Und Entspannungspolitische Kontinuität Im Schatten
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V. Koalitionspolitische „Wende“ und entspannungspolitische Kontinuität im Schatten von NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung (Herbst 1982–Dez. 1983) Während sich die Lage in Polen und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den NATO-Partnern ab Sommer 1982 zuspitzten, kündigte sich in Bonn das Ende der sozial-liberalen Koalition an. Bis heute diskutiert die geschichtswissenschaftliche For schung, ob dafür wirtschaftspolitische oder außenpolitische Aspekte ausschlag- gebend waren. So betonten Werner Link, Wolfgang Jäger, Klaus Hildebrand, An- dreas Rödder und Tim Geiger die außenpolitischen Ursachen,1 während Andreas Wirsching, Bernd Faulenbach, Friedhelm Boll und Jan Hansen tendenziell wirt- schaftspolitische Gründe für das Zerwürfnis der Regierung Schmidt/Genscher her- vor ho ben.2 Die Streitigkeiten zwischen SPD und FDP begannen schon bald nach der er- folgreichen Bundestagswahl von 1980. Einerseits fehlten große gemeinsame Zu- kunftsprojekte, andererseits schränkten die ökonomisch-finanziellen Probleme den Handlungsspielraum der Bundesregierung zunehmend ein und machten un- populäre Maßnahmen notwendig. In Anbetracht von Ölkrise und Rezession, ho- her Staatsverschuldung, steigender Arbeitslosigkeit und wachsenden Kosten für den Sozialstaat3 plädierte Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff (FDP) für eine radikale Haushaltssanierung. Wegweisende Reformen scheiterten jedoch am Widerstand der Sozialdemokraten, die trotz der angespannten Wirtschaftslage umfangreiche sozialpolitische Einschnitte vermeiden wollten. Mit den anhalten- den sicherheitspolitischen Diskussionen um die Genfer MBFR-Verhandlungen und den NATO-Doppelbeschluss trat ein weiteres koalitionsinternes Konfliktfeld immer weiter in den Vordergrund. Die Dissonanzen zwischen Schmidt und der US-Administration wurden auch nach dem Regierungswechsel von Carter zu Ro- nald Reagan nicht weniger, zumal Teile der SPD auf Abstand zum amerikanischen 1 Vgl. Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Schmidt; Wolfgang Jäger, Die „Wende“ 1982: Bruch der Koalition und Regierungsbildung, in: Historisch-Politische Mitteilungen 19 (2012), S. 167–176; Rödder, Bündnissolidarität und Rüstungskontroll- politik, S. 123–136; Klaus Hildebrand, Integration und Souveränität. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1982, Bonn 1991, S. 80–91, und Geiger, Die Re- gierung Schmidt-Genscher und der NATO-Doppelbeschluss, S. 95–122. 2 Vgl. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 17–26; Bernd Faulenbach, Das sozialde- mokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 723–734, und Boll/Hansen, Doppelbeschluss und Nach- rüstung als innerparteiliches Problem der SPD, S. 203–228. Vgl. dazu auch Joachim Scholtyseck, Die FDP in der Wende, in: Historisch-Politische Mitteilungen 19 (2012), S. 197–220, hier: S. 197. 3 Vgl. Werner Abelshauser, Markt und Staat. Deutsche Wirtschaftspolitik im „langen 20. Jahrhundert“, in: Reinhard Spree (Hrsg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 117–140, hier: S. 135. 292 V. Koalitionspolitische „Wende“ und entspannungspolitische Kontinuität Bündnispartner gingen und erste Absetzbewegungen vom Kurs des Bundeskanz- lers erkennbar wurden. Während Schmidt fest zum NATO-Doppelbeschluss stand, war es in außenpoli- tischer Hinsicht der linke Flügel der Sozialdemokraten, der mit seiner Annäherung an die Friedensbewegungen und seiner Distanzierung vom offiziellen sicherheits- politischen Kurs der Bundesregierung die Einheit der Partei und die Regierungsfä- higkeit der Koalition in Frage stellte.4 Auch Genscher hatte Mühe, die FDP auf Kurs zu halten, wie der Kölner Bundesparteitag Ende Mai 1981 zeigte, als knapp ein Drittel der Delegierten gegen den NATO-Doppelbeschluss votierte.5 Gleich- wohl besaß Genscher als Parteivorsitzender ein ungleich größeres Gewicht in der FDP als Schmidt bei den Sozialdemokraten. Der Autoritätsverfall des Bundeskanz- lers innerhalb der SPD veranlasste Genscher bereits im Sommer 1981, über ein frühzeitiges Ende der Koalition nachzudenken. Er trug wesentlich zu Irritationen in FDP und SPD bei, als er in seinem sogenannten Wendebrief, der formal an seine Partei, realiter aber an die Öffentlichkeit gerichtet war, im August 1981 erklärte: „Eine Wende ist notwendig, im Denken und Handeln.“6 Es gehe um eine grundle- gende wirtschafts- und sozialpolitische Richtungsentscheidung, die überbordende „Anspruchsmentalität“ müsse endlich neuer Selbstverantwortung weichen. Er sah, so Genscher rückblickend, die Aufgabe der FDP darin, als „Schrittmacher für die strukturelle Anpassung an die neuen ökonomischen Gegebenheiten zu wirken“.7 Allerdings identifizierten sich zu diesem Zeitpunkt weite Teile der FDP-Wäh- lerschaft und die Parteimitglieder selbst noch in hohem Maße mit Schmidts Poli- tik, schließlich hatte man mit dem Slogan „Für die Regierung Schmidt/Genscher, gegen die Alleinherrschaft einer Partei, gegen Strauß“ den Wahlkampf gewonnen. Nur ein knappes Jahr nach Beginn der neuen Wahlperiode eine Koalition mit der CDU/CSU einzugehen, schien daher absurd.8 In der FDP-Bundestagsfraktion 4 Vgl. Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 709–722; Boll/Hansen, Doppel- beschluss und Nachrüstung als innerparteiliches Problem der SPD, S. 203–228, und Jan Hansen, Zwischen Staat und Straße: Die Geschichte des Nachrüstungsstreits in der SPD (1979–1983), in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 517–553. 5 Vgl. Ergebnisprotokoll der 1. (außerordentlichen) Tagung des F.D.P.-Bundesfachaus- schusses für Außen-, Deutschland- und Europapolitik (BFA 1) am 26. 04. 1981, Anhang III: 32. Ordentlicher Bundesparteitag der F.D.P., Köln, 29.–31. 05. 1981, in: AdL, A44-35; Rede des F.D.P.-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher vor dem F.D.P.-Parteitag in Köln am 29. 05. 1981 (Auszüge), in: Alfred Mechtersheimer (Hrsg.), Nachrüsten? Dokumente und Positionen zum NATO-Doppelbeschluss, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 170 f., und Bundesparteitag Köln, 29.–31. 05. 1981, in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, Baden- Baden 1990, S. 89–231. Zu den sicherheitspolitischen Kontroversen innerhalb der FDP vgl. auch Kapitel I.2. 6 Genscher, Erinnerungen, S. 447. 7 Ebd., S. 448. Vgl. außerdem Wolfgang Bickerich (Hrsg.), Die 13 Jahre. Bilanz der sozial- liberalen Koalition. Spiegelbuch, Hamburg 1982, S. 241, und Faulenbach, Das sozialde- mokratische Jahrzehnt, S. 744. Die Presse, insbesondere der Spiegel, reagierte darauf mit beißender Kritik, vgl. Wenn es zum Schwur kommt, in: Der Spiegel Nr. 35 vom 24. 08. 1981, S. 19–21. 8 Vgl. Johannes Merck, „Klar zur Wende“ – Die FDP vor dem Koalitionswechsel in Bonn 1980–1982, in: Politische Vierteljahrsschrift 28 (1987), S. 384–402, hier: S. 387 f. V. Koalitionspolitische „Wende“ und entspannungspolitische Kontinuität 293 fand sich zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheit für einen Koalitionswechsel. Misch- nick selbst hatte das sozial-liberale Bündnis 1969 mitbegründet und seither durch seine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Herbert Wehner maßgeblich zu des- sen Erfolg beigetragen. Unterstützt wurde er in seiner Haltung für die Fortsetzung der Koalition durch Politiker wie Gerhard Baum, Helga Schuchardt, Ingrid Mat - thäus-Maier und Burkhard Hirsch.9 Auch FDP-Generalsekretär Günter Verheugen war ein vehementer Befürworter der Regierung Schmidt/Genscher und suchte deshalb Mitte März 1982 den Chef des Bundeskanzleramts, Manfred Lahnstein (SPD), auf. Sie führten ein mehrstün- diges, offenes Gespräch über die Lage in der FDP und die Möglichkeiten, das wankende Bündnis zu stabilisieren.10 Verheugen diagnostizierte steigende Irrita- tionen und Orientierungslosigkeit innerhalb der FDP über den Kurs Genschers. „Er ist sich über die eingeschlagene Linie unklar und pendelt deshalb ständig zwi- schen ,sozialliberal‘ und ,liberal-konservativ‘.“11 Die Bedeutung der Ministerriege in der FDP nehme deutlich ab. „Lambsdorff und Baum gelten nach rechts bzw. links ,ausgeflippt‘, Ertl als ausgebrannt.“12 Demgegenüber sei der Stellenwert Mischnicks enorm gestiegen. Verheugen war sich zu diesem Zeitpunkt sicher, mit- hilfe des Fraktionsvorsitzenden „Genscher und damit die Partei“ auf Linie zu hal- ten, und verband dies mit einer Empfehlung an Schmidt: „Genscher ist für kleine persönliche Gesten ungemein empfänglich. Wenn Sie z. B. am Donnerstag zum nächsten Termin zu ihm nach Hause fahren könnten, würde das lange nach- wirken.“13 Als die FDP bei den Wahlen zum niedersächsischen Landtag und zum Hamburger Senat im März beziehungsweise Juni 1982 den Einzug ins Parlament verpasste, verstärkten sich allerdings die Absatzbewegungen innerhalb der Partei, zu deren rechtem Flügel neben Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff auch Irm- gard Adam-Schwaetzer und Detlef Kleinert zu zählen waren.14 Wie frostig die Stimmung zwischen FDP und SPD inzwischen war, zeigte ein Koalitionsgespräch am 5. Juli, bei dem über den mühsam erreichten Haushalts- kompromiss und die bevorstehende Landtagswahl in Hessen gesprochen wurde. Genscher kritisierte, dass Schmidts Spiegel-Interview ihn „an die Parole Kiesingers erinnere, wonach die FDP nach Bruch der Koalition mit der CDU aus den Land- tagen hinauskatapultiert werden sollte“.15 Er hätte sich gewünscht, den gerade erst 9 Vgl. ebd., S. 388. 10 Vgl. Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramts, Staatssekretär Lahnstein, an Bundes- kanzler Schmidt vom 14. 03. 1982, Betr.: Gespräch mit Herrn Verheugen, in: AdsD, Hel- mut-Schmidt-Archiv, 1/HSAA009384. 11 Ebd., S. 1. 12