiben die USA seit ten Krieg, und so ist es auch jetzt wieder. Hobsbawm: Das ist die entscheidende Fra- den Anschlägen eine aggressive Außen- SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die Pläne des ge. Die Amerikaner konnten ganz allein politik gegen potenzielle Terroristenför- Pentagon, unter Umständen Mini-Atom- den Krieg in Afghanistan gewinnen, und derer. waffen – auch gegen China und Russ- sie könnten wohl auch in jedem anderen Hobsbawm: Die Anschläge haben dazu ge- land – einzusetzen? Krieg obsiegen, außer gegen China. Nein, führt, dass sich in Washington eine Politik den Planeten können sie herauskristallisierte, die bereits seit dem nicht kontrollieren. Ende des Kalten Krieges entwickelt wurde: SPIEGEL: Der Krisenkonti- eine Politik, die zum Ziel hat, sich als do- nent des 21. Jahrhunderts minante Macht dieser Welt zu etablieren. ist Asien? SPIEGEL: Sind die USA nicht ohnehin seit Hobsbawm: Dass die Kon- dem Kollaps der Sowjetunion die einzige fliktfelder nicht mehr mit- Supermacht und globale Autorität, die be- ten in Europa liegen, ist ein waffnete Konflikte kontrollieren und re- wichtiges Ergebnis des geln kann? Zweiten Weltkriegs. Was Hobsbawm: Die einzige globale Autorität wir weltweit besonders seit sind die Vereinten Nationen, und die haben den siebziger Jahren des keine Macht. Sie sind von einem Sicher- 20. Jahrhunderts erlebt ha- heitsrat abhängig, in dem die USA und an- ben, ist eine Schwächung dere Mächte ihr Veto einlegen können. Es von staatlichen Strukturen ist erstaunlich, dass die Globalisierung wirt- und ein Anstieg an inter- schaftlich, wissenschaftlich, technisch und nen Konflikten, die wie- sogar kulturell weit vorangeschritten ist, nicht aber in der Politik. Die Nationalstaa- * König Georg V. mit Königin Mary ten sind die einzigen wirkungsvollen poli- GETTY HULTON 1911 in Delhi bei höfischer Prozes- tischen Einheiten geblieben. Knapp 200 an Imperiales Britannien*: „Grenzen der Macht erkannt“ sion als neuer Herrscher von Indien.

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Werbeseite Ausland derum Interventionen von außen provozieren. Der Balkan und Afgha- nistan sind Beispiele dafür, und in dem großen Gebiet, das sich von Nordafrika bis an die Grenzen Chinas erstreckt, gibt es viele potenzielle Krisenherde. Man muss sich wirklich über die ge- genwärtige amerikanische Politik sorgen, weil die Bush-Regierung offen- sichtlich keine langfristi- gen Pläne hat. So wie sie agiert, wirft sie brennen- de Streichhölzer auf die gesamte Region zwischen

dem Nil und der chinesi- KLAUS GÖKEN / BPK schen Grenze – wo eine Imperiales Rom*: „Berufskrankheit Größenwahn“ Menge Sprengstoff liegt. SPIEGEL: Vor allem, so wird den Amerika- von Kyoto, sondern eine ganze Reihe an- nern vielfach unterstellt, gehe es ihnen um derer wichtiger internationaler Verträge, die Sicherung der Rohstoffe, an erster Stel- wie den gegen Landminen. Hoffnung auf le des Öls. eine Rückkehr zum Multilateralismus gibt Hobsbawm: Sie wollen mehr. Die USA wol- es unter Bush wohl kaum? len die Weltherrschaft. Seit dem Zweiten Hobsbawm: Die Vereinigten Staaten sind Weltkrieg haben sie dieses Ziel verfolgt. auf Grund ihrer Erfahrungen in der west- Aber in den westlichen Ländern hat sich lichen Hemisphäre an die Idee umfassen- niemand dafür interessiert, schließlich der Vorherrschaft gewöhnt. Sie hoffen, dass machte man im Kalten Krieg gemeinsame sie diese Hegemonie auch im Rest der Welt Sache gegen die Sowjetunion. Einzig die durchsetzen können, aber ich denke, die- Franzosen haben es stets so gesehen, dass ser Planet ist zu groß und kompliziert die Amerikaner unter anderen Umständen dafür. Die Berufskrankheit einer Welt- eine erhebliche Gefahr darstellen könnten. macht ist der Größenwahn. SPIEGEL: Eine Weltherrschaft lässt sich aber SPIEGEL: Gibt es eine Kur dagegen? schwerlich ohne Bodentruppen absichern, Hobsbawm: Die Amerikaner müssen ler- ob nun in Afghanistan oder im Irak. nen, dass es Grenzen ihrer Macht gibt, so Hobsbawm: Nein, ohne Bodentruppen geht wie die Briten das im 19. Jahrhundert ge- das nicht. Und einer der entscheidenden lernt haben. Vorteile von Großmächten aus dem 19. Jahr- SPIEGEL: Da hieß es aber auch „Rule Bri- hundert existiert nicht mehr, nämlich dass tannia“. eine legitime und mächtige Regierung zivi- Hobsbawm: Doch die Führer des britischen len Gehorsam abfordert. Die Habsburger Empire waren klug genug, der Ambition zu konnten problemlos 40 Jahre lang Bosnien widerstehen, alle Welt zu kontrollieren. und Herzegowina beherrschen, während es Die Vereinigten Staaten sind ein revolu- heute Zehntausender ausländischer Solda- tionäres Land, und deshalb wollen sie, dass ten bedarf, um zu verhindern, dass dort al- der Rest der Welt genauso sein soll wie sie les in Stücke geschossen wird. Für die USA selbst. Dabei ist das amerikanische System wirft das ein großes Problem auf: Sie wol- äußerst speziell und nicht exportierbar. len die Welt mittels Hightech beherrschen, SPIEGEL: Immerhin ein sehr stabiles System. bei minimalen Auswirkungen auf das Leben Hobsbawm: Die Art der Gewaltenteilung in Amerika. Und das geht nicht. führt zu dem kuriosen Ergebnis, dass nie- SPIEGEL: Dennoch wollen die Vereinigten mand Politik macht. Die Politik macht sich Staaten jetzt gegen die „Achse des Bösen“ selbst. Es gibt Leute mit politischen Kon- zu Felde ziehen, gegen Nordkorea, Iran zepten und Projekten, aber es bedarf einer und den Irak. besonderen Situation, sie umzusetzen. Das Hobsbawm: Die Vorstellung, dass die Ver- amerikanische Beispiel zeigt, dass es auch einigten Staaten durch diese drei Länder ohne clevere Leute geht. Amerika ist da- bedroht seien, ist lächerlich. Ich bin mir si- für geeignet, vom Mittelmaß regiert zu cher: Niemand in Washington macht sich werden. ernsthaft Sorgen über Nordkorea, den Irak SPIEGEL: Wie das? oder Iran. Hobsbawm: Zu meinen Lebzeiten mussten SPIEGEL: Als Herren der Welt boykottieren drei amerikanische Präsidenten – Roose- die USA nicht nur das Klima-Abkommen velt, Kennedy und Nixon – unvorhergese- hen von Vizepräsidenten ersetzt werden, * „Kampf beim Rückzug des Germanicus“ (Gemälde von die nicht wegen ihrer Fähigkeiten zum Ferdinand Leeke). Regieren ausgewählt worden waren. Und

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Werbeseite Ausland das machte in der Politik überhaupt keinen Unterschied. SPIEGEL: Trotz Ihrer Kritik an den USA ha- ben Sie geschrieben, dass dieses Land in vielerlei Hinsicht „das Beste des 20. Jahr- hunderts“ darstellt, den „größten Erfolg“. Hobsbawm: Die Amerikaner haben die ef- fektivste und mächtigste Wirtschaft der Welt aufgebaut und als Erste Massen-Wohlstand geschaffen. Vielleicht der positivste Aspekt der Vereinigten Staaten ist, dass sie den Leu- ten den Glauben gaben, dass man die Din- ge tun kann, die man tun will. Sie haben Selbstvertrauen gegeben. Und sie haben nie- mals die Tore für Zuwanderer zugesperrt. SPIEGEL: Gehört zu der US-Außenpolitik neben sehr viel Selbstvertrauen aber nicht auch die Inkonsistenz und Sprunghaftig- keit? Die USA haben Saddam Hussein ge- gen Iran unterstützt, Milo∆eviƒ hofiert, die Taliban mit an die Macht gebracht. Hobsbawm: Ich würde es nicht Inkonsistenz nennen, es ist Taktlosigkeit und kurzfristi- ges Denken. Außerdem sind die USA in der Weltpolitik nicht besonders erfahren. Wie lange ihr Empire bestehen kann, hängt davon ab, ob sie Satelliten finden, die sie unterstützen. SPIEGEL: Ist der militante Islam nun der ge- fährlichste Feind der USA? Hobsbawm: Der Islam ist keine Gefahr für Amerika, weil er ein Phänomen der Drit- ten Welt ist und die USA jedes Land in der Dritten Welt mit ihren Bomben zerstören können. So einfach ist das. Das wirkliche Problem der amerikanischen Außenpoli- tik ist heutzutage Israel. Auch hier zeigt sich das Primat der Innenpolitik, in Ge- stalt der mächtigen Israel-Lobby in den USA. Aber sie steht gegen das nationale In- ANDY HALL ANDY Hobsbawm (r.) beim SPIEGEL-Gespräch* „Europa braucht eine eigene Politik“ teresse der USA, sich aus energiepoliti- schen Erwägungen mit den arabischen Staaten gut zu stellen. Nun wollen die USA den Irak angreifen, und Israel ist dabei der einzige Verbündete. SPIEGEL: Sie vergessen den hiesigen Pre- mierminister Tony Blair, obwohl es in der Labour Partei deswegen auch schon kräf- tig rumort. Hobsbawm: Ja sicher, Tony Blair. Wenn es einen potenziellen Satellitenstaat der USA

* Mit den Redakteuren Olaf Ihlau und Michael Sonthei- mer in seiner Londoner Wohnung.

148 der spiegel 12/2002 Ausland gibt, dann ist es Großbritannien. Das ist eine wirkliche Schwäche Europas: Jeman- den unter sich zu haben, der stets garan- tiert das tut, was die Amerikaner tun. SPIEGEL: Wie sollen sich die Europäer zu einem möglichen Krieg gegen den Irak stellen? Hobsbawm: Der Krieg gegen den Irak wird ein entscheidender Test werden. SPIEGEL: Wäre Saddam Hussein gerissen, würde er wieder Uno-Waffeninspektoren ins Land lassen. Hobsbawm: Mich erinnert die Situation an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Damals stellte Österreich den Serben ein Ultimatum, das diese gar nicht annehmen konnten. Die Amerikaner werden Saddam ein ähnliches Ultimatum stellen. Und dann werden wir sehen, ob die Amerikaner es – anders als im Golfkrieg – nahezu auf sich allein gestellt versuchen und schaffen wer- den, Saddam zu stürzen. SPIEGEL: Sollen die Europäer dabei mit- machen? Hobsbawm: Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Europäer sich auf Sei- ten der Amerikaner engagieren sollten. SPIEGEL: Dann werden uns die Amerika- ner vorwerfen, wir seien Feiglinge und Weicheier, welche die Gefahr der Verbrei- tung von Massenvernichtungswaffen nicht ernst nehmen. Hobsbawm: Nun denn. Es gibt keine große Gefahr, die mit dem Sturz Saddams über- wunden würde. Aber wenn er gestürzt würde, könnte die gesamte Region in Chaos und Krieg versinken. SPIEGEL: Könnte über solch einen Konflikt die transatlantische Freundschaft in die Brüche gehen? Hobsbawm: Ich glaube, die alte Idee in Eu- ropa, es gäbe naturgemäß eine familiäre Beziehung mit den USA, gilt nicht mehr. Sie ist ein Überbleibsel des Kalten Krie- ges, und den Kalten Krieg gibt es nicht mehr. Europa sollte seine eigene Politik entwickeln. SPIEGEL: Das würde dann aber wohl die Nato sprengen. Hobsbawm: Die Nato hat hoffentlich aus- gedient. Sie hat ohnehin keine Funk- tion mehr seit dem Ende des Kalten Krie- ges. Der Krieg in Afghanistan hat eben- falls gezeigt, dass sie nutzlos ist. Nicht einmal die Amerikaner brauchen die Nato mehr. SPIEGEL: Aber welches Sicherheitssystem sollte an die Stelle der Nato treten? Hobsbawm: Europa braucht gemeinsame, nicht von den USA abhängige Streitkräfte, um Interventionen wie auf dem Balkan leisten zu können. Was es nicht braucht – da es in keiner Weise mehr militärisch be- droht ist –, ist ein Verteidigungsbündnis wie die Nato. Wir sollten uns von der über- holten Idee, dass Europa unentwegt Krieg droht, endlich verabschieden. SPIEGEL: Herr Hobsbawm, wir danken Ih- nen für dieses Gespräch. der spiegel 12/2002 149 Ausland

Die bedrohliche Diktatur Die bedrohliche Diktatur TÜRKEI Ehemalige Produktionsstätten 200 km oder Depots irakischer ABC- Waffen und Raketenprogramme nördliche Flugverbotszone

T ig r Kirkuk 36° i s Tikrit IRAN SYRIEN Bagdad Euph ra Mittelmeer t Beirut Damaskus 33° südliche ISRAEL Flugverbotszone Jerusalem Amman Basra SAUDI-ARABIEN IRAK PersischerPersischer JORDANIEN Golf Kuweit Atomwaffen Bauprogramm von der Uno demontiert Iraks militärische Stärke Raketen vor dem Golf-Krieg 1990 heute nur bis 150 km Reichweite erlaubt Soldaten 1 Mio. 424000 Chemie- und Panzer 5500 2200 Biowaffen möglicherweise große Kampf- Restbestände und flugzeuge 689 316 geheime Produktion von B- und C-Waffen Kriegsschiffe 43 5

Diktator Saddam Hussein: „Du, Saladin, bist unser Frieden“

IRAK Tanz auf dem Vulkan Seltsame Allianzen am Tigris: Während der von Washington forcierte Druck von außen wächst, schließt Saddam Hussein die Reihen nach innen. Es gibt neuen Reichtum in Bagdad, doch keine Spur von Opposition.

ahler Mondschein liegt über dem ver- nen Augenblick lang hält er inne: „Meine seine Rechte, wenn er gelegentlich den Zei- rußten Nachthimmel von Bagdad, mit Freunde, über all das können wir reden.“ gefinger emporstreckt, plumpst immer wie- FKammermusik von Joseph Haydn er- Müde und seltsam gedämpft wirkt das der kraftlos auf das Pult. Doch dann hebt öffnet das irakische Staatsfernsehen eine Arabisch des gealterten Feldherrn. Wie in sich die Stimme wieder, und ein eisiger Übertragung aus dem Präsidentenpalast. Zeitlupe bewegt er den Kopf hin und her; Blick streift das Publikum: „Glaubt aber ja Eine Abordnung regimetreuer Kur- nicht, dass die Fremden euch hel- denführer ist zur Audienz vorgela- fen. Nirgendwo seid ihr besser auf- den an die Gestade des Tigris. gehoben als in unserem Staat.“ Saddam Hussein, eine breite Er bitte darum, erhebt sich nach Schärpe über dem Maßanzug, tritt der Präsidentenrede einer der Kur- vor seine Gäste. Selbst der Garde- denführer aus seinem Fauteuil, eine soldat, der sich diskret zwischen Ode auf den Führer vortragen zu den Führer und die Präsidenten- dürfen. standarte schiebt, verschwindet hin- „Du bist der Irak“, beginnt er. ter seiner massigen Erscheinung. „Du bist Palästina! Du, Saladin, bist „Ich habe gehört“, hebt der Dik- unser Frieden …“ – weiter kommt tator an und schaut in die Runde der er nicht. Ein gerührter Exkurs des bärtigen Clanführer, „manche von Herrschers über die Schönheit sei- euch finden, die Machtfülle des Prä- ner Verse bringt ihn vorzeitig zum sidenten sei zu groß. Manche von Schweigen.

euch verlangen mehr Unabhängig- FOCUS OF INA / GETTY IMAGES / AGENTUR (L.); COURTESY ODYSSEY Selten in der Geschichte des mo- keit, andere wollen mehr Geld.“ Ei- Saddam-Palast: Herrschaft gefestigt dernen Irak fanden die Stiefkinder

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Werbeseite Ausland AYMAN BARAIZ AYMAN Luxuslimousinen in Bagdad: Zeit für lukrative Geschäfte des Regimes so viel Gehör in Bagdad wie Nationen Ende Februar bekannt gaben, heute, elf Jahre nach dem verlorenen Golf- kann Saddam als unfreiwillige Stützmaß- krieg. Die Staatsführung, vom US-Präsi- nahme für sein Regime verbuchen: Medi- denten unter Druck gesetzt wie seit der kamente, Lebensmittelkonserven und tech- Ausweisung der Uno-Inspekteure vor vier nische Hilfsgüter im Wert von 19 Milliar- Jahren nicht mehr, tut alles, um nach innen den Dollar sind bislang im Rahmen des die Reihen zu schließen. Programms importiert worden. Es bestehe Während die Regierung im fernen Wa- „ein himmelweiter Unterschied“ zwischen shington versucht, auf der langsam ver- dem heutigen Bild des Irak und dem von ebbenden Schockwelle des 11. September 1998, so Benon Sevan, Direktor des Uno- noch ein Bündnis gegen den Diktator vom Hilfsprogramms. Die Wohn- und Er- Tigris zu schmieden, festigt Saddam zu nährungslage habe sich „wesentlich ver- Hause in seinem Teil der „Achse des Bö- bessert“. sen“ seine Herrschaft. Die Zeit, so scheint Während sich die Politiker in New York es, arbeitet für ihn. um die primitivsten Grundbedürfnisse der Die irakischen Christen, von Saddams verarmten irakischen Massen kümmern, Regime bislang mehr geduldet als geliebt, bleibt der Bagdader Führungsclique aus- erfreuen sich plötzlich höchster Wert- reichend Zeit und Muße für lukrativere schätzung im Präsidentenpalast. Die Stra- Geschäfte. ßen in ihren bevorzugten Wohnvierteln am Auf den Asphaltpisten um die Erdölstadt Ufer des Tigris zählen zu den gepflegtesten Kirkuk, 250 Kilometer nördlich von Bag- von ganz Bagdad. dad, ist zu besichtigen, womit jenseits der Die Schiiten, die nach dem Golfkrieg Uno-Sanktionen Geld verdient wird im den Aufstand wagten und blutig nieder- Irak des Saddam Hussein: Kolonnenweise kartätscht wurden, stehen heute so hoch im sind Lkw mit türkischen Kennzeichen und Kurs, dass sogar Saddams Sohn Udai, der notdürftig zusammengeschweißten 4500- Herkunft nach ein Sunnit, mit dem Ge- Liter-Tanks unterwegs, um Diesel und danken an einen Übertritt spielen soll. Ihr Rohöl Richtung Norden zu schmuggeln. Heiligtum, die im Frühjahr 1991 schwer zer- Das illegale Milliardengeschäft läuft seit störte Stadt Kerbela mit dem Grabmal des Jahren, die Zusammenarbeit mit dem einst Imam Hussein, blüht regelrecht auf unter so renitenten Kurdenführer Massud Bar- dem neuen Pilgerstrom der ehemaligen sani, der den Grenzübergang zur Türkei Erzfeinde aus Iran. kontrolliert, klappt reibungslos. Auch Auch den Kurden, die in Saddams Ein- Amman und Damaskus beziehen über- flussbereich verblieben sind, scheint keiner wiegend irakisches Schwarz-Öl – die Jor- mehr übel zu nehmen, dass sie sich Anfang danier, um ihren Bedarf zu decken, die Sy- der neunziger Jahre am Umsturzversuch rer, um ihr eigenes Öl zu besseren Preisen gegen Bagdad beteiligt haben. Dass die Uno zu exportieren. im Nordirak eine kurdische Schutzzone Früchte des verbotenen Ölreichtums ge- schuf, hat Saddam zwar drei Provinzen sei- deihen allenthalben im Zweistromland – nes Landes gekostet. Doch es erspart ihm die wohl spektakulärste am Westufer des seit elf Jahren auch den teuren Dauerkrieg Tigris, etwa auf halber Strecke zwischen mit den widerspenstigen Peschmerga – ein Kirkuk und Bagdad. In seiner Geburtsstadt Konflikt, in dem sich noch jede Regierung Tikrit hat Saddam Hussein sich und seiner in Bagdad verhedderte. Familie ein Denkmal gesetzt, um das ihn Selbst den Erfolg des Uno-Programms mancher Saudi-Prinz beneiden dürfte: Auf „Öl für Lebensmittel“, den die Vereinten über vier Quadratkilometern erstreckt sich

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Juwelierladen in Bagdad in die Nacht wird unter Scheinwerferlicht Konsumfreudiger Reigen an immer neuen Minaretten und Zwiebel- türmen betoniert. ge, so belegen amerikanische Satellitenbil- In Dschadrija, einem Anfang der acht- der, steht kurz vor dem Abschluss; begon- ziger Jahre entstandenen Viertel, das an nen wurde er 1991 – die stets beklagten die wirtschaftliche Blüte des einst immens Sanktionen haben das Vorhaben kaum ver- reichen Irak erinnert, verprassen unter-

RAMZI HAIDAR / AFP HAIDAR RAMZI zögert. dessen die neuen Eliten ihr Geld. Der Aras- Auch das Volk soll offenbar profitieren sat-Boulevard ist gesäumt von teuren ein Komplex mit Orangen- und Mango- von der regen Bautätigkeit seines Herr- Restaurants, Boutiquen, Juwelierläden und hainen, sieben künstlich angelegten Seen, schers. Am Rande des Bagdader Villen- Möbelhäusern. Nach Einbruch der Dun- Reiterstandbildern, Lusthäusern und Pa- viertels Mansur entsteht zurzeit eine der kelheit beginnt hier die Parade der Luxus- villons, überragt vom größten aller Prä- größten Moscheen der Welt, ein Gottes- limousinen von Bagdad. sidentenpaläste, einer Zitadelle nach mit- haus von mehreren Hektar Grundfläche. Selbst für die aktuellsten Oberklasse- telalterlichem Vorbild. Der Bau der Anla- Auch hier fehlt es nicht an Mitteln: Bis spät modelle aus dem Westen hat der irakische

kommen, wenn die Amerikaner wie- der angreifen. Salih: Das werden sie nicht. Weder Eu- „Alle Araber stehen hinter uns“ ropa, geschweige denn die arabische Welt werden sich von den Vereinig- Der irakische Handelsminister Mohammed Mahdi Salih über ten Staaten eine solche Politik bieten den Feldzug der USA gegen Bagdad und die Sanktionen des Westens lassen. SPIEGEL: Wenn der Irak aber weiterhin SPIEGEL: Auf Bagdads Straßen fahren SPIEGEL: Und die Bundesrepublik, Ihr die Rückkehr der Uno-Inspektoren die neuesten Mercedes- und BMW-Mo- einstiger Handelspartner Nummer eins? nicht akzeptiert, wird es wohl zwangs- delle, Modegeschäfte florieren. Ist der Salih: Das Handelsvolumen mit Deutsch- läufig dazu kommen. unter Embargo gestellte Irak aus der land beträgt heute nur noch ein Sie- Salih: Über all diese Dinge ist das letz- wirtschaftlichen Talsohle heraus? bentel des einstigen Umsatzes in Höhe te Wort noch nicht gesprochen. Auf der Salih: Wir leiden noch stark unter den von 2,8 Milliarden Mark. Berlin wei- arabischen Gipfelkonferenz in Beirut internationalen Sanktionen. Es fehlt gert sich, die Aufhebung der Sanktio- Ende dieses Monats wird auch darüber an Medikamenten, über eine Million nen zu befürworten. entschieden. Kinder sind an Unterernährung ge- SPIEGEL: Ihre Nachbarländer respektie- SPIEGEL: Kuweit und andere Golfstaaten storben. Dringend benötigte Ersatz- ren die Uno-Auflagen demnach weitaus werden sicher keinen Finger für Bag- teile dürfen wir nicht einführen und weniger? dad rühren, um einen US-Angriff ab- können so beispielsweise nicht die Salih: Jawohl, und das ist gut so. Was zuwenden. Turbinen unserer Elektrizitätswerke in die Kooperation mit Ankara anbelangt, Salih: Sie irren sich. Alle arabischen Stand setzen. steht und fällt die ganze Südtürkei mit Länder, gerade auch Kuweit, haben SPIEGEL: Dennoch sagen die Menschen, dem Irak-Handel. Alle Länder, auch sich in der Arabischen Liga gemeinsam es gehe dem Land wieder besser. unsere europäischen Partner, müssen dafür eingesetzt, eine Attacke auf uns Salih: Zumindest haben wir alle Kriegs- zu verhindern – um jeden Preis. und Bombenschäden repariert, unter Alle stehen hinter uns. Unsere anderem 134 Straßenbrücken und fast Beziehungen sind mit allen Län- alle zerstörten Fabriken wieder aufge- dern der Region wieder völlig baut. Aber noch immer können wir normal – mit Ausnahme Israels. keine Rohstoffe einkaufen, fast nichts SPIEGEL: Da sind Sie sehr groß- exportieren. zügig mit der Umarmung Ihrer SPIEGEL: Mit Ihrem Nachbarland Tür- einstigen Feinde wie Iran oder kei, aber auch mit Syrien und mit Jor- Saudi-Arabien. danien treiben Sie einen erstaunlich re- Salih: Ich bitte Sie: Alle haben gen Handel. Die irakische Fluggesell- ihre Beziehungen mit dem Irak schaft fliegt nach Mossul und Basra, normalisiert. Wir haben mit un-

obwohl beide Städte in den Flugver- BARAIZ AYMAN serer Vergangenheit abgeschlos- botszonen liegen und damit die Uno- Politiker Salih: „Beziehungen normalisiert“ sen. Allein Saudi-Arabien hat Auflagen umgangen werden. uns im letzten Jahr Waren im Salih: Diese Restriktionen müssten gewaltige Verluste hinnehmen, wenn Wert von einer Milliarde Dollar ge- doch schon seit langem aufgehoben sie nicht mit uns zusammenarbeiten. liefert. sein. Sie sind völlig sinnlos und treffen Doch genau das tun sie inzwischen wie- SPIEGEL: Saudi-Arabiens Kronprinz Ab- nur die Zivilbevölkerung. Als Folge ist der. So hat sich die gesamte Europäi- dullah wird auf dem Arabergipfel ei- unser erster Handelspartner heute sche Union gefreut, als der Irak seinen nen Friedensplan vorlegen, der unter Ägypten. Allein im vergangenen Jahr Außenhandel auf Euro-Basis umstellte anderem die Anerkennung Israels vor- belief sich unser Handelsvolumen mit – das ist für uns und die Euro-Länder sieht. Werden Sie den Vorschlag mit- Kairo auf drei Milliarden Dollar. Sy- besser, als weiter auf seine Majestät, tragen? rien kommt gleich danach: Wir pumpen den Dollar mit seinen ganzen Anfällig- Salih: Noch liegt diese Initiative uns durch die Pipeline zu den syrischen keiten, zu setzen. nicht vor. Aber der Irak wird sich im- Mittelmeerhäfen jährlich Erdöl im Wert SPIEGEL: Ihre Zuversicht könnte schon mer für einen gerechten Frieden ent- von über einer Milliarde Dollar. bald einen schweren Rückschlag be- scheiden.

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Volksmund bereits eigene Saddam City ist das Zen- Namen geformt: Die neue S- trum dieser katastrophalen Klasse von Mercedes wird Entwicklung. „Und trotz- „Ghawassa“ (U-Boot) ge- dem“, sagt ein westlicher nannt, der in Deutschland Diplomat, „hat Saddam nir- gerade erst vom Laufband gendwo mehr Anhänger als gerollte neue 7er-BMW dort.“ Die wachsende Zahl heißt „Batman“. der Analphabeten im Land „Wir wissen“, sagt Han- begreift ihr Elend als di- delsminister Mohammed rekte Folge der Uno-Sank- Mahdi Salih, ein enger Ver- tionen. Dass die eigene trauensmann Saddam Hus- Führung das Land ins Elend seins, „dass es Krisenge- gestürzt haben könnte mit winnler gibt. Das müssen ihren verheerend geschei- wir in Kauf nehmen, um terten Eroberungsplänen, auch jenseits des Sanktions- ist ein Gedanke, den seit regimes die Wirtschaft am dem ersten Golfkrieg kaum Laufen zu halten.“ mehr einer zu denken Doch der konsumfreudige wagt im Reich des Saddam Reigen der neureichen Bag- Hussein.

dader gleicht einem Tanz auf OF DEFENSE US DEPARTMENT Während die Unterschicht dem Vulkan. In besinnlichen Saddam-Palast in Tikrit (Satellitenaufnahme): Lusthäuser im Orangenhain sich um ihren Helden schart, Stunden mag ihr Blick hin- so der Eindruck des Diplo- übergehen nach Saddam City, das in Mehr als 500000 Kinder, hat Hans von maten, mache sich bei den oberen 300000 Richtung Nordosten ausufernde Armen- Sponeck, der aus Protest gegen die Sank- der irakischen Gesellschaft eine Bunker- viertel der Hauptstadt. Dort bieten Fami- tionspolitik der Amerikaner und Bri- mentalität breit, vergleichbar mit der Stim- lien auf der flimmernden Thaura-Straße ten zurückgetretene Chef des Hilfspro- mung der Verantwortlichen im ausgehen- ihren gesamten Hausstand feil, um über gramms der Vereinten Nationen, vorge- den Dritten Reich. die Runden zu kommen. Verwahrloste rechnet, sind seit 1990 an verschmutztem „Diese Leute kennen die blutige Ge- Jungs lungern an einem der zu Dutzenden Wasser, Medikamentenmangel und Unter- schichte ihres Landes und halten umso ver- über die Stadt verteilten Präsidenten- ernährung gestorben. Die Zahl der psy- bissener am Status quo fest. Sie wissen, Standbilder herum. Daneben türmt sich chisch erkrankten Kinder stieg um 124 dass sie im Fall eines Umsturzes um ihr meterhoch der Müll. Prozent. Leben fürchten müssen.“ Irgendwo zwischen den stin- dent Taha Jassin Ramadan ver- kenden Müllhaufen von Saddam gangene Woche zu. Die Ironie City und den schicken Restau- seiner Worte scheint ihm nicht rants von Dschadrija spielt sich aufgefallen zu sein. Der eiser- das traurige Leben des studierten ne Gefolgsmann Saddam Hus- Volkswirts Ala Dschassim* ab. seins versuchte, eine aufgebrach- Der 41-Jährige, Veteran sowohl te Versammlung wütender Pan- des Iran- als auch des Kuweit- arabisten zu besänftigen, die sich Krieges, hat seine Frau, zwei Kin- in Bagdad zu einem Solidaritäts- der und einen kranken Vater kongress für die Not leidenden durchzubringen. Die 30000 Dinar Völker Iraks und Palästinas ge- (etwa 20 Euro) aus seinem Job troffen hatten. in der Armeeverwaltung sind Genau hier, bei den von ihren schnell verbraucht, also hat er eigenen Regierungen unterdrück- sich im Vorgarten seines adretten ten Radikalen, das spürt der Herr- Reihenhäuschens eine kleine scher von Bagdad, ist sein Anse- Hühnerfarm errichtet. hen ungebrochen, hier kann er Schräg gegenüber ist vor einem neue Anhänger sammeln. Nicht halben Jahr ein Angestellter der um den Irak und seine Zukunft, chinesischen Botschaft eingezo- sondern um Palästina solle es

gen. Wenn Dschassim sieht, wie DPA beim Gipfel der Arabischen Liga dessen Kindermädchen jeden Saddam, Clanführer: Zur Belohnung eine Moschee in Beirut Ende März vor allem ge- Morgen den Jeep ihres Arbeitge- hen, kündigte Vizepremier Tarik bers poliert, überkommt ihn manchmal die einem bewaffneten Aufstand gegen Sad- Asis auf derselben Veranstaltung an – und Sehnsucht. dam Hussein zu beteiligen. Viel lieber wür- gab gleichzeitig eine Erhöhung von Bag- Er ahnt, was der Westen von gebildeten de er wie seine vor 20 Jahren nach Frank- dads „Märtyrer-Pensionen“ für die Fami- Mittelklasse-Irakern wie seinesgleichen er- reich geflohene Schwester auswandern. lien der im Kampf gegen Israel ums Leben wartet – morgens hört er den arabischen Wenn bloß der Vater nicht so krank wäre. gekommenen Palästinenser bekannt. Dienst der BBC, abends Radio Monte Car- „Ich warte und warte, und langsam wird Schon die bloße Erwähnung des großzü- lo und Voice of America. Trotzdem liegt mein Haar grau.“ gigen Spenders reichte, einen Sturm der ihm nichts ferner als der Gedanke, sich an „Ihr wisst, dass Staatsmänner manch- Begeisterung auszulösen: „Wehe den Be- mal anders handeln müssen, als ihre Völker satzern! Unser Blut für Saddam!“ * Name geändert. empfinden“, gab der irakische Vizepräsi- Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand PIER PAOLO CITO / AP (L.); MUHAMMAD SADIK / AP (R.) / AP (L.); SADIK MUHAMMAD CITO PIER PAOLO Festnahme von Palästinensern bei Betlehem, israelische Panzer in Ramallah: „Großes Leid und unnötige Demütigung“

Druck von Israels engstem Verbündeten, NAHOST den USA. In Gestalt des pensionierten Marine-Ge- nerals Anthony Zinni meldete sich die Su- „Mitten im Abgrund“ permacht vergangene Woche als Vermittler im Nahost-Konflikt zurück. Aufgeschreckt Washington steht unter Zugzwang: Während die Gewalt durch die diabolische Dynamik von Atten- taten, Rache, Mord und Vergeltung, gaben zwischen Israelis und Palästinensern eskaliert, die USA ihre diplomatische Abstinenz auf: bemüht sich die Weltmacht um eine Beilegung des Dauerkonflikts. Allein seit Ende Februar starben rund 200 Palästinenser und fast 70 Israelis – ein „ent- assir Arafat ist kein Mann, der Almo- „Mukataa“, wo er drei Monate lang prak- setzliches Gemetzel“, so Uno-General- sen annimmt. Schon gar nicht von ei- tisch unter Hausarrest gestanden hatte, ei- sekretär Kofi Annan schockiert. Jnem Israeli. So blieb der Palästinenser- gene Parteigänger, Diplomaten und Parla- Wird ausgerechnet der Sonderemissär Chef in seinem Hauptquartier in Ramal- mentarier. von US-Präsident George W. Bush die lah, auch nachdem Premier Ariel Scharon Offiziell begründete Scharon seinen Sin- mörderische Eskalation des Nahost-Kon- gönnerhaft verkündet hatte, er wolle die neswandel damit, Arafat habe endlich alle flikts stoppen können? Oder ist die Mis- Bewegungsfreiheit Arafats „nicht länger Hintermänner des Attentats auf Touris- sion impossible des Unterhändlers nur einschränken“. In der trotzigen Geste des musminister Rechawam Seewi verhaftet. ein durchsichtiges Manöver, um die arabi- Märtyrers empfing Arafat weiter in seiner Doch in Wahrheit erfolgte die Geste auf schen Staaten zu beschwichtigen, während Washington zum nächsten Schlag gegen Blutzoll einer Woche Bei den anhaltenden Kämpfen zwischen Israelis den Erzfeind Irak ausholt? und Palästinensern gab es seit dem 9. März erneut Hunderte Tote und Verletzte Immerhin setzen die Amerikaner ihre Glaubwürdigkeit als Weltpolizist aufs Spiel. 9. März, Jerusalem 9. März, Netanja Zwei Pa- 10. März, Gaza- 10. März, Jerusalem Zweimal in der Vergangenheit war Zinni Ein Selbstmordattentäter lästinenser feuern in eine Stadt Arafats Haupt- Zwei Palästinenser bereits gescheitert. Im Dezember brach er sprengt in einem voll be- Menschenmenge, töten eine quartier wird durch werden von ihrer ei- setzten Café sich selbst Frau und ein Baby, bevor sie israelische Raketen- genen Autobombe die fruchtlosen Gespräche angeblich mit und 11 Gäste in die Luft selbst erschossen werden angriffe zerstört zerrissen den Worten ab: „Ich halte das nicht mehr aus.“ Verärgert erklärte Washington, beide WEST- Seiten müssten allein zusammenfinden – in Dschabalija Netanja Tulkarm Israel wurde das US-Desinteresse prompt Schlomi als verdeckte Zustimmung für neue mi- Gaza- Nablus JORDAN- Stadt Kalkilja litärische Offensiven gewertet. „Jetzt hatte die Administration keine an- LAND dere Wahl mehr, die Situation wurde un- GAZA- Tel Aviv Ramallah erträglich“, erklärt David Makowsky vom Kartenausschnitte STREIFEN Washingtoner Institut für Nahost-Politik die Wende der US-Politik. ISRAEL Jüdische Sied- Jericho Doch es ist nicht purer Humanismus, lungen im Gaza- der Amerikas diplomatischen Rettungs- Streifen und im Jerusalem trupp in Marsch gesetzt hat. Die USA be- Westjordanland Betlehem reiten die zweite Phase im Kampf gegen Totes den Terrorismus vor. An vorderster Stelle 5 km 10 km Meer Hebron der Zielliste steht der Irak. Auf dem Weg dahin erweist sich der 12. März, Schlomi Zwei 12. März, Gaza-Streifen 12. März, Ramallah 13. März, Ramallah Hisbollah-Kämpfer feuern 27 getötete Palästinenser, Israelische Einheiten Die israelische Armee Nahost-Konflikt immer stärker als Hin- auf einen Bus und töten davon allein 18 bei der rücken mit mehr als erschießt u.a. auch dernis. „Mehr als je zuvor“, erkannte sechs Israelis, bevor sie Erstürmung des Flüchtlings- 100 Panzern in die einen italienischen Bush, „lösen die Unruhen in Nahost Auf- von Soldaten erschossen lagers Dschabalija durch Stadt ein, mindestens Pressefotografen ruhr in der gesamten Region aus.“ Die werden die israelische Armee fünf Tote schreckliche Opferbilanz droht gar die

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Gerade noch rechtzeitig, um den ein- treffenden US-Unterhändler nicht zu brüs- kieren, zog Israel vergangene Woche seine Panzer aus dem Zentrum Ramallahs und anderen Städten im Westjordanland zu- rück. „Wir wollen nicht als diejenigen da- stehen, an denen die Zinni-Mission schei- tert“, so ein Vertrauter des Verteidigungs- ministers. Ob Zinni einen Waffenstillstand aus- handeln kann oder gar weiter reichende

GALI TIBBON / AFPGALI / DPA Übereinkünfte, ist angesichts der tiefen Feindschaft und des Premier Scharon, Misstrauens auf beiden Emissär Zinni; Palästi- Seiten fraglich. Schon nenser-Führer Arafat der Tenet-Plan, so be- „Die Situation wurde nannt nach dem CIA- unerträglich“ Chef, ist anspruchs- voll: Israel würde sich gegenwärtige Reise des auf seine Positionen US-Vizepräsidenten vor Beginn der Inti- Richard Cheney zu ge- fada zurückziehen, fährden. In einer Par- sämtliche Angriffe und forcetour durchkämm- die gezielte Ermor- te der Ex-Golfkriegs- dung von Fatah- und

Verteidigungsminister PRESS HUSSEIN / SIPA Hamas-Aktivisten ein- gerade allein neun ara- stellen sowie die Ab- bische Länder, um deren Widerstand gegen riegelungen aufheben. Die Palästi- einen geplanten Angriff auf Saddam Hus- nenser müssten nicht nur jede Gewalt sein aufzuweichen. Doch mehr als Cheney stoppen und potenzielle Attentäter ver- lieb war, musste er bei diesem Rundtrip haften, sondern auch illegale Waffen ein- auf den leidigen Konflikt eingehen. sammeln. Um die arabischen Gesprächspartner in Spätestens die nächste Etappe zum Frie- Ägypten, Jordanien und am Golf zu beru- den stößt auf eine politische Sollbruch- higen, wurde deshalb Zinni als Feuer- stelle: Israel will sich um den geforderten wehrmann losgeschickt. Zusätzlich gelang totalen Siedlungsstopp herummogeln – und es den USA, im Uno-Sicherheitsrat eine hat dafür auch schon das heimliche Ein- Nahost-Resolution durchzusetzen, die verständnis der Amerikaner. erstmals von der Vision eines palästinensi- Das politische Gewicht, das für eine dau- schen Staates spricht – eine Morgengabe an erhafte Waffenruhe nötig ist, bringt erst die arabischen Verbündeten. Vizepräsident Cheney mit, der diese Wo- Ungewöhnlich scharf fiel deshalb auch che in Jerusalem verhandelt. Er will Scha- die Kritik an Israels Einmarsch in Ramal- ron die definitive Zusage abringen, dass lah aus. In der bisher größten Militärope- Arafat Ende März zum Gipfeltreffen der ration seit dem Libanon-Feldzug rückten Arabischen Liga nach Beirut reisen darf. 20 000 israelische Soldaten in das wirt- Ohne dessen Präsenz im Kreis der Emire schaftliche und kulturelle Zentrum der und Staatschefs wäre die jüngste Friedens- Palästinenser sowie andere Orte ein. Ra- initiative Saudi-Arabiens zum Scheitern mallah, verteidigt sich Israel, sei eine verurteilt. „Brutstätte des Terrors“. „Wir brauchen endlich eine politische Doch die Bilder der rollenden Panzer in Perspektive“, sagt Uno-Sonderbeauftrag- Wohnvierteln gingen selbst dem Terro- ter Terje Roed-Larssen und warnt vor einer ristenjäger George W. Bush zu weit: Die „humanitären Katastrophe in den Palästi- Aktion, schimpfte er, sei „nicht hilfreich“. nenser-Gebieten“. Bei Zinnis letztem Be- Israels militärisches Vorgehen, so die „New such hätten Israel und die Palästinen- York Times“, „verursache großes ziviles ser ihren Todestanz am Rande des Ab- Leid und unnötige Demütigung“. grunds getanzt. „Jetzt sind wir mitten im Premier Scharon dürfe Washingtons So- Abgrund.“ lidarität nicht überschätzen, warnt auch Viel kann auch Palästinenser-Führer Nahost-Experte Makowsky: „Bei allem Arafat mit seiner neu gewonnenen Bewe- Verständnis für den Schutz der Bevölke- gungsfreiheit nicht anfangen: Viele seiner rung heißt das nicht, dass die USA jede Mi- Büros im Westjordanland und im Gaza- litäraktion Israels unterstützen.“ Streifen sind zerstört, die Infrastruktur der Die Palästinenser glauben dagegen an palästinensischen Verwaltung ist fast zu- ein abgekartetes Spiel der Verbündeten. sammengebrochen. „Ohne grünes Licht der Amerikaner“, „Auf der Fahrt durch sein Land“, höhn- so Sicherheitschef Dschibril Radschub, te das israelische Massenblatt „Jediot Acha- „wäre der Einmarsch so nicht möglich ronot“, „kann er nun die Trümmer Palästi- gewesen.“ nas besichtigen.“ Annette Großbongardt

der spiegel 12/2002 161 Werbeseite

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Werbeseite nem Verhör ließ ihn die indonesische Poli- zei wieder laufen. Das amerikanische FBI und Singapurs Geheimdienst ISD (Internal Security Department) drängten wie auch die Regierung in Kuala Lumpur auf Aus- lieferung. Erst als „Seniorminister“ Lee maulte, die Anführer der Jemaah-Isla- miah-Zellen liefen in Indonesien noch frei herum, brach in der Nation mit der weltweit größten Anzahl von Musli- men (198 Millionen) ein Sturm der Entrüs- tung los. Mit einem bissigen Kommentar: „Wo sind Ihre Beweise, Herr Lee?“, schlug sich sogar das liberale Nachrichtenmagazin „Tempo“ auf die Seite des terrorverdäch- tigen Bin-Laden-Anhängers, ebenso wie Außenminister Hassan Wirayuda. „Im Ge- gensatz zu Singapur können wir Verdäch- tige nicht auf Hörensagen einsperren“, so der Chefdiplomat brüsk. Deutlich verbat er sich „jede Einmischung in die inneren An-

ACHMAD IBRAHIM / AP IBRAHIM ACHMAD gelegenheiten des Landes“. Die übernervöse Reaktion hat Hintergründe. „In Indo- nesien wünscht man sich mehr Sensibilität für seine spezifischen muslimischen Probleme“, sagt der Islam- Muslim-Protest gegen Lee*, Prediger Ba’asyir: „Ruf besudelt“ experte Anthony Smith in Singapur. Zwar praktiziere des Altpolitikers, der wäh- der Großteil der indonesi- INDONESIEN rend seiner Amtszeit Kriti- schen Bevölkerung einen ge- ker und Opposition ver- mäßigten Islam; es sei im Held des Islam folgen ließ. Während des Zuge des demokratischen chinesischen Neujahrfestes Wandels jedoch zum modi- Ein Muslim-Prediger will Singapurs Mitte Februar hatte Lee vor schen Reflex geworden, sich Ex-Premier Lee Kuan Yew heimischem Publikum die lautstark zu seinen „religiösen Ermittlungen gegen die Ter- / REUTERS STRINGER Wurzeln“ zu bekennen. Das verklagen. Der bizarre Rechtsstreit rorgruppe Jemaah Islamiah schafft politische Konsequen- zeigt die Grenzen der kommentiert: Deren Umtriebe erschütter- zen: Ohne die Mehrheitsbeschaffer aus dem Terrorbekämpfung in Südostasien. ten die Grundfesten der als problemfrei er- Lager muslimischer Splitterparteien hätte achteten multi-kulturellen Mustergesell- Präsidentin Megawati Sukarnoputri längst er Aufzug vermittelte eher den Ein- schaft im Stadtstaat Singapur. ihre Macht im Parlament verloren. „Sie kann druck einer religiösen Kundge- 13 der Gruppenmitglieder sitzen in Sin- es sich eigentlich gar nicht mehr leisten, ge- Dbung – tatsächlich war es ein Ereig- gapur seit Dezember in Haft, 40 in Malay- gen radikale Islamisten vorzugehen, ohne nis von großer innenpolitischer Symbolik. sia. Ihr Sprengstoffexperte, Ba’asyirs frühe- das Chaos im Land zu riskieren“, sagt Smith. Sechs Anwälte der „Union der muslimi- rer Schüler Fathur Rohman al-Ghozi, ist in Bei den Nachbarländern hat sich das of- schen Bruderschaft“ trippelten im Gänse- Manila geständig. Nach Absprache mit Ak- fenbar noch nicht herumgesprochen. Täg- marsch in die Räume des Amtsgerichts von tivisten von Bin Ladens al-Qaida sollten in lich drischt die Lokalpresse in Malaysia Süd-Jakarta. Vor dem weiß getünchten Ge- Südostasien „drei US-Botschaften“ in die und Singapur auf das „demokratische bäude bekundete ein kleines Häuflein radi- Luft gejagt werden. „Das wäre“, sagt ein Durcheinander“ im Nachbarland ein. Als kaler Muslime moralische Unterstützung. Diplomat in Jakarta, „ein zweiter 11. Sep- eine Polizeidelegation aus Jakarta vor zwei Ein mutiges Unterfangen: Ausgerechnet tember geworden.“ Wochen mit den 13 inhaftierten Terror- vor der Instanz, die sich geweigert hatte, Dass Ba’asyir, der erst im Herbst 1998 verdächtigen in Singapur sprechen wollte, eine Klage gegen Ex-Diktator Suharto an- aus dem malaysischen Asyl ins demokra- verweigerten die Behörden den Kontakt zunehmen, wollen die Muslim-Advokaten tisch gewendete Indonesien zurückkam, aus „Verfahrensgründen“. Justizgeschichte schreiben: „100 Millionen hinter der Gruppe steckt, gilt unter Ge- Die Anwälte des beleidigten Predigers US-Dollar Schadensersatz“ solle Singapurs heimdienstlern der Region als gesichert. Ba’asyir versuchten denn auch gar nicht, Ex-Premier Lee Kuan Yew zahlen, weil er Mit weißem Zwirbelbärtchen und Pilger- ihre juristische Offensive direkt gegen Lee den muslimischen Prediger Abu Bakar mütze auf dem schütteren Haupt, verherr- Kuan Yew in Stellung zu bringen. Dazu Ba’asyir des Terrorismus verdächtigt hat- licht er in seiner Koranschule Al-Mukmin hätten sie den Altpolitiker in dessen Hei- te. „Lee hat den Islam beschmutzt“, so unweit der zentraljavanischen Stadt Solo mat anklagen müssen – ohne Aussicht auf Ba’asyir, „und meinen Ruf besudelt.“ unbehelligt Osama Bin Laden. Seine Erfolg. Stattdessen richtete sich ihre Mil- Was den radikalen Muslim zu dieser ab- Schüler lehrt er Sätze wie: „Christen sind lionenklage gegen Singapurs diplomatische surden Klage veranlasste, war eine Rede niedriger als Tiere.“ Oder: „Osama Bin La- Vertreter in Indonesien: Die Botschaft tra- den ist ein Held des Islam.“ ge die Schuld für den Rufmord, denn sie * Verbrennung einer Puppe des Ex-Premiers am Tor von In seiner Heimat blieb Ba’asyir trotz habe die ehrenrührige Erklärung Lees ver- Singapurs Botschaft in Jakarta am 26. Februar. solcher Hetzparolen unbehelligt. Nach ei- breitet. Jürgen Kremb

166 der spiegel 12/2002 Ausland

ten: „In Austria she is chief of my office“ Muss nicht, kann aber. Der Weg in die ÖSTERREICH – in Österreich leitet sie mein Büro. Hofburg war dornig und weit. Die außer- Das war so, bis vor kurzem. Seit Rohans ehelichen Rencontres der damaligen Ge- Prellbock in Abschied ist Klestil-Löffler in der Asien- sandten mit dem angehenden Präsidenten Abteilung II/10 des Außenamts gestrandet. im Wiener Innenstadt-Beisl „Kuchldrago- Die Hintergründe dieser Demütigung ner“ sind Legende; die Heirat in den Amts- Escada durch Kanzler Schüssel und die ÖVP- räumen des Wiener Bürgermeisters, wo Außenministerin Ferrero-Waldner erahnt, der rote Stadtfürst neben dem schwarzen Die Dauer-Kabale zwischen Staats- wer sich an die von moralischem Abscheu Wirtschaftskammer-Präsidenten prakti- und staatstragender Zerknirschung ent- scherweise auch gleich den Trauzeugen ab- chef Klestil und Kanzler stellte Miene des Bundespräsidenten Klestil gab, war großkoalitionär untermauert und Schüssel geht weiter – mit der im Februar 2000 erinnert. Damals glaubte trotzdem verschämt. Präsidenten-Gattin der von der konservativen ÖVP inthro- Zu stark hatte zuvor der Boulevard quer Klestil-Löffler in tragender Rolle. nisierte Staatschef den ÖVP-Vorsitzen- geschossen: „Klestil, wann gibst Du die Löff- den Schüssel als Kanz- as Problem ist der Papierkram. All ler von Haiders Gna- die Jahre schon. Ob es zu Bill und den nicht vereidigen zu DHillary geht, zum Tenno oder zum dürfen. Sultan von Oman oder ob, wie letzten Die Degradierung Dienstag gerade, Mohammed Chatami aus der Gattin werden sie Teheran die „Achse des Bösen“ in Wien büßen müssen. Klestil vertritt – streng genommen läuft nichts lässt Drohungen, in ei- ohne Urlaubsantrag. nem möglichen neuen Margot Klestil-Löffler ist hauptberuflich Kabinett Schüssel ab Diplomatin. Nebenberuflich ist sie Gattin 2003 Minister abzuleh- des Bundespräsidenten Thomas Klestil. nen, vom einst renom- Wenn sie an der Seite des höchsten Wür- miertesten Enthüllungs- denträgers der Republik ihr Land vertritt, journalisten Österreichs muss sie sich zuvor bei der Außenministe- streuen: „Ein Bundes- rin Benita Ferrero-Waldner abmelden. präsident, der aus Das Doppelleben von Margot Klestil- verfassungsrechtlichen Löffler birgt die Gefahr fortschreitender Gründen nicht mehr ge- Bewusstseinsspaltung: Fühlt sich die Viel- wählt werden kann, beschäftigte im Fernsehen von Bundes- braucht nur noch auf kanzler Wolfgang Schüssel angegriffen, sein eigenes Gewissen schaltet sie sich ein – in der Seele Beamtin, Rücksicht zu nehmen“ im Ton Staatsoberhauptsgemahlin – und – schreibt ausgerechnet verwahrt sich gegen die Vermutung, sie Alfred Worm, der in

könnte mit ihrem Angetrauten außer Tisch besseren Tagen mit Re- / AP ZACK RONALD und Bett auch Dienstgeheimnisse teilen. cherchen die Republik Präsident Klestil, Ehefrau Margot: Aufreibendes Doppelleben Beim OSZE-Gipfel sitzt sie am Cheftisch erschüttert hat. neben dem US-Präsidenten, am Katzen- Margot Klestil-Löffler spielt solange mit ler ab?“ Zu beliebt war die gestandene Gat- tisch schmort derweil ihr Dienstherr Schüs- rarer Eleganz und hinhaltender Beseelt- tin des Staatsoberhaupts, Edith Klestil. In- sel. Zu Hause gibt’s dann natürlich wieder heit den Prellbock im Escada-Kostüm, zwischen vergoldete die ihre Existenz als Ärger, wegen des fehlenden Urlaubs- zwischen Präsident und Kanzler. Und Geschiedene mit Werbespots für Julius- antrags. doch kommt nun neues Unheil auf sie zu: Meinl-Kaffee namens „Der Präsident“ und Beim Staatsbesuch in Syrien im Herbst Ein Schüssel-Spezi verspricht Enthüllun- verkündete: „So schmeckt die Freiheit.“ 2001 steht der höchste Beamte des öster- gen über „Unsere Klestils“. Ernst Hof- Die Scheidung war teuer, für Klestil. Und reichischen Außenministeriums, der Hu- bauer, einst Co-Buchautor von Schüssel, also, lästert der gehobene Wiener Boulevard, genottenspross Albert Rohan, vor dem Verbindungsbruder auch von Klestil in der muss die zweite Gemahlin weiter dazuver- Rückflug auf dem Rollfeld, blickt der am „Bajuvaria“, will seiner Generalbehaup- dienen. Muss First Lady spielen, dazu in der Arm ihres Gatten die Gangway hoch in die tung, Klestil-Löffler verwandle „in rhyth- Asien-Abteilung hackeln und gleichzeitig Präsidentenmaschine schreitenden Margot mischen Abständen diplomatisches Par- Hausfrau sein: Die Badehosen des hochmö- nach und petzt einem syrischen Diploma- kett in qualmende Trümmerhaufen“, genden Bundespräsidenten, so eine offiziel- Mitte April saftig gedruckte Anekdoten le Mitteilung der Präsidialkanzlei im Febru- beifügen. ar, kaufe selbstverständlich die Frau Ge- Spott fällt leicht über die so schöne wie mahlin, „der man rund um ihren Arbeits- ehrgeizige Slawistin aus dem Waldviertel. platz in der Wiener Innenstadt – ja fast jeden Nicht wenige sagen, sie sei ihrer Ministe- Tag – beim Einkaufen begegnen kann“. rin an strategischer Intelligenz voraus. Will man das? Und, wenn ja: Was pas- Aber dass sie jetzt vor Auslandsreisen Be- siert währenddessen in der Asien-Abtei- amte der jeweiligen österreichischen Bot- lung des Außenamts? 4000 Österreicher schaft das Gästebett des Präsidentenpaa- sollen das Buch „Unsere Klestils“ vorbe- res Probe liegen lässt, wie das Magazin stellt haben. Der national führende Pres- „Format“ meldet, oder bei Empfängen in seanwalt, sagt Ernst Hofbauer, der Autor, Wien wissen will, ob noch Papierfetzerl habe schon Ende Februar im Namen der

PS PRESS / ACTION PRESS PS PRESS / ACTION herumliegen, und das Schuhwerk des Gat- Klestils verkündet, er beabsichtige, das Außenministerin Ferrero-Waldner ten mit strengem Auge prüft – muss das Machwerk „komplett beschlagnahmen“ zu Demütigung für die Aufsteigerin sein? lassen. Walter Mayr

der spiegel 12/2002 167 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

Klüger werden mit: Jamie Oliver

Der 26-jährige britische König der Köche über sein Erfolgsrezept

SPIEGEL: Ihr Pseudonym ist „The Na- ked Chef“. Kochen Sie, wenn Sie gute Laune haben, auch nackt? Oliver: Natürlich nicht. Meine Devise war immer, das Essen auf das We- sentliche zu reduzieren, auf Englisch: „Strip it out to the bare essentials.“ Wegen des Wortes „strip“ entstand der Name, den ich erst gar nicht mochte. Für mich klang das wie Por-

JONATHAN BARTH JONATHAN no-Star. Und „Chef“ bedeutet in an- „Sleepover“-Party im Hotel deren Ländern ja nicht immer Koch. SPIEGEL: Ihre Kochbücher sind in NEW YORK wort. Bei einer Umfrage der Zeitschrift England Bestseller, als TV-Koch sind „New York“ unter 600 Singles erklärten Sie bis ins japanische Fernsehen vor- 58 Prozent der Befragten, dass sie ihre gedrungen. Und Ihr drittes Buch, Kekse und Samstagabende seit den Anschlägen lie- „Genial kochen“, ist gerade auf ber zu Hause verbringen, 35 Prozent Deutsch erschienen. Wie erklären Sie gaben an, weniger Interesse an flüch- sich den Erfolg? Milch tigen sexuellen Begegnungen zu haben. Oliver: Ich habe Freundinnen mit Der New Yorker Kulturwissenschaftler wenig Geld, die nur in Second-Hand- o genannte Pyjama-Partys, in den Larry Samuel begreift die Pyjama-Par- Geschäften einkau- SUSA seit Generationen ein Wochen- tys als Versuch, das „Erwachsenwerden fen. Sie sind immer end-Spaß für Teenager, sind seit dem noch ein bisschen hinauszuzögern“. hübsch angezogen, 11. September auch unter Erwachsenen Mittlerweile bieten sogar Nobel-Hotels dafür haben sie beliebt. Vor allem junge New Yorkerin- „Sleepover“-Partys de luxe. Star-Mode- ein Händchen. Ich nen zwischen 20 und Mitte 30 bekennen ratorin Oprah Winfrey lud kürzlich zum habe ein Händchen sich zur Vorliebe für improvisierte großen „Slumber“-Event ins vornehme dafür, aus preis- Übernachtungen. Statt aufgebrezelt „Bel Air“-Hotel in Los Angeles. Im wertem Saisongemü- durch die Bars des East Village zu tou- Paket-Preis eines New Yorker Hotels se Sensationelles zu ren, zappen sie lieber zu mehreren un- inbegriffen sind Beauty-Produkte, Mas- machen. gestylt in Bademantel oder Schlafanzug sagen auf dem Zimmer und ein Klassi- SPIEGEL: Liegt Ihr Er- durch die Kanäle, tauschen sich über ker: Kurz vor dem Schlafengehen gibt folg nicht auch daran, Männer aus und schlafen irgendwann es frisch gebackene, noch warme Kekse dass Sie aussehen wie Oliver erschöpft an Ort und Stelle ein. „Cosy“, und Milch. Fast wie bei den Kids – nur, ein Brit-Popper? gemütlich, ist in der einstigen Ausgeh- dass nicht Muttern am Bett serviert, Oliver: Mag sein. Vielleicht spielt auch hochburg New York das neue Schlag- sondern Hotelpersonal. eine Rolle, dass ich einen East-Lon- don-Arbeiter-Akzent spreche. Norma- lerweise sind solche Jungs ja eher Pop- stars. Ich aber kann nicht singen, son- GETRÄNKE Rauchen ist dort in öffentli- dern kochen und Leute zum Kochen chen Gebäuden verboten, in bringen. Weil ich so jung bin, sagen Fluppe aus der Kalifornien sogar in Kneipen viele Mädchen zu ihren Jungs: Wenn und Bars. Wer sich nicht dar- der das kann, kannst du das auch. Flasche an hält, zahlt hohe Geldstra- SPIEGEL: Nun holen Sie auch noch fen. Nikotin-Wasser ist hinge- Kinder von der Straße und schenken in Schlückchen Marlboro, gen, trotz aller Proteste, als ihnen eine Koch-Zukunft. Eein Glas Gauloises – wer Nahrungsergänzung gemeldet; Oliver: Geschenkt bekommen die Qualm vermeiden will, trinkt man muss nur 18 sein, um den nichts, aber sie bekommen eine seine Zigaretten, anstatt sie zu Aufputsch-Drink zu bekom- Chance. Das Projekt heißt „Oliver’s rauchen: „Nicotine water“ men. Trotzdem ist es unwahr- Army“ und ist ein riesiges Restau- heißt das neue Getränk. Teer scheinlich, dass bald alle Rau- rant im Osten Londons, das ich mit und Benzol kommen nicht in cher an der Flasche hängen: fünf anderen Profi-Köchen führe. die Flasche, nur Nikotin ist im Ein halber Liter entspricht ge- Dort werden wir jedes Jahr 15 ar- Wasser aufgelöst. Der Ge- rade mal zwei Zigaretten. Wer beitslose Jugendliche ausbilden. Von schmack ist neutral. Bisher gibt einen hohen Nikotinbedarf da aus können sie dann in jedem es den Zigaretten-Ersatz nur hat, muss also ganz schön be- Top-Restaurant der Stadt arbeiten. in den Vereinigten Staaten. Wasser mit Nikotin chern.

der spiegel 12/2002 169 Szene

Was haben Sie da gedacht, Mr. Webber?

Der australische Formel-1-Fahrer Mark Webber, 25, über seinen Flug mit dem Team der „Royal Austra- lian Air Force Aerobatic“

„Mir war nicht die ganze Zeit zum Lachen zu Mute. Eigentlich nur, als ich auf den Auslöser der Kamera ge- drückt habe. Ich hätte mehr gelacht, wären nicht die anderen Flugzeuge gewesen, deren Tragflügel wir im- mer wieder fast berührten – so dicht flogen wir nebeneinander her. Auf der Strecke geht es auch hauteng zu, aber da sitze ich am Steuer. Bei dem Flug wurde für mich ein Kindheits- traum wahr: Einmal über die For- mel-1-Strecke in Melbourne fliegen. Unglaublich friedlich war es da oben, man hat gar kein Gefühl für Geschwindigkeit. Die Fliehkräfte ge- hen, im Gegensatz zum Formel-1- Fahren, durch den gesamten Körper.

Ein geiles Gefühl, das mir noch beim AP nächsten Rennen Glück brachte.“ Webber bei seinem Flug über Melbourne

SACHBUCH heißt das neue Werk des ameri- INTERNET kanischen Schriftstellers und Stinkende Helden Journalisten. Junger schrieb diese Virtuelle Schuldenfalle elf Reportagen zwischen den Jah- ein Buch „Der Sturm“ von ren 1992 und 2001, und trotz die- nline-Shopping ist gefährlich. In deutschen S1997 wurde ein weltweiter ser Zeitspanne handeln sie alle OSchuldnerberatungen finden sich immer häufi- Bestseller und von Wolfgang vom selben Thema: vom Krieg. ger junge, gut verdienende Klienten ein, die sich Petersen mit Schmackes in Hol- Es sind Frontberichte aus beim virtuellen Einkaufsbummel kräftig übernom- lywood verfilmt – bei Sebastian Kaschmir, aus dem Kosovo oder men haben. Suchtforscher entdeckten bei diesen Jungers zweitem Werk erwartet aus Sierra Leone, Geschichten, in „Shopaholics“ das immer gleiche Problem: Da die man nun natürlich einiges. Und denen Soldaten gegen Soldaten Kaufhandlung abstrakt ist und Geld nicht mehr in wird nicht enttäuscht: „Feuer“ kämpfen. Oder es sind Schlach- die Hand genommen wird, verliert der Online-Käu- ten, die Menschen gegen die Ge- fer den Überblick über walt von Naturkatastrophen seinen Kontostand. führen. Vor allem in diesen Tex- Das Internet, so Iver ten, die vom Kampf des Men- Hand, Hamburger Pro- schen gegen Naturgewalten fessor für Verhal- erzählen, erweist Junger sich als tenstherapie, verleite Hemingways Erbe. Schmucklos in wie kein anderes Medi- der Sprache, genau beobachtend um zu Spontankäufen. und komplett fasziniert von sei- Besonders Menschen nen Helden, diesen Kerlen, die mit depressiven

nach Schweiß stinken, Brände lö- Störungen, die den RIDDER / VISUM ANDY schen, Wale fangen und aus Flug- Weg in Geschäfte Bestell-Button im Internet zeugen springen. In Hollywood meiden, biete es eine werden sie einige Reportagen aus bequeme Alternative, ihren Kaufzwang zu befriedi- dem Buch lieben – was macht gen. Als besonders anfällig für eine virtuelle Kaufab- eigentlich Wolfgang Petersen? hängigkeit gelten so genannte Yetties (young entre- preneurial tech-based internet elites), die bis spät nachts in der Firma sitzen, jeden Ladenschluss ver- Sebastian Junger: „Feuer. Reportagen von den Brennpunkten der Welt“. Diana Verlag, Mün- passen, kaum soziale Kontakte haben – sich aber chen; 288 Seiten; 20 Euro. bestens im Internet auskennen.

170 der spiegel 12/2002 Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Die Bücher verschwanden, die Eltern protestierten, die Nonnen stellten sich taub. Und wenig später war im „Nord- bayerischen Kurier“ von einem bösen Wo der Teufel tanzt Verdacht zu lesen: dass Auerbacher Schulschwestern dem Gedankengut ei- Die Schüler von Auerbach sollen nichts über Sex erfahren. ner radikalen fundamentalistischen Or- ganisation verpflichtet seien – dem „En- er Teufel lacht, wenn die Mäd- dann hat er sie weggeschickt: „Habt’s gelwerk“, dessen Schriften anzuwenden chen kurze Röcke tragen, „zieh euch net so. Wenn ihr die Kinder dort- der Vatikan untersagt. Tanz und Fa- Ddich um“, muss man ihnen sagen hin gebt, dann müsst ihr des ertragen.“ sching verbietet dieser Glaube, und wer und schickt sie heim. Der Teufel liebt Jetzt spricht er anders. Spricht von ein Sexualkundebuch in die Finger be- Discos. Fasching. Popmusik. Wenn „Fundamentalisten“, spricht von einer kommt, dem wird geraten: „Zerreißt Schüler Schlagzeug spielen, dann tanzt „Parallelgesellschaft“, sagt, dass man das Ding.“ der Teufel, also muss man die Höllen- das nicht dulden dürfe – und wurde Dass sie dem Engelwerk nahe stün- maschine wegschließen, für die Jugend mit diesem Standpunkt, obwohl er in den, bestritten die Schwestern. Aber das ist das nichts. der SPD ist, kürzlich mit 80 Prozent Misstrauen blieb. So denken sie, die Nonnen von Au- der Stimmen wieder gewählt. Weil das Man erinnerte sich plötzlich an Pater erbach. Nicht alle, aber viele schon. zu weit ging, meint er, was sich die Morscher, einst ein wichtiges Mitglied Jeden Tag muss der Teufel bekämpft Nonnen geleistet haben. Weil man sich im Engelwerk, der jahrelang im Kloster werden. Er lauert zu Hause, wenn das auch von frommen Schwestern nicht der Exerzitienmeister war. An den Kind Mutter oder Vater nackig sieht. erpressen lässt. Tanzkurs in der Schulturnhalle, der ab- Oder im Schulbuch sitzt er, im Kapitel Im September also hat Schwester gebrochen werden musste, weil er gegen „Sexualität und Fortpflanzung“. Das Gerlinde die 14 Seiten entfernt. Beim das Gewissen von Schwester Marcellina, fand jedenfalls Schwester Gerlinde, Einbinden hat man’s gemerkt, da fehlt der Schulleiterin, und von Schwester die im September die Blandine, der Provinz- Zehntklässler in Biolo- oberin, verstieß. An gie übernahm. Also hat den Schüler, der bei sie das Biologiebuch einem Motorradunfall zensiert. Das hat zu je- starb, und von Schwes- nem Skandal geführt, zu tern war zu hören, dass dem sich die Schullei- das ein Zeichen Gottes terin jetzt nicht äußern gegen Tanzveranstaltun- will; Schwester Beata gen sei. heißt sie und ist eine Wurde Auerbach un- Stimme voll autoritärer terwandert? Von ei- Sanftmut am Telefon: nem Geheimbund, der „Wir werden alles ins sich seine Kaderschule

Reine bringen. Lassen KURIER NORDBAYERISCHER schuf? „Die Sache es- Sie es doch damit genug Aus der „Süddeutschen Zeitung“; Schwestern Beata, Marcellina, Blandine kalierte“, sagt Helmut sein. Ich bitte Sie.“ Ott, der Bürgermeister Auerbach in der Oberpfalz, ein was, wie, bei dir auch? Die Kinder, jetzt des kleinen Städtchens. Die Nonnen bayerisches Städtchen mit rund 9300 neugierig, besorgten sich die Seiten bei blieben stur. Einwohnern, sehr katholisch, sehr kon- Freunden, im Internet: Aha. Also dar- Lange sträubten sie sich, aber dann servativ. Eine Realschule im Kloster, für um geht’s. Der Elternbeirat stellte die wurde Schwester Marcellina doch ge- etwa 280 Buben und Mädchen, geleitet Nonnen zur Rede: Man macht doch kei- gen die mildere Schwester Beata ausge- von einer Nonne, gemeinsam betrieben ne Sachen kaputt. Aber ja doch, sagte tauscht. Biologie unterrichten jetzt welt- von Stadt und Landkreis und der „Kon- Schwester Marcellina, damals Schullei- liche Lehrer. Die Nonnen haben trotzig gregation der Schulschwestern von Un- terin, man macht es, weil der Unterricht den Schulverband verlassen. Manche serer Lieben Frau“. Ein bisschen ver- ohne die Seiten besser wird. von ihnen, die einsichtigeren, sollen schroben vielleicht, dieses Institut, aber „Fast hatten wir uns damit abgefun- auch künftig unterrichten dürfen; wer die Leistungen der Schüler stimmten, den“, sagt Cornelia Herrmann, die Vor- das ist, das prüfen jetzt das bayerische und das sehr Katholische passte zu Au- sitzende im Elternbeirat. „Wir dachten: Kultusministerium und die päpstliche erbach, wo man früher damit aufwuchs, Na ja, die Seiten sind weg, das ist jetzt Behörde im Vatikan. dass der Pfarrer von der Kanzel dröhn- halt so.“ Schwester Marcellina versi- Schwester Blandine plant anders. Sie te, bis ihm der Speichel vom Gesicht cherte bedauernd, solche Aufregung will die Realschule in eine Privatschule troff: „Macht’s nur so weiter! In die Höl- hätten die Schwestern nicht gewollt. nach ihrem Geschmack verwandeln; der le kommt ihr sowieso!“ Aber 14 Tage später zog die Biologie- Antrag beim Ministerium ist gestellt. Das war normal. Und normal ist im- lehrerin der 8. Klasse deren Bücher ein. Und bis darüber entschieden ist, bleiben mer noch, dass zwei von drei Kinder- Sie sollten nicht lesen, dass das die Fundamentalistinnen sich treu: gärten von den Nonnen geführt wer- menschliche Sexualverhalten nicht nur Wenn die Achtklässler ihre Biobücher den, dass sie die Grundschule prägen, der Fortpflanzung dient. Dass es das zurückkriegen, haben ein paar Kloster- die Realschule sowieso, und wenn El- Bedürfnis nach Lust und Erregung er- schwestern gedroht, dann stellen sie tern sich beim Bürgermeister Helmut füllt und das Bedürfnis nach Freude den Unterricht ein. Mitten im Schuljahr. Ott über die Schwestern beschwerten, und Glück. Sofort. Barbara Supp

der spiegel 12/2002 171 Regierungschef Karsai (2. v. r.) mit Stammesführern: Ein großes Palaver vor jeder Entscheidung

WIEDERAUFBAU Stunde null im Mittelalter Afghanistan ist nach 23 Jahren Krieg ein riesiger Trümmerhaufen. Nun soll das Land mit Hilfe der Industriestaaten in die Neuzeit geholt werden. Minen, Warlords und Bürokratie behindern rasche Fortschritte. Von Uwe Buse und Alexander Smoltczyk

hadi Mohammad Schafi steht in Af- legenen Ecken der Welt leben. Zu seinem richtet werden. Er wird gestaltet nach den ghanistan und hält ein Klo in der Reisegepäck zählen nicht nur Tabletten ge- Bauplänen westlicher Demokratien, getra- AHand. Es ist aus Blech und noch gen Durchfall und Fieber, sondern auch gen von einem gewählten Parlament und ganz neu. Schafi stellt das Klo in den Sand, ein Katalog des Heimwerkermarkts „Bau- ausgestattet mit dem gesamten Inventar ei- holt aus einem Schuppen eine Klobrille haus“. Schafi legte den Katalog auf die nes zukunftssicheren Gemeinwesens. Die aus Holz, legt sie auf das Klo und setzt Erde und tippte auf eine Seite mit Toilet- Bauzeit wird mindestens zehn Jahre be- sich. Schafi lacht. Ein paar Männer kom- ten und dann auf die Klobrille „Ibis“, das tragen. Die Kosten für die erste Ausbau- men vorbei und sehen ihn. Einen fröhli- Stück für 40,90 Euro: „So etwas will ich.“ stufe werden auf rund 5,1 Milliarden Euro chen Mann auf einem Blechklo. Die Män- Die Handwerker nickten. Der Blech- geschätzt. Deutschland verpflichtete sich, ner lachen auch. Nach 23 Jahren Krieg ist schmied holte eine Metallplatte hervor, der in diesem Jahr 80 Millionen Euro zu zah- das ein gutes Gefühl. Tischler griff sich eine Munitionskiste und len. In den kommenden drei Jahren sollen Das Klo fertigte ein Blechschmied, die verwandelte sie in eine Klobrille. Schafi ist weitere 240 Millionen Euro überwiesen Klobrille aus Holz schuf ein Zimmermann. im Auftrag der deutschen Hilfsorganisa- werden. Die beiden Handwerker arbeiten am Ran- tion „Cap Anamur“ in Afghanistan. Er soll Vergangene Woche war der afghanische de eines Sandwegs in einer Bretterbude. helfen, die kriegerische Gesellschaft des Ministerpräsident Hamid Karsai in Berlin, (L.); DUNAND / AFP EMMANUEL / CORBIS SABA / DPA BROOKS KATE Als Schafi ihnen sagte, was er wolle, schau- Landes in eine zivile umzubauen. Er ist um die Details zu besprechen. Die Deut- ten sie ihn verständnislos an. Hier in Dasht- ein humanitärer Arbeiter auf der größten schen sollen sich unter anderem um den e-Qal’eh, im Norden des Landes, ist ein Baustelle dieses Planeten. Aufbau der Polizei kümmern. Klo ein rundes Loch im Boden. Nach dem Willen der mächtigsten Re- Zum globalen Verein für den Aufbau Af- Schafi ist vorbereitet auf verständnis- gierungschefs der Welt soll auf den Ruinen ghanistans zählen zurzeit 60 Regierungen, lose Blicke von Handwerkern, die in ent- des Taliban-Reiches ein neuer Staat er- sieben Uno-Institutionen, zwei interna-

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Ehemalige Einkaufsmeile in Kabul: „Wir brauchen Pläne, Pläne, Pläne“ tionale Fonds, ein Koordinierungskomitee, Gegenwart befindet und nicht im Mittel- Die neue afghanische Regierung hat sich 30 afghanische Minister und eine noch un- alter, sind ein paar russische Jeeps, japani- in dieser Ecke des Landes noch nicht sehen bekannte Zahl internationaler Konzerne, sche Mopeds, Fahrräder und Benzin, das lassen. Der Staat in Dasht-e-Qal’eh ist humanitärer Hilfsorganisationen und in- am Rand der Sandpisten in Gläsern ver- Kommandeur Mamur Hassan, ein ehema- teressierter Polit-Touristen, die alle mit- kauft wird. liger Nordallianz-Kämpfer mit einem Ku- reden wollen beim Aufbau eines Landes, in Wer hier lebt, wohnt in einem Haus mit gelbauch. Sein Beitrag zum Aufbau des dem es an allem fehlt. Es wird sicher viel einem Lehmboden, Lehmwänden und ei- Landes beschränkte sich im Wesentlichen gestritten werden. nem Dach aus Holz und Lehm und arbei- darauf, eine Ausgangssperre zu verhängen Vor den zwei Jahrzehnte dauernden tet als Bauer, Handwerker, Händler oder und ab neun Uhr abends ein paar nervöse Kriegen konnte man in Afghanistan tele- Schmuggler. Wer arm ist, hat statt einer Burschen mit Gewehren durch stockdunkle fonieren, man konnte Postkarten ver- Haustür ein Loch in der Wand, statt eines Gassen wandern zu lassen. schicken und Wohnungen mit funktionie- Ofens ein offenes Feuer. Wer reich ist, be- Kommandeure wie Mamur Hassan sind renden Bädern mieten. In Flussoasen sitzt einen Ofen in jedem Zimmer, Holz, nicht unbedingt am schnellen Aufbau des versorgte ein ausgeklügeltes Bewässerungs- um zu heizen, einen Landes interessiert. Sie system die Felder. Afghanistans Industrie Generator, um Strom 50 km TADSCHIKISTAN haben am meisten wuchs, die Landwirtschaft gedieh. zu erzeugen, und nicht Dasht-e-Qal’eh Macht, wenn Chaos Heute ist das Land ein 650000 Quadrat- nur ein Fahrrad, son- Khomdan herrscht, wenn ihnen kilometer großer Trümmerhaufen. Betritt dern auch einen Jeep. Hazarbagh nicht eine gewählte Re- man ihn von Norden, verabschieden sich Im Distrikt Dasht-e- gierung reinredet. Sie PAKISTAN tadschikische Zöllner mit dem Satz: „Viel Qal’eh wohnen ein paar Provinz sind ein Problem, nicht Spaß im Mittelalter.“ Heute gibt es in Af- tausend Menschen, wie Takhar die Lösung. ghanistan kein funktionierendes Telefon- viele, weiß niemand ge- AFGHANISTAN Für den Aufbau müs- netz mehr und keine Post. Der Großteil nau, aber die Zahl der sen erst einmal andere der Bevölkerung lebt in Lehmhütten, das Ärzte ist bekannt: null. sorgen, Leute wie Aha- Kabul verbreitetste Transportmittel ist der Esel. Der letzte Arzt ist di Schafi von Cap Ana- Es gibt keine guten Straßen, kaum Schulen, vor zehn Jahren geflo- mur. Sie sind die Not- kaum Krankenhäuser. Rund die Hälfte der hen, übrig geblieben sind ein paar Heb- fallregierung. Sie kommen eines Tages mit Bevölkerung ist schlecht ernährt, jedes ammen, die noch nie einen Kaiserschnitt ein paar Lastern voller Hilfsgüter an und vierte Kind stirbt. Wer 60 Jahre alt wird, gesehen haben, und ein paar Männer, die verkünden neue Gesetze. Das wichtigste: kann sich freuen, und wer ein Problem hat, von manchen Afghanen Ärzte genannt Wer Mehl oder Reis haben will, muss dafür löst es mit Worten, Geld oder mit einer werden, weil sie den Koran auswendig her- arbeiten. Kugel aus der Kalaschnikow. beten können. Ein paar Wochen nach der Ankunft von Dasht-e-Qal’eh liegt im äußersten Nor- Das ist der Zustand des Landes. Und Cap Anamur arbeiten etwa 2000 Afgha- den der Provinz Takhar. Die einzigen Hin- nun soll aufgebaut werden. Fragt sich, von nen daran, Trampelpfade, die gerade breit weise darauf, dass sich dieser Ort in der wem? genug für einen Esel sind, in Schotter-

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Nun steht er an seinem Opera- tionstisch und biegt das offene Knie eines narkotisierten Jungen zur Seite. Spinne nickt mit seinem Kopf in Rich- tung des Lochs, das im Knie des Jun- gen klafft, „überhaupt keine Sehnen mehr, alles weggefressen, unglaublich. Wenn man das Knie weiterbiegt, hat man plötzlich den Unterschenkel in der Hand“. Als der afghanische Vater seinen kranken Sohn einlieferte, erzählte er, dass der Mullah seines Dorfes, der zugleich Automechaniker ist, eine of- fene Fleischwunde am Knie mit flüs- sigem Teer ausgegossen hatte. Der Mann wollte sie desinfizieren. Auch das ist Mittelalter. Es fehlt an ein- fachsten Grundkenntnissen und mit- unter auch am Verstand. Das alles in einem Land, in dem die Gefahren für

DERMOT TATLOW / LAIF TATLOW DERMOT die Gesundheit besonders groß sind. Straßenbau in Nord-Afghanistan: Wer nicht arbeitet, kriegt nichts zu essen Zum Beispiel kommt ein Mann zu Spinne, der erzählt, dass seine Toch- straßen zu verwandeln. Männer tragen mit Er denkt darüber nach, bald als Bordarzt ter gegen Mittag an einem bunten Pulver Hacken und Spaten die Flanke eines Hü- auf einem Kreuzfahrtschiff seiner Rente geleckt habe, das sie draußen zwischen den gels ab, Frauen und Kinder sammeln Stei- entgegenzuschaukeln, aber zuvor will er Steinen fand. Minuten später klagte das ne aus einem nahe gelegenen Bach und noch etwas erleben und gleichzeitig etwas Kind über Bauchschmerzen, und nun liegt schaffen sie auf den Rücken von Eseln hin- Gutes tun. Deshalb rief er bei Cap Anamur es auf dem Operationstisch und wird so auf zur Baustelle. Für eine Woche Arbeit an und fragte, ob sie nicht einen Job für ihn fürchterlich von Krämpfen geschüttelt, dass erhält jede Familie einen 25-Kilo-Sack hätten. Ein paar Wochen später stand er in es sich in etwas verwandelt, was mit einem Mehl. Familien, die kein arbeitsfähiges Mit- Afghanistan und verbringt seitdem den Menschen keine Ähnlichkeit mehr hat. glied haben, erhalten nichts. „Das mag un- größten Teil des Tages und auch viele Nach zwei Stunden ist es endlich vorbei. gerecht scheinen, ist aber nicht zu ändern“, Nächte in der kleinen Klinik, die Cap Ana- Die Stille ist so betäubend wie das Schrei- sagt Schafi. „Wenn wir heute das Mehl an mur in Dasht-e-Qal’eh betreibt. die Kranken verschenken, sind morgen alle Das Krankenhaus ist ein einfacher Bau Der Mullah gießt heißen Teer in krank.“ Als er sich umdreht und geht, läs- mit einem Flachdach und leuchtend gelb tern zwei Afghanen über ihn, „weil er als gestrichenen Fensterrahmen. Hinter der die Wunde. Das soll heilsam sein, Afghane während des Krieges im sicheren Eingangstür aus Holz liegen ein Flur, ein verbrennt aber das halbe Bein. Deutschland saß und jetzt hier den Boss Behandlungsraum, zwei Krankenzimmer, spielt“. ein Lagerraum und der OP. Alle Räume en des Kindes. Das bunte Pulver war sehr Zur Notfallregierung von Dasht-e-Qal’eh sind roh verputzt. Geheizt werden sie mit wahrscheinlich Sprengstoff, der aus einer gehört neben Schafi auch Karl-Theo Spin- dünnwandigen Öfen. Den Strom liefert ein leckgeschlagenen Granate rieselte. ne; er trägt meist weiße Turnschuhe, eine Generator. Der Krieg zerstört die Menschen, ob- blaue Jeans und eine grüne Freizeitjacke. Der OP ist vielleicht zehn Quadratmeter wohl er zu Ende ist. Auch das behindert Er ist Ende 50, Chirurg, und wenn er nicht groß, in seinem Zentrum steht der Opera- den Aufbau. Überall lauern Minen im Bo- gerade an seinem Operationstisch in Dasht- tionstisch. Auf einem Regal stapeln sich den. Insgesamt sollen 10 Millionen Stück in e-Qal’eh steht und Leben rettet, sieht er Medikamente, Einweg-Handschuhe, Sprit- Afghanistan verbuddelt sein. Ackerland aus wie ein deutscher Rentner, der eigent- zen, Skalpelle und Fäden. In einer Ecke muss brachliegen, weil sich die Bauern lich in den Winterurlaub nach Mallorca steht ein großer Dampfdrucktopf, in dem nicht trauen, es zu betreten. Viele Res- wollte, aber in München den falschen Flug Spinne seine Instrumente sterilisieren sourcen gehen in die Behandlung der Mi- erwischt hat. kann. Die Messer, Klemmen und Sägen nenopfer, die zudem oft nicht mehr ar- sind die einzigen keimfrei- beitsfähig sind. en Gegenstände in diesem Es ist schwer, ein Land wie Afghanistan Raum. Spinne operiert in in die Neuzeit zu holen. Ein Mann, der mit den Kleidern, die er mor- Krücken wieder einigermaßen gehen kann. gens anzieht. Eine Brücke, die wieder befahrbar ist. Ein Spinnes Beitrag zum Auf- paar Leute, die Mut geschöpft haben. Das bau ist, dass er die Menschen sind die Belohnungen für die Leute von in einen Zustand bringt, der Cap Anamur, die Veränderung sehen wol- sie überlebens- und arbeits- len, Fortschritt. fähig macht. Als er in der An einem sonnigen Nachmittag spaziert Klinik eintraf, glaubte er Andreas Herr durch das Dorf Hazarbagh. nicht, dass er hier noch et- Er war Zimmermann, und nun ist er ein was Neues sehen würde. Er humanitärer Wanderarbeiter in den Kri- hat in seinem Berufsleben senregionen in aller Welt. Für Cap Anamur viele Körper geöffnet und war er im Kosovo, in Somaliland, in Nord-

THOMAS GRABKA THOMAS wieder verschlossen, er hat korea. Neben ihm geht Schafi und berich- Ökonom Shahidi: „Das ist unser kleines Deutschland“ viele Glieder amputiert. tet, was in den vergangenen Wochen alles

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Werbeseite sekretäre auf durchgesessenen Ses- seln. Gegenüber hockt ein von Po- ckennarben gezeichneter beleibter Mann in traditionellen Kleidern. Man weiß nicht, weshalb er bei dem Gespräch dabei ist. Vielleicht, um Tee zu bringen. Vom Flur hört man das Klack-Klack mechanischer Schreib- maschinen und das Geräusch von Hammerschlägen. Im Hof ist ein VW- Bus ohne Räder aufgebockt. „Das hier ist unser kleines Deutschland! Ich liebe Deutsch- land!“, sagt Staatssekretär Nazir Sha- hidi. Er hat lange Jahre in Deutsch- land studiert, Volkswirtschaftslehre. Ist es Traum oder Alptraum eines Ökonomen, seine Theorien selbst ausprobieren zu müssen? „Wir haben fünf Jahre lang auf diesen Moment gewartet“, sagt Shahidi. Er sei der ein-

DERMOT TATLOW / LAIF (2) TATLOW DERMOT zige Wirtschaftsdozent, der unter den Patienten vor „Cap Anamur“-Krankenhaus: Die Leute wollen Veränderungen sehen Taliban im Lande geblieben ist. An- ders gesagt: Shahidi lehrte Ökonomie gebaut wurde: „Hier ist die neue Stein- Norden des Landes, wo Erfolge relativ in einem Land, wo die Wirtschaft im We- treppe, die hinunterführt zu dem neuen leicht zu erzielen sind, weit weg von der sentlichen aus Schmuggel, Opiumexport Kanal, der Wasser zu dem reparierten Was- Bürokratie, weit weg von Kabul, der und Überweisungen von Venture-Capital serrad bringt, das jetzt mit einem Genera- Hauptstadt, in der erst Dienstwege wie- der Qaida bestand. Wo die Staatskasse un- tor verbunden wird, der 200 Familien mit derhergestellt werden müssen, bevor man ter dem Bett des geistlichen Führers lag, in Licht versorgen kann.“ Straßen reparieren kann. Gestalt eines schwarzen Koffers, in den Außerhalb des Dorfes wurden in der Bis vor kurzem bestand das Ministerium Mullah Omar ab und zu hineingriff, um vergangenen Woche zusammen mit ein für Wiederaufbau aus dem Zimmer 228 des Dollar-Bündel zu verteilen. paar tausend Afghanen 20 Kilometer Hotel Intercontinental in Kabul, wo der Shahidi muss heute ein glücklicher Schotterstraße gebaut. Schafirs Stimme neue Minister Amin Farhang eingecheckt Mensch sein. „Für 2002 bekommen wir 1,8 klingt euphorisch: „Wir bezahlten die Män- hatte. Morgens saß ein Teil des Kabinetts ner wie üblich mit Mehl, und die meisten im Hotelrestaurant bei Tee und Toast und Der Krieg mit Kanonen ist vorbei. kamen sogar zur Arbeit, als eine andere drängte sich um die wenigen Heizstrahler. Hilfsorganisation Mehl verschenkte. Die Jeder Journalist wurde als Sonderbeauf- Nun herrscht Papierkrieg. Statt Leute wollen ihr Land verändern.“ Auch tragter der westlichen Welt behandelt. Man Warlords regieren Bürokraten. die anderen Helfer von Cap Anamur be- steckte ihm dringende Briefe für den Bot- kommen gute Laune. Eine Woche. Tau- schafter zu oder klopfte spätabends an die Milliarden Dollar“, sagt er und fügt hinzu: sende Afghanen. 20 Kilometer Straße. Er- Tür, um eine NGO zu gründen. „Das ist sehr viel Geld.“ Das würde gleich staunlich. Sie lachen sich an. Dieses Land Das ist vorbei. Jetzt gibt es Dienstwege. für mehrere Wiederaufbaupläne reichen. ist zu retten. Die Staatsmaschine läuft sich langsam Auch wenn, wie er einräumen müsse, bis- Hinter einer Biegung begegnen sie vier warm. Jeder Beamte ist damit beschäftigt, her kein einziger Dollar im Ministerium Afghanen, die sie überschwänglich be- seine Stellung zu sichern und mit einem eingetroffen sei. Afghanistan hat bislang grüßen. Die Deutschen lächeln glücklich Stempelkarussell auszubauen. Auf den ent- nur so genannte Fact-finding-Missionen ge- und sehen aus wie ein paar wohlmeinende scheidenden Stühlen der Ministerien haben sehen, gut bezahlte Experten, die sich ein Kolonialherren, die ein wenig Komfort ins die jeweiligen Gesandten der jeweiligen paar Tage umsehen, Businessclass zurück- Land gebracht haben und nun den Dank Allianzen Platz genommen. Während fliegen und dann ihre Berichte schreiben. ihrer Untertanen entgegennehmen. Scha- draußen auf den Fluren die Bittsteller Allein die UNDP, die Entwicklungshilfe- fir und Herr genießen es, hier zu sein, im kampieren, sind sie beschäftigt mit dem organisation der Vereinten Nationen, hat Feintuning der Macht, mit ein Monatsgehalt bezahlt und dem Minister gegenseitigen Ehrerbietun- einen Schreibtisch spendiert, Computer, gen, Brüderküsschen und Fax, Satellitentelefon und einen Generator, Verbeugungen mit Hand am falls der Strom ausfällt. Doch bald, wenn Herzen. In Afghanistan, wo der König zurückkehrt und mit dem Früh- es 21 Ethnien und zahlrei- ling auch das muslimische Neujahr beginnt, che Stämme gibt, herrscht dann werden die Gelder kommen. Gibt es ein archaischer Föderalis- eigentlich Banken dafür? „Es gibt eine mus, der vor jede Entschei- Filiale der Bank Milli in London.“ dung das Palaver von jedem Zunächst, sagen die Staatssekretäre, mit allen setzt. müssten die Verwaltungen arbeitsfähig ge- Immerhin gibt es nun macht werden. Dann die Hauptstraßen re- ein richtiges Ministerium pariert. Dann die Schulen aufgebaut: „Wir für Wiederaufbau, unter- haben keine Stühle, keine Hefte, keine gebracht in einem vier- Lehrpläne. Keine Teppiche, keine Fens- stöckigen modernen Büro- terscheiben.“ Dann das Gesundheitswe- Chirurg Spinne (r.) in Dasht-e-Qal’eh: Viele Glieder amputiert bau. Dort sitzen zwei Staats- sen: „Wir haben keine Krankenhäuser im

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Karl-Theo Spinne hat die schwie- rigste Aufgabe: Er soll den Menschen in dem Ort Khomdan beibringen, dass humanitäre Hilfe zwar kostenlos ist, aber nicht umsonst. Er soll ihnen zeigen, dass der Westen mithelfen will, dieses Land aufzubauen, aber dass es ein anderes Land sein soll, ein Land, in dem westliche Maßstäbe gelten. Spinne fährt in seinem russischen Jeep nach Khomdan, einem Dorf am Ufer der Kocha-Flusses, und wie im- mer fragt er sich, ob er heute auf eine Mine fahren und wer ihn dann zu- sammenflicken wird. Khomdan war Teil der Front. Von den Hügeln, ein paar Kilometer entfernt, schossen die Taliban ihre Granaten ab. Es waren keine heftigen Gefechte, aber manchmal traf ein Geschoss ein

DERMOT TATLOW / LAIF (2) TATLOW DERMOT Haus, und dann brach in dem Haus Zerstörte Brücke in Nord-Afghanistan: „Viel Spaß im Mittelalter“ die Hölle los. Auf dem Friedhof gibt es neun frische Gräber zu besich- eigentlichen Sinne. Keine Medikamente, wertung. Dann schlagen wir es dem Kabi- tigen. Cap Anamur will in Khomdan eine Labore, Geräte.“ Dann die Leichtindustrie, nett vor. Dort wird entschieden, und wir Schule bauen. Lebensmittel, Textilien und so weiter: „Wir weisen die Gelder zu. Natürlich gibt es“ – In dem Dorf angekommen, wird Spinne brauchen Pläne, Pläne, Pläne.“ Es klingt, er zeigt auf den pockennarbigen Herrn ihm von Esakhan, dem Kommandeur des Or- als würde er seinen Studenten eine Prü- gegenüber – „auch eine Abteilung für tes, heftig umarmt. Sie essen gewürzten fungsaufgabe diktieren. In Kabul kann der Controlling.“ Reis und Fisch, dann spaziert Spinne an der Ökonom endlich von allen Nebenbedin- Das Transportministerium, sagt Shahidi, Seite des Kommandanten durch den Ort, gungen abstrahieren und die Situation auf habe das Formular bereits ausgefüllt. umringt von Erwachsenen und Kindern, die reine Formel bringen: Es gibt nichts. Auf dem Papier, das er hervorzieht, ist die ihn berühren wollen und hoffen, dass Kein Bankensystem, kein Telefon, keine von Staatssektor und Privatsektor die er ihnen ein Lächeln schenkt, einen Hän- Computer, keine Experten, keine Dollar. Rede, von Ist und Soll und Jahresplänen. „Womit fangen Sie an, Herr Staatsse- Und davon, dass im öffentlichen Bus- Tritt jemand auf eine Mine, flickt kretär?“ Shahidi zieht ein Formular aus ei- sektor das Soll zu 82,3 Prozent erreicht nem Stapel und tippt mit dem Finger auf worden sei. ihn der Arzt zusammen. Was ist, die fein gezogenen Spalten: „Wir haben Es ist unerfindlich, wie diese Zahlen auf- wenn der Arzt auf eine Mine tritt? dieses Formular an alle Ministerien ge- gestellt wurden. „Öffentliche Busse“ sind schickt.“ Mit der Post, beziehungsweise, in Afghanistan 30 Jahre alte, schwarze dedruck oder einen 10000-Afghani-Schein. weil die Post nicht funktioniert, mit einem Rußwolken auspustende Gefährte, die me- Die Menschen hier haben lange auf einen Boten. Ein Formular, auf dem Bezeichnung terhohe Lasten aufs Dach geschnallt ha- wie ihn gewartet. Dasht-e-Qal’eh hat seine und Art der Leistung, Gesamtkosten, ben, hinter den Scheiben die verzerrten Klinik, Hodschagar seine Ambulanz, und Personalbedarf, bereits erstellte Leistungen Gesichter Halberstickter und darunter ge- sie haben nichts. Sie wollen auch eine Am- eines Projekts aufgeführt sind. Ein Formu- schrieben „Bequem Reisen Westerwald“. bulanz, aber sie nehmen auch eine Schu- lar hat etwas Beruhigendes. Die Volkswirtschaftler im Ministerium le. Esakhan zeigt dem Deutschen ein Haus Theoretisch läuft es so: „Die 30 Minis- für Wiederaufbau versuchen, inmitten der ohne Türen und Fenster in der Nähe des terien (für Bildung, für Höhere Bildung, Zerstörung gemäß ihren Lehrbüchern zu Flusses. für Bewässerung etc.) machen einen Plan. arbeiten. Vielleicht ist das der richtige Weg. „Das können wir haben?“, fragt Spinne. Wir müssen dann ihre Pläne studieren. Es Vielleicht auch die einzige Möglichkeit, „Ja“, sagt der Kommandeur. gibt eine Stelle für Projektanalyse und Be- nicht den Verstand zu verlieren. „Wir besorgen das Baumaterial, und ihr Es wird dauern, bis Af- baut die Schule auf“, erklärt Spinne. ghanistan als Staat funktio- „Kein Problem“, sagt der Kommandant. niert. Bis dahin muss sich „Und das Dorf bezahlt das Gehalt der das Land auf die westlichen Lehrer.“ Helfer verlassen. Andreas „Klar.“ Herr von Cap Anamur stellt Dann kommt Spinne zu dem wichtigen mit einheimischen Arbei- Punkt: „Die Mädchen des Dorfes, die bis- tern eine Ambulanz in Hod- lang nie zur Schule gehen durften, müssen schagar fertig, Ahadi Schafi hier unterrichtet werden, sonst fangen wir lässt weiter Schotterstraßen erst gar nicht an mit dem Bau.“ bauen, und er hat eine Während des Krieges befehligte Esak- Polaroid-Kamera mit nach han 200 Mann. Er weiß, wie man seine Hazarbagh gebracht. Er Ziele erreicht und wann man einem Be- fotografiert Leute und bas- fehlshaber die Wahrheit sagt und wann telt mit Schere und Kleb- nicht. stoff provisorische Per- „Sicher“, sagt Esakhan und schaut Spin- Nothelfer Herr (r.), Kollege: Dieses Land ist zu retten sonalausweise. ne nicht in die Augen. ™

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Werbeseite Gesellschaft Und nun – das Wetter Ortstermin: Der Deutsche Wetterdienst hat aus einem Orkan eine Böe gemacht. Das kostet den Platz in den „Tagesthemen“.

on nun an geht es um Schadensbe- Bildschirmen der Fernseh-Nation begann an die Katastrophenstäbe in den Innenmi- grenzung, und das sollte gelingen, das vertrauteste Ritual des öffentlich-recht- nisterien hinausgegangen. „Da ist man sehr Vdenn die Verteidigungslinie steht. lichen Rundfunks. Europa erschien, ein zufrieden mit uns.“ Der PR-Prospekt liegt vorn auf dem Tisch, weiß umrandetes Tief wanderte über den Die Wetterbeamten in Offenbach fühlen die Pressemitteilung sichert dahinter, und Atlantik Richtung Deutschland, und eine sich unverstanden von der Öffentlichkeit, dann folgt Gerhard Lux, gut 1,80 Meter entspannte Stimme sagte: „Für Regen- und mit der Existenz der privaten Kon- groß, die Arme vor der Brust verschränkt, nachschub ist gesorgt. Neue Wolken ziehen kurrenz wollen sie sich nur schwer arran- und als vorläufiger Pressesprecher des vom Atlantik Richtung Mitteleuropa. Der gieren. Lux nennt Private wie Meteomedia Deutschen Wetterdienstes fest entschlos- Wind bleibt stets stürmisch, auf Bergkup- „Quasi-Konkurrenz“, und er sagt es so, als sen, weitere Beschädigungen der Behörde pen sind Orkanböen zu erwarten.“ hätten sich da ein paar Marktschreier in zu verhindern. 6,87 Millionen „Tagesschau“-Seher wa- ein ehrbares Geschäft hineingedrängt, in Es ist schon alles schlimm genug. Am ren verwirrt. dem sie nichts zu suchen haben. vergangenen Dienstag beschlossen die In- Direkt vor der Nachrichtensendung hat- Das Selbstverständnis der Meteorologen tendanten der ARD, dem Deutschen Wet- ten sie Jörg Kachelmann auf ihren Bild- in Offenbach stammt aus den Achtzigern, terdienst in Offenbach die Wet- als die Privatisierung staatlicher tervorhersage am Ende der Dienstleistungen in Deutschland „Tagesthemen“ zu entziehen. etwas Anrüchiges war und noch Künftig wird Meteomedia, die kein Allheilmittel. Margaret Firma von Jörg Kachelmann, Thatcher machte das auf ihrer der ärgste Konkurrent des Deut- Insel. Deutsche Sozial- und schen Wetterdienstes, die Vor- Christdemokraten ließen die hersage produzieren. Finger davon. Post und Bahn „Eigentlich war es ein relativ gehörten damals dem Staat, und kleines Problem“, sagt Lux. Er das Wetter gehörte dem Deut- schlägt das rechte Bein über das schen Wetterdienst. linke und verschanzt sich gründ- Heute ist der Deutsche Wet- licher hinter seinem Körper. terdienst von Konkurrenten „Ein Kommunikationsproblem, umgeben, und Lux erklärt der das war es“, sagt er und ver- Öffentlichkeit, was die Behör- stummt, als wäre damit erklärt, de so alles tut. Sie analysiere wie alles anfing und warum der täglich Millionen von Daten, Deutsche Wetterdienst, eine beliefere Tausende Kunden.

Bundesbehörde mit 2750 Mitar- (2) VARNHORN ANDREAS Ohne das Amt wüssten Werbe- beitern, am 25. Februar einen Meteorologe Lux: „Wir haben rechtzeitig informiert“ fotografen nicht, wo sie am Orkan verschwieg. nächsten Tag 50 Zentimeter Der 25. Februar, ein Montag, begann schirmen empfangen, und Kachelmann Schnee finden, um Frauen in Pelzmänteln normal und ruhig. Eine Stunde nach Mit- war nicht entspannt. Auf seiner Europa- zu fotografieren. ternacht tauschten die Großrechner des karte wanderte auch kein kleines Tief von Lux hat sich ein wenig warm geredet, ei- globalen metereologischen Netzwerkes wie West nach Ost. Kachelmann war aufgeregt, nen Schluck Kaffee genommen und die immer ihre Daten aus, und auf den Com- er sprach „von einem drängenden Pro- Beine weit von sich gestreckt. Lux fühlt putermonitoren des Deutschen Wetter- blem“, das „Anna“ hieß, von „Orkange- sich sicher, das ist sein Amt, er hat erklärt, dienstes in Offenbach formierten sich meh- fahr an der deutschen Nordseeküste“. Auf wie er die Dinge sieht. Plötzlich sagt er, rere kleine Tiefdruckgebiete, die vom At- seiner Deutschlandkarte klebte ein rot um- dass es möglicherweise doch einen Fehler lantik über die Nordsee rasch Richtung randetes Gefahrenschild. gegeben habe, damals, am 25. Februar. Deutschland zogen. Es war eine Standard- Der Orkan erreichte die norddeutsche Denn seines Wissens habe es zu Beginn wetterlage, die dort zu besichtigen war. Sie Küste am Nachmittag des 26. Februar. Drei der Analyse eine deutlichere Warnung vor zu interpretieren „ist relativ leicht“, sagt Menschen starben. Uwe Wesp, zu diesem einem möglichen Orkan gegeben. Aber die Lux. Das tägliche Fax, das um zehn Uhr Zeitpunkt noch Pressesprecher des Deut- Analyse wanderte durch viele Computer, den staatlichen Wetterdienst verlässt, kün- schen Wetterdienstes, sprach davon, dass durch viele Hände, und irgendwie sei sie digte starken Südwestwind mit Sturmböen die Unterrichtung der Öffentlichkeit nicht wohl immer weiter abgeschwächt worden, an, auf Bergkuppen sei mit Orkanböen zu zu den Hauptaufgaben des Amtes zähle. bis am Ende die Böen auf den Berggipfeln rechnen. Von einem Orkan an der Küste Das machte die Situation nicht besser. übrig blieben. Das sei ärgerlich, seufzt Lux. war nichts zu lesen. Lux sitzt immer noch hinter seiner Arm- Und die weiteren Aussichten, wie sind Zehn Stunden später, um 20.14 Uhr, sag- und Beinbarrikade und weigert sich, einen die? te Sprecher Jo Brauner am Ende der „Ta- Fehler zuzugeben: „Wir haben rechtzeitig Lux schaut auf einen Computerschirm: gesschau“: „Und nun das Wetter für mor- informiert.“ Am Morgen des 26. Januar „Für Offenbach? – Bedeckt. Keine Sonne gen, Dienstag, den 26. Februar.“ Auf den um 6.30 Uhr seien die Unwetterwarnungen in Sicht.“ Uwe Buse

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Werbeseite Sport

Fußball-Funktionäre Mayer-Vorfelder, Blatter*: Koalition mit dem Gegner von gestern

FUSSBALL Signale aus dem Hinterzimmer Die Deutschen schwächeln auf internationaler Bühne – auch sportpolitisch: Das Bündnis, das der DFB mit dem umstrittenen Fifa-Boss Joseph Blatter schmiedete, erweist sich als unheilvolle Allianz. Chef Gerhard Mayer-Vorfelder droht im Kampf um mehr Einfluss eine empfindliche Niederlage.

in Mächtiger des Weltfußballs zu Mayer-Vorfelder indes konferierte in ei- dungsprozesse aus erster Hand“, bedauert sein: Das ist es, wonach Gerhard nem anderen Zimmer – als Mitglied der DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt. EMayer-Vorfelder, 69, strebt. Doch die „Organisationskommission für den Fifa- Doch allenfalls in Nischengremien wie der wirklich Mächtigen tagen woanders. Das Weltpokal Korea/Japan 2002“. Von den „Kommission der Nationalverbände“ fin- wurde dem Präsidenten des Deutschen Scharmützeln um die Führungsposition den sich DFB-Emissäre. „Die Reputation Fußball-Bundes (DFB) am vorvergangenen blieb er ausgesperrt. der Deutschen“, sagt ein Insider aus der Donnerstag auf dem Zürcher Sonnenberg Bei der großen Politik im Fußball bleibt Fifa-Zentrale, „ist dahin.“ erneut bewusst. ausgerechnet der DFB, mitgliederstärkster Das soll sich jetzt ändern. Ende April Im Konferenzraum hinter verschlosse- Sportfachverband der Welt, seit Jahren will Mayer-Vorfelder nach knapp vier Jah- ner Tür zettelten Mitglieder des Exekutiv- außen vor. Wie die Nationalmannschaft ren wieder in die Fifa-Exekutive aufrücken. komitees in der Zentrale des Weltverban- etwa bei der letzten Europameisterschaft Gesandt werden müsste er von der Euro- des Fifa eine kleine Palastrevolution gegen purzelten auch Deutschlands Funktionäre päischen Fußball-Union (Uefa), dazu stellt den Präsidenten Joseph Blatter an. Sie in hohem Bogen aus der Spitzengruppe. er sich deren 51 Mitgliedsverbänden zur setzten durch, dass ein Untersuchungsaus- Seit 1998, als Mayer-Vorfelder, damals noch Wahl. Ob dem Badener auf seine alten schuss eingesetzt wird, der nun das un- DFB-Vize, gegen den Verbandschef Maltas Tage ein derartiger Karrieresprung noch durchsichtige Finanzgebaren der Fifa zu überraschend die Wahl für den Posten in einmal gelingt, ist allerdings fraglich. prüfen hat. der Fifa-Exekutive verlor, sind die Deut- Denn es scheint, als hätte sich der DFB schen in der Regierung des Weltverbandes im verzweifelten Ringen um mehr Einfluss nicht mehr vertreten. verspekuliert. Im vorigen Oktober hatte * Anlässlich des Fußball-Länderspiels Ungarn gegen Deutschland am 15. August 2001 in Budapest; Mitte: Mi- Dabei gebe es nur dort „Informationen Mayer-Vorfelder dem Fifa-Chef einen Brief chel Platini, Vizepräsident des französischen Verbandes. über Entscheidungs- und Meinungsbil- überreicht. Blatter könne bei seiner ange-

182 der spiegel 12/2002 tation. Die „Frankfurter All- gemeine Zeitung“ ortete bei ihm „ein Glaubwürdigkeits- defizit“. Das Gerede nimmt kein Ende. Erst prangerte eine Wanderausstellung von Fuß- ballfans Stammtischparolen des Stuttgarter Funktionärs an („Was wird aus der Bundesliga, wenn die Blonden über die Al- pen ziehen und stattdessen die Polen, diese Furtoks und Les- niaks spielen?“) – die Macher unterstellten ihm eine rechts- extreme Gesinnung. Dann sorgte die Nachricht für Aufregung, der langjährige Präsident des VfB Stuttgart habe den DFB beauftragt, sei- nem früheren Club 116 574 Euro zu überweisen – von dem Geld hatte sich „MV“ ei- nen antiken Schrank und ein paar Bilder für sein Büro gegönnt. Schließlich wurde bekannt, dass er als ehrenamtlicher Ver- einschef des hoch verschulde- ten Bundesligisten ein Jahr lang eine Aufwandsentschädi-

JERG / ONLINESPORT (L.); STRINGER / REUTERS (R.) / REUTERS (L.); STRINGER JERG / ONLINESPORT gung von monatlich 12 782 WM-Feier in Seoul*: 100 Millionen Dollar Zuschuss von der Fifa Euro sowie ein Darlehen über 153 388 Euro erhalten und strebten Wiederwahl im Mai 2002 auf die durch Verrechnung getilgt hat, was „MV“ Unterstützung des DFB bauen, hieß es in nicht bestreitet. Und seit Februar ermittelt dem Schreiben. die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wegen Das öffentliche Bekenntnis hat sich als des Verdachts der Steuerhinterziehung. Al- diplomatischer Fauxpas erwiesen. Inzwi- lein für das Jahr 2000, so die internen Be- schen bringt die Verbrüderung mit Blatter rechnungen der Ermittler, soll der Fußball- den DFB heftig in die Bredouille. Im Funktionär dem Fiskus 31225,06 Euro Um- Herbst meinte man noch „Signale aus dem satzsteuer vorenthalten haben. Uefa-Bereich“ empfangen zu haben, wo- An den Vorwürfen der Steuerhinter- nach „Blatter auch von den Europäern un- ziehung sei nichts dran, sagt Mayer-Vorfel- terstützt wird“, erinnert sich Mayer-Vor- der. Das Verfahren gegen ihn werde bald felders DFB-Mitstreiter Schmidt. Das war eingestellt, wurde berichtet. Von der jedoch eine Fehleinschätzung. Staatsanwaltschaft ist indes zu hören: „Wir Nun wird deutlich, dass die Opposition ermitteln weiter.“ gegen Blatter vornehmlich von den großen So ist offenbar die eine schillernde Figur Verbänden Europas angeführt wird, Spa- der Sportpolitik eine unheilvolle Allianz nien ausgenommen. Ob diese Anti-Blat- mit der anderen eingegangen. Auch Blat- ter-Fraktion nun Mayer-Vorfelder für den ter büßte wegen mancher Debatten über Pakt mit dem Fifa-Boss noch mit Stimmen Stilfragen und angebliche Verfehlungen belohnt, erscheint zweifelhaft. Beim Uefa- Kredit als Führungskraft des Fußballs ein. Kongress am 25. April in Stockholm hat es Dabei folgte das Bündnis vom Herbst der deutsche Kandidat mit vier Mitbewer- letzten Jahres eigentlich kühler Berech- bern zu tun, die zudem über eine starke nung. Der DFB erhoffte sich von der deut- Lobby verfügen: mit dem Norweger Per lichen Parteinahme für Blatter handfeste Ravn Omdal, dem Italiener Franco Carra- Vorteile: Geld und Macht. ro, dem Malteser Joseph Mifsud – und So ist Deutschlands Organisationskomi- dem französischen Fußball-Heros Michel tee für die Weltmeisterschaft 2006 auf die Platini. Gewogenheit des Fifa-Chefs angewiesen. Zudem wirkt Mayer-Vorfelder angreif- Als die Deutschen den Zuschlag für das bar. Der taktische Fehler vom Oktober ist Spektakel erhielten, wussten sie nicht, wie nicht das einzige Problem des vor einem groß die Unterstützung des Weltverbandes Jahr gewählten DFB-Chefs. Nach manchen ausfallen würde. Sie erbaten einen Zu- Affären sorgt sich „MV“ um seine Repu- schuss von 200 Millionen Dollar – so viel wie Japan und Südkorea für die WM 2002 * Hundert Tage vor WM-Beginn. zusammen erhielten. Schließlich darf der

der spiegel 12/2002 183 Sport

der Marketingunter- nehmen ISMM und ISL tatsächlich verlo- ren hat. Blatter sprach öffentlich bisher von rund 35 Millionen Euro. Branchenken- ner indes raunen, dass der Crash des lang- jährigen Vermarktungs- partners die Non-Pro- fit-Organisation Fifa „mindestens 120 Mil- lionen Euro gekostet“

TEAM2 habe. Deutsche Fußball-Nationalmannschaft*: In hohem Bogen aus der Spitzengruppe Der Chef wirkt an- geschlagen. Noch kann DFB auf Fifa-Anweisung nur sechs natio- Stimmen für Deutschland-Gegenspieler er auf die Mehrheit vor allem der kleinen, nale Sponsoren akquirieren; vor vier Jah- Südafrika. sportlich eher unbedeutenden Verbände ren konnte Ausrichter Frankreich noch 45 Jetzt braucht der ehemalige Mittelstür- hoffen. Doch die Untersuchung, die bis Firmen als WM-Partner ins Boot holen. mer des FC Visp offenbar neue Verbünde- Ende April abgeschlossen sein soll, könn- Erst jetzt, nach neuerlichen Verhand- te. Es ist die Zeit für Gefälligkeiten. Erst te Blatter bis zum Kongress den letzten lungen mit der Fifa-Verwaltung und der kürzlich ließ der Fifa-Chef eine weitere Rückhalt in der von ihm stets beschwore- verbandseigenen Fifa Marketing AG, si- Rate der 100 Millionen Schweizer Franken nen Fifa-Familie kosten. gnalisierten die Geldgeber aus Zürich ihr aus dem so genannten Goal Project an Denn viele Fragen sind offen, und stän- Einlenken. In Kürze soll die Höhe des Zu- weniger bemittelte Fußballnationen aus- dig kommen neue hinzu. So tauchten er- schusses in den Organisationsvertrag ein- schütten. Für Blatter ist es Entwicklungs- neut Korruptionsvorwürfe um den Fifa- gesetzt werden – der DFB erwartet eine hilfe, für seine Gegner ist es Wahlkampf. Chef auf. Zwei somalische Fußballfunk- „befriedigende Lösung“. Doch die turbulente Exekutivsitzung auf tionäre behaupteten, bei Blatters Wahl in Beim Feilschen um die Millionen hat dem Sonnenberg zeigt: Niemals zuvor Paris seien Stimmen gekauft worden. Der sich offenbar die Hinterzimmer-Diploma- seit seinem Amtsantritt im Juni 1998 stand Schweizer bestritt die Anschuldigungen. tie ausgezahlt. Als zwischenzeitlich Mit- Blatter derart unter Druck. Knapp zwei- Ungemach dräut auch bei der Abwick- glieder der Fifa-Finanzkommission Zwei- einhalb Monate vor dem Kongress in lung von ISMM und ISL. Der Streit zwi- fel geäußert hatten, ob der reiche DFB Seoul, bei dem der neue Fifa-Präsident ge- schen der Fifa und den mehr als 600 Gläu- überhaupt pekuniäre Hilfe für die WM wählt wird, formieren sich die Kontrahen- bigern der bankrotten Unternehmen eska- brauche, traf sich Organisationschef Franz ten. Der Kameruner Issa Hayatou, 51, Prä- liert. Die Fifa hatte die Marketingrechte Beckenbauer mit seinem Duzfreund Blat- sident der afrikanischen Föderation, fühlt für die Weltmeisterschaften 2002 und 2006 ter persönlich. sich inzwischen stark genug, gegen Blatter der Konkursmasse entzogen. Das fechten Nun spricht Generalsekretär Schmidt anzutreten. die Gläubiger jetzt mit diversen Rechts- mit Rücksicht auf die verprellten Europa- Zuletzt konnten auch lautstarke Proteste gutachten an. Konkursverwalter Thomas Funktionäre beinahe entschuldigend von der wenigen verbliebenen Blatter-Cla- Bauer von Ernst & Young in Basel drängt der „speziellen Lage“ der Deutschen als queure den Untersuchungsausschuss zur auf „eine Lösung bis zum Beginn der WM“ WM-Ausrichter. Dass der DFB da den Fifa- Prüfung der Finanzen nicht verhindern. Ende Mai. Boss unterstütze, müsse doch „jeder ver- Ihr letzter Winkelzug scheiterte. Am Tag Und noch immer hält die Fifa ein stehen“. vor der entscheidenden Debatte kursierte Schreckens-Szenario in Atem: eine mögli- Der Schulterschluss mit dem Schweizer ein schriftlicher Kompromissvorschlag: Für che Zerschlagung des Kirch-Konzerns. Die hatte wohl noch einen anderen Grund: Blatter war ein Platz als Beisitzer in der wirtschaftlichen Folgen wären nicht abzu- Beckenbauer selbst, glauben dessen Mit- von ihm so genannten Buchprüfungs- sehen – der Münchner Medien-Tycoon be- streiter zu wissen, strebe die Blatter-Nach- kommission vorgesehen. sitzt sämtliche Fernsehrechte an den Welt- folge nach einer weiteren Amtsperiode des Damit war, wie ein Teilnehmer sagt, meisterschaften 2002 und 2006. Schweizers an – 2006, pünktlich zur deut- „der Eklat unausweichlich“. Nun dür- Noch ist nicht klar, ob der angeknockte schen WM-Sause. „Der Franz“, sagt ein fen die Kontrolleure durchleuchten, wie Fußball-Boss rechtzeitig zum Gegenschlag enger Vertrauter, „will das hundertpro- viel Geld die Fifa durch den Konkurs ausholt. Denn vor dem Showdown in Seoul zentig.“ Und kein anderer als könnte Blatter einen außerordentlichen Freund Sepp könnte bis dahin Fifa-Kongress einberufen, um dort Ge- die Steigbügel halten. folgsleute auf seine Wiederwahl einzu- Dem Regenten Blatter kön- schwören. nen die Nöte der Deutschen nur Das Recht dazu hat der kleine Walliser recht sein. Es gibt nicht mehr mit dem runden Gesicht – bereits jetzt viele, die ihn derart hofieren – habe ihn, wie er kurz nach der Exekutiv- und wenn es dem Machterhalt sitzung mit aufgeregter Stimme kundtat, dient, koaliert der Fifa-Chef mehr als jeder vierte der 204 Fifa-Verbän- selbst mit den Gegnern von ges- de dazu aufgefordert. tern. Denn bis zur Entscheidung Dass der gewiefte Taktiker noch genü- über die WM-Vergabe im Som- gend Zeit hätte, eine Mehrheit hinter sich mer 2000 warb er noch um zu scharen, halten Insider für sicher: „Sol- che Wahlen“, sagt ein Rechtehändler, „ent-

* Beim 1:5 gegen England am 1. September SIMON SVEN scheiden sich sowieso erst in der letzten 2001 in München. Münchner WM-Arena (Modell): „Spezielle Lage“ Nacht.“ Felix Kurz, Michael Wulzinger

184 der spiegel 12/2002 Werbeseite

Werbeseite BOXEN Lizenz für den Gentleman Vor dem teuersten Kampf aller Zeiten musste eine Jury Mike Tyson für psychisch gesund erklären. Jetzt trifft er auf seinen Intimfeind Lennox Lewis.

as Gremium hatte sich seine Ent- scheidung nicht leicht gemacht. Bei Dallen drei Mitgliedern der Box- und Wrestling Kommission in Washington musste der prominente Kandidat persön- lich vorsprechen. Sogar ein psychologi- sches Gutachten ließ die Jury von dem Be- werber mit dem Stiernacken erstellen. Der Aufwand war nötig, denn im Kern ging es um die Antwort auf eine brisante Frage: Ist der Boxer Mike Tyson ganz nor- mal im Kopf? Es ist noch gar nicht so lange her, da be- stand in Amerika in diesem Fall eigentlich Klarheit. Denn mal biss Tyson seinem Geg- ner Evander Holyfield im Ring ein Stück vom Ohrläppchen ab. Mal ließ er grunzend wissen, die Sprösslinge seines Intimfein- des Lennox Lewis „essen“ zu wollen. Ty- son gehöre „zum Doktor“ und nicht mehr ins Seilgeviert, schrieben die Zeitungen. Als die Kommission aus der US-Haupt- stadt vergangenen Mittwoch ihre Ent- scheidung bekannt gab, kam es aber zu einer Überraschung. Man habe bei dem Probanden weder „eine Krankheit“ noch sonstige „Schädigungen“ feststellen kön- nen. Nichts spreche mithin dagegen, „den Gentleman“ demnächst um die Weltmeis- terschaft kämpfen zu lassen. Die Erklärung schien zwar reichlich dünn – doch das spielte am Ende keine Rolle mehr. „Let’s go fight“, so jubelten die Fans über den Beschluss der Funk- tionäre, „Iron-Mike“ die Boxlizenz des District of Columbia zu erteilen. Denn geebnet scheint damit der Weg zu einem Box-Ereignis, um das zuletzt rund um den Erdball geschachert worden war. Selbst Beirut und die Bahamas erboten sich, den Millionen-Kampf Lewis gegen Ty- son auszurichten. Der Hamburger Promo- ter Klaus-Peter Kohl brachte sogar die deutsche Box-Diaspora ins Spiel und phan- tasierte von einem Kampfabend in der Gel- senkirchener Schalke-Arena. Eine reelle Chance hatten die Trittbrett- fahrer natürlich nie. Vielmehr war es nur eine Frage der Zeit, bis sich im gelobten Boxerland USA ein Veranstaltungsort fin- den würde, der den Patienten Tyson in die Arme schließt. Denn nirgends sonst ist mit dem Faust- kampf so viel Geld zu verdienen wie in

186 der spiegel 12/2002 Sport ANDY COULDRIDGE / ACTION IMAGES / SPORTIMAGE (L.); ZUMA PRESS / ACTION PRESS (R.) (L.); PRESS / ACTION ZUMA / SPORTIMAGE IMAGES / ACTION COULDRIDGE ANDY Boxprofis Tyson, Lewis: Eine Art Feldzug gegen das Böse

Amerika. Insider erwarten, dank Sponso- Lewis steigen. „Erfreut“ sei er über den Und so erwartet die Welt nun ein Spek- rings, Fernsehgelder und Kartenverkaufs, positiven Bescheid aus Washington, ließ takel, an dessen Drehbuch gar nicht mehr ein Budget von 150 Millionen Dollar. Da- Tyson mitteilen, und er versprach den Fans, geschrieben werden muss. Auf der einen mit wäre der Kampf Tyson gegen Lewis in der Hauptstadt zu bieten, was sie von Seite steht mit Tyson ein Mann, der 1979 in der teuerste aller Zeiten. ihm erwarten: „Ich schlage Lewis k.o.“ einem Heim für schwer erziehbare Zwar boten zuletzt auch Kasinos aus De- Dabei schien es anfänglich so, als sei Jugendliche für den Boxsport entdeckt troit und Memphis bis zu 13 Millionen Tyson in Washington nicht willkommen. wurde. Als erster Amerikaner seit Mu- Dollar für den Kampf. Vermasseln kann Zwar schwärmte der Wortführer der hammad Ali wurde er Weltmeister aller der Stadt Washington den Coup jedoch Kampagne, Bürgermeister Anthony A. Klassen. nur noch Tyson selbst. Williams, immer wieder von „dieser gro- Die Fans waren elektrisiert von dem Ursprünglich sollte der Ex-Champion ßen Chance“. Mann, der die Unbesiegbarkeit der Nation schon Anfang April in Las Vegas auf den Dennoch ging ein Riss durch die Bevöl- wie kaum ein anderer verkörperte. Kein Engländer Lewis treffen. Doch dann verlor kerung. Mit Blick auf den guten Ruf der anderer verfügte über seine Schlaggewalt, Tyson bei einer Pressekonferenz im New Stadt drängte sogar die örtliche Handels- kaum ein anderer Boxer hatte sich aber Yorker Millennium Hotel im Januar un- kammer darauf, Tyson die Lizenz zu ver- auch so wenig unter Kontrolle. So landete vermittelt die Nerven. Wie von Sinnen weigern. Vor allem Frauenverbände liefen Tyson 1999 abermals im Knast. Diesmal stürzte er sich auf Lewis. Im Verlauf der zuletzt Sturm gegen den Plan und erin- hatte er zwei Autofahrer bedroht. Rangelei soll Tyson dem Kontrahenten in nerten immer wieder an die finstere Ver- Auf der anderen Seite steht mit Lennox den Oberschenkel gebissen haben. Die gangenheit Tysons: Anfang 1992 wurde der Lewis ein Faustkämpfer mit makelloser Sportkommission in Nevada entzog Tyson damalige Weltmeister wegen Vergewal- Vita. Der eloquente Weltmeister, der im daraufhin die Lizenz. Der Schwergewicht- tigung verurteilt, drei Jahre lang saß er Londoner East End geboren wurde, spielt ler habe mit der Attacke ein Verhaltens- unter der Häftlingsnummer 922335 im in seiner Freizeit Schach und besucht Thea- muster „unkontrollierter Gewalt“ offen- Indiana Youth Correction Center in Plain- ter und Museen. bart, hieß es in der Begründung. field ein. Das etwas schlichte amerikanische Ring- Doch nun ist der Bad Boy wieder im Kurz vor der Entscheidung der Kom- publikum hielt den Primus der Zunft lan- Geschäft. Am 8. Juni soll der Kampf gegen mission verließ die Protestler jedoch der ge für einen Langweiler. Den Kampf ge- Mut. Bei einer öffentlichen Anhörung mel- gen Tyson, der auch Lewis’ Karriereende deten sich fast ausschließlich Befürworter markieren soll, versteht der Brite nun als des Kampfes zu Wort. eine Art Feldzug gegen das Böse: „Ich Mit pathetischen Einlassungen erklärten werde die Welt von Tyson befreien“, ver- die Redner, eine Demokratie wie Amerika sprach er. müsse jedem Mann „eine zweite Chance“ Der Ort für das Spektakel steht bereits einräumen. Auch einer Figur wie Tyson fest. 21000 Zuschauer fasst das MCI-Cen- solle man „mit Liebe“ begegnen, forderte ter in Washington. Ein Umsatzplus von ein Reverend in seinem flammenden zehn Millionen Dollar soll die Rekord- Appell. Fäustelei der Metropole bringen. Das überzeugte offenbar. Mit großer Vor allem die hochpreisigen Hotels freu- Mehrheit beschloss das Bürgerplenum, en sich auf die ebenso schrille wie zah- dem Kampf zuzustimmen. Das Ja der Box- lungskräftige Boxprominenz. Die ersten

KATHY WILLENS / AP WILLENS KATHY Kommission war da nur noch Formsache. Reservierungen für Luxussuiten bis zu Schlägerei bei Tyson-Pressekonferenz* 5500 Dollar die Nacht gingen bereits „Unkontrollierte Gewalt“ * Mit Gegner Lewis am 22. Januar in New York. ein. Gerhard Pfeil

der spiegel 12/2002 187 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

THEATER Melodramatische Gier OSCAR-VERLEIHUNG wei Frauen hat der alte Farmer „Oft sind wir ZEphraim Cabot aus Neuengland im Jahr 1850 schon gehabt, jetzt will er zum dritten Mal heiraten. Und Abbie, nur Beiwerk“ die schöne Braut, ist kaum älter als der jüngste von Ephraims Söhnen. Sie hei- Erstmals seit 30 Jahren wurden für die ratet den Alten schließlich aus bloßer Oscars, die am Sonntag in Los Ange- Berechnung. Doch dann verliebt auch les verliehen werden, drei Afroameri- sie sich – nur nicht in ihren Bräutigam. kaner für die beste Hauptrolle nomi- Das Kind, das sie erwartet, ist nicht niert: Halle Berry („Monster’s Ball“), von Ephraim. „Gier unter Ulmen“ neben ihren Kollegen Denzel Washing- nannte der Dramatiker Eugene O’Neill ton und Will Smith im Rennen, wäre sein selten gespieltes Drama um Hab- die erste schwarze Schauspielerin, die gier, Liebe und Eifersucht und über den die begehrte Trophäe erhält.

SPIEGEL: Halle Berry, vor drei Jahren spielten Sie in einem Fernsehfilm Do- rothy Dandridge, die 1954 als erste schwarze Schauspielerin eine Oscar- Nominierung für die beste Hauptrolle – in dem Film „Carmen Jones“ – erhielt. Am Ende verlor sie aber gegen Grace Kelly. Haben Sie bessere Chancen? Berry: Das ist schwer zu sagen. Dorothy Dandridge zu spielen gab mir die Ge- legenheit, mich vor meinem Idol zu ver-

beugen. Diese Frau hat sehr hart dafür / DPA NICHOLSON LUCY kämpfen müssen, überhaupt als Schau- Berry spielerin anerkannt zu werden, bis sie die Rolle in „Carmen Jones“ erhielt. Rolle von Leticia in „Monster’s Ball“ Doch danach stagnierte ihre Karriere. hätte ich mein letztes Hemd gegeben. 1965 beging sie – verarmt – Selbstmord. So eine Gelegenheit bekommt man

ARNO DECLAIR Denn auch nach der Oscar-Nominie- nicht oft. Szene aus „Gier unter Ulmen“ rung hatte sie kaum gute Rollenange- SPIEGEL: Es hat sich also in fast 50 Jah- bote bekommen. Der Kampf, den sie ren kaum etwas geändert? ewig gleichen trotzigen Kampf der Al- auf tragische Weise gegen Hollywood Berry: Wie viele Oscar-Verleihungen hat ten um den letzten Zipfel der Macht. verlor, dauert immer noch an. Das er- es gegeben, bei denen kein einziger Jürgen Kruse, 43, inszeniert das Stück lebe ich selbst. schwarzer Schauspieler für die Haupt- am Hamburger Thalia Theater (Pre- SPIEGEL: Fehlen Ihnen auch die inter- rolle nominiert wurde? Und der Oscar miere: 23. März), das seinen Regisseur essanten Angebote? ist nun einmal die größte Anerkennung als Spezialisten „für melodramatische Berry: Wir arbeiten in einer Industrie, für Filmschaffende. Die Situation ver- Trauerspiele“ anpreist. Sein „Hamlet“ die von Männern bestimmt wird: von bessert sich – aber nur sehr langsam. – an gleicher Stelle vor anderthalb Jah- Produzenten, Regisseuren und Autoren. Ich glaube nicht, dass ich an der Seite ren – geriet Kruse immerhin zu einer Oft sind wir nur Beiwerk – dazu da, von Tom Cruise spielen könnte, ohne der umstrittensten Aufführungen der die Helden zu schmücken. Für die dass die Hautfarbe ein Thema wäre. Saison.

OPER „der heimatlichen Kultur nie ganz entzogen“, wohl aber seine Eltern, Denkmal für US-Japaner die „Amerikas Kultur umarmten“ (Nagano). Aber das schützte sie in musiktheatralisches Spektakel der nicht vor den amerikanischen Na- Ebesonderen Art will Kent Nagano, tionalisten jener Tage. „Fraglos 50, Chefdirigent der Oper in Los Angeles eine furchtbare Erfahrung“, sagt und Künstlerischer Leiter des Deutschen Nagano, der von Kaliforniens JENS KOEHLER / DDP JENS KOEHLER Symphonie-Orchesters Berlin, gemein- / ZENIT BALTZER DAVID Gouverneur ermuntert wurde, ei- sam mit Theaterregisseur Robert Wilson, Nagano Wilson ner der „traurigsten Episoden“ 60, erarbeiten. Mit multimedialen Effek- der US-Geschichte ein musikali- ten soll die dramatische Vertreibung und es eine Art Vergangenheitsbewältigung: sches Denkmal zu setzen. Die Urauffüh- Inhaftierung vieler US-Japaner im Jahr Die Großeltern des Künstlers, aus Japan rung soll vermutlich 2004 mit Unterstüt- 1942 beschworen werden. Für Nagano ist in die USA eingewandert, haben sich zung der Oper Los Angeles stattfinden.

der spiegel 12/2002 189 Szene

MUSIKER Regenbogen überm Parkplatz ie Schneewittchens ältere Schwes- Wter sieht die Jazz-Sängerin und -Pianistin Aziza Mustafa Zadeh auf eini- gen Fotos aus; vor ihren Konzerten ver- kündet ein Ansager, die Künstlerin sei eingetreten in einen „Dialog mit dem Universum“; sie selbst empfindet ihre Musik als „eine Art Regenbogen“. Doch allen märchenhaft-esoterischen An- wandlungen zum Trotz – auf ihrer neu- en CD „Shamans“, dem ersten Tonträ- ger seit fünf Jahren, klingt die Musikerin aus Aserbaidschan angenehm erdver-

LITERATUR Das Monster-Auto o ein gepflegter Schauder ist etwas SFeines, und entsprechenden Wonne- graus garantiert Stephen King mit schö- ner Regelmäßigkeit. Die Weltpremiere seines neuen Romans „Der Buick“ fand

SÜDDEUTSCHER VERLAG (2) VERLAG SÜDDEUTSCHER vergangene Woche in Deutschland statt, Hochhausmodelle von Poitiers, ATP bevor das Buch voraussichtlich im Herbst in den USA bei Kings Stamm- ARCHITEKTUR verlag Simon & Schuster erscheinen wird. Dort hatte man, nach der Tragö- die des 11. Septembers, den Starttermin Turmbau zu München verschoben. Einmal mehr schildert King den Ein- b das Hochhaus, obwohl „eine der besten Erfindungen der Menschheit“, noch bruch des Grauens ins Alltägliche, er er- O„zeitgemäß“ sei, müsse sich nach der Terrorkatastrophe des World Trade Cen- eignet sich diesmal in einer Polizeikaser- ter erst noch erweisen, sagte der niederländische Stararchitekt Rem Koolhaas kurz nach ne in Pennsylvania. Ned, ein Teenager, dem Attentat. Das Erfolgssymbol Wolkenkratzer muss neuerdings damit leben, dass verdient sich dort ein wenig Taschengeld seine Nutzer schon im vierten Stock nicht nur die Aussicht genießen, sondern auch vor jedem heranfliegenden Düsenjet zittern. In zwei Weltregionen werden dennoch Kino in Kürze unverdrossen gewaltige Haushünen hochgepäppelt: in Asien und in München. Vergangene Woche veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ das Resultat des Bau- „The Time Machine“ bringt den Wissen- wettbewerbs um den „größten Turm der Stadt“, um das neue Domizil des Süddeut- schaftler Alexander Hartdegen bei dem schen Verlags im Münchner Osten. 151 Meter hoch, soll dieser Turm auf 42 Geschos- Versuch, die Vergangenheit zu verändern, sen rund 60000 Quadratmeter Nutzfläche bieten – fast so viel wie die Grundstücks- in eine ferne Zukunft. Dort muss Hart- fläche des New Yorker Ground Zero. Gewonnen hat den Wettbewerb, wen wundert’s, degen feststellen, dass allein das Fort- ein Münchner Architektenteam, das auch in Wien, Innsbruck, Zagreb und Dresden schreiten der Zeit die Dinge nicht besser wirkt: Achammer, Tritthart & Partner (ATP). Ein flaches, gläsernes, durch stehende macht und Vergangenes manchmal besser Fenster-Rechtecke gegliedertes Riesen-Rechteck wächst aus der Schmalseite eines unangetastet bleiben sollte. Diese Erkennt- liegenden Rechtecks, des Sockelbaus. Die Jury lobt die „klare Silhouette“ und die „sehr nis vermittelt die Neuverfilmung von H.G. schöne Fernwirkung“ – ein Lob, das sich leicht auf den (immerhin angekauften) Ent- Wells’ klassischem Roman. Simon Wells, wurf des Hamburger Architekten André Poitiers, auf den des dritten Preisträgers Urenkel des Autors, hat mit Guy Pearce & Partner oder den „aufgeschnittenen Campanile“ (Jury) von Claude einen respektablen Hauptdarsteller ver- Vasconi aus Paris übertragen ließe. Der erste Preisträger hat den Mitbewerbern vor- pflichtet und bietet modernste Tricktech- aus, dass er besonders schematisch auftritt und besonders ungeniert die Historie plün- nik auf. Ohne allerdings dem Charme des dert: Die L-Form aus Scheibe und Sockel wurde fast „wörtlich“ geklaut vom berühm- Originals aus den sechziger Jahren nahe ten New Yorker Lever House, einem 1952 gebauten Verwaltungskomplex des US-Teams zu kommen. Skidmore, Owings & Merrill. Das ATP-Design ist lediglich transparenter. Sämtliche preisgekrönten Entwürfe variieren die gläsernen Turmträume der klassischen Moderne, „L’Anglaise et le Duc“. Die Schottin Grace deren Prototypen Mies van der Rohe 1920/21 zeichnete. München, die Stadt des 19. Elliott (1760 bis 1823) muss eine bemer- Jahrhunderts, ist im frühen 20. angelangt. Da schau her! kenswert attraktive und energische Person gewesen sein: erst in London die Geliebte

190 der spiegel 12/2002 Kultur

bunden. Zadeh, 32, singt zum Zirpen einer Grille, bietet kraftvolle Klavier-Improvisa- tionen und macht Anleihen bei Bach, Chopin und der Volksmusik ihrer Heimat. „Musikalische Grenzgänger- phantasie“ bescheinigt ihr die „Frankfurter Rundschau“. In der Tat: Ein Stück hat die Weltmusik-Fee, die zurzeit durch Deutschland tourt und diese Woche in Hamburg und Hannover auftritt, nach der britischen Autobahn M25 be- nannt, dem, so Zadeh, „größ-

TIBOR BOZI / FOTEX TIBOR BOZI ten Parkplatz der Welt“.

Zadeh

während der Ferien, gleichzeitig sucht er zination, die Neds Vater für das Auto bei den Männern Trost: Sein Vater, einer empfand. Schließlich packt Ned die fixe der Polizisten, hat gerade im Dienst sein Idee, der Buick sei schuld am Tod seines Leben gelassen – er wurde von einem Vaters, und er beschließt, mit dem betrunkenen Autofahrer überfahren. Monster-Auto abzurechnen. Ned entdeckt eines Tages einen alten Unter den Fans solcher First-Class-Hor- Buick in Schuppen B. Er fühlt sich von rorgeschichten befinden sich Intellek- dem Auto angezogen, ihm ist, als rufe es tuelle und Schriftsteller wie Jan Philipp ihn. In einer langen Nacht erfährt er von Reemtsma und Stewart O’Nan, und den Polizisten die unheilvolle Geschichte tatsächlich ist in diesem Genre kaum des Wagens. Wie sie ihn einer besser als King: Keiner kann das beschlagnahmten, wie er Grauen so phantasievoll ausmalen, kei- in so genannten aktiven ner blickt tiefer in die Seele eines Teen- Phasen Tiere und Men- agers, keiner zeigt Ängste und Abgrün- schen verschwinden de anschaulicher. Über den Ausgang nur lässt, aber auch Ekel er- so viel: „Mit dem Unendlichen ist nicht regende Monster gebiert, zu spaßen“, heißt es bei King einmal. wie er Feuerwerke und Temperaturstürze verur- Stephen King: „Der Buick“. Aus dem Amerikanischen sacht. Die Männer be- von Jochen Schwarzer. Ullstein Verlag, München; 496 schreiben auch die Fas- Seiten; 22 Euro.

des Kronprinzen, mit dem sie auch ein Grace jedoch überlebte. Aus ihrem Be- Kind hatte, dann in Paris die Mätresse richt über jene Schreckensjahre hat Eric des Herzogs von Orléans, dessen Sohn Rohmer nun einen Film gemacht: kein später König von Frankreich wurde. Der hochdramatisches, Blut spritzendes Spek- Herzog, obwohl überzeugter Parteigän- takel, sondern ein formbewusstes, gera- ger der Revolution, wurde 1793 geköpft, dezu akademisch strenges Lehrstück, das die Darsteller vor Kulis- sen agieren lässt und den Straßenszenen (durch Computer-Animation) die Optik von kolorier- ten Kupferstichen gibt. Einmal mehr überrascht der 81-jährige Rohmer durch Originalität, aller- dings ist seine Historien- lektion ein wenig steif

AFP und preziös geraten.

Szene aus „L’Anglaise et le Duc“ 191 Kultur

KINO Tod im Paradies Sechzig Jahre nach seinem rätselhaften Selbstmord in Brasilien entsteht ein Thriller über die letzten Tage Stefan Zweigs, des damals weltweit erfolgreichen deutschsprachigen Autors – mit Wenders-Star Rüdiger Vogler in der Hauptrolle. Von Matthias Matussek

Autor Zweig (1940), Zweig-Darsteller Vogler (M.) bei den Dreharbeiten in Rio de Janeiro Die Leichtigkeit eines Anti-Helden

remder kann er sich gar nicht fühlen als in dieser Rolle, in diesem Film, in Fdiesem Land. Womöglich ist Rüdiger Vogler deshalb die Idealbesetzung. Er spielt den Schriftsteller Stefan Zweig, in dessen letzten brasilianischen Tagen. Rüdiger Vogler steht in dieser Millionärs- Villa aus dem 19. Jahrhundert über Rio de Janeiro, einen weißen, weichkrempigen Panama-Hut in den Händen, wie verloren in diesem eleganten Gartensalon, und da- hinter das wuchernde, dampfende Grün des Tijuca-Nationalparks. „Es wird ein Kunstfilm“, sagt er in einer Drehpause, „eine Art Thriller“, wer weiß das schon genau, was hier entsteht. Klar ist nur eines: Es ist ein Film über das Fremd- sein. Rüdiger Vogler spricht wie Wim Wen- ders’ Doppelgänger. Er schließt den Mund nach jedem Wort. Bedachtsam. Umständ- lich. Freundlich. Er ist im Hotel „Gloria“ in Botafogo untergebracht, er vermisst seine Familie in Paris, und er zählt die Tage bis

zur Heimkehr. (R.) TDC / IMAGINATTA HUMBERTO (L.); CARLOS AKG 192 Stefan Zweigs „Schachnovelle“ kennt So was fand man tatsächlich einmal reichsten deutschsprachigen Autoren. er, klar, und auch sein Buch „Brasilien – gut? Doch gleichzeitig ist es ein Film vol- „Sein literarischer Ruhm reichte bis in die Land der Zukunft“ hat er gelesen. Doch er ler magischer Momente, voller wunder- letzten Winkel der Erde“, schrieb Thomas hat wenig mehr vom Land gesehen außer schöner Bilder. Ein Film, der Zeit hat, und Mann einst bewundernd. Mit seinen den Drehorten in Rio und Petrópolis, wo Rüdiger Voglers Lächeln, seine Anti-Hel- „Sternstunden der Menschheit“, seinen Zweig wohnte in seinen letzten Tagen. den-Leichtigkeit, die tatsächlich genau das großen Biografien über Marie Antoinette Er spricht die Sprache nicht, ihm ist die- weitergibt, was man das innere Leuchten oder Magellan, seinen Essays und dem Ro- se Stadt zu laut, zu grell, zu heiß. Tatsäch- eines Menschen nennen könnte und bei man „Ungeduld des Herzens“ war er der lich wirkt Vogler, in seinem altmodischen den Computerfilmen von heute kaum noch Sidney Sheldon der dreißiger Jahre, ein Leinenanzug, wie ein Verlorener – „Lost findet. Bestseller-Autor. Zweig“ heißt der Film, in dem er spielt. Rüdiger Vogler, mittlerweile 59, hat die Wenig bekannt aber ist, dass Zweig die Sechzig Jahre nach Stefan Zweigs Selbst- große Welt-Karriere nicht gemacht. Er letzten Monate seines Lebens in Brasilien mord nun dieser Film über seinen Tod. hat in weiteren Wenders-Filmen gespielt verbrachte, dass er hier seine wohl beste Erzählung, die „Schach- novelle“, schrieb und die bewegenden Lebenserin- nerungen „Die Welt von gestern“ vollendete. Stefan Zweig hatte das Land zum ersten Mal 1936 betreten, eigentlich nur ein Abstecher, eine Zwischen- station auf dem Weg nach Buenos Aires, wo er an ei- nem Pen-Kongress teilneh- men sollte. Er wurde in Rio empfangen wie ein Staatsgast. „Ich werde ins Copacabana Palace ge- bracht, wo ich eine Flucht von Zimmern bewohne, den Blick auf den Strand, der herrlicher ist als alle Badeplätze Europas, weich und sandig tief und ganz unter dem grünen Leuch- ten des Meeres.“ Als sein Aufenthalt zu Ende geht, notiert er: „Ich könnte heulen wie ein Schloss-

CARLOS HUMBERTO TDC / IMAGINATTA HUMBERTO CARLOS hund.“ Prostituierten-Darstellerin Ana Carbatti in „Lost Zweig“: Verliebt in eine bunte Gegenwelt In Brasilien, so hatte er auf seiner Reise erfahren, Und Rüdiger Vogler sitzt vor den blau- und ist mit einer Französin verheiratet und ist er der meistgelesene europäische Autor, en portugiesischen Kacheln des Palácio ist heute in Frankreich bekannter als in und das ist für jeden Schriftsteller die im Tijuca-Wald und raucht eine weitere Deutschland. Er wirkt verletzbar, ratlos, Währung, in der sich Liebe ausdrückt. In Zigarette, und Ruth Rieser, die seine kompliziert, geheimnisvoll – vielleicht ist Deutschland dagegen werden seine Bücher Frau spielt, will „etwas sagen mit ihrer sein Regisseur deshalb davon überzeugt, verbrannt von den Nazi-Horden, und Ös- Rolle“, aber was es genau ist, bleibt un- die ideale Besetzung für seinen Drei-Mil- terreich bereitet sich auf den Anschluss vor deutlich. lionen-Euro-Film gefunden zu haben, der und jagt Juden und ekelt sie aus dem Land Vielleicht liegt es daran, dass sie alle von brasilianischen Firmen und Kultur- und enteignet am Ende noch ihren Besitz. englisch reden in diesem Film, auch die sendern budgetiert wird. Zweig verkauft sein Haus in Salzburg brasilianischen Schauspieler, denn die „Zu neunzig Prozent ist dieser Film die weit unter Preis, und er sieht es ein letztes Produktion ist für den internationalen Besetzung mit Rüdiger Vogler“, sagt Sylvio Mal aus dem Zugfenster, als er das Land für Markt gemacht. Back, mit durchaus kalkulierter Beschei- immer verlässt – zunächst nach London, Rüdiger Vogler scheint abonniert zu denheit. „Neun Prozent muss Vogler noch dann nach New York. sein auf Charaktere, die aus der Welt zusätzlich leisten – das restliche Prozent Doch seine Liebe heißt Brasilien. Es ist fallen. Er ist zur Kultfigur geworden in besorge ich selber.“ eine naive begeisterte Verliebtheit in diese Wim Wenders’ schwarzweißem Road- Regisseur Sylvio Back hatte bereits 1995 bunte Gegenwelt, in der die Bäume schwer movie „Im Lauf der Zeit“ von 1976, so eine Dokumentation über die letzten Tage sind von Früchten und aus jedem Samen- sehr, dass ihn ein Fan einst um ein Au- Stefan Zweigs gedreht. Er hatte Zeitzeugen korn Leben sprießt und die Rassen in Har- togramm in seinen Pass bat. „Ich bin zu Wort kommen lassen und Weggefährten monie miteinander sind. Es ist der Blick du“, sagte er. des Autors befragt, um diesem Geheimnis eines Träumers, der dem Schlachthaus ent- Wie merkwürdig, sich an einem dreh- auf die Spur zu kommen, das sich doch nie ronnen ist. freien Tag noch einmal mit ihm diesen lüften lässt: Warum begeht ein Mensch Und mit diesem Blick schreibt Stefan Siebziger-Jahre-Kultfilm anzuschauen. Selbstmord? Jetzt sucht er die Antwort mit Zweig, der 1940 nach einer weiteren La- Diese langen Fahrten. Dieses Pathos des den Mitteln eines Spielfilms. teinamerika-Tournee wieder nach Brasi- Verlorenseins, und das, was man „Be- Noch immer ist Stefan Zweig einer der lien zurückkehrt und das Riesenland be- ziehungsprobleme“ nannte. meistgelesenen und international erfolg- reist, seine Liebeserklärung „Brasilien –

der spiegel 12/2002 193 Kultur

Land der Zukunft“. Er kann es allerdings erst nach seiner Rückkehr im Januar 1941 nach New York fertig stel- len, da ihn die gesellschaft- lichen Verpflichtungen in Rio an konzentrierter Arbeit hin- dern. Zweig schreibt keinen Rei- seführer, kein soziologisches Unternehmen, sondern in Wahrheit eine der großen Utopien der Literatur, einen Gegenentwurf, der sich le- diglich der Farben und Düf- te bedient, die er seit seinem ersten Besuch mit sich trägt. Von der Kritik wird dieses Buch sehr verhalten aufge- nommen. Natürlich bedient es die patriotische Eitelkeit – einerseits. Andererseits aber finden die brasilianischen Journalis- ten, dass Zweig ihr Land aus

den falschen Gründen lobe. (R.); HEINZ TISCHER (M.) AKG Sie wollen nichts über die Stefan und Lotte Zweig in Petrópolis (um 1941), Wohnhaus: Rückzug in ein nebliges Bergnest „Herzensgüte des Volkes“ lesen, sondern über die Modernität ihrer Sprache. Und die zynische: Er erfährt von Lauro Pontes zunächst schlichtweg abge- Hauptstadt Rio und deren Wolkenkratzer. einer jüdischen Mafia, die jungen Jüdin- lehnt. Doch später scheint er zu einem Dennoch: Das Publikum liebt ihn. nen zur Flucht verhilft, dafür aber von ih- Tauschhandel bereit gewesen zu sein – für 1941, das Buch ist gerade erschienen, sie- nen verlangt, in Freudenhäusern in Buenos die Erteilung von Visa an seine jüdischen delt Zweig ganz um – nicht ins brodelnde Aires und Rio anschaffen zu gehen. Freunde verspricht er ihm, kurz vor seinem Rio, sondern nach Petrópolis, das abge- Und er nimmt die schachernde, oppor- Tod, eine Serie von Biografien über be- schiedene Nest in den Bergen. tunistische, düstere Wirklichkeit seiner rühmte Brasilianer. Warum hat Stefan Zweig, der sich doch neuen Heimat zunehmend wahr. Zweig Zweig, so scheint es, war wie so viele in ein tropisches Paradies gerettet zu haben versucht sich als Emissär, der mit dem bra- Schriftsteller und Künstler vor ihm, zum schien, seinem Leben ausgerechnet hier silianischen Diktator Getúlio Vargas über nützlichen Idioten eines machiavellisti- ein Ende gesetzt? Warum legte er sich hier, die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen schen Spielers geworden. als 60-Jähriger, mit seiner 27 Jahre jünge- verhandeln möchte – eine Zeit lang glaubt Backs Kunst-Thriller stützt sich auf die ren Frau und Sekretärin Lotte aufs Bett er sogar, dass dem ganzen jüdischen Volk Recherche von Alberto Dines’ „Tod im Pa- und nahm, gemeinsam mit ihr, eine Über- in diesem unermesslich großen Land eine radies“, die belegt, dass Zweig überstürzt dosis Veronal? zweite Heimat angeboten werden könnte. aus Rio de Janeiro zurückgekehrt war nach Stefan Zweigs letzte Wochen: eine Spi- Die Paradoxie (und Zweigs Blindheit) Petrópolis, in dieses neblige Bergnest. rale in den Lebensekel, Weltekel, deren besteht darin, dass er mit seinem Brasilien- Er hatte das Karnevalstreiben in den Kreisen nach unten nur durch Momente Buch just jenem Regime eine Propaganda- Straßen und an den Stränden genossen in wiedererwachter Hoffnungen und Genüs- Schrift in die Hand gedrückt hat, das sich diesem heißen Februar 1942, und plötzlich se kurz aufgehalten wird. ideologisch durchaus in Nazi-Nähe wohl schien die Entscheidung zum Suizid gefal- An diesem Nachmittag, im Palácio, wird fühlt – dem gleichgeschalteten „Estado len zu sein. Freunde beobachteten eine die Szene gedreht, in der Zweig mit Freun- Novo“ des Getúlio Vargas. merkwürdige Erleichterung und Heiterkeit den und seinem Übersetzer den Erfolg Das Angebot, eine Vargas-Biografie zu in diesen letzten Tagen. seines Brasilien-Buches feiert – 100 000 schreiben, hat er dem Propaganda-Chef Regisseur Back hält Zweigs Selbstmord Exemplare sind verkauft für „eine letzte große und mysteriöse Ges- worden. te“, die er nicht durch vordergründige Kau- Mitten hinein platzt die salitäten entwürdigen will. „Offenbar ist Nachricht von der Versen- es wie ein Virus, das plötzlich ausbricht.“ kung eines brasilianischen Schon einmal, 1921, hatte Zweig seiner da- Frachters durch deutsche maligen Frau Friderike den gemeinsamen Torpedos. Er entrinnt Hitler Selbstmord vorgeschlagen – sie, eine selbst- auch in der neuen Heimat bewusste, durchaus ebenbürtige Intellek- nicht, bald wird der Irre aus tuelle, hatte ihn beschieden, dass er mit Braunau die Weltherrschaft ihr „als Begleiterin auf dieser Reise“ nicht an sich gerissen haben. rechnen könne. Doch Zweig lernt auch die Mit Lotte, seiner Sekretärin und zweiten trostlose Seite des Gastlan- Frau, lag der Fall anders. Auch sie empfand des kennen, ein Exil ohne das Leben zunehmend als Last. Vor allem

brauchbare Bibliotheken, ab- PRESS CORBIS / PICTURE aber: Ein Leben ohne Stefan Zweig wäre ihr geschnitten vom geistreichen Ehepaar Zweig nach dem Suizid (1942) bedeutungslos vorgekommen, so sehr war Umgang in seiner eigenen Merkwürdige Heiterkeit in den letzten Tagen sie mit ihm und seinem Schaffen verwachsen.

194 der spiegel 12/2002 oft magisch übersteigernd, handelt vom Fremdsein und von dem Ohnmachtsver- hältnis, in dem die Kunst zur Politik steht. Wie anders auch will man den schau- rigen Paradoxen beikommen, in denen Zweig sein Leben endete? Sein Abschieds- brief schließt mit den Worten: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Mor- genröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen vor- aus.“ Bald darauf entschloss sich Brasiliens Diktator endlich, dem alliierten Kampf ge- gen Hitler beizutreten. Trotz aller Enttäuschungen, die er durch die Politiker seines Gastlandes erlebte, schrieb Stefan Zweig in seinem Abschieds- brief eine weitere Liebeserklärung: „Mit jedem Tag habe ich dies Land mehr lieben gelernt, und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufge- baut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.“ Das Verrückte ist – selbst 60 Jahre spä-

CARLOS HUMBERTO TDC / IMAGINATTA HUMBERTO CARLOS ter noch kann man dieses Land „mit je- „Lost Zweig“-Darsteller Vogler, Rieser: Magische Momente des Fremdseins dem Tag mehr lieben“ lernen. Auch wenn es sich nicht mehr als lebensrettende Al- Noch immer regt Stefan Zweig sein te vorwiegend Deutsch gesprochen wird, ternative anbieten muss. Auch wenn die letztes Gastland zu fruchtbaren Ausein- als Sohn eines jüdischen ungarischen Emi- Harmonie der Rassen und Klassen, die andersetzungen mit sich selber an – zu granten und einer deutschen Mutter. Zweig noch notierte, oft nur eine nette Zweigs 60. Todestag waren die Zeitungen Er ist einer der meistdekorierten gegen- Lüge ist und es auch nicht unbedingt voller Gedenken an diesen fremden wärtigen brasilianischen Regisseure. Ver- „leichter ist, arm zu sein“, und „alles Bru- Schwärmer, und sein Brasilien-Buch „Land wundert erzählt er von einem Essen, an tale und Sadistische … den brasilianischen der Zukunft“ ist noch Jahrzehnte später dem er im vergangenen Jahr in Wien teil- Menschen“ nicht unbedingt „vollkommen Anlass für Essays, in denen seine Utopien nahm: „Natürlich kannte jeder Zweig, aber fern“ ist. an der oft schäbigen Realität gemessen kaum einer wusste, dass er sich in Brasilien Doch man muss lernen, es zu lieben. werden. umgebracht hatte.“ Der Taumel führt nur zu fatalen Missver- Regisseur Sylvio Back, der in diesen Ta- Backs Film ist kein Thriller im her- ständnissen. Für Rüdiger Vogler ist die bra- gen den Rohschnitt seines Films fertig stellt kömmlichen Sinne, keine detektivische Re- silianische Affäre zum Arbeitsaufenthalt – er soll für das Festival in Cannes einge- cherche, sondern eine Phantasmagorie – in nach 40 Drehtagen abgekühlt. reicht werden –, kennt Zweigs Bücher seit einer längeren trancehaften Sequenz etwa, Er war Zweig in Brasilien. Aber er ist seiner Kindheit. Er ist in Blumenau im Sü- während einer Voodoo-Zeremonie, erahnt froh, in Wirklichkeit Rüdiger Vogler in den Brasiliens aufgewachsen, wo noch heu- der Autor den eigenen Tod. Backs Film, Paris zu sein. ™ Kultur

AUTOREN „Grauenhafte Aussagen“ Susan Sontag über ihren neuen Roman, die Bilder des Leidens und die intellektuelle Wahrnehmung des Krieges

Die US-Autorin Susan Sontag, 69, stellt diese Woche auf der Leipziger Buchmesse ih- ren neuen Roman vor: „In Amerika“. Er beschreibt das Schicksal polnischer Intellek- tueller, die um 1880 in Kali- fornien eine Art Landkom- mune gründen.

SPIEGEL: Ms. Sontag, in Ihrem neuen Roman heißt es einmal, die USA wollten alle Menschen zu Verkäufern oder Konsu- menten machen*. Sontag in Sarajevo (1993) Sontag: Das sagt eine Figur. Reisende Autoren: „Ein guter Mensch sein zu wollen, Aber es stimmt – und die Tat- das hat heute etwas Lächerliches“ sache, dass diese Kritik schon polnische Einwanderer im 19. Jahrhundert tung, die riefen mich an, kurz nachdem beschäftigte, hat mich fasziniert. Peter Handke diese grauenhaften Aussagen SPIEGEL: Mögen Sie Ihre Romanfiguren? zu Serbien gemacht hatte, und sie fragten Sontag: Allerdings. Nicht nur, weil ich so mich, was ich davon hielte. Nun, ich sagte, lange und so intensiv mit ihnen lebe. Ich was ich davon halte – dass sie grauenhaft erinnere mich an einen heißen Sommertag, sind, so falsch, verheerend, entsetzlich, wie als ein schwitzender Handwerker einen der sie eben sind. Dann wollte der Interviewer Aufzüge in meinem Haus reparierte. Ich wissen, ob ich weiter Handke lesen werde. wollte schon den anderen Aufzug nehmen, Ich bewundere ihn als Dichter, sagte ich, als mir einfiel, dass Emma, die Heldin mei- also werde ich ihn natürlich weiterhin le- nes Romans „Der Liebhaber des Vulkans“, sen. ,Aber nach dem, was er gesagt hat ihm etwas zu trinken angeboten hätte. Und und was Sie jetzt gesagt haben, müssen Sie ich brachte dem Mann etwas zu trinken. doch fertig mit ihm sein?‘ Nein, sagte ich, SPIEGEL: Sollen wir für Emma, die Gelieb- wieso sollte ich seine Romane nicht mehr te Lord Nelsons, Sympathie empfinden? lesen, nur weil ich mit seinen Äußerungen Sontag: Sie ist eine typische Femme fatale. nicht einverstanden bin? Ich lese doch auch Vor allem Frauen, die im Mittelpunkt ste- Nietzsche, obwohl ich seine Ansichten hen, haben oft eine mütterliche Seite, wie über Frauen nicht vollkommen teile. Kurz zum Ausgleich für ihre Egozentrik. Marle- und gut, nach einer Woche bekam ich ei- ne Dietrich war berühmt dafür, ihre Um- nen Anruf von einem Freund aus Italien, gebung mit Hühnersuppe zu traktieren. der mir Vorwürfe machte, weil Susan Son- Ich habe immer wieder im Milieu von tag gesagt hätte, Handke könne man als Schauspielern gelebt, sonst hätte ich diesen Schriftsteller künftig getrost vergessen. Roman nicht schreiben können. Ich bin ge- SPIEGEL: Handke hat den Medien misstraut, nauso, aber Sie wollten ja keine Suppe. er wollte sich sein eigenes Bild machen. SPIEGEL: Trotz Ihrer Fürsorglichkeit gelten Sontag: Was ich nur begrüßen kann. Ei- Sie als schwierig, zumal in Interviews. gentlich sollte es zur Regel werden, dass Sontag: Das ist ein misogynes Vorurteil. man sich zu politischen Fragen dieser Art Einem berühmten Mann nimmt man eine nur äußern soll, wenn man dort gewesen gewisse intellektuelle Ungeduld nicht übel, ist. Wissen Sie, warum in dieser Riege von während man eine Frau gleich zum Mons- selbstgerechten Robotniks, die im Moment ter macht. Außerdem ist es nicht selten unsere Außenpolitik bestimmen, ausge- wirklich gleichgültig, wie ich mich verhal- rechnet General Powell noch als besonnen te und was ich sage – es steht ohnehin von und beinahe sensibel durchgeht? Weil er vornherein fest. Ich erinnere mich an ein der Einzige ist, der überhaupt weiß, was Gespräch mit einer österreichischen Zei- Krieg bedeutet – er hat ihn erlebt. SPIEGEL: Allerdings bringt der Lokaltermin auch nicht immer die wahre Erkenntnis. * Susan Sontag: „In Amerika“. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Hanser Verlag, München; 480 Seiten; Sontag: Es kommt natürlich auch auf die 24,90 Euro. Art des Reisens an. Als Mitglied einer so

196 der spiegel 12/2002 genannten Delegazi und auf Einladung seit dem Zweiten Weltkrieg eine bedeuten- Mitgefühl für andere entwickelt. Ich bin und unter Aufsicht der Regierung bringt de Rolle spielt, unsere Wahrnehmung ab- eigentlich ein schneller, aktiver Mensch, man wenig in Erfahrung. Aber es schmei- stumpft, unsere Sensibilität durch Wieder- jemand, der eher unduldsam auf Verzöge- chelt der Eitelkeit. Als ich in Paris lebte, holung und Steigerung eher schwächt. Das rungen reagiert und ungern Empfindun- wurde dort eine Autorenreise nach China glaube ich heute nicht mehr. Natürlich gibt gen in den Vordergrund stellt. Ich bin er- organisiert, die kaum rühmlicher verlief es auch einen Voyeurismus des Leidens, fahrungshungrig, ich suche Realität. als der Besuch von Jean-Paul Sartre und aber insgesamt sind wir doch gerade durch SPIEGEL: Keine typische Intellektuelle also? Simone de Beauvoir in China. Selbst ob es die Vergegenwärtigung von Schmerz zu er- Sontag: So gesehen nicht. Ich habe mich sich um eine Diktatur handelt, war anfangs schüttern. Aber welches Leid muten wir uns gegen diesen Titel immer gewehrt – auch noch durchaus strittig. in der Abbildung zu? Für das Eingreifen in weil ich mich als Schriftstellerin verstehe. Natürlich bin ich eine Intellektuelle, inso- fern ich Akademikerin bin, Bücher schrei- be und so weiter – soziologisch gesehen also. Ich habe vielleicht auch andere Wün- sche als eine typische Intellektuelle. Ich erinnere mich an eine Situation vor einigen Jahren, wiederum in Frankreich, als ich mit Freunden – soziologisch Intellektuelle wie ich – zusammensaß und die Frage auf- kam, was man gerne wäre. Eine spieleri- sche Frage: so als ob man sagen soll, was man gern noch lernen würde. SPIEGEL: Was wäre das bei Ihnen? Sontag: Deutsch. Ich spreche gut Franzö-

CORBIS SABA (L.); THOMAS DEICHMANN (R.) DEICHMANN (L.); THOMAS CORBIS SABA sisch und komme mit einigen anderen ro- Sartre, Beauvoir in China (1955) Handke in Serbien (1999) manischen Sprachen zurecht, aber ich habe nie ordentlich Deutsch gelernt, obwohl SPIEGEL: Wie soll man es also machen? Jugoslawien, schließlich und viel zu spät, viele Autoren, die ich besonders liebe, Sontag: Allein reisen, mit normalen Leuten war auch die Tatsache verantwortlich, dass Deutsch geschrieben haben. „Der Zauber- reden, Erfahrungen und Widersprüche zu- es Menschen sind wie wir, die da getötet und berg“ war ein elementares Lektüreerlebnis lassen. Wahrscheinlich hat Handke tat- zerstückelt wurden: nicht Vietnamesen, Afri- für mich – und ist vielleicht der wichtigste sächlich nur nette Serben getroffen – so kaner, sondern Leute wie wir, europäische Roman für mich überhaupt. Jedenfalls, auf wie man auch 1942 in Bamberg nette Deut- Physiognomien. Darum auch gibt es Bilder die Frage, was man gerne wäre, sagte ich sche kennen lernen konnte. Trotzdem ver- vom Ground Zero, von Leichen und Lei- spontan, ohne auch nur eine Sekunde traue ich meiner sinnlichen Erfahrung. chenteilen, die eben nicht gezeigt werden. nachzudenken – denn sonst hätte ich das si- SPIEGEL: Die Erfahrung von Schmerz hat Unsere eigenen Toten muten wir uns nicht cher nicht gesagt: „Ein guter Mensch.“ Sie in den letzten Jahren stark beschäftigt. zu. Da gilt für uns die zivilisatorische Regel: SPIEGEL: Warum hätten Sie es nicht gesagt? Sontag: Seit dem Krieg in Jugoslawien treibt Körperteile sind keine Personen mehr. Sontag: Sie hätten die Gesichter sehen sol- mich die Frage um, wie wir mit Schmerz SPIEGEL: Zu Ihren Schmerz-Erfahrungen len: betreten, beinahe peinlich berührt. Ein umgehen – auch mit dem Anblick von gehört eine zweite Krebserkrankung, die guter Mensch sein zu wollen, das hat heu- Schmerz. Vor langer Zeit, in meinem Essay Sie überstanden haben. Hat das Ihre Wahr- te etwas Lächerliches. Das ist etwas aus „Über Fotografie“, habe ich die These ver- nehmung fremder Leiden verändert? dem 19. Jahrhundert. Die Menschen bei treten, dass die permanente Abbildung von Sontag: Ja. Ich bin, vermutlich, geduldiger Tschechow, bei Tolstoi, die schlagen sich Leid, gerade durch die Kriegsfotografie, die geworden; vielleicht habe ich auch mehr damit herum. Interview: Elke Schmitter Kultur

Lauf des Films mehr und mehr die Kon- trolle. Sie ist eine Frau, die zu sich selbst FILM findet. Und nachdem sie das geschafft hat, sollte man besser in Deckung gehen.“ Wenn man sie so sitzen sieht, auf dem „Ich könnte ein Junge sein“ Sofa, hoch gewachsen, mit den Schultern einer Schwimmerin, den Rauch ihrer Zi- Das Supermodel Milla Jovovich wurde durch Filme von Luc Besson garette inhalierend wie ein Lebenselixier, hat man das Gefühl: Milla Jovovich weiß, zum Star. Nun spielt sie in „Resident Evil“ eine wovon sie redet. In jeder ihrer weit aus- futuristische Action-Heldin – eine erstaunlich wandlungsfähige Frau. holenden Gesten ist nicht nur überschäu- mendes Temperament zu spüren, sondern s kommt der Tag, an dem nicht Gott, Während die Heldin ihren inneren Kon- auch unbedingter Durchsetzungswille. sondern der Mensch die Frau er- flikt austrägt, muss sie sich einen Weg Vielleicht ist dies die aus der Not gebore- Eschafft. Der Fantasy-Film „Das fünf- durch eine unterirdische Stadt bahnen und ne Kraft der Immigrantin – als Kind ist sie te Element“ (1997) lässt in einem Genlabor verhindern, dass ein gentechnisch erzeug- mit ihren Eltern aus der Ukraine in die binnen wenigen Sekunden vor den Augen tes Virus die Weltbevölkerung dahinrafft. USA übergesiedelt. des Zuschauers einen weiblichen Körper „In Filmen wie diesen lauten die Dia- „Ich bin wie geschaffen für Rollen, die entstehen. Dann tritt die Frau ins Leben: logsätze der Frauen meist ‚O Gott!‘, ‚Pass mich physisch fordern. Ich gehöre nicht zu Mit einer Faust durchschlägt sie Panzer- auf!‘ und ‚Vorsicht, da kommt er!‘“, sagt den feingliedrigen, scheuen, rehäugigen glas, von einem Hochhaus springt sie kopf- Jovovich. „Alice dagegen übernimmt im Frauen, sondern habe ein breites Kreuz über in die Tiefe, und am und kräftige Knochen. Ich bin Ende rettet sie die Welt. Mit ein starkes Mädchen – ziem- diesem Film über die Frau der lich deutsch, wenn man so Zukunft wurde ein Star gebo- will.“ Selbst Eloise, ihre Figur ren: Milla Jovovich. in „The Million Dollar Hotel“, Wie ein neugeborenes Kind die oft somnambul und fast die Welt betrachten – nur we- schwerelos wirkt, geht barfuß nige Erwachsene können das durch Los Angeles: ein Engel, überzeugender als die nun- der den harten Boden der mehr 26-jährige Schauspiele- Tatsachen spüren will. rin. Sogar Wim Wenders ver- Jovovichs Karriere begann fiel diesem staunenden Blick. im Alter von neun Jahren. In „The Million Dollar Hotel“ Damals stand sie erstmals als (2000) lässt er Milla Jovovich Model vor der Kamera. Zwei neben dem Helden aufwa- Jahre später machte der Star- chen, verweilt auf ihrem Ge- fotograf Richard Avedon Auf- sicht und erkennt in ihren Au- nahmen von ihr, danach gab gen: Ihre Erinnerung an die sie Werbekampagnen der Mo- letzte Nacht ist noch stärker demarken Guess und später verblasst als ihre Wangen. Calvin Klein ein Gesicht – In „Resident Evil“, der und war bereits mit 17 Mil- Verfilmung des gleichnamigen lionärin. „Ich kann immer Computerspiels, die in dieser noch nicht fassen, dass man Woche in die deutschen Ki- für Nichtstun so viel Geld be- nos kommt, hat die von Jovo- kommt“, sagt sie heute. vich verkörperte Heldin Alice Ihr erster großer Kinofilm, ihr Gedächtnis verloren. Sie „Rückkehr zur blauen Lagu- kommt zu sich und sieht sich ne“ (1991), ging unter. Im Jahr nach allen Seiten um, in der darauf hatte sie in „Chaplin“ Hoffnung, etwas wiederzuer- als erste Ehefrau des Titelhel- kennen. Und auf einmal hat den einen glanzvollen Lein- sie das Gefühl, in einem Alp- wandauftritt – doch auch die- traum erwacht zu sein. ser Film war ein Flop. Die „Das ist wie in ‚Alice im Begegnung mit dem französi- Wunderland‘“, beschreibt Jo- schen Regisseur Luc Besson vovich ihre neue Rolle. „Dort gab ihrer Karriere die ent- macht sich die Heldin auf den scheidende Wende: Er ließ sie Weg, um die Wahrheit über in „Das fünfte Element“ das sich zu erfahren. Sollte sie Leben an sich verkörpern, herausfinden, dass sie ein heiratete sie (die Ehe währte schlechter Mensch ist, würde nur anderthalb Jahre) und sie wohl nicht zurückkehren. gab ihr die Hauptrolle in „Jo- Alice in ‚Resident Evil‘ will hanna von Orléans“ (1999). ihr Gedächtnis zurückgewin- „Jemanden zu treffen, der

nen und hat zugleich Angst PRESS / ACTION VISUAL so in seiner Arbeit aufgeht, davor zu erfahren, wer sie ist und was sie getan hat. Sie Jovovich in „Resident Evil“ könnte eine Mörderin sein.“ Das starke Mädchen 198 Werbeseite

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Werbeseite Kultur war ein Schlüsselerlebnis. Man kann Luc Als gefallenen Engel, der auf dem und seine Filme nicht trennen. Ich wollte Straßenstrich hart gelandet ist, besetzte von ihm genau wissen, wer Leeloo, meine Spike Lee sie in „Spiel des Lebens“ (1998). Figur in „Das fünfte Element“, wirklich Mit ihrem Zuhälter wankt Dakota, wie ihre ist. Und ich stellte fest: Leeloo ist Luc. Sie Figur im Film heißt, den Gang eines Stun- ist ein Teil von ihm. Um sie kennen zu ler- denhotels entlang. Dann kommt unver- nen, musste ich ihn nur gut beobachten.“ mittelt eine Großaufnahme von ihr, ein hel- Zu Beginn des Films wirkt Leeloo wie les Licht fällt von oben auf ihre platin- ein fremdartiges Tier im Käfig. Dann ent- blonde Perücke und lässt diese strahlen kommt sie, wird verfolgt und hält auf ein- wie den Heiligenschein einer Hure. mal inne. Ihre Bewegungen werden für Aus Jovovichs Gesicht, das in dieser Ein- kurze Momente mechanisch und lassen sie stellung halb im Schatten liegt, stechen ihre fast wie einen Roboter wir- ken. Dann springt sie in die Tiefe, landet im Taxi von Bruce Willis, und als er sie „Are you okay?“ fragt, lächelt sie ihn plötzlich an wie ein kleines Kind. Jovo- vich meistert in diesem Film eine unaufhörliche Meta- morphose mit virtuoser Leichtigkeit.

Jovovich in „Johanna von Orléans“, mit Jean-Paul Gaultier: Blicke von

hypnotischer Transparenz DEFD

grau-grünen Augen her- vor, die jeden schwindeln machen können, der zu lange in sie hineinschaut – sie verfügen über eine fast hypnotische Transparenz. Wie die Fotografen, die Milla Jovovich zum Star- model machten, können auch die Kameraleute manchmal nicht widerste- hen, sich in dieser sugges- tiven Schönheit des Blicks zu verlieren. Und dann sitzt sie plötz- lich mit zerschundenem

FRANCOIS MORI / AP FRANCOIS Gesicht vor einem Spiegel – ohne jeden Anflug von Auch ihre Jeanne d’Arc ist ein faszinie- Wehleidigkeit prüft sie ihr Aussehen. Der rendes Zwitterwesen. In einer Rüstung, die Filmzuhälter hat sie gerade verprügelt. ihr etwas zu groß zu sein scheint, stellt sie In dem Goldgräber-Drama „The Claim“ sich Aufgaben, die gar nicht groß genug (2000) spielt sie die wohl jüngste Puffmut- sein können. Sie schneidet sich die langen, ter der Filmgeschichte. Mit dem reichsten blonden Haare ab, weil sie nicht wie ein Mann des Dorfes liiert, verfolgt sie über ei- Mädchen wirken möchte. Fortan betont nen Spiegel, wie er die Schnüre ihres Kor- auch die Lichtgebung die maskulinen Züge setts aufknüpft. Und der Zuschauer er- von Jovovichs Gesicht von Szene zu Sze- kennt eine Frau, die sich trotz ihrer Ju- ne immer mehr. So erzählt der Film von gendlichkeit nichts mehr vormacht. einem Rückzugsgefecht der Weiblichkeit. „Nachdem ich bewiesen habe, dass „Ich könnte im Film auch ein 15-jähriger ich nicht toll aussehen muss, um auf Junge sein“, sagt sie. „Ich habe keine der Leinwand zu überzeugen, brauche großen Brüste, bin nicht Pamela Ander- ich meine Schönheit auch nicht mehr son. Um die Zuschauer zu überzeugen, länger zu verbergen. Nun kann ich end- dass ich nicht nur schön aussehe, sondern lich Frauen wie Alice in ‚Resident Evil‘ auch spielen kann, musste ich sie total spielen, die sehr sexy und verführerisch überraschen. Also habe ich mir Rollen aus- wirken. In ‚No Good Deed‘, meinem neu- gesucht, in denen sie mich nicht erwarte- esten Film, spiele ich sogar eine Femme ten. Sie kannten mich aus Hochglanzma- fatale, die allen Männern den Kopf ver- gazinen – und sahen mich auf der Lein- dreht.“ Na ja – das hat sie schon ziemlich wand plötzlich in irgendeinem Dreckloch.“ oft getan. Lars-Olav Beier

202 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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Werbeseite Kultur

DENKMALDEBATTE Vom Gedenken überfordert Der Streit um ein neues Monument für Rosa Luxemburg wird heftiger: Die Idee, das von den Nazis geschleifte Ehrenmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – ein Werk von Mies van der Rohe – zu rekonstruieren, bringt die PDS-Kulturpolitiker in Verlegenheit. Von Walter Grasskamp

Grasskamp, 51, lehrt an der schen Revolution beigesetzt Münchner Kunstakademie worden sind. Aber offenbar Kunstgeschichte und veröf- war das Mies-Monument ab- fentlichte zuletzt „Konsum- strakt genug, dass es vielen glück – Die Ware Erlösung“ vieles sagte und Hans-Ernst (2000). Mittig es 1969 als Meilenstein in der „Entstehung des unge- er lebendige deutsche genständlichen Denkmals“ Denkmalkult hat ein betrachten konnte. Dneues Thema: In Ber- Zusammen mit dem expres- lin haben SPD und PDS die siv zackigen Beton-„Denkmal Errichtung eines Denkmals für die Märzgefallenen“, das für Rosa Luxemburg auf dem Walter Gropius bereits 1921 für gleichnamigen Platz verein- Weimar entworfen hatte, war bart. Und der angesehene das Werk von Mies ein früher Kunsthistoriker Werner Hof- Höhepunkt in diesem immer mann hat in der „FAZ“ ein noch kontroversen Experi- geistreiches Plädoyer für den ment: Kann die abstrakte Wiederaufbau jenes Denk- Kunst die traditionelle Auf- mals gehalten, das Ludwig gabe des Denkmals, die Ver- Mies van der Rohe 1926 auf gegenwärtigung des Histori- dem Friedhof Friedrichsfelde schen, angemessen erfüllen? errichtete und das von den Inzwischen sind die Zweifel Nationalsozialisten zerstört eher gewachsen, nachdem wurde. Serra und Eisenman bei ihrem Es war zwar allen sozialis- Berliner „Denkmal für die er- tischen Opfern der Novem- mordeten Juden Europas“ die ber-Revolution von 1918 ge- spartanischen Mittel der Ab- widmet, von denen auch zahl- straktion ins Bombastische ei-

reiche in seinem Umfeld BAUHAUS-ARCHIV ner Materialschlacht gestei- beerdigt lagen, wird aber gern Mies-Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (1926) gert haben. Dagegen wirkt das als eines für Rosa Luxem- Vieldeutige Wucht markante Opus von Mies ge- burg und Karl Liebknecht be- radezu bescheiden. zeichnet. Aber bescheiden war Mies Lohnt es sich, das Denkmal gerade nicht, als er es plante. von Mies van der Rohe wie- Nach Gropius hat er ein wei- der aufzubauen? Ohne Frage teres Beispiel dafür gegeben, war es eine der faszinierends- dass die radikale Moderne die ten Architekturplastiken des Figuration auch aus dem frühen 20. Jahrhunderts. Der Denkmal zu verdrängen ver- mit dunklen Ziegelsteinen mochte. aus Abbruchbeständen und Bis dahin hatte der nach- schwarz angestrichenen Fu- vollziehbare Glaube ge-

gen verblendete Block muss BILDERDIENST / ULLSTEIN HERRMANN herrscht, dass man einer Per- mit rund zwölf Metern Län- Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Lichtenberg* son nur vor einem Stein oder ge, vier Metern Tiefe und Naturstein statt Abstraktion einer Bronze gedenken kön- sechs Metern Höhe überaus ne, der ihre Physiognomie imposant gewirkt haben; die genauen nen sogar die Köpfe einer demonstrieren- wiedergibt, und eines Ereignisses nur dann, Maße sind freilich nicht bekannt. den Menschenmenge erkennen. wenn man es erzählerisch in Figuren dar- Er war von vorspringenden Kuben ge- Ursprünglich hatte man eher an Mau- gestellt fand. So blieben Kriegerdenkmäler prägt, die sich den abstrakten Formexperi- ern gedacht, vor denen Revolutionäre er- auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch menten des De-Stijl-Konstruktivismus ver- schossen worden waren, aber auch an die lange figürlich, während sich die Abstrak- dankten, bei manchen Betrachtern aber Kreml-Mauer, vor der Helden der russi- tion schon auf ihrem Eroberungszug durch auch übereinander gestapelte Särge asso- die Kunst im öffentlichen Raum befand. ziieren ließen. Jüngst wollte ein besonders * Demonstration zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Das Denkmal von Mies ist abstrakt und einfallsreicher Interpret in den Backstei- Karl Liebknecht am 14. Januar 1996. damit unanschaulich, aber durchaus nicht

206 der spiegel 12/2002 unansehnlich. War es schon für den Auf- traggeber, die KPD, eine Provokation, so wirkt die Schleifung durch die Nazis heu- te umso mehr als Skandal, als das inzwi- schen geschulte Auge der disziplinierten Unruhe der Formen durchaus einen ästhe- tischen Mehrwert abgewinnen kann. Dabei hilft übrigens, dass es nicht von Sichtbeton, sondern von heute nostalgisch wirkenden Ziegelsteinen geprägt war, mit denen Mies damals auch im großbürgerli- chen Villenbau arbeitete. Hinter den Zie- geln des Denkmals muss sich allerdings et- was anderes verborgen haben, aber nie- mand scheint genau zu wissen, was. Das ist im Fall von Mies keine Petitesse, hat er doch später stets die Ablesbarkeit der Kon- struktion betont, die hier nun wirklich nicht gegeben war. Aber bedarf die Darstellung von Ge- schichte nicht doch des erzählerischen und damit letztlich des figürlichen Elements? Eisenman und Serra haben das mit ihrem Berliner Holocaust-Mahnmal vehement abgestritten, sind aber dabei künstlerisch letzten Endes gescheitert. Denn ihre Orgie der konzeptuellen Abstraktion, jenes wort- karge Stelen-Feld wird unter dem Druck der Öffentlichkeit nun doch um Figürliches und Narratives ergänzt, und zwar reich- lich, das heißt: Sie ist nicht mehr das, was sie sein möchte. Das erledigt dann ein angegliedertes Me- dienzentrum, womit das Pathos der Ab- straktion an sich unbehelligt bleibt, aber gleich nebenan dementiert wird. Diese Niederlage eines der ehrgeizigsten Projek- te der modernen Kunst hat keiner seiner Befürwor- ter bisher be- merkt, was wohl durch den Respekt vor dem Thema der Mahnstätte zu erklären ist. Schon das Denk- mal von Mies war

JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH ohne Kommentar Kultursenator Flierl vom Gedenken Ehrung für linke Legende überfordert: Auf der düsteren Ver- blendung glänzte ein über zwei Meter gro- ßer Sowjetstern aus Metall, und auf diesem prangten Hammer und Sichel. Auf den Fotografien wirkt dieses Sternzeichen wie ein überdimensionales Ansteck-Emblem, das die wuchtig-dynamische Mauer zur Pinnwand degradiert. Vor allem aber de- mentiert es die Abstraktion durch ein ein- deutiges und inzwischen nur allzu assozia- tionsreiches Propaganda-Signal. In den drei bekannten Entwürfen, die eine deutlich dünnere Mauer zeigen, hat- te Mies den Stern bereits vorgesehen, im letzten sogar mit Hammer und Sichel. Aber warum er sich damit abfand, dass seinem Kubenstapel dieses Emblem vorgeblendet wurde, ist nicht zu verstehen. Dass der

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„provokativ unpolitische Ar- Der Plan ist nur allzu durchsichtig, weil chitekt“ (SPIEGEL 23/1989) beide Parteien etwas davon haben: Die SPD sich mit diesem dominanten borgt sich historisch ein sozialistisches Pro- Lesezeichen identifiziert ha- fil, das sie durch ihre Tagespolitik laufend ben könnte, ist ausgeschlos- gefährden muss; mit der Heroine des pro- sen. Mit dessen Anbringung letarischen Internationalismus kann sie die war aber sein Experiment der neuen Innenstadt-Kathedralen des globali- Abstraktion gescheitert. sierten Kapitalismus symbolisch austarieren. Wie soll man das zwiespäl- Die PDS kann dagegen ihre realsozialis- tige Denkmal nun wieder tische Herkunft nobilitieren: Mit der Lu- aufbauen: Mit oder ohne xemburg hat sie eine der wenigen Grün- Stern? Wer ihn draufklebt, derfiguren des Kommunismus, die nicht zerstört den Charakter eines von ihresgleichen ermordet oder später, in entspannten postmodernen stalinistischer Unterwürfigkeit, den Natio- Historismus, der sich sogar nalsozialisten überlassen wurden, um mit der Rekonstruktion von Machtkämpfe bequem vom Gegner erle- Preußenschlössern anfreun- digen zu lassen. det, und das wäre fast wieder Gern würde man lesen, was der scharf- ein Skandal. Denn Hammer züngigen und unduldsamen Polemikerin und Sichel sind heute ein ge- zu dieser Rolle als rot-rotem Entlastungs- nauso unerträgliches Zeichen phantom eingefallen wäre. Vielleicht hätte wie das mit Recht penibel sie Lessings Vorbehalt „Wir wollen weniger tabuisierte Hakenkreuz. erhoben und fleißiger gelesen sein“ auf das Wie dieses steht der So- Niveau des Denkmalkults gebracht. wjetstern für die rigorose Aus- Dagegen möchte man schon jetzt die sal- beutung von „Menschenma- bungsvollen Formeln nicht lesen, die Kul- terial“ und für Justizwillkür, tursenator Thomas Flierl im Namen der organisierte Folter und Mas- SPD/PDS-Koalition bei der Einweihung senmord, Pogrom und Kon- vortragen wird. Ohne Zweifel werden sie

zentrationslager. Das mag AKG im Zeichen des ebenso sympathischen wie noch nicht so gewesen sein, KPD-Feier am Mies-Denkmal (um 1927): Kampf der Zeichen kurzsichtigen Ausspruchs „Freiheit ist im- als Rosa Luxemburg und Karl mer Freiheit des anders Denkenden“ ste- Liebknecht von deutschen „Freikorps“- baut wurde. Immerhin hatte sich schon hen, mit dem sich die Bürgerrechtsbewe- Soldaten ermordet wurden. Ihren Klas- 1946 die Politprominenz der Ostzone vor gung 1988 in der DDR bemerkbar machte. senkampf konnten sie für vertretbar halten, einem provisorisch mit Pappe und Stoff Damit hatte Rosa Luxemburg 1918, in weil er in der Tat bereits über ein Jahr- verkleideten Gerüst versammelt, das die bewunderungswürdiger Naivität, Presse- hundert lang von beiden Seiten geführt zerstörte Mies-Mauer halbwegs maßstäb- und Versammlungsfreiheit ausgerechnet worden war, bevor er von Marx auch theo- lich, wenn auch auf der Grenze zur Kari- für die russische Revolution in Moskau ge- retisch erklärt wurde. katur imitierte. fordert. Andere Genossen wurden dort Aber jede Unschuldsvermutung für die Darunter befand sich auch Wilhelm später für geringere Provokationen hinge- beiden Protagonisten des kommunistischen Pieck, der schon 1926 bei der Einweihung richtet. Aus seinem Kontext gerissen, kann Programms stünde im Schatten der erwie- des Denkmals gesprochen hatte. Warum der Spruch heute jede Sonntagsrede zie- senen Schuld, die sich unter dem Zeichen sorgte er nun nicht dafür, dass aus dem ren, lässt sich damit doch vernebeln, dass von Hammer und Sichel angesammelt hat; Provisorium eine dauerhafte Rekonstruk- die Probleme der Freiheit ja erst mit dem den Skandal des Mordes überbietet längst tion wurde? Passte die Formensprache der anders Handelnden beginnen. der ungleich größere Skandal der Ver- Mies-Mauer nicht mehr ins Konzept des Vielleicht sollte man sich bei Denkmälern wirklichung des Programms, für das die Sozialistischen Realismus? Oder wollte zu der Lösung bequemen, die in Debatten Ermordeten kämpften. man den Personenkult um um Kunst im öffentlichen Oder soll es, abstrakt, wie es nun mal ist, Rosa Luxemburg und Karl Raum jetzt favorisiert wird: für all das stehen, was der Kommunismus, Liebknecht beenden, den of- die zeitweilige Aufstellung, ebenfalls sehr abstrakt, an Gutem gewollt fenbar auch die Abstraktion die „Intervention“. hat: internationale Solidarität mit den Un- nicht hatte verhindern kön- Um daran zu denken, mit terdrückten der Erde, das Absterben des nen? 1951 stellte man statt- welchen Versprechungen der Staates und die materielle Gleichheit statt dessen in der Nähe der Grä- Kommunismus begann und der Freiheit weniger Privilegierter? ber einen konventionellen in welchem Desaster er en- Dann sollte man das wiedererrichtete Gedenkstein mit der Auf- dete, muss man die Künstler Monument aber gleich unter einen Glas- schrift „Die Toten mahnen jedenfalls nicht ein weiteres sturz stellen. Als „Denkmal für ein Denk- uns“ auf. Mal mit Denkmal-Ambitio- mal“ stünde es dann nicht nur für die all- In der Tat war die Luxem- nen überfordern. Seit langem fällige Musealisierung des öffentlichen burg keine einfache Ahnfrau sorgt ja die Natur dafür, und Raums, sondern auch für die des guten für den Aufbau des „real zwar seit Arthur Koestler sei- Willens. Der postmoderne Historismus existierenden Sozialismus“. nem Roman über die stalinis- würde in Geschichtskitsch umschlagen. Warum ist sie nun für die tischen Schauprozesse den Das ließe sich auch kaum durch die üblich SPD/PDS-Koalition so at- deutschen Titel „Sonnenfins- gewordenen illustrierten Texttafeln ver- traktiv, dass man einen ternis“ gegeben hat. hindern. Künstlerwettbewerb für ihre Wer dieses Buch gelesen

Ungeklärt blieb bis heute, warum das umgehende Verdenkmalung AKG hat, kann seither Sonnenfins- Mies-Denkmal, anders als das von Gro- auf dem Rosa-Luxemburg- Rosa Luxemburg (1914) ternisse nicht mehr nur als Na- pius, zu DDR-Zeiten nicht wieder aufge- Platz ausloben will? Polemisch und naiv turereignisse betrachten. ™

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Fans üble Geldgier und Verrat vor, MUSIKGESCHÄFT etwa weil sie für eine vergangenes Jahr in den Vereinigten Staaten erschie- Primadonna nene Cobain-Biografie Tagebuchauf- zeichnungen ihres Mannes freigegeben hat – zumal diese Notate Kurt Cobain auf Kriegspfad weniger als Rock-Heiligen, denn als selbst ziemlich geltungssüchtigen und Die US-Popdiva Courtney Love geldhungrigen Karrieristen erscheinen lassen**. strengt einen Musterprozess Zudem bemüht sich Love nicht kon- gegen die Plattenindustrie an – ein kurrenzlos um die Verfügungsgewalt Sieg vor Gericht würde auch über das Vermächtnis von Nirvana, die Rechte anderer Künstler stärken. der wichtigsten Rockgruppe der neun- ziger Jahre. Cobains Ex-Kollegen Krist ergesst den Jammer um raubkopier- Novoselic und Dave Grohl wollen te CDs, Musik-Tauschhandel im In- ebenfalls von der Nirvana-Hinterlas- Vternet und den Mangel an neuen senschaft profitieren – und schmähen Stars: Im internationalen Popgeschäft ist Love schon mal als „inkompetente trotz aller Sorgen und ein halbes Jahr nach Primadonna“. den Terroranschlägen in den USA wieder Die Cobain-Witwe genießt längst Partylaune angesagt – ob bei den Grammys den zweifelhaften Ruhm einer moder- in Los Angeles Bob Dylan rockte, Kylie Mi- nen Yoko Ono: Ähnlich wie die John- nogue bei den Brit Awards in London froh- Lennon-Witwe sieht sie sich Vorwürfen gemut ihren Hintern zur Schau stellte oder ausgesetzt, das kostbare Erbe ihres jüngst in Berlin zur Echo-Verleihung großer toten Gatten zu plündern. Sie selbst Show-Glamour beschworen wurde. argumentiert trotzig: „Wenn ich die Als Spielverderberin im neuen Pop- und Sache nicht in die Hand nehme, wer Partyzauber versucht sich derzeit die US- dann?“ Schließlich wache sie „jeden Popsängerin Courtney Love: Mit Hilfe einer Morgen reich auf“ und „kämpfe gern“,

Grundsatzklage gegen den Entertainment- PRESS / ACTION REX FEATURES wie es sich für eine „durchgeknallte konzern Universal Music Group vor Ge- Entertainerin Love: Kuriose Provokationen ehemalige Stripperin und ehemalige richt in Los Angeles will sie die Rechte von Heroinsüchtige“ gehöre. Popkünstlern auf korrekte Abrechnungen Leben geschiedenen Gatten, um rund 3,1 Loves Prozessgegner mussten bereits und Verträge klären lassen – und auch wenn Millionen Dollar an Tantiemen geprellt. kuriose Provokationen erdulden. Als sie der nächste Verhandlungstermin erst für Darüber hinaus will die selbst ernannte der Geffen-Boss für einen Schlichtungs- Juni angesetzt ist, droht die notorisch Pop-Kreuzritterin Love seit Jahrzehnten üb- versuch zum Essen in ein edles Restaurant großmäulige Witwe des legendären Rock- liche Praktiken der Musikindustrie abstellen lud, bestellte Love erst mal für angeblich helden Kurt Cobain schon jetzt mit drasti- lassen. So schließen die großen Musikkon- 12 000 Dollar den teuersten Wein des schen Konsequenzen im Falle eines Sieges. zerne mit ihren Künstlern bis heute nicht Hauses. Anschließend kritzelte sie ihre selten Verträge, die den Musikern von Sei- Forderungen auf eine Serviette: darunter ten der Plattenfirma nur ein bis zwei Alben ein paar Millionen Dollar für ein Musiker- garantieren – umgekehrt wird aber der Fir- altenheim und horrende Tantiemen. ma, zumindest nach US-Recht, eine Option Eine erste, schmerzliche Niederlage auf bis zu sieben Platten garantiert. Love brachte Courtney Love Universal im ver- selbst bemüht sich seit 1999 vergebens, mit gangenen Jahr bei, als sie ein fest einge- ihrer Band aus einem solchen Knebelver- plantes Nirvana-CD-Boxset mit einem trag mit Universal auszusteigen. unveröffentlichten Cobain-Song kurz vor Fällige Tantiemen würden, so Love, oft der Veröffentlichung per gerichtlicher Ver- nur zögerlich an die Musiker weitergeleitet, fügung stoppen ließ. Abrechnungen systematisch zum Nachteil Sollte die aufmüpfige Diva nun auch nur

KEVIN MAZUR / WIREIMAGE.COM der Künstler verschleiert: Ihr einstiger Gat- mit den wichtigsten ihrer Forderungen vor Ehepaar Cobain, Love (1993)* te Kurt Cobain etwa, so berichtet eine Le- Gericht durchkommen, wären die Folgen Um Millionen geprellt? gende, habe aus Geldnot noch in seinem für das Musikgeschäft ähnlich drastisch wie Auto hausen müssen, als das Nirvana-Best- nach dem Prozess, den die Hollywood- „Es geht hier nicht ums Nachbessern“, selleralbum „Nevermind“ mit dem Hit Schauspielerin Olivia de Havilland in den tönt Love, „sondern um die Neudefinition „Smells Like Teen Spirit“ sich bereits hun- vierziger Jahren mit Erfolg gegen die des Verhältnisses zwischen Künstlern und derttausendfach verkauft hatte. großen Filmstudios anstrengte. Industrie.“ Tatsächlich verlangt die Sän- Einerseits setzt sich Courtney Love mit Love, die auch als Schauspielerin schon gerin, die mit ihrer eigenen Truppe Hole ihrer Attacke an die Spitze des Kampfes für erfolgreich war – für ihre Rolle in „Larry selbst Millionen CDs verkauft hat, etwa eine offenbar gerechte Sache. So haben Flynt“ war sie gar für einen Golden Globe Einsicht in die Geschäftsbücher: Sie be- prominente Kollegen wie Alanis Moris- nominiert –, hat sich für ihren großen hauptet, die heute zu Universal gehören- sette, Sheryl Crow, Billy Joel, Beck oder Prozessauftritt schon mal bei Chanel drei de Plattenfirma Geffen habe Nirvana, die No Doubt sich vor dem amerikanischen Kostüme bestellt. Falls sie gewinnt, will sie Band ihres 1994 durch Selbstmord aus dem Kongress oder auf Benefizkonzerten be- aber nicht nur anständig gekleidet vor Ka- reits für eine Stärkung der Künstlerrechte meras und Fotografen treten, sondern hat * Mit Tochter Frances Bean. eingesetzt. gleich noch einen weiteren Wunsch auf der ** Charles R. Cross: „Heavier Than Heaven. A Biography of Kurt Cobain“. Hyperion Books, New York; 400 Seiten; Andererseits ist Courtney Love selbst Liste: „Ich möchte, dass das Gesetz nach 24,95 Dollar. nicht unumstritten. So werfen ihr Nirvana- mir benannt wird.“ Christoph Dallach

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liermittel „Opekta“ an die deutsche Wehr- LEGENDEN macht geliefert und von den Nazis auch Waren bezogen haben; nur den engsten Kratzen am Mitarbeitern war dies bekannt. Ahlers je- doch gelangte in den Besitz eines für Frank kompromittierenden Briefes. Mythos Deshalb habe Frank von 1941 an ver- mutlich nicht nur Schweigegeld an den nie- Wurde der Vater von Anne Frank derländischen Erpresser bezahlt, sondern dessen Firma auch zu günstigen Konditio- wegen Geschäften mit den Nazis nen bedient, so schließt die Biografin aus erpresst und verraten? Eine neue Andeutungen und erzählten Begebenhei- Biografie mit kühnen Thesen wird in ten. Doch die Freundschaft wurde zum töd- den Niederlanden diskutiert. lichen Bündnis, als Ahlers 1944 Pleite ging s geschah vor 58 Jahren: Die Gesta- po spürt die Familie des jüdischen EGewürzhändlers Otto Frank in ei- nem Amsterdamer Hinterhaus auf und ver- schleppt sie nach Auschwitz und Bergen- Belsen. In dem verwüsteten Schlafzimmer des Ehepaars Frank finden Freunde wenig später Tagebuchnotizen, aus denen nach dem Krieg ein Weltbestseller werden soll- te: das berühmte, aufrüttelnde Tagebuch der Frank-Tochter Anne. Das Leben dieses außerordentlich wa- chen und sensiblen Mädchens und seiner Angehörigen wurde inzwischen von ver-

schiedenen Biografen, Drehbuch-Autoren AKG und Historikern untersucht und dargestellt. Vater Frank (M.), Tochter Anne (3. v. r., 1941) Dabei geht es immer wieder um die eine Auf der Spur der Verräter Frage: Wer hat das Versteck der Franks an die Nazis verraten? und das Erpressungsopfer Frank angeblich 1998 überraschte die Österreicherin Me- zu nichts mehr nütze war; deshalb, so die lissa Müller die Weltöffentlichkeit mit der Konstruktion, folgte nun der Verrat. These: Nicht, wie bis dahin allgemein an- Auch nach 1945 soll der Niederländer genommen, der Ladengehilfe aus dem Vor- Ahlers den Kaufmann Frank, der als Ein- derhaus habe der Gestapo den tödlichen ziger der Familie die Konzentrationslager Tipp gegeben, sondern eine niederländische überlebt hatte, noch unter Druck gesetzt Putzfrau. Mindestens so heftig wie diese haben. Gut möglich, dass Frank Angst da- Theorie wurden bis dahin unbekannte No- vor hatte, dass seine heimlichen Geschäf- tizen von Anne Frank diskutiert, mit denen te mit den Nazis nachträglich bekannt wur- Müller belegen konnte, die Ehe der Eltern den und daraufhin die Niederländer ihn sei nicht besonders „liebevoll“ gewesen. der Kollaboration bezichtigen könnten. Im selben Jahr legte die Britin Carol Ann Lees Thesen wurden letzte Woche in Lee ihre Biografie über Anne Frank vor. den Niederlanden heftig diskutiert. Wieder Dieses detaillierte Porträt eines verwöhn- einmal kratzte da jemand am Mythos der ten, pubertierenden Mädchens aus der jü- berühmten Nazi-Opfer aus dem Grachten- dischen Mittelschicht konnte zum Thema haus, die von den Holländern verehrt wer- Verrat nichts Neues beitragen. den. Wieder einmal verfolgte jemand die Das holt die emsig recherchierende Spur der Judenverräter. Vor allem aber: Kunsthistorikerin Lee jetzt nach – mit ei- Biografin Lee rührt an das lange tabuisier- nem biografischen Buch über den Vater te Kapitel der holländischen Kollaboration. Annes, den aus Frankfurt am Main geflo- Doch die Aufregung wird abklingen, wenn henen Kaufmann Otto Frank*. Lee be- nicht bald neues Material auftaucht. Lee, hauptet: Weder der böse Nachbar noch 32, liefert neue Details, kann aber ihre The- die verschwatzte Putzfrau hätten das Ver- sen über die Nazi-Verbindungen des Va- steck verpfiffen, sondern der niederländi- ters und den Verrat durch Ahlers nicht sche Geschäftemacher und Nazi-Spitzel wirklich beweisen. Tonny Ahlers. Der Anne-Frank-Forscher David Bar- Ahlers war bekennender Judenhasser. nouw sagt denn auch: „Ein hübsches Buch, Er habe, schreibt Lee, Vater Frank erpres- eine bisher nie vorgetragene Theorie“, und sen können, weil er angeblich von dessen streicht sogleich allerhöflichst das Verdienst Geschäften mit den Nazis wusste. Über sei- der Kunsthistorikerin heraus: „Sie korri- ne Großhandelsfirma soll Frank das Ge- giert die Vaterfigur Otto Frank, der als Hei- liger verehrt wird, aber wohl nicht immer * Carol Ann Lee: „Het verborgen leven van Otto Frank“. nur rechtschaffen war, sondern ein Mensch Uitgeverij Balans, Amsterdam; 408 Seiten; 22,50 Euro. aus Fleisch und Blut.“ Sylvia Schreiber

218 der spiegel 12/2002 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Günter Grass Im Krebsgang 1 (1) Dona Kujacinski/Peter Kohl Steidl; 18 Euro Hannelore Kohl – Ihr Leben Droemer; 19,90 Euro 2 (3) John Grisham Der Richter 2 (6) Waris Dirie Nomadentochter Heyne; 24 Euro Blanvalet; 21,90 Euro 3 (5) Joanne K. Rowling Harry Potter 3 (2) Bis zur letzten und der Gefangene von Askaban Stunde – Hitlers Sekretärin Carlsen; 15,50 Euro erzählt ihr Leben Claassen; 19 Euro 4 (3) Stephen Hawking 4 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter Das Universum in der Nußschale und der Feuerkelch Hoffmann und Campe; 25,95 Euro Carlsen; 22,50 Euro 5 (7) Jean-Charles Brisard/Guillaume 5 (2) Christa Wolf Leibhaftig Dasquié Die verbotene Wahrheit Luchterhand Literatur; 18 Euro Pendo; 18,90 Euro (13) 6 (6) John Irving Die vierte Hand 6 Katja Kullmann Generation Ally Eichborn; 14,90 Euro Diogenes; 22,90 Euro 7 (4) Peter Scholl-Latour Der Fluch 7 (9) Philip Roth Der menschliche des neuen Jahrtausends Makel Hanser; 24,90 Euro C. Bertelsmann; 22 Euro

8 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter 8 (5) Siba Shakib Nach Afghanistan und die Kammer des Schreckens kommt Gott nur noch zum Weinen C. Bertelsmann; 22 Euro Carlsen; 14,50 Euro 9 (9) Spencer Johnson Die 9 (12) Paulo Coelho Der Alchimist Mäuse-Strategie für Manager Diogenes; 17,90 Euro Ariston; 14,90 Euro

10 (8) Joanne K. Rowling Harry Potter 10 (–) Patricia Clough Hannelore Kohl – und der Stein der Weisen Zwei Leben DVA; 19,90 Euro Carlsen; 14,50 Euro 11 (12) Stefan Aust/Cordt Schnibben (Hg.) 11. September – Geschichte 11 (11) Umberto Eco Baudolino eines Terrorangriffs DVA; 24,90 Euro Hanser; 24,90 Euro 12 (11) Florian Illies Anleitung zum 12 (13) Catherine Millet Das sexuelle Unschuldigsein Argon; 17,50 Euro Leben der Catherine M. 13 (10) Latifa Das verbotene Gesicht Goldmann; 21 Euro Schröder; 18 Euro 14 (8) Kerstin Holzer Elisabeth 13 (10) Kathy Reichs Durch Mark und Mann Borgese Kindler; 22,90 Euro Bein Blessing; 22,90 Euro 15 (–) Susanne Fröhlich/Constanze 14 (14) Elke Heidenreich Der Welt den Kleis Jeder Fisch Rücken Hanser; 15,90 Euro ist schön – wenn er an der Angel 15 (18) Martin Suter Ein perfekter Freund hängt Diogenes; 19,90 Euro W. Krüger; 16,90 Euro 16 (15) Henning Mankell Die Brandmauer Zsolnay; 24,90 Euro Die besten Fangplätze und die leckersten 17 (17) Ildikó von Kürthy Herzsprung Köder: Tipps für die Wunderlich; 16,90 Euro Rasterfahndung nach dem Mann fürs Leben 18 (–) Andrea Camilleri Die Nacht des

einsamen Träumers 16 (17) Donata Elschenbroich Lübbe; 19 Euro Weltwissen der Siebenjährigen Kunstmann; 16,90 Euro 17 (–) Stephen C. Lundin/Harry Paul/ John Christensen Fish! Ueberreuter Wirtschaft; 12,90 Euro Mit sizilianischem Charme löst Commissario 18 (18) Doris Schröder-Köpf/Ingke Montalbano einen Brodersen (Hg.) Der Kanzler verwickelten Mordfall wohnt im Swimmingpool Campus; 19,90 Euro 19 (–) John R. R. Tolkien Der Hobbit 19 (–) Anthony Bourdain Geständnisse Klett-Cotta; 16 Euro eines Küchenchefs Blessing; 23 Euro 20 (16) John R. R. Tolkien Der Herr der 20 (–) Ernst Peter Fischer Ringe (mit Anhängen) Klett-Cotta; 45 Euro Die andere Bildung Ullstein; 24 Euro

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VERHALTEN Der sechste Sinn der Seekühe hnlich wie Fische sind auch Seekühe Ämit einem ausgeklügelten Sensorsystem ausgestattet, das ihnen hilft, sich unter Was- ser zurechtzufinden. Forscher der Universi- ty of Florida haben festgestellt, dass die Meeressäuger feinste Haare am Körper tra- gen, die wie Antennen die Wasserbewe- gungen durch andere Tiere sowie die Strö- mungsverhältnisse im Meer registrieren. Lange war unklar, wie Seekühe sich in trü- ben Gewässern orientieren. Ebenso rätselten

die Wissenschaftler, wie die Tiere es anstel- FOCUS / SPL AGENTUR RUDIGER LEHNEN len, die Strömungen von Ebbe und Flut op- Seekuh im amerikanischen Crystal River timal für die eigene Fortbewegung zu nut- zen. Das Team um den Biologen Roger Reep erklärt dies nun nähern – das Sinnessystem erfasst nur Bewegungen in un- mit der hohen Dichte von Nervenzellen in den Haarbälgen mittelbarer Umgebung der Tiere. Eine Tast-Behaarung am der Seekühe. Diese leiten, so die Tierforscher, alle Signale über gesamten Körper ist bei allen anderen Säugetiergruppen Wasserbewegungen und mögliche Hindernisse ans Gehirn wei- unbekannt. „Bei Katzen, Hunden und den meisten anderen ter. Allerdings versagt der Mechanismus beispielsweise, wenn Säugern“, so Reep, „wachsen solche Haare nur im Schnurr- sich Motorboote mit hoher Geschwindigkeit den Seekühen bartbereich rund ums Maul.“

ALLERGIEN AUTOMOBILE und ein Mini-Computer wertet die Daten aus. Normalerweise, so Impfung gegen Asthma? Promille-TÜV Marple-Horvat, schaut ein Autofah- rer eine Dreiviertelsekunde lang in in Impfstoff aus abgetöteten Bakterien hilft im Wagen eine neue Richtung, bevor er das Eim Tierversuch gegen Asthma, meldet eine Lenkrad bewegt und die gewählte Forschergruppe um den Mediziner Klaus Erb ollte sich die Entwicklung des bri- Richtung tatsächlich einschlägt. Je von der Universität Würzburg im Fachblatt Stischen Forschers Dilwyn Marple- mehr er getrunken hat, desto kürzer „Vaccine“. Die Wissen- Horvat bewähren, werden künftig ist der zeitliche Abstand zwischen schaftler sprühten Mäu- weniger Menschen alkoholisiert Augen- und Handbewegung. Blickt sen tote Exemplare des Auto fahren. Der Physiologe von der der Fahrer weniger als eine Dreivier- Keims Mycobacterium Bristol University hat ein Gerät kon- telsekunde seinem neuen Ziel entge- bovis, der beim Rind struiert, das angeheiterte Fahrer er- gen, löst der neue Apparat laute die Tuberkulose be- kennt: Eine Infrarotkamera verfolgt Geräusche aus, stoppt den laufenden wirkt, in die Nase. Als die Augenbewegungen, ein Sensor Motor und setzt einen Mechanismus sie die Tiere vier und am Lenkrad die Handbewegungen in Gang, der verhindert, dass der acht Wochen später mit Motor wieder anspringt. Asthma auslösenden Bislang existieren ähnli- Substanzen traktierten, che Verfahren in Nord- waren die Mäuse gegen amerika, die Promille-

NIBSC / SPL / AGENTUR FOCUSNIBSC / SPL AGENTUR Atemnot gefeit, ihre getränkte Fahrer schon Mycobacterium bovis Lungen blieben gesund. beim Einsteigen auswei- Der heilsame Effekt sen: In der kanadischen ließ sich auch biochemisch nachweisen: Im Im- Provinz Ontario etwa munsystem war die Konzentration jener Bo- müssen Führerscheinbe- tenstoffe, die sonst Asthmaanfälle begünstigen, sitzer, die wegen Alko- gesenkt worden. Die Befunde sind ein weiterer holdelikten registriert Beleg für die so genannte Hygiene-Hypothese: sind, vor jeder Fahrt in Mangelnder Kontakt zu Keimen macht emp- ein Röhrchen blasen, fänglich für Allergien. Den Umkehrschluss le- das im Innern des Autos gen jetzt die Befunde der Würzburger Forscher verankert ist. Ist die nahe: dass eine Impfung mit Bazillen Asthma Fahne zu stark, lässt

und womöglich andere allergische Krankheiten DESOUZA / SWNS.COM CARL sich der Wagen gar verhütet. Marple-Horvat mit Simulationsgerät nicht erst starten.

der spiegel 12/2002 223 Prisma Wissenschaft · Technik

PFLANZEN Ewige Verführer ann eine bestimmte Kartoffelsorte Kden Menschen dazu bringen, sie in seinen Garten zu pflanzen? Der ame- rikanische Autor und Wissenschafts- journalist Michael Pollan verfolgt in seinem neuen Buch „Die Botanik der Begierde“ die schräge These von der erfolgreichen „Koevolution zwischen Geografischer Pflanzen und Menschen“. Wie Pflanzen Nordpol die Bienen durch Form, Blüte und Duft verführten, so manipulierten sie auch Ausschnitt den Menschen und brächten ihn –

AWI wie die bestäubenden Bienen – dazu, Brønlunds Grav Messungen auf den „Small Islands“ so zu handeln, dass es für die Pflanze Danmarkshavn von Vorteil ist. Essbare Gräser etwa, GEOGRAFIE meint der Autor allen Ernstes, hätten GRÖNLAND es geschafft, dass der Mensch ihnen mehr Platz einräumt als anderen Ge- wächsen. In der Folge verschwanden Entdeckte Inseln Neue Inseln im Packeis ganze Wälder zu Gunsten von Mais- Tobias-Insel rotz intensiver Vermessung aus dem Weltraum ist die und Weizenfeldern. Island Packeis TErde noch immer nicht vollständig kartografiert. Däni- Pflanzen, so die Small Islands sche Wissenschaftler haben jetzt bei der Auswertung von bizarre Hypothese 5 km Satelliten-Radar-Bildern etwa 70 Kilometer nordöstlich von Pollans, setzten ihre Grönland vier bislang unbekannte Inseln im Packeis ent- evolutionären Inter- deckt. „Sie erscheinen sehr stabil, daher können wir mit essen durch, indem recht großer Sicherheit ausschließen, dass es sich um Eisberge handelt“, erklärte sie die Begierden der Projektleiter Johan Mohr. Die vorläufig „Small Islands“ genannten Inseln liegen nur Menschen weckten: acht Kilometer südlich der vor wenigen Jahren entdeckten Tobias-Insel. Nähere nach Süße, Sattheit, Erkundungen durch fluggestützte Laser-Höhenmessungen sind für Mai vorgesehen. Rausch und Schön- Für die Grönländer, die dem Königreich Dänemark per Autonomieabkommen heit. Und ohne dass angeschlossen sind, hat die Entdeckung der neuen Inseln möglicherweise weit der Mensch es merk- reichende Bedeutung: Durch die kleinen Eilande verschiebt sich die Territorial- te, hätten sie sogar grenze des Inuit-Reichs weiter ins Nordpolarmeer hinaus – dorthin, wo auf dem noch seine Vorlieben geprägt: Blumen Meeresboden reiche Bodenschätze vermutet werden. wie die Tulpe, im 17. Jahrhundert in Amsterdam zeitweilig mehr wert als Gold, zementierten für Generationen den Begriff von Schönheit; halluzi- nogene Pflanzen wie Cannabis weckten GESUNDHEIT im Menschen das Bedürfnis nach Rausch. Folgt man den abgedrehten Glimmstängel und Ideen Pollans, erzählt das Erbgut do- mestizierter Pflanzen eine Menge dar- Wackelzahn über, wie sie die Kultur des Menschen beeinflusst haben: Jede Kartoffel „hat igaretten färben Zähne nicht in ihrer DNS eine Abhandlung über Znur eklig braun, sie lassen sie unsere industrielle Nahrungskette ste- auch schneller wackeln. Wer über hen – sowie über unseren Appetit auf längere Zeit täglich mehr als zehn lange, makellos goldgelbe Pommes fri- Zigaretten rauche, warnt Michael tes“. So seltsam und bisweilen grotesk Noack vom Zentrum für Zahnheil- seine vergnüglich aufgeschriebenen kunde der Universität Köln, habe Ideen auch wirken mögen: Ohne Zwei- ein dreimal höheres Parodontose- fel hat Pollan Recht damit, dass vor al-

Risiko als Nichtraucher. Nikotin, PRESS RETNA / ACTION lem jene Arten besonders erfolgreich so Noack, zerstöre das Immun- Raucher sind, die sich gut domestizieren lassen: system der Mundhöhle, verursa- „Für viele Arten bedeutet Tüchtigkeit che tiefere Zahnfleischtaschen und grei- cher auch schlechtere Therapiechancen: heute die Fähigkeit, sich in einer Welt fe den Kieferknochen an. Außerdem ha- Die Wunden nach Parodontitis-Behand- zu behaupten, in der der Mensch zur ben sich Raucher in der Regel auch ihr lungen oder einer Knochenverpflan- mächtigsten evolutionären Kraft gewor- Frühwarnsystem kaputtgequalmt: We- zung heilen schlechter oder gar nicht, den ist.“ der Zahnfleischbluten noch -schmerzen weil durch die vom Nikotin verengten künden ihnen von drohender Parodon- Gefäße weniger Sauerstoff und Nähr- Michael Pollan: „Die Botanik der Begierde“. Claassen titis. Ist sie erst einmal da, haben Rau- stoffe fließen. Verlag, München; 376 Seiten; 19 Euro.

224 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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MEDIZIN Das Ende der Tage Forscher in den USA rühren an etwas, das jahrtausendelang als Urgrund der Weiblichkeit galt: die Menstruation. Sie versuchen, die monatliche Blutung abzuschaffen oder zumindest einzudämmen. Eine zu hohe Anzahl von Zyklen, so die Theorie, könnte Krebs verursachen.

ede Frau kennt diese Geschichtchen menstruieren sie. Ein Siebtel ihres Lebens geht um Dunkelweibliches, den Mond, von roten Spuren auf weißen Hosen als fortpflanzungsfähiger Mensch verbrin- Stirb und Werde. Es gibt kaum einen kör- Joder davon, wie man als ökologisch gen Frauen damit, mehr als 30 Liter wer- perlichen Vorgang, den so viele Mythen bewusster Mensch beim Wandern im Hi- den sie insgesamt dabei los – 70 Milliliter umwehen. Daher müssen Ärzte, die ein- malaja einen Tampon entsorgt. Freundin- perlen monatlich aus ihnen heraus, um- greifen wollen in das Geschehen, das Mil- nen erzählen sich, flüsternd, Missgeschicke gerechnet zwei Esslöffel voll pro Tag. lionen Frauen täglich und seit Menschen- von plötzlich einsetzender Blutung auf der Die Periode ist letztlich die Reaktion des gedenken erleben, sich gefasst machen auf langen Flugreise – oder wie eine Kollegin weiblichen Körpers darauf, dass eine Ei- mehr als eine sachliche Diskussion um eine sich mal in aller Eile im Hotelfahrstuhl zelle nicht befruchtet worden ist (siehe neue Medizin. noch schnell einen Tampon einführte und Grafik). Die Gebärmutterschleimhaut, die Erst recht, wenn sie die Menstruation erst in der Lobby bemerkte, dass eine Ka- schon auf die Einnistung eines Embryos abschaffen wollen – und genau das ist mera das Fahrstuhlinnere überwacht. vorbereitet wurde, löst sich wieder ab; der Plan. Auch unter Frauen gelten solche Anek- die überflüssigen Zellen spült der Körper Viele Frauen entledigen sich schon heu- doten als die peinlichsten aller peinlichen aus der Leibeshöhle heraus. te der Periode wie einer schlechten Ange- Ereignisse überhaupt. Die Menstruation ist Es geht aber bei der Wahrnehmung die- wohnheit: weil es unbequem ist, weil es immer noch ein totales Tabu. ses Zyklus um mehr als rein Körperliches: sie bei Sportwettkämpfen oder den Flit- Dabei haftet dem Periodenblut, nüch- um Fluch, Verbot und Fruchtbarkeit; es terwochen stört, weil einige auch unter tern betrachtet, genauso viel oder wenig Ekliges an wie dem Körpersaft, den die Blutsbrüder Winnetou und Old Shatter- hand tauschten. Und mindestens das weib- liche Geschlecht müsste die Periode als so selbstverständlich empfinden wie Niesen oder Schwitzen – seit Menschengedenken

Ablauf des Menstruationszyklus... HORMONKONZENTRATION Progesteron vermehrt die Wasserein- lagerung in das Gewebe, unterstützt Einnistung und Östrogen Wachstum des Embryos EIER- baut die GEBÄR- STOCK Schleimhaut MUTTER auf

ENTWICKLUNG IM EIERSTOCK Eisprung

... und welche „Seasonale“-Pille Wirkt wie eine herkömmliche Pille, nur dass die Verhütungs- Einnahme einer gleich bleibenden Dosis von Östrogen pillen die und Progesteron über 84 Tage erfolgt: Eine Schwanger- schaft wird hormonell vorgetäuscht, der Eisprung unter- Regel unter- bleibt. Außerdem kann sich die Schleimhaut nicht PHASEN DER GEBÄRMUTTERSCHLEIMHAUT brechen aufbauen. Beim Absetzen des Präparats kommt es zur Hormonabbruchblutung.

Antigestagen-Präparate Das Prinzip ist ähnlich wie bei der Abtreibungspille: Die Einnahme von Antigestagenen ZYKLUSTAG 0 4. 8. 12. 16. 20. 24. 28. 4. blockiert das weibliche Hormon Progesteron. Die Schleimhaut kann sich nicht in funktionelles Menstruation Menstruation Gewebe umwandeln. Ein befruchtetes Ei kann sich nicht einnisten. Die Menstruation bleibt aus. 226 der spiegel 12/2002 nannte Entzugsblutung. Mit Leidens mit verstörenden Beschwerden der echten Periode hat die- wie Endometriose und schmerzhaften und ser Vorgang, biologisch ge- exzessiven Blutungen“ verbrächten. sehen, wenig zu tun. Die Idee, die Periode abzuschaffen, ist Neue Langzeit-Verhüter nicht neu: Schon vor drei Jahren forderten wie etwa Norplant, ein der brasilianische Reproduktionsmedizi- Hormonpäckchen, das un- ners Elsimar Coutinho und sein US-Kolle- ter die Haut gepflanzt wird, ge Sheldon Segal in einem Buch („Ist die oder Depo-Provera, eine Menstruation überflüssig?“) das Ende der Injektion, die drei Monate Regelblutung: „Die unaufhörliche Men- lang wirkt, tun schon gar struation ist unnötig und kann für die Ge- nicht mehr so, als hätten sie sundheit der Frauen schädlich sein. Sie ist noch irgendetwas Natürli- ein nutzloser Blutverlust.“ ches an sich: Sie hemmen Auch in einem Essay in der medizini- nicht nur den Eisprung, schen Fachzeitschrift „Lancet“ hieß es we- sondern auch die Blutung. nig später, die Periode sei meist Schlim- Und schließlich wird es meres, aber „mindestens ein Ärgernis, das bald auch die Pille selbst Planung, teure Vorräte an Sanitärproduk- ganz offiziell als Langzeit- ten und Paracetamol erfordert, um pro Mo- version geben: „Seaso- nat eine Woche Schmutz und Beschwerden nale“. Zwölf Wochen lang zu verhindern“. sollen die Verbraucherin- Ihr Hauptargument leiten die Menses- nen dieses Präparat schlu- feinde unter anderem aus den Feldfor- cken, dann erst, also ein- schungen von Beverly Strassmann bei mal pro Jahreszeit, dürfen den Dogon ab, einer Stammesgesellschaft sie ein paar Tage lang blu- in Mali. ten – auch dies eine Ent- Die Anthropologin fand heraus: Die Pe- zugsblutung. Die klinischen riode ist von der Natur als Ausnahmezu- Studien sollen noch diesen stand im Leben der Frau gedacht, nicht als Monat beendet sein. Falls Regel. „Aus evolutionsbiologischer Sicht sich herausstellen sollte, ist es unnatürlich, Monat für Monat zu blu- dass Frauen die 91-Tage-Pil- ten“, sagt Strassmann. Denn ursprünglich le gut vertragen, könnte sie lebten Frauen kürzer, bekamen jede Men- schon im Spätsommer 2003 ge Kinder und stillten diese. zunächst in den USA auf In der Folge menstruierten sie selten. So den Markt kommen. wie heute noch die Frauen in den meisten Einen völlig neuen An- Ländern Afrikas oder die der australischen satz verfolgen der Biologe Aborigines, die nur rund 160 Zyklen in Robert Brenner vom Ore- ihrem Leben durchleben. Denn im Schnitt gon Regional Primate Re- machen sie sechs Schwangerschaften mit; search Center im Nord- hinzu kommen jahrelange Stillzeiten, in westen der USA und der

BEVERLY STRASSMANN BEVERLY deutsche Mediziner Kristof Menstruationsmaske der Dogon*: Fluch der Fruchtbarkeit Chwalisz, der für die Sche- ring-Tochter Jenapharm Bauchkrämpfen leiden. Wie? Ganz einfach, forscht. Kürzlich erst gelang ihnen, Rhesus- mit der Antibabypille, die in diesem Fall affen am Menstruieren zu hindern. als Lifestyle-Gestalter funktioniert: Mit ihr Sie gaben den Äffinnen zwei verschie- lässt sich die Monatsblutung unterdrücken, dene Antigestagene – Stoffe also, die das indem die sieben pillenfreien Tage über- weibliche Hormon Progesteron blockieren, sprungen und gleich mit der nächsten Mo- das neben dem Östrogen eine wichtige Rol- natsdosis begonnen wird. le beim Zyklus spielt. Der eine Stoff ließ – Die Frauen nehmen die Pille also un- im Gegensatz zur Antibabypille – den Ei- aufhörlich, machen alle paar Monate mal sprung zu, schaltete aber die sonst dazu- eine Pause, bluten dann, um die in der gehörige Blutung aus. Die zweite Variante Zwischenzeit aufgebaute Gebärmutter- stoppte sowohl den Eisprung als auch die schleimhaut abzubauen – und beginnen so- Blutung. Beide Antigestagene verhüten, dann den nächsten Dauerzyklus. indem sie verhindern, dass sich die Ge- Im streng biologischen Sinne hat oh- bärmutterschleimhaut aufbaut, die für eine nehin ein großer Teil der Frauen in den Schwangerschaft notwendig wäre. westlichen Industrienationen längst aufge- Die Regel der kleinen Äffinnen ähnelt hört zu menstruieren – allerdings ohne sich der von Menschen; daher glaubt Brenner, dessen bewusst zu sein: alle, die die Pille dass sich die Ergebnisse übertragen lassen: schlucken. Zwar beginnen sie zu bluten, „Eine verlässliche Methode, die Menstru- wenn sie nach 21 Tagen Hormoneinnah- ation zu unterdrücken, würde die Lebens- me diese für 7 Tage unterbrechen. Aber qualität für Frauen beträchtlich verbes-

dabei handelt es sich nur um eine so ge- sern“, sagt er. Der Forscher sieht darin ARCHIVES ADVERTISING „eine Möglichkeit, all den vielen Frauen Tampon-Werbung aus den vierziger Jahren * Die roten Fasern symbolisieren das Periodenblut. Erleichterung zu verschaffen, die Jahre des Ein Woche Schmutz verhindern

der spiegel 12/2002 227 betreten; es wird von der Gemeinschaft isoliert. Hier geht es ebenso wenig um al- tertümliche Hygienevorschriften wie vor- her bei Aristoteles: Auch ihm galt die Men- struation schon als Beleg für die Schwäche und Unterlegenheit des weiblichen Ge- schlechts. Dem antiken Denker zufolge gelingt nur Männern die Vollendung der inneren Verwandlung von Nahrung in die reinste aller Körperflüssigkeiten – das Sperma. Das Weib hingegen, ein „Mangel- wesen“, sei feucht und kalt, und daher be- komme es gerade mal den ersten Schritt hin, nämlich die Umwandlung in Blut. Wie hartnäckig Fundamentalisten den uralten Tabus immer wieder Leben ein- hauchen, hat die Welt gerade erst wieder

BEVERLY STRASSMANN BEVERLY durch das Testament des World-Trade-Cen- Menstruationshütte der Dogon: Das blutende Weib wird von der Gemeinschaft isoliert ter-Attentäters Mohammed Atta erfahren: Der Fanatiker verbannte Frauen, die ihre denen ebenfalls der Zyklus außer Kraft ge- sind doch viele von ihnen selbst die größ- Periode haben, von seiner Trauerfeier. setzt ist. ten Feindinnen der Regel, die auf Englisch Und die US-Journalistin Natalie Angier, In den industrialisierten Ländern hinge- auch „The Curse“, der Fluch, genannt Autorin eines Buchs über die weibliche gen beginnen die Frauen (wenn überhaupt) wird. Laut einer Emnid-Umfrage würden in Biologie, berichtet, dass es auch heute noch erst spät mit dem Gebären; zudem werden Deutschland 71 von 100 Frauen im gebär- „keine Seltenheit“ sei, dass orthodoxe sie älter und menstruieren häufiger: eine fähigen Alter auf die monatliche Blutung Juden es ablehnen, sich von einer Ärztin Amerikanerin etwa 450-mal im Leben. vorübergehend verzichten wollen, mehr behandeln zu lassen, „da die gute Frau Wer aber zu oft blute, meinen die Peri- als die Hälfte sogar für immer. Doktor schließlich gerade ihre Periode odengegner, erkranke eher an Brust-, Ge- Vielleicht hätten Coutinho, Segal, Bren- haben und sie dadurch noch mehr ver- bärmutter- und Eierstockkrebs. Brustkrebs ner und Strassmann also ein leichtes Spiel unreinigen könnte als die Krankheit, an könnte durch die allmonatlichen Östro- – wenn die Menstruation nicht für viele der sie leiden“. genschübe verursacht werden. Und eben- Frauen durchaus etwas völlig Natürliches Ebenso resistent gegen die moderne falls Monat für Monat teilen sich eifrigst die oder gar Kostbares bedeuten würde, das es Wissenschaft erweisen sich Beobachtun- Zellen der Gebärmutterschleimhaut, klei- gen wie die des römischen Schrift- den wieder und wieder das Organ mit ei- stellers Plinius im ersten Jahrhun- ner dicken Wand aus. Je mehr Zellteilun- dert nach Christus. Er schrieb der gen, so die Theorie, desto höher sei die menstruierenden Frau Hexenkraft Wahrscheinlichkeit, dass dabei Zellen be- zu: Mit ihr zu schlafen bedeute für ginnen, sich unkontrolliert zu vermehren – einen Mann „Krankheit und Ge- und ein Krebs entsteht. fahr“. Allein „durch die Kraft ihrer Tatsächlich senkt die Pille das Risiko, Augen“ säuere sie den Wein, lasse diese Krebsarten zu bekommen, um 40 Eisen rosten und Früchte verdor- Prozent, indem sie den Eisprung und damit ren. Und noch heute erzählen Tan- indirekt die Zellteilung in der Gebärmut- ten und Großmütter den Mädchen, terschleimhaut unterdrückt. Umgekehrt dass Mayonnaise während der Peri- haben Nonnen, die ja weder die Pille ode nicht gelinge und eingekochte

schlucken noch ihren Zyklus je durch / SAXPIX.COM ANDREW SACKS Marmelade schimmlig werde. Schwangerschaft oder Stillzeit unterbre- Anthropologin Strassmann: Unnatürliche Blutung Vor diesem Hintergrund klingen chen, ein höheres Risiko, an Unterleibs- die Argumente der „Lancet“-Au- krebs zu erkranken, als andere Frauen. zu erhalten gilt. Die Periode ist keinesfalls torinnen seltsam vertraut, wenn sie den Laut Coutinhos und Segals Anti-Men- für alle ein lästiges Übel. Für viele ist sie Monatszyklus einer Krankheit gleichset- ses-Schrift machen zudem Zyklusprobleme Urgrund von Weiblichkeit, ein Monat für zen, die dauerbehandelt werden müsse die Hälfte aller Beschwerden aus, derent- Monat aufs Neue angetretener Beweis, dass „wie Bluthochdruck“ oder bestimmte wegen Frauen eine Gynäkologin konsul- es das Weib allein ist, das über Fruchtbar- Prostataleiden beim Mann. tieren. Eine Studie bei Texas Instruments keit und Fortpflanzung entscheidet – es Andere Forscher glauben, durch das will gar ergeben haben, dass die Produkti- muss keine Mystikerin sein, Mondanbete- ständige Beschwören der Menstruations- vität von Frauen während ihrer Periode rin oder Anhängerin dunkler Göttinnen, leiden würden diese erst gefördert: Wer um ein Viertel nachließ. wer die Blutung als positiv empfindet. litte nicht an etwas, von dem ihm von Be- Unter anderem mit Hilfe solcher öko- Für solche Frauen liegt es nahe, in Ver- ginn an erzählt wird, es sei eine Krankheit nomischer Argumente fordert der britische suchen, die Periode abzuschaffen, eine und das Peinlichste und Ekligste, was eine „Lancet“, dass die Regel wie jeder andere Fortführung früherer Anstrengungen des Frau durchs Leben begleitet? zwar „natürlich vorkommende, aber oft Patriarchats zu sehen, allzu bedrohlich Die zyklischen Stimmungsschwankun- unerwünschte Umstand“ betrachtet wer- Weibliches mindestens zu kontrollieren, gen jedenfalls, die angeblich durch die den sollte. Dies würde den Frauen ein am besten aber aus der Gesellschaft zu ver- weibliche Periode ausgelöst werden, sind „glücklicheres, unbeschwerteres Leben“ bannen. Tatsächlich haben solche Versuche auch Männern nicht unbekannt. Eine psy- bringen und überhaupt „der Gesellschaft eine uralte Tradition. chologische Studie kam zu dem Schluss, insgesamt helfen“. Geht es ums blutende Weib, sind sich dass ihre Psyche sogar stärkeren Wechsel- Viele Frauen werden den Befunden der Christen, Muslime und Juden jedenfalls ei- bädern unterliegt – und das ganz ohne Mo- Menstruationsgegner sicherlich zustimmen, nig: Es ist unrein. Es darf kein Heiligtum natsblutung. Rafaela von Bredow

228 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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STERBEN „Nur auf dem Schein tot“ Der Gerichtsmediziner Alfred Du Chesne über das Risiko, fälschlich für tot erklärt zu werden, den Nutzen von Klingeln im Sarg und Schlamperei beim letzten Dienst des Arztes am Patienten

Du Chesne, 61, lehrt Rechts- nehmen, mindestens 20 bis medizin an der Universität 30 Minuten. Münster. SPIEGEL: Warum dauert die Untersuchung so lange? SPIEGEL: Professor Du Du Chesne: Erst nach einer Chesne, ein Arzt attestierte halben Stunde zeigen sich einer 72-jährigen Senioren- absolut sichere Todeszei- heimbewohnerin aus Mett- chen in Form der Totenfle- mann den Exitus – zu cken. Trägt der Tote Klei- Unrecht. Die Frau erfror der, etwa ein Hemd, kann offenbar erst in der Auf- der Arzt die Flecken auch bahrungskammer des Fried- sehr bequem am unbe- hofs. Jetzt ermittelt der kleideten Nacken erken- Staatsanwalt. Wie kann so nen. Wenn er darauf nicht

etwas passieren? / ZEITENSPIEGEL SCHULTZE FRANK achtet, ist das eine ab- Du Chesne: Menschen kön- Mediziner Du Chesne solute Fehlleistung – ein nen in einen Zustand gera- „Immer kalt und starr“ Kunstfehler, mit dem ten, in dem der Tod nur aber wohl jeder erfahre- sehr schwer festzustellen ist. Sterben ge- ne Rechtsmediziner leider schon mal zu schieht oft nicht von einer Minute auf die tun hatte. andere. Es ist ein Prozess, in dessen Verlauf SPIEGEL: Wie hoch ist denn das Risiko, der Kreislauf extrem schwach sein kann. fälschlich für tot erklärt zu werden? Der Puls ist in der Agonie womöglich Du Chesne: Das ist schwer zu beziffern. Wir kaum zu finden. Die Atempausen können wissen nicht, wie viele Menschen, die auf lange dauern, zumindest viele Sekunden. dem Schein schon tot sind, in Wahrheit SPIEGEL: Im Fall der Rentnerin bemerkten noch lebten. Anhand der wenigen doku- die Angestellten des Bestattungsunterneh- mentierten Fälle könnten wir sagen: Es mens etwa zwölf Stunden später beim Ein- kommt in Deutschland vielleicht zehnmal sargen, dass der Leib der alten Dame, die im Jahr vor. Mit dieser Schätzung liegen in der kalten Aufbahrungskammer des wir eher an der unteren Grenze. Friedhofs gelegen hatte, noch warm und SPIEGEL: Könnten all diese Menschen weich war. Hätte nicht auch dem Arzt auf- womöglich noch leben? fallen müssen, dass noch keine Leichen- Du Chesne: Kaum. Die meisten Opfer einer starre eingetreten war? falschen Todesbescheinigung sind ohne- Du Chesne: Nein. Den Beginn der Toten- hin sehr nah am Tod. Wenn ein Patient aus starre spürt man erst nach rund zwei Stun- der Leichenkammer wirklich noch ein- den. Nach sechs Stunden ist sie schon mas- mal in die Klinik kommt, tritt der Tod meis- siv. Nur der Bestatter ist daran gewöhnt, tens nach einigen Stunden oder Tagen ein. dass die Leichen immer kalt und starr sind. Die Fälle, in denen jemand seinen Schein- Wenn das nicht der Fall ist, fährt dem Be- tod dauerhaft überlebt, sind sehr selten. statter natürlich der Schreck in die Glieder. Einen solchen schönen Fall gab es in Frank- Dennoch ist dieser Fall – wie alle Scheintodfälle, die bekannt werden – ein Bei- spiel von schlampiger Lei- chenschau. SPIEGEL: Was hat der Arzt falsch gemacht? Du Chesne: Jeder Arzt muss eine gründliche Untersu- chung durchführen, am besten mit einem EKG, be- vor er den Totenschein aus- stellt. Das haben Notärzte heutzutage auch immer da-

bei. Vor allem muss er sich JOSCHWARTZ.DE Zeit für die Leichenschau Leichenkammer in Mettmann: „Nach Lebenszeichen fahnden“

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Werbeseite Wissenschaft AKG Lazarus-Darstellung*: „Beispiel von schlampiger Leichenschau“ reich. Dort bekam ein Mann 1937 nach ei- Du Chesne: Das wäre eine skandalöse Ver- nem Motorradunfall seinen Totenschein lagerung der Verantwortlichkeit. Die Fest- ausgestellt. Drei Tage lag er in der Lei- stellung des Todes ist eindeutig Sache des chenhalle, danach sogar schon zwei Tage Arztes und erfordert viel Sorgfalt. Die unter der Erde. Er wurde noch einmal aus- Rechtsmedizin als Fach wird aber leider oft gegraben, weil seine Versicherung eine Ex- unterschätzt. In der neuen Ausbildungsver- humierung verlangte. Dabei fiel auf, dass ordnung für Ärzte ist das Thema Leichen- der Tote noch warm war. Er lebte dann schau ausgespart. Dabei gibt es klassische noch ganz munter weitere 24 Jahre. Situationen, in denen rechtsmedizinisch we- SPIEGEL: Eine beunruhigende Geschichte. nig beschlagene Kollegen leicht zu Fehlein- Du Chesne: Wie gesagt, eine Ausnahme. schätzungen kommen: Medikamenten- oder Generell muss man mit solchen Geschich- Alkoholvergiftung, dazu die Leichenschau ten vorsichtig sein. In der Fachwelt wurde an einer ausgekühlten Person. In all diesen lange Zeit ein Fall aus Krakau kolportiert: Fällen sind sämtliche Körperfunktionen auf Ein splitternackter Mann, der nur ein Na- dem absoluten Minimum. Da muss der Arzt mensschildchen am großen Zeh trug, wie es sehr intensiv nach Lebenszeichen fahnden. jeder aus dem Fernsehkrimi von den Lei- Noch immer lehrreich ist der Fall der Min- chen in der Gerichtsmedizin kennt, betrat na Braun aus dem Jahr 1919. Die Kran- eine Kneipe und erschreckte die Gäste zu kenpflegerin hatte im winterlichen Grune- Tode. Der Vorfall ereignete sich wirklich. wald in Selbstmordabsicht Schlafmittel und Sehr viel später habe ich aber aus zuver- Morphium geschluckt. Als sie gefunden lässiger Quelle erfahren, dass es sich dabei wurde, wirkte sie leblos und war bereits nur um eine skurrile Wette handelte. stark unterkühlt. Erst als sich im Leichen- SPIEGEL: Ein ziemlich morbider Humor. schauhaus unter dem Tuch noch was reg- Vielleicht eine Reaktion auf die Urangst, le- te, stellte man fest, dass sich der Leichen- bendig begraben zu werden? beschauer geirrt hatte. Die Frau überlebte. Du Chesne: Ach, heute ist das doch keine SPIEGEL: In Italien werden angeblich Särge Urangst mehr. Viel intensiver haben sich mit Beleuchtung, Klingel und Sauerstoff- die Menschen in der zweiten Hälfte des versorgung angeboten. Eine Lösung für 19. Jahrhunderts mit dem Scheintod be- alle, die sichergehen wollen, nicht lebendig schäftigt. Die lebten offenbar ständig mit begraben zu werden? dieser Furcht. Damals hat sich sogar der Du Chesne: Solche Klingeln waren in Lei- deutsche Reichstag mit dem Phänomen be- chenschauhäusern im 19. Jahrhundert üb- schäftigt, auch viele Künstler und Schrift- lich. In Österreich können Sie meines Wis- steller. Der österreichische Dramatiker Jo- sens nach auch heute noch testamentarisch hann Nestroy verfügte in seinem Testa- verfügen, dass vor dem Ausstellen des To- ment, man möge ihn nach seinem Tod so tenscheins die Schlagadern geöffnet wer- lange aufgebahrt liegen lassen, bis deutli- den müssen. Aber so etwas ist doch bla- che Anzeichen der Fäulnis an ihm festzu- mabel für die Ärzteschaft. stellen wären. Aber damals gab es wohl Am Scheintod ist ja nichts Mystisches. auch häufiger solche Fehlleistungen. Schon Lazarus, den Jesus von den Toten SPIEGEL: Sollten heutzutage nicht auch die erweckt haben soll, könnte einem schlud- Bestatter vorsichtshalber nach den Toten- rigen Arzt zum Opfer gefallen sein. Dabei flecken sehen? ist die gewissenhafte Leichenschau das Letzte, was ein Arzt für seinen Patienten * Gemälde von Tintoretto (um 1550). noch tun kann. Interview: Beate Lakotta

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Schuld daran war die regelmäßig wie- KLIMA derkehrende Klima-Anomalie „El Niño“. Das „Christkind“, wie peruanische Fischer Christkind aus das Naturereignis getauft haben, beginnt mit der langsamen Erwärmung des Ober- flächenwassers in bestimmten Pazifikregio- dem Pazifik nen. Dieser Effekt führt dazu, dass sich die Luftdruckverhältnisse über dem Ozean Kehrt das Klima-Ungeheuer verändern, die Passatwinde einschlafen und sich die Meereszirkulation umkehrt. El Niño zurück? Vor allem die Ist das pazifische Klima-Ungeheuer nach ärmeren Länder fürchten sich einigen Monaten ausgewachsen, bricht vor vor seinen verheerenden Folgen. allem auf der Südhalbkugel das Chaos aus. Jetzt rumort es wieder gewaltig in der uschbrände tobten in Australien, Wetterküche des Pazifiks. Klimaforscher

Feuersbrünste legten Teile des indo- melden deutliche Hinweise auf ein erneu- TATLOW DERMOT Bnesischen Regenwalds in Asche. Auf tes Auftauchen des El-Niño-Phänomens: Buschfeuer in Indonesien (1998) der gegenüberliegenden Seite des Pazifiks „Die wesentlichen Voraussetzungen dafür „Wir waren nicht darauf gefasst“ peitschten Sturmfluten gegen die westli- sind gegeben“, warnte soeben US-Me- chen Gestade Südamerikas. In Peru ließen teorologe Stephen Zebiak auf einem Wis- konstatiert der US-Meteorologe Vernon sintflutartige Regenfälle die Felder der senschaftlerkongress. Kousky. Bauern im Schlamm versinken. In der chi- Die entlang dem Äquator verteilten Ein zunehmend breiter werdender lenischen Atacama-Wüste schwemmten Messbojen der Meteorologen haben in den Warmwasserteppich – Vorbote drohenden Sturzbäche den Boden weg. vergangenen Wochen steigende Wasser- Unheils – schwappt träge wie eine Öllache Rund um den Stillen Ozean gerieten in temperaturen im westlichen und zentralen ostwärts. Schon in den nächsten Wochen, den Wintermonaten 1997/98 die Elemente Pazifik registriert. Und die Instrumente so rechnen Beobachter, werden die gewal- außer Rand und Band. Weltweit starben schlagen immer stärker aus. tigen Warmwassermengen vor den Küsten 22000 Menschen. Sie kamen in Sturmflu- Erwärmt hat sich in den betreffenden Süd- und Mittelamerikas auftauchen und ten und Feuersbrünsten um, sie verhun- Regionen offenbar nicht nur das Ober- dort ab den Sommermonaten für Turbu- gerten, weil die Ernte auf den Feldern ver- flächenwasser; auch in 100 bis 200 Meter lenzen sorgen. darb, oder sie fielen Seuchen zum Opfer, Tiefe ist die Fieberkurve des Ozeans um Ende des Jahres könnte El Niño dann die sich im Gefolge des Wetterdurcheinan- rund vier Grad Celsius gestiegen. „Die wieder mit voller Wucht zuschlagen: Über- ders ausbreiteten. Entwicklung nimmt rasch Fahrt auf“, schwemmungen und Hagelstürme drohen Wettermaschine im Ozean Das El-Niño-Phänomen Viele der Pazifik-Anrainer haben sich bis heute nicht von den Schäden des letz- Normale Klimaentwicklung Heftige Passatwinde trei- El Niño Setzen die Passatwinde aus, ten El Niño erholt. Groß ist bei ihnen die ben warmes Oberflächenwasser nach Westen, bis es schwappt das Warmwasser zurück nach sich vor Asiens Küsten staut. Dort steigen Wolken auf Amerika, verteilt sich über den Pazifik und Furcht vor einer neuen Heimsuchung und regnen ab. Vor der amerikanischen Küste strömt verdrängt das Kaltwasser. Die Folge: Trocken- durch Feuer, Flut, Dürre und Sturm: Ma- kaltes Wasser aus der Tiefe nach. heit in Australien und Südostasien, starke laysia etwa bangt um die für das Land Monsunregen in Regenfälle an der südamerikanischen Küste. wichtige Palmölindustrie. In Thailand, dem Südostasien Aufsteigende feuchtwarme Luft Aufsteigende weltgrößten Reisexporteur, haben amtli-

A feuchtwarme A che Wetterexperten die Bauern bereits vor K K I I Luft R drohender Trockenheit gewarnt. Passatwinde R E E AUSTRALIEN M AUSTRALIEN M Sollte El Niño die Wetterküche auch in A A D D diesem Jahr aufwühlen, würden erneut vor Ü Ü PAZIFIK S S allem die Armen der Welt die Zeche be- Warmes Oberflächenwasser Warmes Oberflächenwasser zahlen. Die Kapriolen von 1997/98 haben Kaltes Tiefenwasser Kaltes Tiefenwasser weltweit Schäden in Höhe von weit über 30 Milliarden Dollar verursacht. Die Hauptlast trugen die weniger entwickelten Länder den süd- und nordamerikanischen West- nicht darauf gefasst“, räumt Latif ein, „dass rund um den Pazifik – die Vereinigten Staa- küsten. Schwere Dürren, die die gewohnten der vermeintliche Jahrhundert-El-Niño ten haben vom Amoklauf der Naturgewal- klimatischen Bedingungen auf den Kopf von 1982/83 schon 15 Jahre später durch ei- ten sogar profitiert. stellen, werden in Australien, Neuseeland nen noch heftigeren Nachfolger übertroffen Zwar richteten auch in Südkalifornien und in weiten Teilen Südostasiens erwartet. werden könnte.“ Stürme und Regenfluten Schäden von ei- Noch ist nicht sicher, ob die Klima-An- Rätselhaft ist, warum die seit mindestens ner Milliarde Dollar an. In den nördlichen omalie ähnlich verheerende Folgen haben 130 000 Jahren nachweisbare Unwetter- Bundesstaaten hingegen sorgten die Kli- wird wie beim letzten Mal. „1997/98 haben Konstellation neuerdings immer häufiger ma-Turbulenzen für Gewinne von 16 Mil- viele Faktoren zusammengewirkt, mit de- und stärker über den Planeten herein- liarden Dollar. nen wir dieses Mal nicht rechnen müssen“, bricht. Liegt es an der mutmaßlich vom Die Erklärung: In dem milden, weitge- erklärt Mojib Latif, Klima-Experte am Menschen verursachten Erwärmung der hend schneefreien El-Niño-Winter schmol- Hamburger Max-Planck-Institut für Me- Erdatmosphäre? Oder sind die Turbu- zen die Kosten fürs Heizen und Schnee- teorologie. lenzen eher auf eine natürliche Schwan- räumen. Und vom Wetter abhängige Wirt- Doch auch damals hatte El Niño alle kung der Sonnenaktivität zurückzuführen? schaftszweige wie das Baugewerbe flo- Prognosen über einen moderaten Verlauf Noch fischen die Klimatologen ziemlich im rierten in der sonst eisigen Jahreszeit. über den Haufen geworfen. „Wir waren Trüben. Günther Stockinger TIERE „Ballett über den Wolken“ Der französische Filmproduzent und Regisseur Jacques Perrin über seinen spektakulären Tierfilm „Nomaden der Lüfte“, die erstaunlichen Leistungen von Zugvögeln und die Kunst, mit Gänsen und Pelikanen zu fliegen

Kanadagänse bei Filmaufnahmen für „Nomaden der Lüfte“ GALATEE FILMS GALATEE

SPIEGEL: Monsieur Perrin, was ist das für darum, die Zuschauer anzuleiten. Meine ein Gefühl, an der Seite einer Kanadagans Jacques Perrin Bilder sollen das Interesse für die Natur zu fliegen? zählt zu den erfolgreichsten Filmschaffen- und das Leben wecken – über den unbe- Perrin: Sie verspüren eine Art Schwindel, den Frankreichs. Für seinen neuen Tierfilm fangenen, liebevollen Blick. Ein Kind lernt nicht wegen der Höhe, sondern aus freu- „Nomaden der Lüfte“, der am 4. April in über Tiere nur etwas, wenn es sie liebt und diger Erregung. Es ist eine überwältigende Deutschland anläuft (Begleitbuch im Gers- mit ihnen spielt. Erfahrung, mitten unter den Vögeln durch tenberg-Verlag), verfolgten Perrin und SPIEGEL: Ihre Vögel fliegen vor den Kulis- die Wolken zu stoßen und die leere Weite sein Team die Flüge von über 40 Vogel- sen des Pariser Eiffelturms, der Wolken- des Himmels vor Augen zu haben. Damit arten und belichteten in drei Jahren 500 kratzer von Manhattan und des Mont- geht ein uralter Traum der Menschheit, die Kilometer Filmmaterial. Ausgeklügelte Saint-Michel an der Küste der Normandie. Sehnsucht des Ikarus nach Freiheit und Kameratechnik und der Einsatz ungewöhn- Hat das denn noch viel mit der Realität Entkommen, in Erfüllung. licher Fluggeräte ermöglichten es den Filme- des Vogelzugs zu tun? SPIEGEL: Wie viele Flugstunden haben Sie machern, viele der Perrin: Ich glaube schon. Es und Ihr Team denn während der Dreh- Tiere erstmals im gibt bestimmte Arten von arbeiten absolviert? Flug aus nächster Wildgänsen, die zu Tausen- Perrin: Ungefähr 15000. Natürlich entsteht Nähe aufzunehmen. den über Paris hinwegflie- am Ende eine gewisse Routine. Trotzdem Mit einem Budget gen. Und ich zeige jenseits bleibt es jedes Mal ein grandioses Erleb- von 27 Millionen der Schönheit ja auch die nis. Mein Freund, der Filmemacher Pierre Euro ist „Nomaden Härte der Natur, die An- Schoendoerffer, der bei manchem Dreh der Lüfte“ einer der strengung des Lebens, die dabei war, sagte zu mir: „Ich habe mich im- teuersten Dokumen- ständige Wachsamkeit. Es

mer gefragt, wie die erste Morgendämme- tarfilme aller Zeiten. FILMS SIMONET / GALATEE MATHIEU gibt keine Ruhe. Das Leben rung der Erde ausgesehen hat. Jetzt weiß Schon 1996 sorgte muss in jedem Augenblick ich es.“ Perrin mit dem Film „Mikrokosmos“ als Na- verdient werden. Einzelne Vögel verenden, SPIEGEL: „Nomaden der Lüfte“ beschreibt turfilmer für Aufsehen. Die Reise in die In- andere werden von Jägern abgeschossen – in betörenden Bildern Vögel in 25 Ländern sektenwelt einer Wiese wurde in Paris mit aber die Schar zieht weiter. dieser Erde und erzeugt dabei eine träu- fünf Césars ausgezeichnet. Auch als SPIEGEL: Wie ist es Ihnen gelungen, den merische, fast poetische Atmosphäre. War- Schauspieler machte sich der heute 60- Tieren so nahe zu kommen? um haben Sie diese für einen Naturfilm Jährige einen Namen. Bereits als Jugend- Perrin: Das klassische Gerät ist das Ultra- ungewöhnliche Form gewählt und fast voll- licher gab Perrin sein Debüt vor der Kame- leichtflugzeug. Der Kameramann sitzt ganz ständig auf erläuternde Texte verzichtet? ra. 1968 spielte er in Constantin Costa- vorn, in einer Schale an der Spitze einer Perrin: Ich wollte einen einmaligen, völlig Gavras Oscar-preisgekröntem Polit-Thriller zwei Meter langen Eisenstange. Dabei untypischen Film drehen. Kommentare „Z“, den er auch produzierte. Zuletzt war schwebt er praktisch frei im Raum. Er muss können die Bilder überdecken und den Be- er in „Pakt der Wölfe“ zu sehen. völlig schwindelfrei sein. Ohne die Vögel ist trachter vereinnahmen. Es ging mir nicht es furchtbar, auf einer solchen Maschine zu

238 der spiegel 12/2002 Werbeseite

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fliegen. Aber die Anwesen- heit der Tiere nimmt einem die Angst. Zusätzlich haben wir Modellhubschrauber, einen motorgetriebenen Fallschirm, Heißluftballons und Lenkdrachen einge- setzt, die es uns ermöglich- ten, sehr nah über den Baumwipfeln zu fliegen. SPIEGEL: War es schwierig, den Vögeln in der Luft zu folgen? Perrin: Oftmals ja. Die Ma- schinen, die wir entwickelt hatten, waren zunächst zu langsam, vor allem für manche Gänse, die über 90 Stundenkilometer schnell fliegen können. Jede Vo- gelart hat ihre eigene Rei- segeschwindigkeit, aber die Tiere können ihren Rhyth- mus leicht ändern. Das hat uns im ersten Jahr der Dreh- arbeiten eine Menge Pro- bleme bereitet. Wir muss- ten unsere Geräte ständig umbauen. SPIEGEL: Fühlten sich die Tiere durch die Anwesen- heit der Menschen gestört? Perrin: Überhaupt nicht, als hätte uns ein heimliches Einverständnis geeint. Die Dreharbeiten am Himmel über der Normandie: „Die Anwesenheit Vögel leiteten uns, wir lei- teten die Vögel, die Tiere und unsere Flug- Perrin: Wir haben die Methoden des Ver- maschinen reagierten in gleicher Weise auf haltensforschers Konrad Lorenz genutzt den Wind, wie in einem Ballett über den und die Küken sofort nach dem Schlüpfen Wolken. In gewisser Weise hatten wir so- auf bestimmte Menschen geprägt. Jeder gar den Eindruck, dass die Vögel mit uns unserer Tierpfleger war für 20 bis 30 Tiere kommunizierten. Wenn sie die Position verantwortlich. Einige der Betreuer haben wechselten, eine Kurve flogen oder plötz- die Vögel sogar zeitweise mit ins Bett ge- lich beschleunigten, empfanden wir so et- nommen. Schließlich folgten die Küken was wie einen Kommentar, einen Wink, ihren Pflegern auf Schritt und Tritt. Auch den sie uns gleichsam gaben. an die Kameras, die Fluggeräte und Moto- SPIEGEL: Und ist immer alles gut gegangen? rengeräusche haben wir die Tiere gewöhnt. Perrin: Das Schicksal war uns gnädig. Wir Nach ungefähr drei Monaten waren die Vö- haben viel Material verloren – ich glaube, gel bereit – sie trippelten vor Ungeduld mit wir hatten sieben Crashs –, aber zum Glück den Füßen, wenn sie sahen, dass ihre Be- gerieten nur ein einziges Mal Menschen in Gefahr. Während Drehaufnahmen in Is- Singschwan, Betreuerin land erwischte eine Welle das Heck einer Küken mit ins Bett genommen zu niedrig fliegenden Maschine, in dem mein Co-Produzent Michel Debats und der Pilot saßen. Sie wurden drei Meter unter Wasser gerissen. Michel versuchte vergeb- lich, seinen Sicherheitsgurt zu öffnen. Das Meer war zwei Grad kalt. Doch dann kam eine Welle, hob beide mitsamt dem Flug- zeug hoch und warf sie auf den Strand, wo alle Vögel hockten und das Schauspiel ver- dutzt beobachteten. Das war knapp. SPIEGEL: Um nahe an die Vögel heranzu- kommen, haben Sie bereits 1998 begon- nen, viele Arten auf Ihrem Landsitz bei Bois-Roger in der Normandie aufzuziehen und an Menschen zu gewöhnen. Wie funk-

tioniert das? FILMS GALATEE

240 der spiegel 12/2002 SPIEGEL: Sie haben sich die Hilfe vieler Experten für Ihren Film gesichert. Konn- ten die Forscher Neues über den Vogelzug lernen? Perrin: Jedenfalls fanden sie durch die Aufnahmen vie- les bestätigt. Viele der Ar- ten, die wir gefilmt haben, wurden in der Normandie erstmals auf Menschen ge- prägt. Dabei gab es einige neue Entdeckungen, etwa, dass die Methode bei Peli- kanen auch funktioniert. Auch haben die Forscher mehr über die Energie- ersparnis der Vögel im Formationsflug erfahren, gleichsam über deren Treibstoffverbrauch. Es ist tatsächlich so, dass die Vö- gel in der V-Formation we- sentlich weniger Kraft auf- wenden müssen. SPIEGEL: Wie wirkten die Vögel während des Flugs? Fliegen sie mit Leichtigkeit oder leisten sie harte Arbeit wie Superathleten? Perrin: Es sieht mühelos aus, was die Vögel im Flug tun – steigen, schweben,

MATHIEU SIMONET / GALATEE FILMS SIMONET / GALATEE MATHIEU abtauchen. Alles ist unge- der Tiere nimmt einem die Angst“ heuer eindrucksvoll und von ergreifender Schön- zugspersonen die Ultraleichtflugzeuge heit. Aber dann stellten wir fest, wie er- startklar machten. schöpft sie nach zwei, drei Stunden sind. SPIEGEL: Aber Sie haben sie nicht dressiert? Wir hatten kleine Mikrofone im Nacken Perrin: Sie sind nicht zu Haustieren gewor- einiger Tiere befestigt, um das Geräusch den, sie waren nicht einmal wirklich zahm. des Flügelschlagens aufzunehmen. Da Aber sie suchten und liebten die Nähe zu merkten wir, wie schwer sie atmeten. Sie den Menschen, auf die sie geprägt waren. keuchten sich buchstäblich die Lunge aus Wir hatten in Bois-Roger zeitweise etwa dem Hals. Aber natürlich suchen sie auch 600 Vögel: Gänse, Schwäne, Enten, Stör- die thermischen Aufwinde und lassen sich che, Pelikane … lange treiben. Vor allem der Albatros kann SPIEGEL: … Pelikane in der Normandie? phantastisch segeln, der wird überhaupt Perrin: Ja, einige von ihnen sind sogar im- nicht müde. mer noch in Bois-Roger. Wir sorgen dafür, SPIEGEL: Welche Vogelart hat Sie am meis- dass sie im Winter nicht zu sehr frieren. ten fasziniert? Sonst gibt es keine Probleme. So ein Peli- Perrin: Die Anmut der Singschwäne ist ein- kan wird bis zu 60 Jahre alt. Ich fühle mich fach überwältigend. Sie ziehen wie himm- für die Vögel verantwortlich. Sie können lische Legionen daher, einer präzise hinter bald in einem Naturschutzgebiet im Lan- dem anderen, der Kopf bewegungslos, der guedoc-Roussillon im Süden Frankreichs Hals gestreckt, daran der muskulöse Kör- angesiedelt werden. Aber es gibt auch ein per mit den majestätischen Schwingen. großes Reservat in Kenia, das daran inter- Und sie rufen auf eine ganz charakteristi- essiert wäre, sie aufzunehmen. sche Weise, sie kündigen sich aus großer SPIEGEL: Die Vögel konnten jederzeit da- Ferne an. vonfliegen. Sind Ihnen einige Ihrer Schau- SPIEGEL: Sie haben die Welt mit den Augen spieler während der Dreharbeiten abhan- der Vögel gesehen. Hat sich Ihr Blick auf den gekommen? unseren Planeten dadurch verändert? Perrin: Viele unserer Vögel haben uns ge- Perrin: Der Zug der Vögel lässt uns Wegen legentlich verlassen. Aber fast alle kehrten folgen, die wir nicht kennen. Es gibt noch wieder zurück. Einmal sind uns ungefähr Paradiese auf unserer Erde. Es ist Zeit, sie 15 Ringelgänse auf dem Meer davongeflo- zu schützen. Es gäbe nichts Unmensch- gen. Wir fanden sie zwei Tage später 80 Ki- licheres als eine Welt, in der es nur noch lometer entfernt in einem Sumpfgebiet an Menschen gäbe. der Küste wieder – wie verirrte Kinder. Interview: Philip Bethge, Romain Leick

der spiegel 12/2002 241 Wissenschaft

Raketenstart in Plessezk der Start zweier neuer Forschungssatel- Gerüchte über Ufos liten. Anstelle von Atomsprengköpfen hievt das umgebaute Geschoss die Satelli- mann seine Belehrungen herunter. Selbst ten „Tom“ und „Jerry“ ins All. Bei dem sein Name scheint vertraulich zu sein. deutsch-amerikanischen Forschungsvorha- Dabei wirkt Mirny auf den ersten Blick ben „Grace“ geht es darum, das Schwere- nicht geheimnisvoller als die meisten an- feld der Erde zu erkunden – was unter an- deren russischen Provinzstädtchen: lang derem helfen soll, Veränderungen des gestreckte Wohnblocks aus den Fünfzigern, Meeresspiegels frühzeitig zu erkennen. von deren Wänden der gelbe Putz abblät- „Mit dem Grace-Projekt beginnt der tert; der unvermeidbare, in Stahl gegosse- wirtschaftliche Betrieb in Plessezk“, ne Lenin auf dem Hauptplatz, dessen Hand schwärmt Alexej Parschin, der zuständige kämpferisch gen Himmel weist. Projektleiter bei Chrunitschew. Natürlich Doch Mirny, die Friedliche, ist militäri- sei es anfangs schwer gewesen, „bei so vie- sches Sperrgebiet – eine der wenigen noch len verschiedenen Partnern eine gemein- immer geschlossenen Städte der ehemali- same Sprache zu finden. Aber inzwischen gen Sowjetunion. Die Abschottung hat mit habe ich großes Vergnügen daran“. der Anlage zu tun, die eine knappe Auto- Vor allem geht es den Russen darum, stunde entfernt liegt: das Kosmodrom Ples- westliches Kapital anzulocken. Ausländi- sezk, der einzige Weltraumbahnhof Euro- sche Kunden sollen deshalb in Zukunft pas – und der am meisten genutzte Rake- häufiger zu Gast sein in Plessezk. Eurockot tenstartplatz der Welt. hat bereits vier weitere Starts in den Auf- Unter dem Namen „Objekt Angara“ be- tragsbüchern vorgemerkt. gannen die Sowjets im Januar 1957 mit Die Astrium-Millionen scheinen deshalb dem Aufbau des Start- und Testareals für gut angelegt. Das Geld wurde verwendet, ballistische Interkontinentalraketen; paral- um eine Startrampe und das Flugkontroll- lel dazu entstand die Armeestadt Mirny. zentrum in Mirny zu modernisieren, Ho- Der Ort war wie geschaffen, um eine der telzimmer nach westlichem Standard her- geheimsten Militäranlagen des Landes zu zurichten und um einen Reinraum zu bau- verstecken: Ringsherum erstrecken sich die en, in dem die teuren Satelliten montiert schier unendlichen Wälder der Taiga. und vor ihrem Flug getestet werden. Jede Der Feuerschein der aufsteigenden Ra- Leitung, jeder Stecker und sogar Schrau- keten gab den wenigen Siedlern in der bendreher stammen aus dem Westen. Umgebung genug Stoff für Gerüchte über So viel fremder Einfluss scheint selbst Ufos und die Landung von Außerirdischen. jüngeren Vertretern der in Plessezk statio-

UNIVERSITY OF TEXAS UNIVERSITY Was sich tatsächlich im hohen Norden ver- nierten Weltraumstreitkräfte gegen den barg, erfahren die Einheimischen erst ein Strich zu gehen. Sie fürchten den Verlust Vierteljahrhundert später aus der Partei- von Macht und Einfluss. Das Unbehagen RAUMFAHRT zeitung „Prawda“. darüber äußert sich im brüsken Auftreten. Doch in den vergangenen Jahren öffne- „Das ist nicht relevant für unsere Ar- Geheimnis ten die Weltraumstreitkräfte ihr 1800 Qua- beit“, wischt Startplatz-Leiter Andrej Ma- dratkilometer großes Gelände für zivile Mis- tios alle Fragen nach Größe, Gewicht oder sionen aus dem Westen. Rund 2000 Satelli- Kosten der modernisierten Startrampe bei- in der Taiga ten, mehr als die Hälfte aller jemals weltweit seite. Das etwa 50 Meter hohe Ungetüm gestarteten Erdtrabanten, sind seither von aus Stahl sieht aus wie ein überdimensio- Erstmals öffnet Russland seinen Plessezk aus ins All geschossen worden. nierter Industriespeicher und wurde kom- Nun soll endgültig eine neue Zeit an- plett überholt und aufgerüstet. abgeschotteten Weltraumbahnhof brechen. Erstmals beteiligen die Russen ei- Frisch renoviert sind auch Teile des Be- Plessezk. Noch immer ist die nen ausländischen Partner an ihrem Welt- obachtungsbunkers am Rande der Start- Anlage militärisches Sperrgebiet. raumbahnhof: Der Astrium-Konzern gab anlage. Im sechs Meter unter der Erde lie- 40 Millionen Euro, um Teile der maroden genden Unterstand zeigt Oberstleutnant irny“ heißt „friedlich“ und ist der Anlage zu modernisieren. Für die gemein- Matios widerstrebend die Räume „für aus- Name eines Städtchens knapp un- same Vermarktung von Satellitenstarts ländische Kunden und Auftraggeber“: zwei Mterhalb des Polarkreises. Über ei- gründeten Astrium und das russische Welt- Holztische, vier Stühle, Anschlüsse für nen Monat lang trieben sich hier deutsche raumunternehmen Chrunitschew zudem Computer und Telefon. Der eigentliche Raumfahrtexperten herum. Viel haben sie die deutsch-russische Fir- Beobachtungsraum liegt von der 40000-Seelen-Siedlung nicht ge- ma „Eurockot“ mit Sitz in zwei Türen weiter; dort sehen: einmal die Hauptstraße hoch und Bremen. FINNLAND Murmansk ist, natürlich, der Zutritt runter, den Plesza-See auf der einen Seite, Die russischen Ingeni- verboten. den Lebensmittelmarkt auf der anderen. eure von Eurockot küm- „Russland war, ist und St. Petersburg Weltraum- Alle weiteren Bereiche von Mirny waren mern sich vor allem dar- bahnhof bleibt eine kosmische ebenso tabu wie jeglicher privater Kontakt um, ehemalige sowjeti- Plessezk Großmacht“ steht in zu den Einwohnern. Für andere Besucher sche SS-19-Interkontinen- Moskau großen Lettern an der Be- aus dem Westen gelten noch viel strenge- talraketen (im Nato-Jar- tonwand am Bunkerein- re Regeln: Das Hotel ohne Begleitung von gon „Stiletto“ genannt) UKRAINE RUSSLAND gang. Unter dem Schrift- Sicherheitskräften verlassen? Aufnahmen für den zivilen Einsatz zug „Russland“ schim- ohne ausdrückliche Erlaubnis? Fotografie- umzurüsten. Auf den ver- 500km mert noch das überpinsel- ren aus dem Hotelzimmer oder Autofens- gangenen Samstag war te Wort „Sowjetunion“ ter? „Alles verboten“, leiert ein Haupt- die Premiere terminiert: KASACHSTAN durch. Irina Schedrowa

242 der spiegel 12/2002 infach klangen seine Sätze, so schichte entrinnen kann. Warum sollte Hotels waren ausgebucht. Doch rasch einfach, dass viele denken konn- man dann nicht lieber produktiv in sie wurde ihm der Ort, dessen akademi- Eten: Das würde ich auch sagen. eintauchen, wie es die Partner in ei- sche Devise „Dem lebendigen Geist“ „Leben besteht darin, dass Zukunft nem guten Gespräch tun? lautet, zur intellektuellen Heimat. zunächst ein riesiger offener Horizont „Hermeneutik“ (wörtlich: Ausle- In dem abgeklärten, grundgelehrten ist, der langsam dahinschmilzt“, laute- gungskunst) nannte Gadamer im An- Buch „Wahrheit und Methode“ fasste te so ein Satz. Oder: „Erziehung ist sich schluss an Theologen und Philologen er 1960 seine Lehre zusammen: „Sein, erziehen, Bildung ist sich bilden.“ diese Haltung, mit der er nicht nur die das verstanden werden kann, ist Spra- Oder: „Wenn ein Mensch glücklich ist, Schriften großer Denker, sondern auch che.“ Eine allein selig machende Me- dann ist er für alles da.“ Gedichte und Kunstwerke deutete. Sich thode, der Wahrheit auf die Spur zu Langsam und deutlich erklangen sol- sorgfältig auf einen Wortlaut einlassen, kommen, könne es gar nicht geben. che Sätze, und Vorträge hielt er am ohne ihn vorschnell kritisch auseinan- Hermeneutik, ergänzte er gern, sei stets liebsten ganz ohne Manu- auch „die Kunst, Unrecht skript. Das sei gewiss le- haben zu können“, indem bendiger, versprach der NACHRUF man von der Überlieferung Philosoph seinen Zuhörern. oder von seinen Mitmen- Er musste es ja wissen: schen lernt. Ein Leben lang hatte er Hans-Georg Gadamer Genau das lebte er vor: sich immer wieder mit Pla- Im unbefangenen Ge- ton und seinen Dialogen 1900 bis 2002 spräch mit Kollegen und beschäftigt, in denen auch Studenten, am Katheder – über die schwierigsten Fra- mehr noch im kleinen gen mit heiterem Scharf- Kreis, beim Mokka daheim sinn nachgedacht wird. oder beim Weißwein in der Schon als Student in Bres- Gastwirtschaft. lau und Marburg war der Selbst in den USA, wo- Großbürgersohn fasziniert hin er als Doyen der euro- gewesen von der souverä- päischen Philosophie gern nen Menschlichkeit dieses zu Gastvorträgen einge- Denkens, das verstehen laden wurde, wirkten sein will und Wahrheit sucht, pädagogischer Eros, sei- ohne dabei zu vergessen, ne nachdenkliche Neugier dass Begriffe etwas Offenes überwältigend. Richard behalten müssen, wenn sie Rorty, linksliberaler Gada- lebensnah bleiben sollen. mer-Schüler aus Über- Selbst als er in Marburg zeugung, erlebte den Eme- 1923 den jungen Martin ritus in fröhlicher Runde Heidegger traf, war ihm bei nach einem Vortrag in aller Begeisterung schnell Princeton: klar: Die Gesprächskunst „Obwohl der Wein, den Platons lag diesem philoso- ich damals kredenzte, nicht phischen Feuerkopf ferner, sonderlich gut war, leerte als er wohl selbst wusste. er ein Glas nach dem an- „Es gab Leute, die mit deren, womit er die Stu- Heidegger gut reden konn- denten anregte, desglei-

ten, ich gehörte nicht zu ih- PRESS / SIPA SELDERS chen zu tun. Um halb elf nen, ich konnte nur von musste ich hinauseilen, um ihm lernen“, resümierte noch eine Kiste zu kaufen. Gadamer Jahrzehnte später. Viel lern- der zu nehmen, Verständnis über alle Um zwei Uhr redete Gadamer immer te er von dem Mann, der die – damals Schubladen-Wissenschaft hinaus – dar- noch fröhlich, als sich der letzte Stu- noch lebendige – Erkenntniskritik in um ging es ihm. dent torkelnd auf den Heimweg mach- der Nachfolge Kants zugleich be- Es machte den unbeirrbar höflichen te. Der Vergleich mit Sokrates am Ende herrschte und überwand. „Alles ande- Gentleman über alle Parteiungen und des Platonischen ,Symposions‘ ist zwar re war langweilig. Punkt.“ Doch das Zeitbrüche hinweg zur Vertrauens- abgeschmackt, aber unvermeidlich Buch, mit dem er selbst zur Professur person: Seit 1939 Professor in Leipzig, nahe liegend.“ aufrückte, hieß „Platos dialektische setzte er sich für Regimegegner wie den Bis zuletzt hat Gadamer, ein deut- Ethik“ (1931), und je länger er lebte, genialen Romanisten Werner Krauss scher Philosoph ohne Krise, die sokra- desto mehr hat Gadamer aus diesen ein; nach Kriegsende wurde er als tische Zuversicht verkörpert, dass ei- Stichwörtern sein Programm gemacht. Nicht-Parteimitglied sogar Universi- ner, der seinem Urvertrauen in die Welt Während Heidegger „Sein und tätsrektor, bevor er nach einer Zwi- mit Besonnenheit folgt, nicht irregehen Zeit“, die Bedingungen des Daseins, schenstation in Frankfurt am Main 1949 kann. Ein Weltbild zu predigen wäre ganz neu, frei von aller Patina des deut- Nachfolger von Karl Jaspers in Heidel- ihm beschränkt erschienen. Als Weiser schen Idealismus, ergründen wollte, berg wurde. blickte er eben über sich hinaus. Auch war seinem Meisterschüler klar, dass Die erste Nacht dort musste er zwar das hat er ganz einfach gesagt: „Den- auch ein Revolutionär nie der Ge- auf einer Parkbank verbringen – alle ken heißt immer Weiterdenken.“

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Elias, Fax 3026258 Service allgemein: (040) 3007-2700 Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund PARIS Dr. Romain Leick, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) Fax: (040) 3007-3070 von Ilsemann, Reinhard Krumm, Dr. Christian Neef, Roland Schlei- 42561211, Fax 42561972 E-Mail: [email protected] cher, Dr. Stefan Simons, Thilo Thielke. Autoren, Reporter: PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-32, Abonnenten-Service Schweiz Dr. Erich Follath, Claus Christian Malzahn, Carlos Widmann, Erich Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Wiedemann PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24221524, Fax 24220138 DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Stampf. Redaktion: Philip Bethge, Jörg Blech, Rafaela von Bredow, Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) E-Mail: [email protected] Manfred Dworschak, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar 22751204, Fax 25426583 Abonnement für Blinde Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, Gerald Traufetter, Christian Wüst. Autor: Dr. Hans Halter ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. 6797522, Fax 6797768 KULTUR Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela SAN FRANCISCO Marco Evers (Wissenschaft), 3782 Cesar Chavez E-Mail: [email protected] Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530; Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Kronsbein, Reinhard Mohr, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, Michaela Schießl (Wirtschaft), 43 Hancock Street, San Francisco, CA 94114, Tel. (001415) 8613002, Fax 8614667 Frankfurt am Main Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter: SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Ariane Barth, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe Tel. (0065) 64677120, Fax 64675012 E-Mail: [email protected] GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Abonnementspreise tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Dirk Kurbjuweit, Inland: zwölf Monate ¤ 133,12 WARSCHAU Ul. Chopina 5 b m. 24, 00-559 Warszawa, Tel. (004822) Alexander Smoltczyk, Barbara Supp 6216158, Fax 6218672 Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 93,18 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 SONDERPUBLIKATIONEN Horst Beckmann, Manfred Schnieden- Europa: zwölf Monate ¤ 188,76 WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 266,24 harn, Kirsten Wiedner PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina 5331732, Fax 5331732-10 Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Stegelmann ZÜRICH Jan Dirk Herbermann, Postfach 3108, 8021 Zürich, Tel. werden anteilig berechnet. (00411) 3508763, Fax 3508762 HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt ✂ CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Abonnementsbestellung Holger Wolters (stellv.) 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Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für ¤ 2,56 pro BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper- Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Michael König, Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Kraus- Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Matthias Krug, Anke Wellnitz; Josef Csallos, Torsten Feldstein, Peter pe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Ulrich monatliche Programm-Magazin. Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Monika Rick, Sabine Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwalfenberg, Karin Meier, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Weinberg. E-Mail: [email protected] Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Hefte bekomme ich zurück. GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Renata Biendarra, Ludger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Axel Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Julia Saur, Michael Walter Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlü- LAYOUT Wolfgang Busching, Rainer Sennewald, Ralf Geilhufe; ter-Ahrens, Ekkehard Schmidt, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Katrin Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Pe- Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer tra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Name, Vorname des neuen Abonnenten Wilhelm, Reinhilde Wurst Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen PRODUKTION Sabine Bodenhagen, Frank Schumann, Christiane Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Monika Zucht REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND LESER-SERVICE Catherine Stockinger BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington PLZ, Ort Tel. 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244 der spiegel 12/2002 Chronik 9. bis 15. März SPIEGEL TV

SAMSTAG, 9. 3. Lake City ausgeschlossen. Zwei Gold- MONTAG. 18.3. medaillen werden ihm aberkannt. 23.15 – 23.55 UHR SAT.1 FELDHOCKEY Die deutschen Herren wer- den mit einem 2:1-Finalsieg über Austra- WETTER Niederlage für den staatlichen SPIEGEL TV REPORTAGE lien in Kuala Lumpur zum ersten Mal Deutschen Wetterdienst (DWD): Die Vor- Wenn die wilden Schweine kommen – Weltmeister. hersage nach den „Tagesthemen“ wech- auf dem Marsch in die Städte selt zum privaten Konkurrenten Jörg Sie verwüsten die Vorgärten von Villen- FERNSEHEN Nach monatelangen Quere- Kachelmann. ARD-Vorsitzender Fritz len wählt der Fernsehrat des ZDF einen vierteln, durchpflügen Parkanlagen, be- Pleitgen begründet diese Entscheidung drohen Hunde und neuen Intendanten: den parteilosen Pro- mit Kachelmanns besseren Prognosen. grammdirektor Markus Schächter, 52. Spaziergänger: Im- mer mehr Wild- SACHSEN Der sächsische CDU-Landes- MITTWOCH, 13. 3. schweine zieht es vorsitzende Georg Milbradt wird auf LEITKULTUR Eine zum Islam übergetretene in die Stadt. Be- einem Sonderparteitag in Dresden als Lehrerin, die aus religiösen Gründen nur sonders Wolfsburg Nachfolger des Ministerpräsidenten Kurt mit Kopftuch unterrichten will, wird wird von einer Biedenkopf nominiert. nicht in den niedersächsischen Schul- wahren Invasion dienst übernommen. So entscheidet das heimgesucht. Jetzt SONNTAG, 10. 3. Oberverwaltungsgericht Lüneburg. holt man dort

zum Gegenschlag SPIEGEL TV VERGELTUNG Israelische Kampfhubschrau- aus. Wildschwein ber zerstören in Gaza-Stadt das Haupt- DONNERSTAG, 14. 3. quartier von Palästinenser-Präsident Jas- SPENDENAFFÄRE II Die Staatsanwaltschaft DONNERSTAG, 21.3. sir Arafat. Am Tag zuvor waren mindes- durchsucht Wohnung und Büro des Wup- 22.00 – 22.55 UHR VOX tens 13 Israelis bei Terroranschlägen ums pertaler Oberbürgermeisters Hans Kre- Leben gekommen. mendahl (SPD). Er steht im Verdacht, SPIEGEL TV EXTRA eine Spende in Höhe von einer halben MONTAG, 11. 3. Unter Dampf – Saunakult in Deutschland Million Mark falsch deklariert zu haben. Zehn Millionen Bundesbürger saunieren SPENDENAFFÄRE I Der Vorsitzende der UNGLÜCK Ein Rettungshubschrauber regelmäßig. Was ist das Geheimnis des SPD in Recklinghausen, Peter Rausch, der Bundeswehr stürzt in Hamburg ab. kollektiven Schwitzens? Über Menschen, tritt von seinem Amt zurück. Die Staats- Die fünf Insassen sterben. Aufgüsse und Gespräche in Luxusbädern anwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen und Bausatzsaunen. des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit BALKAN Der jugoslawische Staatspräsi- und Untreue. dent Ko∆tunica und der montenegrini- FREITAG, 22.3. sche Präsident Djukanoviƒ unterzeichnen 22.00 – 24.00 UHR VOX DIENSTAG, 12. 3. ein Abkommen, nach dem aus Jugosla- wien ein Staatenbündnis „Serbien und SPIEGEL TV THEMENABEND BUNDESWEHR Scharfe Kritik übt der Montenegro“ gebildet werden soll. Wehrbeauftragte Willfried Penner in sei- Ein Leben am Abgrund – wenn die Erde bebt nem Jahresbericht am Zustand der Trup- FREITAG, 15. 3. pe. Auf Grund von Auslandseinsätzen Weltweit fordern sie Tote und berauben Menschen ihrer Existenz. Allein im Jahr fühlten sich die Soldaten überfordert; die FLÜCHTLINGE 25 Nordkoreaner dürfen aus Ausstattung sei schlecht bis mangelhaft. China nach Südkorea ausreisen. Sie wa- 2001 wurden 65 größere Erdbeben regi- ren in die spanische Botschaft geflüchtet. striert, bei denen über 21000 Menschen DOPING Der deutsche Langläufer und ums Leben kamen. Aktivensprecher Thomas Oelsner NAHOST Auf Druck der Amerikaner zieht wird wegen Dopingverdachts von den sich die israelische Armee aus Teilen der SAMSTAG, 23.3. Paralympics im amerikanischen Salt autonomen Pälastinenser-Gebiete zurück. 22.10 – 0.05 UHR VOX

Vor 17 Jahren rührte ihr SPIEGEL TV SPECIAL Bild die Welt; jetzt wurde Die Tatortdetektive – Sharbat Gula in Afghani- Ermittlungen der Kripo Hannover stan wieder aufgespürt. Eine Jugendgang, die einen Minderjäh- rigen mit Messern bedroht haben soll, sexuelle Belästigung, die Klärung eines mysteriösen Schädelfundes – Alltag für den Kriminaldauerdienst in Hannover.

SONNTAG, 24.3. 22.25 – 23.15 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Land unter – warum der Spendenskan- dal am Rhein immer weiter ausufert; Das kalkulierte Inferno – Amerikas neue Planspiele für künftige Atomwaffen- Einsätze; Der Traum von der Unsterb- lichkeit – überleben in der Tiefkühl- kammer? STEVE MCCURRY / NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY IMAGES GEOGRAPHIC / NATIONAL MCCURRY STEVE

245 Register

gestorben Rudolf Hell, 100. Er gilt als Großvater des Faxgerätes, des Scanners und des Winnie Markus, 80. „Was eine Frau im Fernsehers und damit als einer der be- Frühling träumt“ – so hieß einer der rund deutendsten Erfinder des 20. Jahrhun- 50 Filme, in denen die diskrete Blonde mit derts. Seine Entwicklungen halfen, die den hohen Wangenknochen immer wieder globale Kommunika- verkörperte, wovon Männer auch im tion zu beschleunigen Herbst träumen. Sie war die Sentimentale und basieren alle auf und Kapriziöse an der Seite von Film- einem Prinzip: dem größen wie Rudolf Prack oder Curd Jür- Zerlegen von Bildern gens, und auf dem Boulevardtheater wie in einzelne Bildzei- später im Fernsehen stand sie auch ihre len und -punkte. Mit Frau. Franz Kafka lebte noch, als sie im 24 Jahren meldete goldenen Prag geboren wurde, in eine gut- der im bayerischen bürgerliche deutsche Familie; mit 16 zog Eggmühl geborene sie nach Wien, ans Max-Reinhardt-Semi- Doktorand der Inge- nar, debütierte, als nieurwissenschaften

Elfe im „Sommer- sein erstes Patent an, PFEIFFER / DPA HORST nachtstraum“. Mit die „lichtelektroni- dem Krieg kam das sche Bildzerlegerröhre“ – ein Grundstein Kino, drei Filme pro für das Fernsehen. 1929 gründete Hell in Jahr drehte sie zu- Berlin eine eigene Firma und baute nach weilen; bei Kriegsen- seinen Erfahrungen mit der „Bildzerle- de in Berlin erhielt sie gerröhre“ eine „Vorrichtung zur elektroni- einen Schuss ins schen Übertragung von Schriftzeichen“, Knie, aber die Kar- die bald als „Hell-Schreiber“ bekannt wur- riere lief weiter. Sie de – ein Vorläufer heutiger Faxgeräte und hatte zwei Ehemän- Scanner. „Eigentlich“, so der Träger des

ner, die schöne Ho- / AP HANSA VOLKSTHEATER Bundesverdienstkreuzes, „habe ich dem tels besaßen, machte Gutenberg ins Handwerk gepfuscht.“ Ru- zwischendurch 20 Jahre Pause und ging dolf Hell starb am 11. März in Kiel. auch mit 80 noch auf die Bühne. Winnie Markus starb am 8. März in München. Irene Worth, 85. Ihre zahlreichen Vereh- rer waren sich sicher, dass es auch ein James Tobin, 84. Seine Rolle als Säulen- Erlebnis wäre, wenn sie nur das Telefon- heiliger der Globalisierungsgegner war ihm buch vorlesen würde. nie ganz geheuer. „Die missbrauchen mei- Dazu kam es freilich nen Namen“, schimpfte er im Sommer nie in der fast 60 Jah- vergangenen Jahres in einem SPIEGEL- re andauernden Kar- Gespräch. Den Ökonomen ärgerte, dass riere der in Nebraska Globalisierungskritiker die nach ihm be- geborenen Schau- nannte Tobin-Tax, eine Steuer auf Devi- spielerin. Die drei- sengeschäfte, als Wundermittel gegen die mal mit dem Tony- Ungerechtigkeit der Award Ausgezeichne- Weltwirtschaft ver- te (1965, 1976 und kauften. Dabei war es 1991) galt als eine ihm Anfang der sieb- der wandlungsfähigs- ziger Jahre, als er sein ten Darstellerinnen Konzept entwickelte, auf englischsprachi-

nur darum gegangen, gen Bühnen. Sie, die AP Schwankungen von ihre Kunst auch eini- Wechselkursen einzu- ge Male vor der Kamera ausübte, verkör- dämmen. 1981 bekam perte praktisch alle wichtigen Frauenge- Tobin den Nobelpreis stalten der großen Theaterautoren, von

für Wirtschaftswis- PER BREIERMHAGEN Shakespeare und Schiller über Ibsen, senschaften für seine Tschechow und Shaw bis hin zu Beckett. Arbeiten zur so genannten Portfolio-Theo- Sie spielte mit der Royal Shakespeare rie. Sie erklärt, dass Investoren höhere Company in London ebenso erfolgreich Renditen erzielen, wenn sie ihr Geld zwi- wie auf den Broadway-Bühnen in New schen verschiedenen Anlageformen mit York; Schauspieler wie Laurence Olivier unterschiedlichen Risiken streuen, und und Regisseure wie Peter Brook waren ihre welche Auswirkungen das auf die Volks- Weggefährten. „Ein Sänger muss singen, wirtschaft hat. Für Laien übersetzte Tobin ein Tänzer muss tanzen, ein Schauspieler seine Theorie mit den Worten: „Leg deine muss spielen. Es ist wie eine Urgewalt“, Eier niemals nur in einen Korb.“ erklärte sie einmal ihre Leidenschaft für James Tobin starb am 11. März in New Ha- das Theater. Irene Worth starb am 10. März ven (Connecticut). in New York.

246 der spiegel 12/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Cameron Diaz, 29, Holly- Lionel Jospin, 64, französi- wood-Schauspielerin („Die scher Premier und sozialisti- Maske“, „Die Hochzeit meines scher Präsidentschaftskandi- besten Freundes“), schildert, dat, sieht sich einer wilden wie sie zum gesunden Leben Hetzkampagne von rechts aus- fand. Als Erstes schwor sie dem gesetzt. Seit er seinen Haupt- Genuss von Schweinefleisch konkurrenten, den gaullisti- ab. Sie hatte irgendwo gelesen, schen Präsidenten Jacques dass Schweine den Verstand ei- Chirac, 69, als „müde, gealtert nes dreijährigen Kindes be- und abgenutzt“ bezeichnete, säßen. Da habe sie nur noch schlagen dessen Anhänger mit gedacht: „O Gott, das wäre so, allen Mitteln zurück. Bevor- wie wenn ich meine Nichte zugtes Angriffsziel ist Jospins aufäße.“ Dieser Gedanke hat- Vergangenheit. Als Student te weiter reichende Folgen. hatte sich der Sozialist einer Nun verbot sich auch die trotzkistischen Gruppe ange- Einnahme des üblichen Ka- schlossen. Das inspirierte die terfrühstücks, bestehend aus „Studenten mit Chirac“, eine Hamburger mit Speck und Organisation von Jung-Gaullis- Bier. Schließlich verzichtete sie ten, zu einem Manifest, auf auch noch auf Kaffee, auf Rind- dem die Konterfeis von Marx, fleisch sowieso und auf ihre ge- Lenin und Trotzki einen grim- liebten selbst gedrehten Ziga- mig dreinblickenden Jospin retten. Doch ein Schlupfloch einrahmen. „Nein zum trotz- hält sie sich da offen, wie einst kistischen Frankreich“ lautet Ex-Präsident Clinton mit sei- die Schlagzeile. Dem Premier nem Marihuana. Es sei ja nicht werden alle Übel der Republik so, dass „man ständig inhaliert, angelastet, Jugendarbeitslosig- es ist wie eine wunderbare Me- keit, Attentate auf Korsika, Ge- ditation“. Irgendwann mal, da walt an den Schulen. „Das ist

ist sie ganz sicher, werde sie PRESS PRESS / ACTION ZUMA das Frankreich Jospins, will- sich wieder welche drehen. Diaz kommen in Trotzkiland!“, so das Fazit der anonymen Auto- Luc Bondy, 53, hoch dekorierter Schweizer österreichisch“, „nur in Wien denkbar“ und ren. Auch Chirac, nach außen immer auf Regisseur und Intendant der Wiener Fest- zog von dannen. Der attackierte Gauß, Würde und Anstand bedacht, gibt sich wochen, hat sich bereits wenige Wochen Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und nicht länger zimperlich – er prangert Jospin vor Beginn der Theater-Tage eindrucksvoll Kritik“ sowie dekoriert mit dem „Ehren- als „Sektierer“ an, zu Wort gemeldet. Auf einer Veranstaltung preis des österreichischen Buchhandels für dessen Methoden des Wiener Zsolnay Verlags riss er gegen Toleranz in Denken und Handeln“, ver- die „aller Extre- Mitternacht die Regie an sich, indem er das zichtete seiner Natur gemäß auf eine Erwi- mismen und Fa- neueste Buch des Autors Karl-Markus derung mit gleicher Waffe. In „Mit mir, schismen“ seien. Gauß ergriff, in die Runde brüllte: „Wer ohne mich“, seinem zum Wurfgeschoss de- Mehr als zehn Jah- hier ist Gauß?“ und auf die pflichtschuldi- gradierten Buch, ist die Abrechnung mit re nach dem Zu- ge Meldung des Angesprochenen hin den Bondy und die Begründung für dessen sammenbruch des Band in dessen Richtung schleuderte. Ein Wutausbruch bereits enthalten – dort schil- sowjetischen Impe- Glas ging zu Bruch, Bondy brüllte 15 Mi- dert Gauß, wie Bondy, „ein ordenbehäng- riums verspricht nuten lang, er müsse sich das alles nicht ter Laffe des Kulturbetriebs“, aufgebläht Chirac den Endsieg bieten lassen, giftete etwas von „typisch zu einem „Kropf der Selbstzufriedenheit“, über den Sozialis- seine geringe Wertschätzung für die Ver- mus, denn „Frank- leihung des renommierten Nestroy-Preises reich ist dessen in den Satz kleidet, er habe auch schon das letzte Zufluchts- Bundesverdienstkreuz erhalten und er fin- stätte im Europa de es nicht mehr. von heute“. Anti-Jospin-Plakat

Gerhard Schröder, 57, Bundeskanzler, wurde in Hannover einmal mehr an die stil- le Arbeitswut seiner fleißigen Mitarbeiter erinnert. Auf der Cebit hatte der Regie- rungschef einen fotografierenden, E-Mail versendenden Kleincomputer ausprobiert, indem er sich und seine Frau fotografierte und anschließend in seinem Büro anrief, um die Fotos an seine Büro-Chefin Sigrid Krampitz zu mailen. Doch das Vorzimmer weigerte sich, den Anrufer, der keine Rufnummerkennung hatte, durchzustellen. Da wurde Schröder etwas ungeduldig: „Ich bin’s, Gerhard Schröder, jetzt gib mir mal Si- grid.“ Darauf die höfliche Auskunft: „Entschuldigen Sie, Herr Bundeskanzler, Frau Krampitz ist nicht zu erreichen, weil sie im Zug zu Ihnen sitzt und arbeitet.“ Da stubs- te ihn seine Frau, und Chef Schröder entschuldigte sich artig beim Vorzimmer. Schrö-

FRANK OSSENBRINK FRANK der: „Wenn Sigrid wieder erreichbar ist, dann soll sie bitte gleich zum Italiener kom- Ehepaar Schröder auf der Cebit men. Das hat sie sich verdient.“

248 der spiegel 12/2002 Christian Wulff, 42, Spitzenkandidat der haben. Jetzt darf Anda bei „Meidung einer niedersächsischen CDU, findet die Skepsis, Vertragsstrafe“ auch nicht mehr wieder- die dem CDU/CSU-Imageberater Michael holen, wie gegenüber der „Frankfurter All- Spreng, 53, aus der Christenunion entge- gemeinen Sonntagszeitung“ geschehen, für genschlägt, völlig unangebracht. Hatte doch solche „Botendienste stehe er als stellver- Spreng am 1. März 1998, dem Sonntag der tretender Regierungssprecher nicht zur Verfügung“. Was war auf dieser so mysteriös abhanden gekommenen Diskette zu sehen, die nun an der Glaubwür- digkeit des Regierungs- sprechers nagt? Eigent- lich eine Nichtigkeit. Fotograf Beitlich: „Fo- tos, die dem Presseamt nicht genehm waren. Sie zeigen, wie Präsi- dent George W. Bush unserem Kanzler Ger- hard Schröder brüsk den Rücken zuwendet.“

Lauren Bush, 17, Nich-

FRANK OSSENBRINK FRANK te des US-Präsidenten, Spreng, Wulff bislang als Gelegen- heitsmodel in eher bra- niedersächsischen Landtagswahlen, in der ven Posen zu besichtigen gewesen, legt „Bild am Sonntag“ geschrieben: „Schade, jetzt einen Gang zu. „Burning Bush: Lau- dass bei dieser Konfrontation ein kompe- ren Bush Heats Up“ lautet die Schlagzeile tenter Mann wie der niedersächsische des US-Magazins „W“. Lauren Bush, die CDU-Spitzenkandidat Christian Wulff völ- sich da am brennenden Busch erwärmt, ist lig untergeht. Er hat seine Zukunft als auf dem Titelbild mit einem gewagten Ver- Einziger mit Sicherheit noch vor sich.“ sace-Kleid zu sehen. „Wie sexy ist zu Mit diesem Zitat im Kopf traf Wulff ver- sexy?“, fragt das Blatt im dazu gehörigen gangenen Montag vor der Sitzung des Artikel. Während die Präsidentennichte im CDU/CSU-Wahlkampfteams auf dessen Interview mit „W“ beteuert: „Ich würde Chef: „Herr Spreng, was ich Ihnen noch wissentlich nichts gegen meine Natur tun.“ sagen wollte, die Niedersachsen und ich Das Cover sei „more an art form instead of sind jetzt guten Mutes bei Ihrer Arbeit. an abuse“, „mehr Kunst als Kränkung“, Meine Berater haben jetzt herausgefunden, wobei „abuse“ auch „Missbrauch“ bedeu- was Sie am 1. März 1998 schon für die ten kann, was unklar bleibt. Zukunft Niedersachsens vorausgesehen haben.“ Wulffs Rat an den verdutzten Spreng: „Trauen Sie sich ruhig einiges bei uns zu!“

Bela Anda, 38, stellvertretender Regie- rungssprecher, hat vergangene Woche „vorsorglich“ eine „Unterlassungserklä- rung“ abgegeben. Warum? Er hatte öffent- lich behauptet, er habe von dem Bonner Fotografen Klemens Beitlich keine Foto- diskette erhalten, die er zurück mit nach Deutschland nehmen sollte. Wenn der Fo- tograf, der auf der kleinen Scheibe Auf- nahmen vom Kanzlerbesuch bei US-Präsi- dent George W. Bush gespeichert hatte, „das Gegenteil behaupte, sage er nicht die Wahrheit“. Seltsamerweise hatte Anda vor diesen Äußerungen, offensichtlich unwis- sentlich, auf die Mobilbox des Bonner Fo- tografen gesprochen, dass „der Umschlag fehlt, den du mir gegeben hast. Ich hoffe du hast noch eine andere Diskette dabei“. Da- mit konfrontiert, erinnerte sich Anda plötz- lich, jene Diskette doch mitgenommen zu Titel des Magazins „W“ mit Lauren Bush

der spiegel 12/2002 249 Hohlspiegel Rückspiegel Der Lokalpolitiker Klaus Simon im Bonner Zitate „General-Anzeiger“: „,Man muss aufpas- sen, dass man nicht eine Lawine lostritt, die Die „Süddeutsche Zeitung“ zum unter Umständen nach hinten losgeht‘, SPIEGEL-Gespräch mit Leo Kirch und warnt er.“ seinem Geschäftsführer Dieter Hahn über die mögliche Neuordnung des Medienimperiums „Dann frisst er mich Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Er zog eben“ (Nr. 9/2002): eine ihm flüchtig bekannte Frau gegen ihren Widerstand an sich und zwang sie Mit Vizechef Dieter Hahn dagegen redet unter körperlicher Kraftanwendung zur se- offenbar kaum einer mehr gern, der Mann xuellen Nötigung.“ wird verantwortlich gemacht für die Mi- sere. Und Leo Kirch schließlich wirkte laut Beobachtern in den letzten Tagen wie apathisch, in einer seltsamen lakonischen Ist-mir-auch-egal-Stimmung, die schon sein Interview im SPIEGEL ausgezeichnet hatte – halb belustigt, halb resigniert.

Der „Tagesspiegel“ über die Aus der „Nordwest Zeitung“ politische Sprache oder die Sprache der Politiker:

Aus der „Neuen Westfälischen“: „,Und bist Und so gilt wohl nur zum Teil, was Wolf- du nicht willig, so brauch ich Gewalt.‘ Wer gang Bergsdorf sagt, heute Professor, lange es noch nicht wusste – dieser Ausspruch Jahre Kanzler Kohls innenpolitischer Be- stammt aus Heinrich Heines Reise-Epos rater: „Die Integrationsleistung der politi- ,Deutschland – Ein Wintermärchen‘.“ schen Sprache erfordert einen hohen Preis, den Preis einer mangelnden Präzision ihrer Begriffe.“ Waldzustandsbericht, wo es um Waldschäden geht; Arbeitskräftefreiset- zung, wo Menschen entlassen werden; Kos- tendämpfung, wo Leistungen gestrichen werden – präzise, klare Sprache wäre dem- nach falsche politische Sprache. Wer sagt, was er will oder denkt, enthüllt und ris- kiert Widerspruch. Aber so ist es auch: Will sie etwas bewirken, muss „Konkurrenz Aus den „Westfälischen Nachrichten“ schmerzen dürfen“, sagt Heinrich Ober- reuter, ebenfalls ein Politologie-Professor. Was also gilt nun immer? Wahrscheinlich Aus der „Stuttgarter Zeitung“: „Der nur das, was Rudolf Augstein, der SPIE- Mannheimer SPD-Abgeordnete Max Na- GEL-Herausgeber, einmal im Blick auf gel sagte, Mehdorn habe damit jeden Re- Konrad Adenauer erklärt hat: „Demokra- spekt verwirkt: ,Nunmehr hat Mehdorn tische Diskussion entfaltet sich nicht, wenn die Hosen heruntergelassen, und man sieht dem Wortführer des Staates das intelligen- sein wahres Gesicht.‘“ te Wort nicht zu Gebote steht.“

Die „Süddeutsche Zeitung“ in Aus einer Meldung der „Katholischen einem Interview mit der „Berlin Mitte“- Nachrichten-Agentur“: „Wenn das Fernse- Talkerin Maybrit Illner, die hen die Moral untergräbt oder den Fami- vergangene Woche die 100. Ausgabe mo- lienfrieden stört, schlägt ein nicaraguani- derierte, über den SPIEGEL- scher Bischof drastische Maßnahmen vor. Bericht „Zeitgeist – Moderatorinnen ,Notfalls muss man den Fernseher erschie- prägen das Bild von ßen‘, sagte Bischof Abelardo Matta Gueva- der Politik im Fernsehen“ (Nr. 11/2002): ra von Estelí bei einem Weihnachtsgottes- dienst in der Kathedrale seiner Stadt.“ SZ: Glückwunsch, Frau Illner, Ihr Jubiläum hat ein gewaltiges Medienecho ausgelöst: Für den SPIEGEL dominiert die „neue Ladypower“ von Moderatorinnen wie Ih- nen, Sandra Maischberger und Anne Will sogar die gesamte politische Berichterstat- tung des deutschen Fernsehens. Haben Sie das wirklich verdient? Maybrit Illner: Nicht nur das. Die genann- ten TV-Amazonen streben sogar die Welt- Inserat im „Kornwestheimer Stadt An- herrschaft an. Momentan kungeln wir nur zeiger“ noch um die Posten…

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