MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs

Heft 3 / Jahrgang 23 Dezember 2006 Dr. Albrecht Frenz erhielt Rabindranath Tagore Kulturpreis 2006

Der renommierte Rabindranath Tagore erweitert. Der Preis, dotiert mit 5000 Kulturpreis 2006 der Deutsch-Indischen Euro, wird alle drei Jahre auf der Jahres- Gesellschaft wurde an Dr. Albrecht hauptversammlung der Deutsch-In- Frenz, dem engagierten Indologen und dischen Gesellschaft verliehen. Zu den Theologen aus verliehen. Die bisherigen Preisträgern gehören Profes- Preisvergabe fand im Rahmen einer sor Dr. Alokeranjan Dasgupta, Prof. Dr. Festveranstaltung am 30.09.2006 im Lothar Lutze, Prof. Dr. Günther-Dietz Freylinghausen-Saal des Historischen Sontheimer, Ursula Rother-Dubs, Dr. Waisenhauses in Halle (Saale) statt. Dr. Martin Kämpchen, Dr. Margot Gatzlaff Friedemann Schlender, Mitglied der und Prof. Dr. Beatrix Pleiderer sowie Dr. Jury, übergab Dr. Frenz den Preis. Jose Wolfgang Schumann. Punnamparambil, Journalist und lang- jähriges Mitglied des Beirats der Der Preis ist nach dem im Jahre 1912 Deutsch-Indischen Gesellschaft, hielt mit dem Literatur-Nobelpreis ausge- die Laudatio. zeichneten bengalischen Dichter Rabin- sionare für die wissenschaftliche Er- dranath Tagore benannt worden, der alle Nach dem Urteil der Jury, der neben schließung südindischer Sprachen, be- Literaturgattungen vom Gedicht bis zum dem Vorsitzenden, dem früheren baden- sonders des Malayalam beschäftigen, Drama einsetzte, um humanistische Per- württenbergischen Wissenschaftsmini- wichtige kulturhistorische Beiträge“. spektiven des Bildes vom Menschen und ster Klaus von Trotha, der Verleger Ro- Der Preis zeichnet Dr. Albrecht Frenz seiner Welt zu vermitteln. Rabindranath land Beer, , Frau Professor Dr. für sein Völker, Kulturen und Religio- Tagore genießt im deutschsprachigen Heidrun Brückner, Universität Würz- nen verbindendes großes Lebenswerk Raum großes Ansehen als Philosoph, burg, Dr. Gerd Kreisel, Lindenmuseum aus. Schriftsteller und Dichter. Stuttgart und Dr. Friedemann Schlender, - Jose Punnamparambil Indologe, Berlin, angehören, „sind die Der Rabindranath Tagore-Pries wurde Arbeiten von Dr. Frenz, die den Spuren bei seiner Stiftung im Jahre 1986 als ein (Quelle:Pressemitteilung der Deutsch-Indischen der Missionare in Südindien folgen und „Literaturpreis“ begründet und erst im Gesellschaft. Für weitere Information über den Preisträger und sein Wirken siehe Laudatio auf sich mit dem Beitrag der deutschen Mis- Jahre 2002 zu einem „Kulturpreis“ Seite 17)

MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Redaktionelle Mitarbeit: Heft 3 / Jahrgang 23 / Dezember 2006 Dr. Elisabeth Lauschmann Unterstützung und Beratung: Pater Ignatius Chalissery; Köln; Heinz Müller, Köln; Hans Gerd Grevel- Herausgeber: ding, Köln; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Pfarrer Georg Diözesan-Caritasverband, Kalckert, Königswinter; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Dr. Urmila Goel, Abteilung „Migration”, Bonn; Bobby Cherian, Frechen; Sinthu Karthikapallil, Schwerte; Dr. Clau- Georgstr. 7, 50676 Köln, dia Warning, Lohmar; Walter Meister, Öhringen Tel.0221 / 20 10 287 Gestaltung und Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken

Redaktion: Herstellung und Vertrieb: Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, 53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17 Tel. 02223 / 49 49; e-Mail: [email protected] e-Mail: [email protected]

Dr. Sushila Gosalia, Franconvillestr. 9, 68519 Viernheim, Druck: Tel. 06204 / 7 88 01; e-Mail: [email protected] Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Erscheinungsweise: zwei- bis dreimal jährlich Tel. 02203 / 2 26 54; e-Mail: [email protected] Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet.

Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren Konto-Nr.: 106 3205, Bank für Sozialwirtschaft Tel. 02224/9897690; e-Mail: [email protected] (BLZ 370 205 00), Diözesan-Caritasverband, Köln

Titelbild: „3 Men“ von Shihabuddeen Vaippipadath, Indien Rückseite: „Khovar/Sohrai Malerei“ aus Hazaribagh, Jharkhand, Indien

2 Editorial Entwicklungshilfe für Indien?

Im „Bericht über die Menschliche Ent- Europäer sind mit diesem Modell aufge- ler wie Azim Premji, Laxmi Mittal, Tata, wicklung 2006“ steht Indien mit 0,611 wachsen, sie sind Teil und Gestalter die- Jain sind hierzulande in aller Munde. Punkten auf Platz 126 (unter insgesamt ses Modells. Aber die Inder haben die- Braucht so eine dynamisch wachsende 177 Ländern), direkt nach Namibia. ses Modell geliefert bekommen, sie mus- Industriemacht wie Indien weiterhin Deutschland belegt den Platz 21. In sten sich anpassen, geistig sich umstel- Entwicklungshilfe? wichtigen Bereichen wie Lebenserwar- len, die Strukturen und Komplexität Zu dieser Frage haben wir in diesem tung und Alphabetisierung hat Indien eines von Wissenschaft und Technologie Heft einen persönlichen, aber auf- gewaltige Fortschritte gemacht. Zum bestimmten Produktionsprozesses und schlussreichen Beitrag von Martin Beispiel, wenn die Lebenserwartung Gesellschaftsordnung erst begreifen und Kämpchen, der seit über 30 Jahren in eines Durchschnittsinders/einer Durch- dann verinnerlichen. Dass es Indien Indien lebt, abgedruckt. Wir bitten um schnittsinderin 1951 ca. 30 Jahre be- gelungen ist, dieses fremde Modell in die besondere Aufmerksamkeit der Leser trug, war dies 2004 nach dem Bericht einem pluralistisch-demokratischen für diesen Beitrag. 63,6 Jahre. Die Alphabetisierungsrate System, mit einer Bevölkerung, die heute 1951 war 18,5%, 2004 war dies schon noch bis zu 70% auf dem Lande lebt, zu 2006 war ein Indien-Jahr, wenn es um 61,0%. Wenn man berücksichtigt, dass etablieren, ist wahrlich eine kulturzivili- Sach- und Belletristik-Bücher aus und die Bevölkerung Indiens von 361 Millio- satorische Leistung ersten Ranges. über Indien geht. So hat das vorliegende nen in 1951 auf eine Milliarde in 2004 Heft eine Fülle von Besprechungen über wuchs, kann man eine Vorstellung dafür Heute redet man über Indien wie selbst- Neuerscheinungen. Auch viele andere entwickeln, welche enorme Entwicklung verständlich als eine aufkommende Beiträge und Interviews über eine Reihe Indien in den letzten 5 Dekaden in die- Industriemacht. Traumhafte Wachstums- von Themen, die unsere Leser immer sen beiden Schlüsselbereichen vollzogen raten von 6 bis 7% über Jahre hinweg interessieren, haben wir in dieser Aus- hat. Ein anderer Aspekt, über den man verschaffen dem Land Respekt. Indiens gabe abgedruckt. Wir hoffen, dass die hierzulande nicht viel spricht, ist die Stärke im IT-Bereich, im Bereich Phar- Leser sich Zeit nehmen für die Lektüre. Tatsache, dass es Indien bei seiner Ent- ma- und Zulieferindustrie etc. sind Herzliche Weihnachtsgrüße wicklung mit einem kulturfremden Ent- schon im Westen allgemein anerkannt. wicklungsmodell zu tun hatte. Die Die großen Namen indischer Industriel- Ihr Jose Punnamparambil

Meine Welt Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Heft 3 / Jahrgang 23 Dezember 2006 I n h a l t Editorial 3 Ich habe das Gefühl ...... (Interview Aktuell) 28 Macht Entwicklungsarbeit .....(Entwicklung) 4 - Shihabuddeen Vaippipadath - Dr. Martin Kämpchen Eine Welt voller Inder 29 Indien hat meine Sicht des Lebens (Interview Aktuell) 8 - Shashi Tharoor - Walter Meister Theyyam: Von Göttern und ...... (Buchbesprechung) 30 Rourkela - Ein Rückblick (Entwicklungsarbeit) 12 - Christina Kamp - Dr. Jan Bodo Sperling Yoga und ich 31 50 Jahre deutsches Hüttenwerk Rourkela 15 - Heike Faller - Hans Escher Warum (Erzählung) 32 Die Deutschen sind sehr freundlich (Wirtschaft) 16 - Rishaban - Azim Premji Indien als Ehrengast im Spiegel der ..... (Bericht) 34 - Dr. Sushila Gosalia Indien im Blick seiner Karikaturisten 17 - Susanne Rauscher Nicht jeder, der eine Sprache gut beherrscht ...(Interview) 38 - Dr. Margot Gatzlaff Das Migrantendasein 18 - Kiran Desai Erfolgreiche Katastrophenhilfe (Projekt) 40 Die Frankfurter Buchmesse 2006 und ... (Meinung) 41 Der Tagore-Kulturpreis 2006 19 - Waltraud Ganguly - Jose Punnamparambil Bollywood - Die indische Filmindustrie ..(Unterhaltung) 42 Keshaben (Lebensgeschichte aus Indien) 21 - Dr. Sushila Gosalia - Sarath Davala und Christina Kamp Buchbesprechungen: 43 Kleines Geld mit großer Wirkung 24 Ein spannendes Lesebuch; Ein bewegendes Buch; Ich glaube nicht an Grenzen; Wie ich zum Greis wurde (Erzählung) 25 Was ist Indisch-Sein?; Migration; Das Innenleben der InderInnen; Lebendig wie autobiographische Darstellungen; Buch über indischen Ohrschmuck - Edward Nazareth

3 Entwicklung Macht Entwicklungsarbeit mit Indien noch Sinn?

Martin Kämpchen

Als der amerikanische Präsident George seine Grenzen zu China, beobachtete sie den Wettkampf um Weltmärkte und Bush vor einigen Wochen Indien jede Regung der Regierung in Peking. Prozente an Indien verlieren, falls sie besuchte, nannte er das Land die Indien fürchtete auch die Wirtschafts- nicht entschiedener gemeinsam handeln. „zukünftige Supermacht Asiens“, die macht Chinas, die mit ihrer Sintflut von Das ist eine Szene, die noch vor fünf Seite an Seite mit den USA die Billigwaren die indische Wirtschaft Jahren undenkbar war. Indische Exper- Geschicke der Welt mitbestimmen schädigen konnten. Indien beobachtete ten drängen Europäer in die Defensive, werde. Nichts hörte die indische Elite neidvoll die Entwicklung der chinesi- nehmen endlich Abstand von ihrem lieber als diese Worte. Mit ihrem schen Gesellschaft vom Kommunismus postkolonialen Minderwertigkeitskom- Applaus feierte sie den amerikanischen zur relativ freien Marktwirtschaft, zum plex, also von ihrer Klage – sechzig Präsidenten und sich selbst. Bush, der Kapitalismus, wobei Chinas Wirt- Jahre nach Erringung der Unabhängig- im Vorgarten Indiens, im Irak nämlich, schaftswachstum dem indischen Wirt- keit –, dass die Kolonialisierung durch Krieg angezettelt hatte, war von den schaftswachstum meilenweit davonlief. die Briten sie kulturell und emotional indischen Journalisten und Politikern Zynisch sprach man in Indien von der gebrochen habe. heftig kritisiert worden. Doch als der „Hindu rate of growth“, der hinduisti- mächtigste Mann der Welt cowboyhaft schen Zuwachsrate. Dabei wurde ange- Idealismus und Macht lächelnd und händeschüttelnd durch die nommen, dass die hinduistische Menta- Doch sammeln wir auch einige Gegen- Reihen der Politiker und Industriellen lität das Wirtschaftswachstum hindert, stimmen. Der indische Schriftsteller ging, gab es nur verehrende Blicke. Man also nicht dynamisch auf Profit und Amitav Ghosh besuchte Phokaran, jenen wies darauf hin, dass Bush Indien vor Lebensverbesserung ausgerichtet sei, Ort in Indien, an dem die Regierung allem darum ernst nehme, weil Indien in sondern in asketischer Weltverneinung zweimal unterirdische Atomtests unter- den kleinen Club der Atommächte auf- ihre Energie auf das Ertragen der beste- nommen hatte. Den verwüsteten, ver- gestiegen sei. henden Schwierigkeiten und Mängel seuchten Landstrich im Blick, fragte er sammelt. Und nun wollen der blühende sich in dem Essay „Countdown“, wie es In der Region stehen sich zwei verfein- Riese China und der lahmende Riese mit der geistigen Autorität einer Nation dete Atommächte gegenüber: Indien und Indien ihre traditionelle politische bestellt sei, die ihr Prestige durch die Pakistan. Vor zwei, drei Jahren galt der Feindseligkeit, auch ihre historischen Fähigkeit beweisen muss, eine Atom- indische Subkontinent darum als eine und kulturellen Unterschiede überwin- bombe herzustellen. Fragen wir uns: der gefährdesten Regionen der Welt. den und eine gemeinsame Front bilden? War nicht vor fast sechzig Jahren dieses Wenn auch die Konfliktstoffe zwischen Diese Vorstellung bringt die Welt ins Land mit einer sehr verschiedenen Bot- den beiden Ländern nicht ausgeräumt Schwanken: Die beiden bevölkerungs- schaft in die Unabhängigkeit getreten? sind, hat sich inzwischen das Klima zwi- reichsten Länder der Welt, geographisch Man wollte Freiheit von der Unter- schen Pakistan und Indien so stark ver- Nachbarn, wollen gemeinsam Märkte drückung durch die Kolonialmacht, das bessert, dass ein Atomangriff zwischen schaffen, gemeinsam Waren nach Euro- heißt, als eine sich selbst bestimmende Pakistan und Indien weniger denkbar ist pa und Amerika vertreiben, gestützt auf Gesellschaft wollte man für eine als früher. Aber die Tatsache bleibt, Indi- ihr schier unübersehbares Heer von bil- gemeinsame bessere Zukunft arbeiten. en wird gerade als Atommacht ernstge- ligen Arbeitskräften. Schon saugt Indien Idealismus hatte sich im Unabhängig- nommen, es wird nicht mehr als „Ent- an der Wirtschaftskraft der USA durch keitskampf angesammelt. Derselbe Ide- wicklungsland“ behandelt, sondern als das sogenannte „Outsourcing“, das ist alismus, der die Philosophie Indiens und eine erwachsene, gleichberechtigte Nati- der Transfer von Arbeit per Computer eben auch das Temperament des Volkes on in der Staatengemeinde. von Amerika in die Call Centres Indiens, durchdringt. Deutschland und Indien Weiteren Aufschwung gibt die allmäh- wo die Arbeit rasch, zuverlässig und sind sich doch wegen dieser idealisti- lich sich anbahnende Kooperation zwi- wesentlich billiger als im Ursprungsland schen Grundhaltung geistig nahe. Idea- schen Indien und China. Seit der chine- erledigt wird. Was wird erst geschehen, lismus spielt aber nicht mit der Macht. sischen Invasion in den Nordosten Indi- wenn Indien und China eine gemeinsa- Entweder ignoriert er sie naïv, oder er ens im Jahr 1962 waren die beiden Län- me Wirtschaftsfront bilden? wehrt sich gegen die Macht. Dieser der verfeindet. Jahrzehntelang kam es durch den gewaltlos unter Mahatma kaum zu Kontakten. Indien festigte Kein Zweifel, Indien als Wirtschafts- Gandhi geführten Kampf um die Unab- macht ist im starken Aufwind. Letzten hängigkeit wurde von dem Idealismus in ______November konnte ich es auf einer Kon- der Philosophie und Mentalität Indiens Martin Kämpchen, Dr.phil., geb. 1948 in Boppard, lebt ferenz in Neu-Delhi erleben, wie indi- genährt. Als es 1947 nach der Unabhän- seit 33 Jahren als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist sche Wirtschaftsexperten der Europäi- gigkeit und dem Desaster der Teilung in Indien. Sein Aufsatz ist die gekürzte Version eines Vor- trages, den er zum zwanzigjährigen Bestehen der schen Union, deren Vertreter auch am des Subkontinents in Indien und Paki- „Indienhilfe“ in Siegburg hielt. langen Tisch saßen, vorrechneten, dass stan darum ging, das Land wirtschaftlich

4 und kulturell in die Moderne zu führen, Krankenhäuser abzusteigen. Amartya derweise keine Entsprechung für stand der Idealismus für das Allgemein- Sen, der berühmte indische Volkswirt- das Englische work culture, weil das wohl plötzlich nicht mehr zur Verfü- schaftler und Nobelpreisträger, sagte Problem im deutschen Sprachraum gung, sondern nur noch für den privaten kürzlich auf einem Kongress in Südindi- nicht oder in geringem Umfang Bereich von Familie und Kasten- wie en, Indien sei auf dem Weg, sich aufzu- besteht. Dazu gehört eine lethargi- Religionsgemeinschaft. In den letzten spalten in einen Bevölkerungsteil, der sche, undisziplinierte niedere Be- Jahrzehnten ist von den älteren Genera- auf dem Niveau von Kalifornien lebe, amtenschaft, allgemeine Unpünkt- tionen immer wieder vehement beklagt und in einen anderen, der auf dem lichkeit und Ungenauigkeit und worden, dass die Ideale, für die sie Niveau der Subsahara-Länder lebe. Mangel an Wahrhaftigkeit im kämpften, im unabhängigen Indien nicht Nach und nach droht diese Gefahr den öffentlichen Leben, eine Feiertags- mehr beherzigt werden. Eine selbstsüch- Glanz und den Jubel des Supermacht- kultur, so überschwenglich und zeit- tige Mittelschicht und eine sich selbst Indien zu überschatten. raubend, wie sie wohl kein anderes dienende, aufgeblähte Beamtenschaft Land kennt, und eine Tendenz, sind herangewachsen. Die gebildete Paradigmenwechsel Generalstreiks bei jeder Gelegenheit Schicht schielt nach den Segnungen des Es kommt als ein willkommenes Signal, auszurufen, politische Protestmär- Konsums, darin amerikanisch-europäi- dass das neue Budget der indischen sche, die stundenlang den Verkehr schem Vorbild folgend, während die Regierung (für April 2006 bis März stoppen, zu veranstalten. Dazu untere Mittelschicht versucht, zumindest 2007) plötzlich die doppelte Summe für gehört auch eine allgemeine Unwil- durch ein Angestelltenverhältnis eine Bildung veranschlagt wie bisher. Doch ligkeit, Dienste zu leisten, obwohl gewisse Lebenssicherheit zu erringen. eine solche Maßnahme allein kann noch sie zum Beruf gehören und man Überall sucht man nach Sicherheit, nach keine Gesellschaft zusammenführen. dafür bezahlt wird. Nur jene Sekto- Lebensstellungen bei Staat und Wirt- Was notwendig ist, ist nichts weniger als ren der Wirtschaft, die unmittelbar schaft. Dies hat zu einer Spaltung der ein Paradigmenwechsel. Während ich mit den westlichen Ländern zusam- indischen Gesellschaft geführt, die der Regierungsspitze in Neu-Delhi gern menarbeiten, etwa die Information immer stärker sichtbar wird. Während den guten Willen, auch den politischen Technology, wozu die Call Centres Indien mit beeindruckenden Wachs- Willen, zugestehe, die indische Gesell- gehören, haben sich der europäi- tumszahlen vor die Welt tritt, verändert schaft zu vereinen, muss die gesamte schen Arbeitskultur angepasst. Auch sich für die arme Hälfte der Bevölke- Gesellschaft dazu bereit sein. Die Stun- die Privatwirtschaft arbeitet hart, rung allzu wenig. Die zukünftige Super- de zu einem Paradigmenwechsel war wobei deren Methoden oft schon die macht wird sich aufteilen in die Mittel- noch nie so günstig: eine Regierung, die Grenze zur Ausbeutung der Ange- und Oberschicht, die in ihren Wohl- im Land selbst und im Ausland morali- stellten überschreiten. standsgettos lebt – und das sind minde- sche Autorität besitzt, eine Wirtschaft, stens 300 Millionen Menschen –, und die ein bisher nie erreichtes Wachstum – Verbunden mit der mangelnden der armen Masse in den städtischen vorweist, eine allgemeine Stimmung in Arbeitskultur ist die weitverbreitete, Slums und in den fünfhunderttausend Mittel- und Oberschicht, die optimi- die gesamte Gesellschaft durchsäu- Dörfern des Landes. stisch und selbstbewusst ist. In diesem ernde Korruption. Sie ist eine der Szenario muss sich eben diese Mittel- Todsünden der Mittelschicht. Die Die Weichen für eine solche Spaltung und Oberschicht darauf besinnen, dass Korruption hat in den letzten Jahr- stellte die indische Regierung schon vor die Grundlagen der Gesamtgesellschaft zehnten zugenommen. Ich führe sie Jahrzehnten, als sie die zwei Sektoren schwanken. Ich nenne die für mich auf die wachsende Konsumgier, die vernachlässigte, die wesentlich sind für wesentlichen Schwachstellen, an denen wachsende Hast der Mittelschicht den Aufbau eines gesunden Gemeinwe- ein solcher Paradigmenwechsel anset- zurück, an den Lebensstandard des sens: die Primärerziehung und das zen muss: Westens anzuschließen. Dass auch Gesundheitswesen. Auch sechzig Jahre die riesenhafte Beamtenschaft für nach der Unabhängigkeit ist die Hälfte – Die Überbevölkerung muss wesent- Korruption anfällig ist, zeigt, wie der Bevölkerung analphabetisch oder lich bewusster als das Grundübel wenig sie bereit ist, als Staat Vorbild nahezu analphabetisch. Die Grundaus- der indischen Gesellschaft, aus der für die Bevölkerung zu sein, wie stattung der Primären Gesundheitszen- zahlreiche anderen Übel fließen, in wenig sie die Unantastbarkeit und tren und Krankenhäuser für das soge- den Blick genommen und Familien- Integrität des Staates symbolisieren nannte allgemeine Volk, das sich keine planung zu einer nationalen Kampa- will. privaten Schulen und Krankenhäuser gne der Aufklärung und konkreten – Als nächste Schwachstelle nenne leisten kann, ist desolat. Die wirtschaft- menschlichen Begleitung gemacht ich die überlastete und darum lich besser gestellte Schicht konnte sich werden. Familienplanung kann schwerfällig funktionierende Justiz. private Schulen leisten und stieg in die nicht mehr der Regierung und eini- Die Gerichte haben zu wenige Rich- vom Staat gut dotierten Colleges und gen Nicht-Regierungsorganisatio- ter und zu viele schwebende Fälle. Universitäten und Elitehochschulen auf. nen überlassen bleiben. Auch die Bis zum Urteil dauert es nicht nur Deren Abgänger wurden zu den Führern Wirtschaft muss sie, mit der ihr Jahre, sondern oft länger als ein und Managern des Staates in Beamten- eigenen Dynamik, zu ihrer Aufgabe Jahrzehnt. Daraus folgt die Tendenz schaft und Wirtschaft. Sie können sich machen. zur – brutalen, selten gerechten – auch die privaten Kliniken leisten und – Die „Arbeitskultur“ muss sich dra- Selbstjustiz. Besonders die arme brauchen nicht in die qualvoll überfüll- matisch verbessern. In der deut- Bevölkerung, die keine Rechtsan- ten und unhygienischen allgemeinen schen Sprache gibt es bezeichnen- wälte bezahlen kann und nicht

5 begreift, wie die Gerichte funktio- des Hinduismus. Und dieser Gruppe ist nicht mehr sinnvoll. Das Wort wird nur nieren, ist der Willkür und Unter- man zunächst und vor allem verpflich- noch selten gebraucht. An seiner Stelle drückung der Polizei, der Politiker tet. Wird Hilfe und Unterstützung für die stehen „Entwicklungszusammenarbeit“, und der Parteien ausgesetzt. eigene Gruppe benötigt, sind Inder „Partnerschaft“ und ähnliche Begriffe. – Schließlich nenne ich noch einmal höchst großzügig mit ihrer Zeit, ihrer Sie tatsächlich mit dem adäquaten Geist die Primärerziehung und das Ge- Energie und ihrem Geld. Zum Beispiel auszufüllen, tatsächlich Zusammenarbeit sundheitswesen, deren Mangel die setzen sie sich geradezu heroisch für zu leben, verlangt auch von uns in den Wirkungskraft und Stärke der ihre eigene Familie ein. Doch die Fami- abendländischen Geberländern einen Gesellschaft insgesamt herunter- lie etwa, die seit Jahr und Tag in Hitze Paradigmenwechsel. Auf dem Papier ist zieht. und Kälte vor ihrem eigenen Haus auf er längst vollzogen, doch muss die dem schmutzigen Bürgersteig lebt, wür- gesamte Struktur des Gebens und Neh- Diese Grundsituation kann sich nur dann digen sie keines Blickes. Sie wird ein- mens verwandelt und, noch wesentli- ändern, wenn sich ein Paradigmenwech- fach nicht in den Radius ihres Mitemp- cher, die menschlichen Voraussetzungen sel hin zur allgemeinen bürgerlichen findens einbegriffen. des Gebens verändert werden. Je größer Mitverantwortung vollzieht. Die Selbst- die Organisationen, je mehr Projekte sie sucht gerade der bürgerlichen Klasse, Es muss betont werden, dass es Anzei- verwalten, desto schwieriger wird dies die sich von den armen Schichten chen eines Umdenkens gibt. So faszinie- sein. Denn die „Geber“ müssen sich von abgrenzt, sie tatsächlich an den Rand rende Personen wie Medha Patkar, die ihren Denkmustern lösen, von der Men- drängt, ist oft erschreckend. Im Lauf der ihren Lehrerposten in Bombay aufgab, talität, die vom Geberstatus geprägt letzten Jahrezehnte ist diese Tendenz um für die Stammesbevölkerung im wird, befreien. Vor allem müssen sie eher stärker geworden, weil sich die Narmada-Tal zu kämpfen, verfehlen ihre ihren Partnern in Indien und anderswo Mittelschicht gegen die sich rasch ver- Wirkung im Mittelstand nicht. Immer mehr Zeit schenken. Das ist für uns das mehrende arme Bevölkerung abgrenzen mehr Bürgerinitiativen, Bürgerbewe- Kostbarste, weil wir ständig von „Vor- will. gungen, immer mehr Nicht-Regierungs- gängen“, von bürokratischen Prozessen, Sobald die Mittelschicht beginnt, für die organisationen setzen sich für die armen vom Rationalisieren durch die techni- arme Bevölkerung mitzukämpfen – für Menschen ein. Viele Organisationen schen Möglichkeiten sprechen, aber Wahrhaftigkeit im öffentlichen Leben, sind im Umweltschutz und für die Men- dabei die eigentliche Hinwendung zu für bessere Justiz, für mehr und bessere schenrechte tätig. Viele bemühen sich den Menschen in ihrer jeweils gegebe- Schulen und Krankenhäuser –, setzt der um die Schulbildung der Armen, viele nen Situation vernachlässigen. Paradigmenwechsel ein. Vielleicht muss für die Rechte der Mädchen, viele Orga- Wesentlich ist, dass wir unsere Machtsi- die Mittelschicht noch wohlhabender, nisation sind im Kampf gegen Aids ent- tuation als Verwalter von Geldern klug noch konsumversessener werden, bevor standen. Es gibt Bewegung. einschätzen. Diese Macht wird von den sie einsieht, dass sie nicht frontal gegen armen Menschen auf uns projiziert, auch die Überlebensinteressen der Armen Das führt mich zu unserer eigentlichen wenn wir sie nicht wollen. Geld ist agieren darf. Moralische wie auch Frage: Hat es in diesem Szenario noch Macht in einem viel existentielleren eigennützige Gründe sprechen dagegen. Sinn, in Indien Entwicklungsarbeit zu Sinn, als wir gemeinhin dieses Diktum Denn letzten Endes wird es der Mittel- leisten? im kapitalistischen Wirtschaftssystem schicht unmöglich sein, sich gegen die Vorweg: Entwicklungshilfe ist in der Tat handhaben. Die Verweigerung von Geld Riesenmasse der Armen zu behaupten. Die Mittelschicht wird nach Möglich- keiten suchen müssen, auch die Armen Indische Grabsteine für Deutschland an dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu lassen. Kinderarbeit ist in Indien offiziell ver- der künftig ein Gütesiegel vergibt für boten. Dennoch gehen etwa 70 Millio- Grabsteine, die ohne Kinderarbeit her- Hinduismus und Gruppenzugehörig- nen indische Kinder nicht zur Schule, gestellt sind. Ab November kommen keit weil sie für den Lebensunterhalt der die ersten Steine auf den Markt. Sechs Das Milieu des Hinduismus bevorzugt Familie aufkommen müssen: zum Bei- ausgebildete indische Kontrolleure die hierarchisch abgestufte Gruppenbil- spiel in Exportsteinbrüchen, aus denen arbeiten bereits an den drei wichtig- dung. Das Kastenwesen dokumentiert zwei Drittel der deutschen Grabsteine sten Bergen in Indien, in denen der eine solche Mentalität. Es besteht keine stammen. Deutschlands Steinimpor- Granit für Deutschland geschlagen Zuwendung zum Nächsten wie im teure dementieren, dass ihre Produkte wird. christlichen Abendland. Dort ist der mit Kinderarbeit hergestellt werden. Deutsche Steinmetze, die unter dem „Nächste“ der mir jeweils nächste Doch Kinderrechtsexperte Benjamin Xertifix-Siegel Grabsteine importieren Mensch ohne Ansehen der Person. Das Pütter hat mehrmals, als Großhändler wollen, verpflichten sich, in Rehabili- kann also jeder sein. Im Hinduismus ist getarnt, südindische Exportstein- tationsprogramme für indische Kinder das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit brüche besucht. „Etwa ein Drittel der zu investieren. Für den Kunden werden äußerst stark. Man gehört zu einer Arbeiter dort sind 12 bis 16 Jahre alt“, die Steine um drei Prozent teurer – und bestimmten Kaste und Unterkaste, noch erklärt der evangelische Theologe, der kosten dennoch nur ein Drittel eines in eigentlicher zu einer bestimmten Fami- für das katholische Hilfswerk Misereor Deutschland produzierten Grabsteins. lie, einer Dorfgemeinschaft, einer städti- arbeitet. Pütter hat jetzt den gem- schen Nachbarschaft und zu einer einnützigen Verein Xerifix gegründet, (Quelle: Chrismon 09/2005) bestimmten religiösen Gruppe innerhalb

6 kann Leben zerstören – das müssen wir hat die indische Gesellschaft (noch) nicht auf Gebäude, auf beeindruckende stets bedenken. Die Verweigerung kann nicht revolutioniert, nicht durchsäuert. physische Veränderungen an, sondern aber ebenso die akute Gefahr der Kor- Dazu ist das Christentum bisher zu im Wesentlichen auf die Menschen. Was rumpierung unter den Empfängern ein- schwach und zu mutlos gewesen. Es hat sie zur eigenen Entfaltung brauchten, schränken – auch das müssen wir beden- schon seit der Kolonialzeit, von bedeu- das sollte gebaut werden, mehr nicht. ken. Die Kontrolle des Geldes kann uns tenden Randerscheinungen abgesehen, Bewusst beschränkte ich mich auch auf niemand abnehmen, doch ist eben not- eher mit den Mächtigen paktiert, als sich diese beiden Dörfer des Santal-Stam- wendig, dass diese Funktion nicht unse- konsequent auf die Seite der Machtlosen mes, blieb also bescheiden und „unan- re einzige und nicht einmal die wichtig- zu stellen. Das ist eben der Nachteil des sehnlich“, um mit sehr vielen Menschen ste bleibt. Wer sich viel Zeit für die Part- großen gesellschaftlichen Einflusses, in einem unmittelbaren Austausch zu ner nimmt, wird zunächst über vieles den indische Christen durch ihre Schu- bleiben. Viertens, meine Stellung im andere sprechen, am wenigsten über das len, Krankenhäuser und anderen sozia- Dorf habe ich jeweils vorsichtig in jenen Geld. len Einrichtungen ausüben: Um diese Grenzen der Autorität gehalten, die in Einrichtungen zu erhalten, bedarf es des dem Augenblick notwendig waren. Wenn wir uns also fragen, ob es noch Wohlwollens der politisch Mächtigen, Meine Verantwortung – und vor allem Sinn hat, in Indien Entwicklungsarbeit der Parteien und der Beamten. Dieses auch die Verantwortung für die Vertei- zu leisten, dann lautet meine Antwort Wohlwollen muss sich die Kirche oft lung des Geldes – habe ich nach und konkret: Ja, es hat Sinn, insofern wir uns „erkaufen“, indem sie eben das nicht nach in die Hände jener Menschen in im christlichen Geist als echte Partner immer durchsichtige Machtspiel der den beiden Dörfern gelegt, die vollbe- einbringen. Dahinter steht aber ein gera- Parteien und Beamten mitspielt. Konse- ruflich mitarbeiten. Fünftens, ich selbst dezu harter Anspruch. Wir sollen uns quent kann so das Gebot der Nächsten- habe keinen Cent von den Spendengel- einlassen auf die Lebenssituation der liebe eben nicht befolgt werden. Wie dern für mich selbst ausgegeben. Ich Anderen, was nicht möglich ist, ohne dieses Dilemma in Indien zu lösen ist, lebe als freiberuflicher Schriftsteller, eine gewisse eigene Anverwandlung in muss jeder Christ für sich selbst ent- Journalist und Übersetzer. Für mich war diese Lebenssituation. Ich stelle dabei scheiden. Soll ein Priester zum Beispiel diese finanzielle Freiheit ausschlagge- mein Leben in Frage, verlasse meine Beamte bestechen, um seine Schule oder bend, denn sie bedeutet für mich eine Denk- und Lebensgewohnheiten. Das ist sein Waisenhaus zu erhalten? Oder soll innere Freiheit, mit der ich dann auch schwer. Doch ist dieser erste Schritt er absolut reine Mittel vorziehen, um die Entscheidungen in der Dorfarbeit unsererseits notwendig, um als zweiten zum Ziel zu kommen? Das hieße even- klarer mitbestimmen kann. die armen Menschen herauszufordern: tuell, dass man dieses Ziel überhaupt „Helft euch selbst, ich unterstütze euch nicht erreicht. Vielleicht müsste die Trotz mancher Enttäuschung auf der dabei, ich begleite euch. Seid mutig, Schule geschlossen werden, weil sie menschlichen Ebene habe ich auch zusammen schaffen wir es!“ keine staatlichen Mittel mehr bekommt? Wunderbares erlebt. Das Rettende Hunderte von Schüler könnten dann wuchs oft unmittelbar aus den persönli- Nächstenliebe keine Schule mehr besuchen... chen und beruflichen Krisen hervor. Ich Bedenken wir, dass unsere Präsenz in habe die Engel gespürt, die mich umge- einem Atomstaat und in einer Super- Alternative Entwicklung ben, gerade weil ich den Mut besessen macht wie Indien nur dann nicht ana- Ich selbst betreue seit über zwanzig Jah- habe, keine Kompromisse einzugehen. chronistisch ist, wenn wir uns vom ren ein Dorfprojekt in der Nähe meines Aus all diesen Erfahrungen nehme ich christlichen Abendland aus ganz als uns Wohnortes Santiniketan in West-Benga- das Selbstvertrauen für den Appell: Neh- selbst, mit unserem Besonderen, ein- len. In zwei Stammesdörfern, Ghosal- men wir immer wieder das Wagnis auf bringen: nämlich als Christen mit unse- danga und Bishnubati, habe ich ver- uns, uns an die Seite der Armen zu stel- rem höchsten Gebot, dem der Nächsten- sucht, eine Art ideale, alternative Ent- len. Lassen wir uns von keinen Enttäu- liebe. Und damit meine ich nicht, dass wicklung zu inspirieren. Erstens wollte schungen entmutigen. Wir dürfen die wir Indien bekehren und taufen sollen, ich, dass ich eben nur Inspirator, Mentor, Armen nicht idealisieren und romanti- vielmehr, dass wir jenes tun, was Hindus Begleiter bin und die jungen Menschen sieren. Sie sind keine idealen Menschen, in ihrer Tradition so schwer fällt, näm- im Dorf selbst die Motoren der Entwick- sie sind keine aufgrund ihrer Armut lich in allen Menschen, wo sie auch lung werden, denen ich zunächst eine schon „bessere“ Menschen. Nüchtern leben, unsere Nächsten zu sehen, die Schulbildung ermöglichte. Zweitens war und realistisch, mit Klugheit und unserer tätigen Liebe würdig und mir bewusst, dass eine Entwicklung, die Bescheidenheit wollen wir zusammen bedürftig sind. Bestand hat, eine Generation lang kon- mit den jeweils Nächsten leben, die Das Christentum ist seit dem vierten sequent inspiriert und begleitet werden weniger bedeuten und weniger haben. Jahrhundert in Indien nachgewiesen, seit muss. Kurzzeitprojekte greifen nur bei Bemühen wir uns immer, uns innerlich dem 16. Jahrhundert wird das Land von Gruppen, die schon eine Entwicklung und im äußeren Handeln in die Gemein- Europa und Amerika aus missioniert. durchgemacht haben und nicht mehr am schaft der Nicht-Etablierten zu begeben. Das indische Christentum ist eine Min- Anfang stehen. Drittens wollte ich, dass Das gilt für Indien, das gilt auch für derheit von 2,6 Prozent, doch ist sein Entwicklung ganzheitlich verstanden Deutschland. „ Einfluss aufgrund seiner hervorragen- wird, nicht nur wirtschaftlich. Vor allem den Schulen und seiner guten Kranken- wollte ich, dass sich die Talente und häuser weit stärker, als diese Prozent- Fähigkeiten der Menschen bestmöglich zahl ahnen lässt. Doch eines hat das entfalten und sie dann als Träger der indische Christentum nicht erreicht: Es Entwicklung aktiv werden. Mir kam es

7 Interview Aktuell „Indien hat meine Sicht des Lebens stark beeinflusst“

Walter Meister

Walter Meister lebte mit seiner Familie sieben Jahre als Auslandslehrer in Bombay. Dr. Sushila Gosalia befragte den Mitar- beiter von „Meine Welt“ nach seinen Erfahrungen in Indien, nach seiner Meinung zum heutigen Indien und nach seiner Sicht der deutsch-indischen Beziehungen. Seine Antwort auf die Frage „Ist in Indien ein gewisser Rassismus feststellbar?“ haben wir schon im vorigen Heft 2 (September 2006) von „Meine Welt“ abgedruckt. Es folgt hier das restliche Interview. - Die Redaktion

Meine Welt: Herr Meister, Ihre erste 1985. Natürlich waren uns die vielen von den herbeigerufenen Trägern Reise nach Indien machten Sie 1969, als „Brahmin`s Restaurant“ in Tamil Nadu schleppen zu lassen. Auch während mei- Sie 29 Jahre alt waren. Was hat Sie zu aufgefallen, natürlich hatten wir das nes späteren Indienaufenthalts dauerte der Reise veranlasst? Welche Eindrücke ungläubige Staunen des Hotelpersonals es noch Jahre, bis ich unsere Erlebnisse hatten Sie damals von Indien – als Land bemerkt, als wir unsere Rucksäcke in einem größeren Zusammenhang zu wie auch als multikulturelle und multire- selbst zum Bahnhof trugen, anstatt sie verstehen gelernt hatte. Gerade aber ligiöse Gesellschaft? Begegneten Sie weil mein Indienbild aus einer Vielzahl einem faszinierenden Kulturland oder von Erfahrungen zusammengesetzt ist, bekamen Sie einen Kulturschock? fällt es mir heute noch schwer, die indi- sche Gesellschaft mit verallgemeinern- Walter Meister: Es ist bezeichnend für den Begriffen wie „tolerant“ oder „mul- eine Welt, die erst am Anfang der Glo- tikulturell“ zu beschreiben. balisierung stand, dass damals weder die Wörter „multikulturell“ und „multireli- Wenn man mit Rucksack und Wander- giös“ noch der Begriff „Kulturschock“ schuhen unterwegs ist, sucht man primär gebräuchlich waren. Ich war mit mei- nicht eine andere Kultur, sondern – sich nem Freund Gerhard Schweizer unter- selbst. Eine Reise nach Indien war wegs, und wir reisten mit großen, stau- damals (wie für viele „Traveller“ noch nenden Augen zwei Wochen durch Süd- heute) eine Selbsterfahrung, ein Sich- indien – und waren einfach fasziniert. selbst-Erproben angesichts nicht voraus- Ich erinnere mich noch genau an meinen berechenbarer Umstände. So sind wir ersten Morgen in Indien. Wir waren auf meiner zweiten Indienreise (mit mei- nachts in Tiruchy angekommen und ner Frau) in Bangalore einmal mit acht- standen, als wir am nächsten Morgen stündiger Zugverspätung gegen Mitter- das Hotel verließen, gleich mitten in Walter Meister ist 1940 geboren und nacht angekommen. Ein älterer Mann einem Blumen- und Obstmarkt, der der in Stuttgart aufgewachsen. Studiert war dann in der nächtlichen Stadt über Welt von Tausend-und-eine-Nacht ent- hat er Germanistik, Geschichte, Poli- eine Stunde mit uns auf Zimmersuche – nommen zu sein schien. Dieses Hochge- tik und Empirische Kulturwissen- vergebens, denn wegen der gerade statt- fühl begleitete uns auf der ganzen Reise, schaften in Stuttgart, Berlin und findenden Pferderennen war alles über- während unsere Eindrücke eher kaleido- Tübingen. Seine ersten Reiseerfah- belegt. Wir sind dann wieder zum Bahn- skopisch blieben: Dörfer unter Palmen rungen sammelte er als Student und hof hinausgefahren und haben uns dort, bei Cochin; der abendliche Tempelum- junger Lehrer in den Ländern rings wie viele indische Reisende auch, zum zug im Meenakshi-Tempel von Madu- ums Mittelmeer. Nach 13 Jahren als Schlafen auf den Boden gelegt. rai; über die Backwaters hinwegpeit- Gymnasiallehrer ging er 1980 mit schende Monsunschauer; Gespräche in seiner Frau und zwei Kindern als Ich erzähle das, um deutlich zu machen, der Eisenbahn z.B. über Max Müller, Auslandslehrer an die Deutsche dass sich die Frage nach einem Kultur- von dem wir noch nie etwas gehört hat- Schule Bombay. In dieser Zeit, aber schock für einen Traveller gar nicht ten... auch noch danach Reisen vor allem stellt. Er ist ja eben deshalb dort hin in Indien und Südasien. Nach der gefahren, weil das Reisen in diesem Wir waren reichlich naiv und ziemlich Rückkehr war er bis 1992 Leiter der Land vor ganz andere Herausforderun- ahnungslos ins Land gekommen. Es gab Volkshochschule Öhringen, danach gen stellt als seine bisherige Lebenswelt. zwar schon einen dünnen Polyglott-Rei- bis zu seiner Pensionierung wieder Spricht jemand von einem Kultur- seführer, aber die englische Ausgabe des Lehrer. Indien steht weiterhin im Mit- schock, hat das fremde Land bisher ver- „Travel Survival Kit“ von Indien gab es telpunkt seiner Interessen. drängte Ängste und Fantasien aktiviert, erst ab 1981, die deutsche nicht vor denen er sich nicht gewachsen zeigt. Ein

8 Kulturschock ist aus dieser Sicht ein schule mit 50 bis 60 Schülern in 10 nen Aufgaben, die Schüler auch an die Problem in der Psyche des Reisenden, Klassen. Es wurde jeder Schüler aufge- indische Umwelt heranzuführen. erst in zweiter Linie ein Problem des nommen, der bereit war, Deutsch als bereisten Landes. Unterrichtssprache zu akzeptieren. Waren wir beruflich sozusagen eine Unterrichtet wurde nach deutschen Außenstelle westlich-deutscher Kultur, Natürlich ist das Reisen in Indien auch Lehrplänen, denn die Schule hatte die so lebten wir doch mitten in einer indi- heute noch, je nach der Art des Reisens, Aufgabe, aus Deutschland kommenden schen Umwelt. Nach zwei Jahren in eine ungewöhnliche Herausforderung. Kindern zu ermöglichen, nach in der einem Hochhaus in Worli Seaface sind Deshalb weise ich zwar immer nach- Regel zwei bis fünf Jahren Aufenthalt wir in eine Seitenstraße unweit des drücklich darauf hin, dass ich Indien problemlos wieder ins deutsche Schul- Malabar Hill umgezogen in eine Ge- anders erlebt habe, versuche aber nie system zurückkehren zu können. Heute gend, die als Breach Candy bekannt ist. jemand umzustimmen, der mir sagt, er wird man diese Schule allerdings ver- Von dort konnte man zu Fuß in die Schu- reise nicht nach Indien, weil er die geblich suchen. Sie ist aus Sparsam- le gehen. Allein die Beobachtungen auf Armut oder den Schmutz dort nicht keitsgründen inzwischen in eine „Inter- dem täglichen Schulweg könnten Seiten ertragen könne. national School“ mit einem deutschen füllen. Salman Rushdie beschreibt in und einem englischen Schwerpunkt seinem Roman „Mitternachtskinder“ Sieht man das Reisen unter dem Aspekt umgewandelt worden. sein „Königreich“, das „Innerste seiner der Selbsterfahrung, wird verständli- Kindheit“ so: „Die Straße ... zweigt zwi- cher, dass der Traveller und erst recht schen einer Bushaltestelle und einer der Gruppenreisende – bei aller Aufge- kleinen Ladenzeile von der Warden schlossenheit – in der Regel nicht mehr Road ab. Chimalker`s Spielzeughand- als einige im Vorübergehen aufgelesene lung; das Paradies des Lesers; ... an dem Eindrücke und Urteile mit nach Hause salutierenden Pappkartonpagen der bringen kann. Man muss das fairerweise Tipp-Topp-Reinigung vorbei führte die zugestehen, wenn man die Unwissenheit Straße uns nach Hause.“ oder oft oberflächlichen Urteile von Indienreisenden beklagt oder belächelt. Das tat diese Straße auch für uns. Zwar Bei einer ersten Begegnung mit Indien heißt die Hauptstraße heute offiziell kann man irritiert oder fasziniert sein. Bhulabhai Desai Road, aber den Papp- Man sollte einen Koffer voll Fragen mit- kartonpagen haben wir noch erlebt, und bringen – Antworten und Urteile aber Chimalker`s war für unsere Kinder kein zurückstellen. geringerer Magnet als für den kleinen Salman, während mich im „Reader`s Mein damaliger Reisegenosse Dr. Ger- Paradise“ die billigen Bildbände über hard Schweizer hat seine Beobachtun- Indien und vor allem Stöße von Comics gen und Erlebnisse auf vielen weiteren zur indischen Geschichte und Mytholo- Reisen in Indien in einem Buch verar- gie anzogen, denen ich meine ersten beitet, das ein vertieftes Verständnis der „indologischen“ Kenntnisse verdanke. indischen Geschichte, Kultur, Religion und Gesellschaft ermöglicht („Indien. Ein für mich wichtig gewordener Ort Ein Kontinent im Umbruch“, Klett- war auch der sogenannte Chor-Bazar Cotta Stuttgart). Gerade weil es von All- (der „Diebesmarkt“), wo wir schon tagsszenen und Alltagserlebnissen aus- gleich anfangs die fehlenden Möbel ein- geht, leitet es dazu an, selbst zu beob- kauften, Tisch, Stühle und Schränke, die achten und die Andersartigkeit und heute noch in unserem Wohnzimmer ste- Eigenheit Indiens jenseits der mitge- Die damalige kleine, eher familiäre hen. Der Chor-Bazar wurde mir zum brachten Vorurteile zu verstehen. Des- Schule bot auch unseren Kindern, die Museum und zum Einstieg in die Welt halb ist das Buch gerade auch als Ein- bei der Einreise zweieinhalb und fünf vorindustrieller Gebrauchsgegenstände. führung vor oder als Vertiefung nach Jahre alt waren, ideale Bedingungen. Im Chor-Bazar stieß ich aber auch auf einer Indienreise besonders geeignet. Auftragsgemäß hatten Schule und ange- bronzene Ritualgegenstände der wenig schlossener Kindergarten eine „deutsche bekannten Volks- und Stammeskunst. Meine Welt: Von 1980 bis 1987 haben Insel“ in der indischen Umwelt zu bil- Da sie ganz und gar nicht der Vorstel- Sie in Bombay gelebt und an der dorti- den. Auch die deutsche „Community“ lung von „klassischer“ indischer Kunst gen Deutschen Schule unterrichtet. Wie traf sich zu den verschiedensten Veran- entsprachen, gab es damals dafür kaum muss man sich das Leben an einer sol- staltungen und Festen in der Schule. Käufer – indische schon gar nicht. Als chen Schule vorstellen? Hatten Sie Kon- Waren die Arbeitsbedingungen für den Besitzer solch eigenartiger Gegenstände takt zur indischen Gesellschaft oder Lehrer wegen der geringen Schülerzahl wollte ich dann auch mehr über ihren kamen Sie vorwiegend mit in Indien viel leichter, so wurde andererseits von religiösen und kulturellen Hintergrund lebenden Deutschen zusammen? ihm erwartet, dass er sich an der Schule wissen, und schon tat sich eine neue, und in der deutschen Gemeinde viel wenig bekannte Welt der indischen Meister: Die „Deutsche Schule Bom- stärker engagiert, als das gemeinhin der Volks- und Stammeskulturen vor mir bay“ war damals eine kleine Auslands- Fall ist. So gehörte ausdrücklich zu sei- auf. Als Cornelia Mallebrain 1993 ihre

9 Forschungsergebnisse im Katalog zu durchaus konkurrieren kann. Dazu Wem es schwer fällt, umzudenken, sich ihrer Ausstellung „Die anderen Götter. kommt die klassische indische Musik, anzupassen und sich auch einmal Volks- und Stammesbronzen aus Indien“ die wir jetzt für uns entdeckten. zurückzunehmen, wird sich in Indien nie veröffentlichte, fand ich dort auch Anga- wohlfühlen. Eine bessere Bezahlung ben über manches, was ich damals aus Das alles zeigt, dass sich das Leben in kann das auf die Dauer nicht ausglei- Neugier gekauft habe. Indien als „Resident“ von den Indiener- chen. Wer sich nicht von den vielfältigen lebnissen als Traveller erheblich unter- Festen und Bräuchen faszinieren lassen Das alles zeigt schon, dass es natürlich scheidet. Dabei kann es dann schon zu kann – von den ausgelassen feiernden die vielfältigsten Kontakte mit Indern einer ganz anderen Art von Kultur- Massen bei der Versenkung der oft gab. Da gab es die „offiziellen“ Einla- schock kommen, z.B. wenn man für eine gewaltigen Ganesh-Statuen im Meer bis dungen an Inder und Deutsche des Wohnung im Hochhaus astronomische zu den hochemotionalen Geißler-Zügen Generalkonsulats oder des Schulvereins Mieten auf zwei Jahre im Voraus und auf der Schiiten im Monat Muharram –, der oder auch aus privatem Anlass, aber ein Konto in einem Golfstaat bezahlen wird sich in Indien wie in der Verban- auch persönliche Begegnungen im soll, während die Angestellten der Hou- nung fühlen. Wer in Deutschland Pro- Umkreis der Schule oder auf Reisen. Im sing-Society froh waren, mit ihrer Fami- bleme mit sich selbst und anderen hatte, günstigen Fall kann man dabei viel über lie in einer Garage hausen zu dürfen. der wird diese in Indien vergrößert wie- indisches Denken erfahren – wenn man Schockierend für uns war auch das der vorfinden; wer sich aber dem viel- Pech hat, kann man aber auch ausführ- generelle Misstrauen gerade der „klei- fältig Neuen öffnen und kritische lich z.B. über „die 5000 Jahre alten nen Leute“ gegen die Polizei; wobei wir Distanz wahren kann, der wird eine Veden“ belehrt werden oder einer Dis- selbst allerdings, z.B. als unser Auto ein- ebenso schillernde wie tiefgründige kussion über die besondere Reinigungs- mal gestohlen worden war, immer kor- neue Welt entdecken, die sein Leben und Selbstreinigungskraft des Ganges- rekt behandelt wurden. bereichern und verändern kann. wassers lauschen müssen. Eine wirklich persönliche Beziehung hatten wir nur zu einem indischen Freund, der in Deutsch- land studiert hatte und mit dem zusam- Indische Religiosität men wir auch größere Reisen machten. Er hat durch uns, wie er selbst sagte, (Auszug aus einem Gespräch mit dem bekannten indischen Psychoanalytiker Indien kennen gelernt, wir haben durch Sudhir Kakar. Mit Herrn Kakar sprach Herr Adalbert Reif.) ihn Einblick in indisches religiöses Den- ken und Fühlen erhalten. GA: Herr Kakar, das europäische Bild mus von dem anderer Religionen? Indiens war lange literarisch geprägt. Meine Welt: Wie beurteilen Sie Ihr Im deutschen Sprachraum wurde es KAKAR: Der große Unterschied des Leben in Bombay? wesentlich von dem Dichter Hermann Hinduismus zu den anderen Religionen mitbestimmt. Inwieweit ent- besteht in seiner Vielfalt: Er bietet dem Meister: Das Leben in Indien erfordert spricht dieses Bild noch der Wirklich- Menschen ein breites Spektrum von sicher auch heute noch eine goße Anpas- keit? Möglichkeiten, religiös zu sein. Auch sungsleistung. Was z.B. eine große Hilfe ist der Hinduismus keine organisierte ist, kann anfangs auch Quelle mancher KAKAR: Ich glaube nicht, dass die- Religion, es gibt keine Kirche und kein Missverständnisse sein: das Zusammen- ses Bild völlig falsch ist. Indien besitzt heiliges Buch. leben mit einer indischen Haushalthilfe noch heute eine intuitive Beziehung in der selben Wohnung. Die „Nanny“, zum Spirituellen. Als Psychoanalytiker GA: Halten Sie im Zuge der Moderni- wie sie missverständlich bezeichnet nenne ich Indien „das Unbewusste des sierung Indiens eine Auflösung der wird, ist nicht nur Kindermädchen, sie Westens“. Alles, was im Westen ver- religiösen Strukturen für möglich? kauft auch ein, kocht und ist bei vielen drängt wird, geschieht in Indien in Gelegenheiten unentbehrlich. Wenn man größter Offenheit. So übt das Mysti- KAKAR: Die Religiosität ist so tief im Glück hat, kann man eine Nanny von sche eine Faszination auf den westli- indischen Wesen verankert, dass ich einer ausländischen Familie, die Bom- chen Menschen aus. mir eine Auflösung der Strukturen bay verlässt, übernehmen; sie kennt nicht vorstellen kann. Ich glaube, dass dann schon manche ausländischen GA: Welchen Platz nimmt die Spiritu- sich durch die zunehmende Einbin- Eigenheiten. Aber wer hat uns, meine alität im indischen Weltbild ein? dung Indiens in den Modernisierungs- Frau und mich, auf unsere Rollen als prozess neue Konturen der Religiosität „Memsab“ und „Saab“ vorbereitet? KAKAR: Die Spiritualität ist das Gen herausbilden werden. Auf Kontempla- der indischen Religiosität. Die höchste tion ausgerichtete Bewegungen verlie- Mit einer Nanny in der Wohnung konn- Stufe der religiösen Entwicklung eines ren an Anziehungskraft. Andererseits ten meine Frau und ich erstmals seit fünf Menschen ist das Erreichen jener werden vernachlässigte Traditionen zu Jahren wieder gemeinsam ausgehen. mystischen Einheit, wo Gott nicht neuem Leben erweckt. Nicht dass uns die Einladungen so mehr gebraucht wird. gereizt hätten, aber Bombay hatte vor (Quelle: „Das Unbewusste des Westens“, Gene- allem im „Winter“-Halbjahr ein kultu- GA: Worin unterscheidet sich das reli- ral Anzeiger Bonn, 7./8.10.2006) relles Programm aus aller Welt zu bie- giöse Selbstverständnis des Hinduis- ten, das mit dem westlicher Hauptstädte

10 Meine Welt: Was bedeutet Indien heute Meister: Heute von Deutschland aus sich auch künftig unvermutet in schreck- noch für Sie? gesehen, kann ich nicht finden, dass die lichen Gewaltausbrüchen entladen kön- Konflikte in Indien zugenommen hätten. nen. Meister: Als wir nach sieben Jahren Vielleicht erlebt man vor Ort die Ereig- Indien verließen, sagte uns unser Ver- nisse viel intensiver. Wir haben z.B. Meine Welt: Herr Meister, das Jahr stand, dass es – besonders auch für unse- damals den Sturm des Militärs auf den 2006 scheint in Deutschland ein Indien- re Kinder – höchste Zeit sei, nach Goldenen Tempel der Sikhs in Amritsar Jahr zu sein. Auf der Hannover-Messe Deutschland zurückzukehren. Gleich- miterlebt (den wir ein halbes Jahr vorher war Indien Partnerland, bei der Bienna- zeitig wurde uns schmerzlich bewusst, noch besucht hatten), dann die Ermor- le in Bonn war es Schwerpunktland, bei wie sehr wir emotional mit dem Leben dung Indira Gandhis und die sich an- der Frankfurter Buchmesse Hauptgast- in Indien verbunden waren. Erst jetzt schließende Treibjagd auf Sikhs vor land. Scheint Indien in Deutschland wurde uns klar, dass Indien uns zu einer allem in Delhi und schließlich den einen völlig neuen Stellenwert zu be- zweiten Heimat geworden war. Beginn der bürgerkriegsähnlichen kommen? Oder ist das nur eine vorüber- Zustände im Punjab, wo jahrelang kein gehende Euphorie? Unser Indienaufenthalt hat meine Sicht Tag (und keine Nacht) verging, ohne des Lebens stark beeinflusst. Seit unse- dass Menschen ermordet wurden. Ich Meister: Ich möchte zunächst einmal rer Rückkehr versuche ich, einiges hätte damals nie geglaubt, dass der Pun- festhalten, dass Indien in Deutschland davon in Deutschland zu vermitteln, vor jab jemals wieder Frieden finden würde, seit fast 200 Jahren einen besonderen allem durch Vorträge und Ausstellungen, ohne sich von der Indischen Union Stellenwert besitzt, wenn man den indi- seit 1997 auch durch Mithilfe bei gelöst zu haben. schen mit dem Stellenwert z.B. von „Meine Welt“. Im Frühjahr 2004 war ich China oder Japan vergleicht. Wir Deut- wieder mit Gerhard Schweizer in Indien Die separatistischen Bestrebungen vor schen müssen nun aber nachvollziehen, unterwegs, vor allem in Ajmer und allem in den südindischen Staaten sind dass sich Indien längst selbst einen Nizamuddin (Delhi), wo wir Material heute fast verschwunden, seit dort Re- neuen Stellenwert gegeben hat. Wir dür- für sein neues Buch sammelten, das mit gionalparteien die Interessen ihrer Be- fen allerdings auch nicht in das andere dem Titel „Der unbekannte Islam. Sufis- völkerungsgruppen auch im Zentralpar- Extrem verfallen, die noch bestehenden mus – die religiöse Herausforderung“ im lament und vor allem als Koalitionspart- strukturellen inneren Schwächen zu ig- März 2007 bei Klett-Cotta erscheinen ner in der Zentralregierung vertreten norieren. Verschiedene indische Regie- wird. können. Nachdem die BJP die Regie- rungen haben ihren Unternehmern zu- rung übernommen hatte, hatte sie kein nehmend mehr Handlungsfreiheit gege- Meine Welt: In den letzten zwanzig Jah- Interesse mehr daran, den Konflikt um ben mit dem Ziel, in der Weltwirtschaft ren hat sich in Indien viel verändert. Wie die Moschee von Ayodhya neu anzuhei- endlich eine Position einzunehmen, die beurteilen Sie die sozio-ökonomische zen oder gar, wie angedroht, Muslime dem indischen Potential entspricht. Entwicklung dort im Zuge von Liberali- und Christen auszugrenzen. Sonja Euphorie finde ich vor allem bei einer sierung und Globalisierung? Gandhi war klug genug, nicht mehr das Minderheit von Indern, die von der Amt des Premierministers anzustreben; neuen wirtschaftlichen Entwicklung Meister: Ich denke, wir sind in Deutsch- damit hat sie ihren Kindern die Chance maßlos profitiert. Einige von ihnen land zu weit entfernt, um vor allem die erhalten, die Gandhi-Dynastie fortzuset- genieren sich nicht einmal, der Welt das sozialen Veränderungen richtig zu erken- zen. Schauspiel einer „Märchenhochzeit“zu nen oder gar beurteilen zu können. Ich bieten, wie es kürzlich in London ge- möchte deshalb nur eine Randbemerkung Der Anschlag auf das Zentralparlament schah. Angesichts immer noch gezahlter machen. Pünktlich zur Buchmesse sind in in Delhi und die jüngsten Bombenatten- Hungerlöhne kann ich ein solches Deutschland zwei Bücher mit iden- tate auf die Bombayer Vorortzüge ent- Maharaja-Gehabe nur als obszön emp- tischem Titel erschienen: „Weltmacht sprangen weniger innerindischen Kon- finden. Indien“ (von Olaf Ihlau bzw. Harald flikten; sie sind im Zusammenhang einer Müller). Wer heute durch Indien reist, weltweiten Politik des Terrors zu verste- Die Frankfurter Buchmesse hat, was die kann von der „Weltmacht“ allerdings hen. Indische Muslime dagegen, so indische Literatur in englischer Sprache wenig sehen. Die mit viel politischem haben jetzt wieder unsere Beobachtun- betrifft, nur einen in Deutschland vor- Gedöhns gebauten „Highways“ z.B. gen gezeigt, sind stark vom Geist des handenen Trend vertärkt. Diese Literatur ähneln eher Landstraßen als Autobahnen Sufismus geprägt, dem Geist der islami- gehört längst zur Weltliteratur. Wichtig (die man allerdings inzwischen in China schen Mystik, der von Geist des Jihad für ihren Erfolg ist wohl auch, dass es finden kann). Auch wenn Indien – ver- und des Fundamentalismus meilenweit heute immer mehr Leser gibt, die die glichen mit der vorangegangenen Stag- entfernt ist. Erfahrungen dieser Schriftsteller in und nation – heute große wirtschaftliche Fort- zwischen zwei (und mehr) Kulturen tei- schritte macht, die „Weltmacht“ wird Es grenzt tatsächlich an ein Wunder, len. man wohl noch längere Zeit eher zwi- dass die Indische Union ihren vielfälti- schen deutschen Buchdeckeln finden als gen inneren Konflikten nicht nur stand- Ganz anders steht es mit den Überset- im indischen Hinterland. gehalten hat, sondern dass dieses Kon- zungen aus indischen Regionalsprachen. fliktpotential für den Gesamtstaat, wie In der Literatur-Sonderbeilage der Meine Welt: Wie beurteilen Sie die ich meine, weniger gefährlich geworden „ZEIT“ Nr. 40 (September 2006) erfah- zunehmenden ethnischen, religiösen und ist. Das schließt nicht aus, dass die viel- ren wir zwar viel über „Das Land der 18 sozialen Konflikte in Indien? fältig vorhandenen latenten Konflikte Sprachen“, die 7 ausführlich beproche-

11 nen indischen Werke sind aber aus- Entwicklungszusammenarbeit nahmslos aus dem Englischen übersetzt, für einen Roman aus dem Hindi reicht es gerade noch für eine Kurzrezension. Es Rourkela – Ein Rückblick sieht also nicht so aus, als würde sich der Stellenwert der „eigentlich“ indischen Dr. Jan Bodo Sperling Literatur so schnell ändern. Die Gründe sind im letzten Heft von „Meine Welt“ Das Rourkela-Stahlwerk war das erste bedeutende Projekt der deutschen Entwick- ausführlich dargestellt worden. Der lungshilfe in Indien. Der Grundstein für den Bau dieses Werkes wurde 1956 im Bun- deutsche Leser kennt einfach die desstaat Orissa gelegt. Tausende von deutschen Ingenieuren, Technikern und Mana- Schreibtraditionen und Symbolwelten gern wurden nach Rourkela geschickt, um das Projekt nach dem neuesten Stand von der Regionalkulturen zu wenig, um sie Wissenschaft und Technik in Zusammenarbeit mit indischen Partnern fertig zu stel- für mehr als Folklore halten zu können len. Für den Bau des Stahlwerkes musste etwa 8000 Hektar Land enteignet werden, (noch mein Musiklehrer hat indische und zwar in einem Gebiet, das traditionell das Wohngebiet der Adivasi (Stammes- klassische Musik für Volksmusik gehal- bevölkerung) war. So mussten etwa 2300 Familien mit ca. 16000 Menschen umge- ten). siedelt werden.

So hat die Buchmesse durch die neu er- Nachfolgend steht ein Beitrag von Dr. Jan Bodo Sperling, einem deutschen Sozial- schienenen Übersetzungen aus den Re- wissenschaftler, der 1958 nach Rourkela entsandt wurde, um sich um das Wohler- gionalsprachen für einen Anstoß ge- gehen der etlichen tausend Deutschen zu kümmern, die beim Aufbau des Hütten- sorgt. Es liegt nun an uns, diese Vorlage werks vor Ort beteiligt waren. Der Beitrag ist die Zusammenfassung eines Vortra- aufzunehmen und in unseren Er- ges, den Herr Sperling gehalten hat auf der Tagung „Rourkela und die Folgen. 50 klärungs- und Vermittlungsbemühungen Jahre industrieller Aufbau und soziale Verantwortung in der deutsch-indischen nicht nachzulassen, auch wenn wir da- Zusammenarbeit“, die das Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter vom 22.09. bis mit keine Euphorie erzeugen können. „ 24.09.06 in Königswinter veranstaltet hat. Die Tagung fand in Kooperation mit der Adivasi-Koordination in Deutschland und dem Südasienbüro e.V., Bonn, statt. - Die Redaktion

Ich bin Sozialwissenschaftler mit dem Hin- Begleiterscheinungen der Industria- Neue Broschüre für tergrund praktischer Arbeit in Handwerk, lisierung im Raume Rourkela. Zuwanderer Handel und Industrie. Ich wurde nach Rourkela entsandt, um mich um das Wohl- Es gelang mir, den persönlichen Lern- Für Menschen, die neu in Deutsch- ergehen der etlichen tausend Deutschen zu prozess aus dem Rourkela Projekt in land sind, hat das Bundesministeri- kümmern, die beim Aufbau des Hütten- eine 15-jährige Tätigkeit als interkultu- um des Innern die Broschüre „Will- werks Rourkela vor Ort beteiligt waren. reller Fortbildungs-Spezialist für die kommen in Deutschland“ herausge- Vereinten Nationen in vielen Ländern in geben. Sie bietet auf 172 Seiten viele Für mich begann dieser Rourkela-Ein- Asien, Afrika und Latein Amerika um- nützliche Tipps und Hinweise für die satz 1958 als physisch anstrengendes zumünzen. Später gründete ich eine ersten Wochen in Deutschland. In Abenteuer und endete 4 Jahre später als internationale Beratungsfirma in zwölf Kapiteln können sich Migran- eine ungewöhnliche intellektuelle Her- Deutschland, der Schweiz und Öster- tinnen und Migranten über alle wich- ausforderung, die ihren Ausdruck und reich, die sich mit der Lösung von inter- tigen Lebensbereiche informiere, wie ihre Fortsetzung fand in: kulturellen Problemen in Firmen und Wohnen, Arbeit und Beruf, Kinder Organisationen befasst. und Familie, Schule und Studium – 3 Jahren intensiver Studien der So- oder Gesundheit und Soziales. ziologie und der Politischen Wis- Der deutsche Kultur-Schock von senschaften an den Universitäten Rourkela Die Publikation bietet zahlreiche Aachen und Harvard, Eine Analyse des Aufbaus des Hütten- Kontaktadressen von Behörden, Mi- werks Rourkela möchte ich wie folgt nisterien und weiteren Anlaufstellen. – einem Buch über Erfahrungen mit zusammenfassen: Dort wiederum erhalten die Neubür- der Technischen Entwicklungshilfe gerinnen und Neubürger telefonisch, am Beispiel Rourkelas (ein Buch, – die technologische Planung und vor Ort oder im Internet Auskünfte zu das in Deutschland und in den RSA Durchführung des Projektes war Fragen des täglichen Lebens oder erschien), ausgezeichnet; Unterstützung bei persönlichen Pro- – technisch und organisatorisch gab blemen. – einem Buch über die Situation der es eine Reihe von unvorhergesehe- www.bmi.bund.de oder Publikationsversand der Adivasi, die wegen der Industriali- nen Pannen, die jedoch erfolgreich Bundesregierung, Postfach 48 10 09; 18132 Rostock, sierung in Rourkela aus ihren ange- überwunden werden konnten; Tel.: 01805 77 80 90 (0,12 Euro/Min. aus dem deut- schen Festnetz). E-Mail: Publikationen@bundesre- stammten Siedlungsgebieten wei- – politisch war das Projekt höchst gierung.de Artikelnummern:Deutsch BMI06317; chen mussten, problematisch. Weil niemand an die Englisch BMI06321 Notwendigkeit gedacht hatte, den (Quelle: Innenpolitik 3, Oktober 2006) – der Mitarbeit an einem Gutachten der Aufbau mit entsprechenden PR- Bundesregierung über die sozialen Maßnahmen zu begleiten, wurden

12 die Deutschen durch allerlei negati- liche Bevölkerung (also in erster Indien“, vorgelegt von Franz Lepinski, ve, höchst kritische Berichte in der Linie für die Adivasi) vorsah, um Dr. Christa Rauhut, Dr. Erna Sailer, indischen Presse überrascht; wobei diesen Menschen eine reelle Chance J.Bodo Sperling, angefertigt im Auftrage es sich in der Regel um gut platzier- auf sinnvolle Umsiedlung und lang- des Bundesministeriums für Wirtschaft- te Anti-Meldungen der gleichzeitig fristige Entwicklung zu geben, die liche Zusammenarbeit im Februar im Aufbau befindlichen und daher ihnen eine wirtschaftliche Basis 1964.) mit Rourkela konkurrierenden russi- gesichert hätte. (Einzelheiten sind schen und englischen Hüttenwerke nachzulesen in meinem Buch Meine Analyse des Problems der Adiva- in Indien handelte; „Rourkela, Sozio-ökonomische Pro- si, so wie es in meinem Buch aus dem – was den Human Ressource Teil des bleme eines Entwicklungsprojek- Jahre 1963 wie auch in dem erwähnten Projektes anbetrifft, so muss dieser tes“, Bonn (Eichholz) 1963.) Experten-Bericht an die deutsche Regie- – von wenigen Ausnahmen abgese- rung im Jahre 1964 beschrieben ist, hen – als Katastrophe bezeichnet Das Problem der Adivasi kann ich hier nochmals wie folgt zusam- werden. Obgleich ich – wie bereits erläutert – menfassen: über mehrere Jahre aktiv am Aufbau- Lassen Sie mich meine Kritik zu diesem Prozess des Rourkela Hüttenwerks be- – Die indische Regierung und die letzten Punkt erläutern: teiligt war, gehörte das Adivasi-Problem damals regierungseigene Stahlfirma – für mich war durchaus positiv, dass nicht zu meinem Aufgaben- und Arbeits- Hindustan Steel Ltd. haben wenig schon während der Planungsphase bereich. Alles, was ich in dieser Hinsicht oder fast nichts getan, um die orts- eine größere Anzahl indischer Inge- zu sagen habe, basiert ausschließlich auf ansässige Bevölkerung wirkungs- nieure in Deutschland in denjenigen mehr oder weniger zufälligen Beobach- voll zu unterstützen, mit den Aus- Firmen vorbereitet und ausgebildet tungen in der Zeit 1958 bis 1962 oder wirkungen von Zwangs-Umsied- wurden, die später am Aufbau von aber auf Informationen und Fakten, die lung und drastischer Umweltverän- Rourkela beteiligt waren; ich später als Mitglied der Experten- derung fertig zu werden. Es ist wohl – als positiv möchte ich auch die vor- kommission im Jahre 1964 erhob. Mit offensichtlich, dass Kompensations- ausschauende Planung eines deut- dieser Kommission von Sozialwissen- leistungen in Geld oder Gut – von schen Sozialzentrums bezeichnen, schaftlern und Praktikern sollten wir im denen behauptet wird, dass sie er- das dem deutschen Aufbaupersonal Auftrag der deutschen Regierung die folgt sind – sinnlos bleiben müssen helfen sollte, die Schwierigkeiten Situation der indischen Menschen im in einer Situation, wo ausschließlich und Härten zu überwinden, die sich Umfeld von Rourkela auf Folgen der mittel- und langfristige Maßnahmen durch das tropische Klima und die Industrialisierung untersuchen. (Einzel- in den Fachbereichen Erziehung, Fremdheit der Umgebung zweifel- heiten sind nachzulesen im (unveröf- Weiterbildung, soziale Unterstüt- los für sie ergaben; fentlichten): „Bericht über Begleiter- zung und Veränderungs-Hilfe den – ziemlich negativ fand ich, dass die scheinungen der Industrialisierung im erforderlichen Erfolg gebracht hät- deutschen Firmen ihrem Personal sozialen Bereich im Raume Rourkela/ ten. keine einheitlichen Arbeitsverträge für Rourkela anbieten konnten. Als Folge ergaben sich allerlei Unzu- Indien und China friedenheiten mit unterschiedlichen Arbeits- und Wohnbedingungen, Bis zur Jahrtausendwende haben die Pekings Währungsreserven sind inzwi- über die sich die Monteure, Ingeni- Exporte aus Chinas Fabriken die schen mit 850 Milliarden Dollar welt- eure und ihre Familien untereinan- Marke von 200 Milliarden Dollar weit die höchsten, fünfmal so groß wie der austauschten und damit das überschritten, die von Indien lagen Neu-Delhis, das hier jedoch gleichfalls menschliche Klima belasteten; unter 50 Milliarden. China war bei den aufgeholt und Moskau bereits überflü- – als außerordentlich negativ bezeich- meisten wirtschaftlichen und sozialen gelt hat. ne ich die Tatsache, dass die deut- Indikatoren vorn, bei der Beseitigung Das Durchschnittsalter in China liegt sche Industrie über einen Zeitraum der Armut, in der Infrastruktur, der derzeit bei 33 Jahren, das in Indien bei von vielen Jahren Männer und Frau- Grundschulausbildung und im Ge- 25. Während Pekings Ein-Kind-Politik en in ein weit entferntes, fremdes sundheitswesen. Nur in den Sektoren den bevölkerungsreichsten Staat der Land unter unbekannten, schwieri- Informationstechnologie, Pharmazie Welt in eine demografische Krise führt, gen Arbeitsbedingungen entsandte, und in der Anmeldung von Patenten wächst Indien mit einer Geburtenrate ohne diese auf eine Anpassung an dominierten die Inder. von 1,6 doppelt so schnell, und dies auf Indien und seine Menschen vorzu- nur einem Drittel der Fläche Chinas. bereiten oder ihnen dazu wirksame Heute ist Chinas Pro-Kopf-Einkom- Damit wird der Subkontinent jünger Hilfen anzubieten. (Einzelheiten men doppelt so hoch wie das von Indi- bleiben bis weit in die Mitte des 21. sind nachzulesen in meinem Buch en. Bei den ausländischen Direktinve- Jahrhunderts. „Die Rourkela-Deutschen“, Stutt- stitionen erhält der Subkontinent bis- - Thomas Speckmann gart (DVA) 1965); lang nur einen Bruchteil der Mittel, die – gleicherweise negativ ist für mich in die Volksrepublik fließen, hat sich (Quelle: Auszug aus dem Beitrag „Gigantischer auch die Tatsache, dass die Planung jedoch auf Platz zwei vorgeschoben, Aufstieg“, Zeit Literatur, Nr. 40, September 2006) von Deutschen und Indern keine noch vor die Vereinigten Staaten. wirksame Unterstützung für die ört-

13 – Was die deutschen Planer anbetrifft, zu treffen haben, über das nötige Ver- unserer Kenntnisse der Gefahren – las- so ist es schwierig, heute noch zu ständnis und das nötige Bewusstsein für sen Manager und Entscheider aller beurteilen, ob sie seinerzeit die not- die Bedeutung der notwendigen Über- Arten, aller Nationen die inzwischen wendige Erfahrung und/oder die windung der interkulturellen Schwierig- wieder und wieder gemachten Erfahrun- Möglichkeit hatten, um Unterstüt- keiten verfügen. Ich bin da außerordent- gen außer Acht. Diese Menschen schei- zung für die eingesessene Bevölke- lich pessimistisch. Sogar heute, nach- nen blind zu sein gegenüber allen inter- rung anzubieten. Es gilt jedoch zu dem 50 Jahre vergangen sind, gibt es kulturellen Schwierigkeiten und deren bedenken, dass die Deutschen zu anscheinend noch immer zwei unter- Folgen. In ihrem Bestreben, ihre Macht- dieser Zeit wenig oder keine Erfah- schiedliche Kulturen, die zusammenge- und Profitbasis zu erweitern, vernach- rung hatten in diesem Bereich und bracht, die vereint werden müssen: die lässigen sie die betroffenen Menschen. dass die indischen Partner außeror- Menschen des Hüttenwerks und die Adi- Sie sehen nicht die tiefen Gräben, die dentlich empfindlich zu reagieren vasi. Obgleich alle von mir bereits zwischen den Personengruppen und pflegten auf jegliche Hilfeangebote, erwähnten erfahrenen Experten durch- deren gewachsenen Kulturen bestehen die über den Rahmen technologi- aus wissen, dass das Zusammenführen mit dem traurigen Ergebnis, dass heute scher oder technischer Art hinaus- von Menschen zweier unterschiedlicher zwei Drittel aller derartigen Zusammen- gingen. Kulturen eine schwierige Aufgabe schlüsse auf der Strecke bleiben, sie – Immerhin, das deutsch BMZ er- bedeutet, die besondere Methoden sowie funktionieren nicht! Wir können das kannte offensichtlich im Jahre 1964, Zeit und Geduld erfordert, so wird diese ständig erfahren in der einschlägigen dass im Bereich von Human Re- Erfahrung doch noch immer wenig Presse. Wie können wir erwarten, dass sources im Umfeld von Rourkela et- genutzt von Managern, Entscheidern, die Entscheider in der Rourkela-Situati- liches im Argen lag; warum hätte Politikern. Als Teil der berühmten „Glo- on mehr Voraussicht, mehr Einfühlungs- das BMZ sonst wohl eine Gruppe balisierung“ leben wir heute in einer vermögen, mehr Verständnis aufbringen von Experten vor Ort eingesetzt, um Welt von Zusammenschlüssen, von so werden für die gegenwärtig vorherr- die Situation genauer zu erkunden genannten „Mergern“. Große wie kleine schenden menschlichen Probleme als ir- und Vorschläge für Korrektur und Unternehmen auf allen Kontinenten gendwo anders in unserer modernen Verbesserung zu machen? Auf der bemühen sich in steigendem Maße, sich Welt? anderen Seite bleibt die Frage offen, zusammenzuschließen, größere Unter- warum die deutsche Regierung die nehmen durch Merger zu schaffen. Und Ich denke, ich habe allen Grund, pessi- Vorschläge der Experten, Sozial- – trotz unseres besseren Wissens, trotz mistisch zu sein! „ arbeits-Spezialisten nach Rourkela zu entsenden, nicht umsetzte? War das BMZ mit den Vorschlägen nicht Globalisiertes Indien einverstanden? Hatte es keine Mittel für einen solchen Einsatz? Scheute Mehr als sechs Prozent Wachstum in Konsumtempel für die neue Mittel- sich das BMZ die Probleme mit den kommenden Jahren prognostizie- schicht, auf der anderen Seite bittere ihren indischen Partnern zu erör- ren Wirtschaftswissenschaftler für Armut. Der Graben zwischen Arm und tern? Auf diese Fragen habe ich Indien. Besonders in der Softwarein- Reich wird tiefer, betont der Autor, keine Antwort. dustrie und im Dienstleistungssektor denn das Wirtschaftswachstum wird entstehen neue Arbeitsplätze. Dort nicht mit Verteilungsgerechtigkeit ge- Folgerungen arbeiten die rund 200 Millionen Kon- koppelt. Während sich die gehobene Wir sind uns darüber klar, dass die Adi- sumenten, die sich am Lebensstandard Mittelschicht und die Oberschicht als vasi-Situation im Rourkela-Umfeld des Westens orientieren. Erwartungs- Teil der internationalen, globalen Elite immer noch ein ungelöstes Problem frohe Exporteure in den USA, Europa empfinden, wächst in den Slums der bedeutet. und Asien sehen neue Absatzmärkte für Großstädte und besonders unter der Autos, Versicherungen und Luxusgüter. Landbevölkerung der Unmut über die Heute, 50 Jahre nach Beginn des Rour- Internationale Investoren versprechen jüngsten Entwicklungen. kela-Projektes, können wir nicht mehr sich Kostenvorteile von Steuervergün- Der Mehrheit des Milliardenvolkes vom Mangel an einschlägiger Erfahrung stigungen, von billigen aber qualifi- bleibt die Rolle des globalen Müllent- sprechen. Weder auf deutscher noch auf zierten Arbeitskräften, von niedrigen sorgers, zum Beispiel von Asbest- indischer Seite. Es gibt ausreichend Umwelt- und Sozialstandards und ver- Schiffen, die Hilfsarbeiter ohne gesammelte Erfahrung auf Seiten von lagern deshalb ganze Produktionsstad- Schutzkleidung an der indischen West- Veränderungs-Experten (change- orte nach Indien. küste abwracken, oder von Elek- agents), Sozialwissenschaftlern und troschrott, ausgedienten Computern, Erwachsenenbildnern, um die interkul- Inseln des Wohlstandes sind erkenn- Bildschirmen und Mobiltelefonen, die turellen Probleme der Menschen im bar: Die Vorstädte von Millionenme- aus den USA, Japan oder der EU nach Bereich des Rourkela Hüttenwerks wie tropolen, zum Beispiel von Neu Delhi, Indien verfrachtet werden. auch in dessen Umfeld zufrieden stel- Haiderabad oder Bangalore, gelten - Dieter Smolka lend zu lösen. Dies gilt für die Deut- als Wahrzeichen des aufstrebenden (Quelle: „Müllentsorger der Globalisierung“, schen genau so wie für die Inder. Indiens. Diese Orte symbolisieren aber Rezension (Parlament 2.10.06) von „Zwischen Verzweiflung und Widerstand. Indische Stimmen gleichzeitig die Zerrissenheit der indi- gegen die Globalisierung.“, Gerhard Klas, Edi- Keinesfalls klar ist jedoch, ob diejeni- schen Gesellschaft: Auf der einen Seite tion Nautilius, Hamburg 2006.) gen, die diesbezüglich Entscheidungen

14 50 Jahre „deutsches” Hüttenwerk Rourkela

Abgeschlossener Fall oder historische Verantwortung? Fachtagung vom 22.-24. September 2006 in Königswinter

„Rourkela“ – ein Name voller Exotik: an. Von 1957 stammen die Behörden- Von indischer Seite legte vor allem Dahinter steht eine Ortschaft in Indien, Bescheide zur Zwangsumsiedlung von Suchita Bilung ein beeindruckendes die es vor gut 50 Jahren bis auf die Titel- Adivasi im Gebiet des heutigen Mandira- Zeugnis vom Leidensweg ihrer Gemein- seite des „Spiegel“ brachte. Dank des Stausees. Als es Probleme mit der Finan- schaft im Gefolge der Zwangsumsied- damals mit deutscher Hilfe aufgebauten zierung gab, kam 1958 die „Kreditanstalt lung ab. Bilungs Vorfahren bildeten eine Hüttenwerkes ist Rourkela heute eine für Wiederaufbau“ mit einem Vorzugs- große Ausnahme unter den Adivasi: Die mittelgroße Stadt mit rund 400.000 Ein- Kredit in Höhe von 660 Mio. DM ins Familie ihres Großvaters, der in der wohnern. Als es noch ein Dorf war, leb- Spiel. Der erste Hochofenanstich fand am Armee war, konnte auf ein festes Ein- ten dort fast ausschließlich Adivasi. Die 27. Januar 1959 in Beisein des damaligen kommen und auf ein gewisses Geldver- Ureinwohner wurden – und es ist auch indischen Präsidenten Rajendra Prasad mögen zurückgreifen. Auf dieser Grund- teils heute noch so – nicht ernst genom- statt. 1961 schließlich waren die lage wurde auch den Nachfahren eine men, sie galten als wild und rückständig. Aufbauarbeiten abgeschlossen. gute Ausbildung möglich – Suchita In der Titelgeschichte des bereits er- Bilung arbeitet heute als Angestellte wähnten Nachrichtenmagazins vom 30. Das Hüttenwerk und die für die Arbei- einer Bank in Bhubaneshwar. Für die März 1960, die sich überwiegend mit terschaft geplante Wohnstadt hatte einen meisten Adivasi bedeutete die Zwangs- den Anpassungsproblemen schlecht auf Flächenbedarf von etwa 8.200 Hektar, umsiedlung jedoch ein großes Trauma, ihren Indien-Einsatz vorbereiteter das entspricht mehr als 4.000 Fußball- über das sehr viele von ihnen nicht hin- Arbeitskräfte befasst, kommen die Adi- feldern. Rund 13.000 Adivasi aus 32 wegkamen. Der Ehemann von Suchita vasi kaum vor. Weilern wurden zwangsumgesiedelt. Bilung, Nabor Soreng, ebenfalls Adivasi Das Gebiet des heutigen Mandira-Stau- und ebenfalls aus der Nähe von Rour- Die Jubiläumsphase für das bisher größ- sees mußten rund 9.000 Menschen, die kela stammend, ist als Sozialwissen- te deutsche Entwicklungsprojekt gab in 31 Weilern eine Dorfgemeinschaft schaftler an einem Institut in Bhu- jetzt den Anlass zu einer kritischen gebildet hatten, verlassen. Der Kernge- baneswar tätig. In einem bemerkenswer- Besinnung über die sozialen Folgen danke der Fachtagung vom 22. bis 24. ten Vortrag arbeitete Nabor Soreng die eben dieses Projektes. Als Grundlage September in Königswinter bestand Gegensätzlichkeit zwischen der etablier- hatten sarini (ein internationales Solida- darin, Vertreter der verantwortlichen ten Sicht von „Entwicklung“ und der ritäts-Netzwerk) und Adivasi-Koordina- Institutionen (von damals bis heute) und Adivasi-Sicht heraus. In der etablierten tion eine umfangreiche englischsprachi- Sprecher der zwangsumgesiedelten Adi- Sicht bedeutet beispielsweise „Indu- ge Dokumentation herausgegeben. In vasi an einen Tisch zu bringen. Damit strialisierung“ ein „Segen für die Men- dem „Adivasis of Rourkela. Looking sollte erstmals ein Dialog von gleich zu schen“, während die Adivasi damit nur back on 50 Years of Indo-German Eco- gleich ermöglicht werden. Zerstörung und Destabilisierung verbin- nomic Co-operation“ betitelten Werk den. Fr. Celestine Xaxa (ausgesprochen: liegt das Augenmerk auf den ur- Leider haben Vertreter des Unterneh- „Kaka“), ebenfalls Adivasi, arbeitet als sprünglichen Bewohnern des Stahl- mens Rourkela Steel Plant (RSP) selbst katholischer Pfarrer in Jalda, einem der standortes. Eine Monographie mit einer auf wiederholte Einladungen nicht rea- Umsiedlungsorte. Zugleich ist er als derartigen Schwerpunktsetzung dürfte giert. Die Alfried Krupp von Bohlen und Anwalt tätig. In dieser Rolle unterstützt unter den breit gefächerten Publikatio- Halbach-Stiftung in Essen sah sich zu er Ureinwohner-Familien und Selbst- nen eine Neuheit darstellen – wenn man einer Teilnahme nicht im Stande. Die organisationen in Rechtsfällen, die in von der 1963 verfassten Studie „Rourke- beiden offiziellen deutschen Teilnehmer Zusammenhang mit Enteignungen und la – Sozio-ökonomische Probleme eines – vom Bundesministerium für wirt- Zwangsumsiedlungen vor rund 50 Jah- Entwicklungsprojekts“ des deutschen schaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und ren (!) stehen. Fr. Celestine befasste sich Soziologen Jan Bodo Sperling absieht. von der Kreditanstalt für Wiederaufbau in seinem Vortrag vor allem mit dem (KfW) – hatten sich trotz langfristiger rechtlichem Schutz von Adivasi-Landei- 1953 hatte die indische Regierung mit Vorankündigung nur für den Samstag- gentum, dem Bruch derartiger Gesetze verschiedenen deutschen Großunterneh- vormittag Zeit nehmen können. Der beim Erwerb von Land für das Stahl- men (unter anderem Krupp und Demag) angestrebte Dialog kam dadurch – auch werk und weiteren Rechtsbrüchen. Zahl- Gespräche über den Bau eines Hütten- bei kurzfristiger Umstellung des Pro- reiche Ureinwohner erhielten beispiels- werkes im mineralstoffreichen Orissa gramms – nicht ganz in dem gewünsch- weise vor ihrer Zwangsumsiedlung kei- aufgenommen. Von 1954 datieren die ten Umfang zustande. Der Einladung nen rechtlich obligatorischen Behörden- ersten offiziellen Bescheide, aufgrund zur Konferenz waren auch einige „Vete- bescheid oder keinen Bescheid inner- derer Adivasi in Rourkela zwangsumge- ranen“ – deutsche Mitarbeiter aus der halb der erforderlichen Frist. Deswei- siedelt wurden. 1955 reisten die ersten Aufbauphase des Hüttenwerkes – teren strich Fr. Celestine heraus, dass die deutschen Ingenieure zu Vorplanungen gefolgt. Entschädigungsmaßnahmen die betrof-

15 fenen Familien vielfach nicht oder nur Wirtschaft zum Teil erreicht hätten. Scharfe Kritik übte er an dem „Peripheral Development Programme“ (PDP), einem Ent- „Die Deutschen sind sehr wicklungsprogramm für das Umfeld des Hüttenwerkes, dessen Träger die Steel Authority of India (SAIL) ist. Dieses freundlich und umgänglich“ würde die zwangsumgesiedelten Adiva- Azim Premji si nicht erreichen, nachdem es nicht primär die zwangsumgesiedelten Urein- Wipro, eines der führenden IT-Unternehmen Indiens, hat bereits eigene Zentren in wohner als Zielgruppe habe. München, Kiel, Düsseldorf und Walldorf. Der milliardenschwere Konzernchef Azim Premji gab neulich der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Interview. Nachfolgend Die beiden Vertreter der deutschen Ent- drucken wir einen Auszug aus diesem Interview („Sind wirklich wir die Schuldi- wicklungszusammenarbeit warben um gen?“, Uwe Heuser und Arne Storn, Die Zeit von 21.09.06) Verständnis für den Kontext der Situati- on vor 50 Jahren: „Die damals beteilig- ZEIT: Was sind die Defizite des ten Personen handelten nach bestem Westens? Der Milliarden- Wissen und Gewissen“ (Gottfried von konzern Gemmingen, BMZ). Rourkela bedeute Premji: Der Westen wird sich mit einem auch eine Erfahrung, aus der man gravierenden Mangel an Ingenieuren gelernt habe. Diese Lernerfahrung konfrontiert sehen. Den größten Im Geburtsjahr Azim Premjis, 1945, könne man etwa anhand des Moderni- Schwund an Mitarbeitern weltweit erle- gründete sein Vater die Firma Wipro sierungsprojektes für das Stahlwerk in ben wir in Amerika. IBM hat eine Fluk- (Western India Vegetable Products). den 1990er Jahren und anhand des PDP tuation von jährlich 14-15 Prozent, 1966 übernahm Premji die Leitung. sehen. Gottfried von Gemmingen be- Accenture von 20 Prozent. Wie kommt Unter ihm wandelte sich Wipro zum dauerte, dass kein Vertreter der Rourke- das? Diese Mitarbeiter verfügen über Anbieter von Computern und IT- la Steel Plant oder der indischen Regie- Talente und Erfahrungen, die nicht Dienstleistungen – ohne die Produk- rung zugegen war. Klaus-Peter Pischke leicht zu finden und daher heftig tion von Ölen oder Seifen einzustel- von der KfW strich heraus, dass umworben sind. In Amerika werden die- len. Wipro übernimmt für westliche ursprünglich das Rourkela-Projekt als ses Jahr nur 75 000 Ingenieure ausgebil- Konzerne lästige Arbeiten, wickelt rein privatwirtschaftliche Unterneh- det. Deutschland hat 2005 mehr Archi- Verwaltungsaufgaben ab oder baut mung begonnen hatte; erst als die Pla- tekten als Ingenieure ausgebildet – das Call Center auf. Umsatz im Ge- nung abgeschlossen war, kam – auf- technikbegeisterte Deutschland! In Kiel schäftsjahr 2005/2006: rund 2,4 Mil- grund von Finanzierungsproblemen – etwa fällt es uns enorm schwer, fähige liarden Dollar. Weltweit arbeiten die KfW ins Spiel. Normalerweise sei Leute zu finden. 56 000 Menschen für Wipro. Premji die KfW von Beginn an bei Projekten ist 14-facher Milliardär. involviert und könne daher auf die Pla- ZEIT: Warum ist das so? nung Einfluss nehmen. Premji: Im Westen entscheiden sich volle Kunden, mit die anspruchsvollsten Rourkela ist nicht Geschichte – die viele gegen eine Karriere als Ingenieur, weltweit. Und drittens finde ich die Situation der Adivasi stelle bis heute wenn sie andere Optionen haben. In Deutschen sehr freundlich und umgäng- „ein ungelöstes Problem“ dar, stellte Jan Indien ist der Ingenieur aber nach dem lich. Jene Mitarbeiter, die für drei oder Bodo Sperling mit Nachdruck fest. Der Arzt der begehrteste Beruf. Unser Bil- vier Jahre von Indien nach Deutschland Soziologe lebte von 1958 bis 1962 als dungssystem hat stärkere mathemati- gezogen sind, leben gerne hier. Leiter des Personal- und Sozialwesens sche Elemente. Bill Gates, der zu unse- der europäischen Mitarbeiter in Rourke- ren großen Kunden zählt, kümmert sich ZEIT: Unterschätzen die Deutschen die la. In eine ähnliche Richtung weisend mit seiner Stiftung viel um Grundschu- Herausforderung durch Länder wie betonte Johannes Laping von der Adi- len; meine Stiftung tut das auch. Bei Indien und China? vasi-Koordination mit Nachdruck, dass einem Treffen sagte er mir, es sei sehr die deutsche Seite ihrer historischen schwer in den USA, die Leute von der Premji: Deutschland ist die größte Verantwortung für Rourkela gerecht- Bedeutung der Mathematik zu überzeu- Exportnation der Welt – also scheint es werden müsse. Mit der Fachtagung von gen. Wenn die Schulbildung aber nicht ja die Kurve zu kriegen. Oder nehmen Königswinter wurde mit dem Prozess, stärker auf Mathematik basiert, wie wol- Sie Schweden. Ich war dort neulich für den längere Zeit benötigt wird und len Sie ein stärker auf der Wissenschaft zusammen mit Jacob Wallenberg essen, der auch auf längere Zeit angelegt ist, gründendes Bildungssystem aufbauen? dem Kopf jener Familie, der ein großer jedenfalls ein Anfang gemacht. Teil der schwedischen Wirtschaft - Hans Escher ZEIT: Was macht für Sie den Standort gehört. Er sagte mir, dass seine Unter- Deutschland aus? nehmen insgesamt gerade einmal fünf Premji: Erstens herrscht hier ein großer Prozent ihres Umsatzes in Schweden Literatur zur Tagung„Rourkela und die Folgen“: Respekt vor Technologie. Zweitens sind machen. Auch schwedische Unterneh- Sarini und Adivasi-Koordination in Deutschland deutsche Unternehmen sehr anspruchs- men kriegen also die Kurve. „ (Fortsetzung auf Seite 49)

16 Indien im Blick seiner Karikaturisten

Susanne Rauscher

Der Intendant des Hessischen Rund- sie gibt Einblicke in sensible gesell- funks (hr), Helmut Reitze, sprach bei der schaftliche Normen und Strukturen, wie Eröffnung in der Goldhalle des hr von die der Rolle der Frauen, des Reproduk- einem Ereignis europäischer Bedeutung, tionsverhaltens und z. B. der Kasten und schaft, der Gattung das an Form, Inhalt der indische Top-Karikaturist Suresh Kinderarbeit, sie verschweigt nicht die und ungewöhnlich lebhafter Funktion zu Sawant zeigte sich zugleich im Namen großen Gegensätze der indischen Ge- verschaffen, was die Karikatur nicht zu- seiner Kollegen begeistert von einer sellschaft weit über die materielle Ver- letzt auch zu einem Mittel des Kampfes Ausstellung, wie sie die Inder bisher teilungssituation hinaus, sie wirft auch um die Unabhängigkeit und um die Aus- sich nicht selbst, geschweige denn dem einen weiten Blick auf weltweit uns be- gestaltung der indischen Demokratie als Ausland hätten bieten können, der indi- wegende Aspekte wie „Nord“ und Teil weltweiter Solidarität beim Ringen sche Generalkonsul sah große indische „Süd“, Erhaltung der Schöpfung und ge- um Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden Kultur als ein Geschenk an die Mensch- fährlicher Sog der Globalisierung, ohne werden ließ. Indische Karikaturisten heit belebt, und die indische Botschafte- dabei die spezifisch indische Sicht und sind Weltklasse, sie sind bisher viel zu rin schrieb es in schönen Lettern ins den dieser Kultur entspringenden spiri- wenig gewürdigt worden, ihre berei- Gästebuch: Möge sie doch an vielen tuellen Reichtum aus den Augen zu ver- chernde Bedeutung vermittelt die Aus- weiteren bedeutenden Orten eine große lieren. stellung nun endlich – Zug um Zug mit Öffentlichkeit finden! Und meinte sicher jedem weiteren Veranstaltungsort und nicht nur Berlin. Die – wie sich in der Ausstellung beob- zur Freude der Inder selbst, wenn – wie achten ließ – mit Genuss zu studieren- ernsthaft im Gespräch – eine weitere Die Rede ist von der großen Ausstellung den großen Texttafeln der Ausstellung Ausfertigung der Ausstellung auch Indi- INDIEN IM BLICK – KARIKATUREN verraten sehr schnell explizit viel Beson- en erreichen wird. AUS INDIEN, die gerade im Kontext deres der indischen Karikatur. Sie ist als der Frankfurter Buchmesse mit dem politisch-publizistisches Genre zwar Das Besondere der Ausstellung ist nicht Gastland Indien präsentiert worden ist. eindeutig britischen, also frühen kolo- in allererster Linie diese inhaltliche Für sie wurde eigens eine landesweite nialen Ursprunges, aber die Inder ver- Qualität – und das Buch zur Ausstellung Ausschreibung in Indien veranstaltet – standen es mit eigener kreativer Meister- vermittelt diese vorzüglich, ergänzt mit einer Themenbreite, die allen indi- schen Künstlern der politischen Karika- tur wohl erstmals die Chance eröffnete, Indiens Medienlandschaft sich einem weltweiten Publikum be- kannt zu machen. Die Resonanz war Gelesen wurde in Indien schon immer Millionen Lesern Dainik Jagran steht. trotz fehlender Mittel für eine auch nur viel, Zeitungen kosten um die fünf Am meisten zugelegt haben die regio- halbwegs adäquate Honorierung so Rupien – ein paar Cent. Doch erst das nalen Zeitungen in Sprachen von Pun- großartig, dass selbst nach strenger Aus- Wirtschafts- und damit Anzeigen- jabi über Malayalam bis Telugu. wahl eine künstlerische Breite und wachstum seit den neunziger Jahren, Zugleich ist Indien der weltweit größte inhaltliche wie zeitliche Tiefe an Werken zudem Fortschritte bei der Alphabeti- Markt für immer mehr englischspra- verblieb, die auch mit dem Genre weni- sierung beflügelten die enorme Entfal- chige Zeitungen. Ganz vorn liegt nach ger vertraute Menschen hier schnell tung des Zeitungsmarkts, parallel zum aggressiven Preiskriegen und opti- Freude an Form und Inhalt der Ausstel- Siegeszug des Kabel- und Satelliten- scher Aufrüstung die Times of India lung finden lässt. fernsehens mit bis zu 200 Kanälen. mit einer Auflage von über zwei Mil- Entscheidend aber waren die moder- lionen. So ist die Medienlandschaft des Die liebevoll gestaltete Ausstellung – nen Technologien: Seit deren Import Subkontinents mit seinen 28 Bundes- und der Katalog dazu bietet das alles in keiner staatlichen Lizenz mehr bedurf- staaten in ihrer kulturellen und sprach- Deutsch und Englisch in ebenso schöner te, ersetzte der Computer so manche lichen Vielgestaltigkeit wenn über- Aufmachung zu angenehmer Lektüre verstaubte Second-Hand-Druckma- haupt, dann mit jener ganz Europas auch in heimischer Umgebung – führt schine. Datenfernübertragung ermög- vergleichbar – mit dem Unterschied, mit ihren Karikaturen elegant und an- lichte es vielen Blättern, über ihr dass es in Europa eine gemeinsame schaulich in die ersten fünf Jahrzehnte ursprüngliches Verbreitungsgebiet Öffentlichkeit gibt. nach dem Erringen der Unabhängigkeit hinaus die Konkurrenz unter Druck zu - Christiane Grefe 1947, sie lässt uns frühere und gegen- setzen, auch in anderen Städten. wärtige Herausforderungen der Innen-, Die höchste Auflage erreichten Blätter (Quelle: Aus „Fünf Rupien für die Freiheit“, Die Gesellschafts-, Wirtschafts-, Außen- und in Hindi, an deren Spitze mit über 20 Zeit Nr. 41, 5.10.2006) Sicherheitspolitik verständlich werden,

17 durch eine Reihe themenbezogener Texte und Dokumente –, sondern ihr denkwürdiges Zustandekommen. Sie ist Das Migrantendasein das Ergebnis einer ganz privaten, ehren- amtlichen Initiative, die ohne jede finan- Kiran Desai zielle Ausgangsbasis und ohne institu- tionellen Hintergrund sich diese Präsen- Die indische Autorin Kiran Desai wurde mit ihrem zweiten Roman „Erbin des ver- tation erkämpfen musste – gegen die lorenen Landes“ (BV Berlin, 432 Seiten, 2006) zu Weltruhm katapultiert. Mit 35 feindselige Stimmung bezüglich Karika- wurde sie die jüngste Frau, die den renommierten Booker Preis erhalten hat. Nach- turen, die die Mohammedkarikaturen- folgend drucken wir Auszüge aus einem ihrer Interviews im Internet ab. kontroverse noch potenzierte, ohne Geld von der Buchmesse, ohne Unterstützung des ICCR, gegen langes Zögern des Als Migrant erlebt man immer einen National Book Trust, der erst kurz vor großen Verlust. Man glaubt, dass man Schluss mit einer finanziellen Hilfe eher nie wieder eine vollständige, runde symbolischer Größenordnung mit von Geschichte erzählen kann. Man hat das der Partie sein wollte. Gefühl, nur ein halbes Leben zu leben, nur eine halbe Geschichte erzählen zu Aufgrund langjähriger Zusammenarbeit können. Wir alle sehnen uns nach einer mit indischen Karikaturisten hatte die Einfachheit und Ganzheit, die nur sehr Initiative einen ehrenamtlichen Counter- selten zu erlangen ist. part in Indien, ohne dessen immense, ebenso ehrenamtliche Mitarbeit das Vor- Mein Buch untersucht Leben, die durch haben nur schwerlich hätte gelingen äußere Umstände in die Heuchelei ge- können. zwungen werden, in Lügenhaftigkeit und Ängste; Leben, deren Wahrheiten So ist es zu einem bi-nationalen ge- sich nicht mehr zu etwas Vertrauenswür- meinnützigen Vorhaben gekommen in digem zusammenfügen lassen. einem nicht einfachen Bereich kulturel- immer deutlicher geworden, emotionale ler Manifestation und dabei auch noch Jeder Einzelne wird mit so einer Situati- ebenso wie historische. Ich habe mich interkulturellen Austausches, zu einem on anders umgehen. Oft begegne ich damit beschäftigt, wie sich die Welt mei- Projekt, das zugleich von hoher innova- Menschen, die versuchen, so amerika- ner Eltern und Großeltern gewandelt hat tiver Signalfunktion für die Frankfurter nisch wie möglich zu sein, und ich glau- und wie ich diese Zeiten und ihre Um- Buchmesse sein sollte, nämlich das be, dass dahinter oft Scham steckt. Oft wälzungen in mein Leben weitertrage. Genre der Karikatur doch in der Regel habe ich die Grausamkeit der Abreisen, dem Buch zur Seite zu stellen und damit des Auseinanderbrechens von Familien Meine Großmutter mütterlicherseits insbesondere den jeweiligen Gastlän- beobachtet. kam aus Deutschland, sie hat ihr Land dern eine attraktive, bestens kommuni- vor dem Krieg verlassen und ist nie zierbare Artikulationsmöglichkeit zu Am meisten beunruhigt mich jedoch die zurückgekehrt. Mein Großvater war ein bieten, die im Kontext einer Buchmesse Tatsache, dass zwar viel darum herge- Flüchtling aus Bangladesch. Die Eltern ihresgleichen suchen dürfte. macht wird, dass die Inder die reichste meines Vaters kamen aus einem Dorf in Minderheit in den USA darstellen. Aber Gujarat. Mein Großvater ist für seine Die Ausstellung, mit ihren auch mehr- die Tatsache, dass auch die Ärmsten Ausbildung den weiten Weg nach Eng- farbigen Exponaten, jeweils alleinge- Indiens in den Staaten leben, kehren wir land gereist. Die Figuren meiner Ge- stellt auf einer Seite des Kataloges im dabei unter den Tisch. Diese Armen schichte sind alle erfunden, aber diese Format 22,5 x 26,5, die Schrifttafeln der werden nicht nur von der westlichen Reisen und meine eigenen Erkenntnisse Ausstellung zu Indien, seiner Geschich- Welt betrogen, sondern auch von den darüber, was es bedeutet, zwischen Ost te, zur Bedeutung und Rolle der Karika- wohlhabenderen indischen Einwande- und West hin- und herzureisen, das ist tur in Indien vor und nach Erlangung der rern. Die Kluft, die in Indien besteht, es, was ich einfangen wollte. Unabhängigkeit und zu den in der Aus- setzt sich im Ausland einfach fort. stellung vertretenen Künstlern, über 20 Es ist kein Zufall, dass ich dieses Leben Hintergrundtexte zu Indien und diverse In den USA ist man das Problem der lebe. Ich habe es geerbt. „ grundsätzliche bzw. programmatische illegalen Einwanderung nie ernsthaft Texte zur Karikatur als Genre des öffent- angegangen. Es nützt den Menschen (Quelle: www.rediff.com – Fotos Autorin: C Jerry lichen Diskurses – und das meist alles in dort, über eine Unterklasse aus Auslän- Bauer) Deutsch und Englisch: Das bietet das dern zu verfügen, so wie es den wohlha- ebenso attraktive wie repräsentative benderen Indern nützt, über eine Dienst- Buch zur Ausstellung „Indien im Blick – botenklasse zu verfügen. Karikaturen aus Indien/India at a glance – Cartoons from India“, hrsg. von Karo- Seit ich Indien verlassen und dieses line Schade, auf 144 Seiten. ISBN 3-00- Leben zwischen den Welten aufgenom- 019726-5. „ men habe, sind mir bestimmte Muster

18 Malayalam sowie in Deutsch, ist beein- Der Tagore-Kulturpreis 2006 druckend. In einem Interview für „Meine Welt“ Laudatio auf den Preisträger präzisiert Herr Frenz die wesentlichen Beiträge, die Hermann Gundert für die Herrn Dr. Albrecht Frenz, gehalten Entwicklung der Malayalam-Sprache geleistet hat: „Er führte den Prosastil mit von Jose Punnamparambil der im Abendland üblichen Zeichenset- zung ein und vereinheitlichte das Alpha- Sehr geehrter Herr Vorsitzender Dr. Diese Idee griff Herr Frenz ernsthaft auf bet. Von da an entwickelte sich das Neu- Wieck, und arbeitete in den folgenden Jahren Malayalam zu einer derjenigen Spra- sehr geehrte Gäste, für deren Realisierung. Zahlreich waren chen Indiens, die der Welt nicht nur eine liebe Freunde, die Reisen, die er in diesem Zusammen- reiche Literatur zu bieten hat, sondern es ist mir eine große Freude und Ehre, hang nach Kerala, Indien, unternommen auch die Sprache ist, in der - verglichen heute für meinen langjährigen Freund hat für Verhandlungen und die Organisa- mit anderen indischen Regionalsprachen Dr. Albrecht Frenz die Laudatio halten tionsarbeit. Schließlich fand die Her- - die meisten Tageszeitungen und Zeit- zu dürfen. Mit der Verleihung des Tago- mann Gundert Konferenz in Stuttgart schriften erscheinen. Bei Gundert kön- re-Kulturpreises an ihn hat die Deutsch- von 19. bis 23. Mai 1993 statt. 35 bedeu- nen wir zum andern wie bei kaum einem Indische Gesellschaft jemanden gewür- tende Sprachwissenschaftler, Autoren, seiner Zeitgenossen beobachten, dass er, digt, der sich das ganze Leben lang da- Dichter, Journalisten etc. kamen als ein- wenn immer möglich, den Kontakt zu rum bemühte, den Verständigungsraum geladene Gäste aus Kerala, namhafte den Menschen seiner Umgebung suchte, zwischen Deutschland und Indien, zwi- Indologen, Indien-Fachleute und viele sich mit ihnen unterhielt und die Ge- schen den Deutschen und den Indern, zu Keralesen, die in Deutland leben, nah- spräche meist mit Bleistift und Papier in erweitern. Ihm war „das Verstehen-Wol- men an der Konferenz teil. der Hand führte. Sein Malayalam-Eng- len“ wichtiger als „das Verstanden-Wer- lisches Wörterbuch ist deshalb so her- den-Wollen“. Seine beeindruckende Die Veranstaltung war ein Riesenerfolg. ausragend, weil mindestens ein Drittel interkulturelle Arbeit in den letzten 30 Sie regte einen intensiven Dialog zwi- der Einträge aus der mündlichen Traditi- Jahren beschränkt sich nicht auf missi- schen Kerala und Deutschland sowie in on stammt. Dazu nahm er neben den onsgeschichtliche Forschung und Veröf- den beiden Ländern selbst an. Das fast Wörtern und Redewendungen der Hoch- fentlichungen alleine, sondern erstreckt 500-seitige Begleitbuch zur Konferenz sprache auch Zoten und Flüche sowie sich auf auch Bereiche wie interreligiö- „Hermann Gundert - Brücke zwischen Begriffe der weit verzweigten Fami- ser Dialog, Kunst und Literatur. Indien und Europa“ (Süddeutsche Ver- lientraditionen in sein Wörterbuch auf.“ lagsgesellschaft) ist eine Fundgrube Es war vor 20 Jahren, als ich Dr. Frenz nicht nur für dokumentarisches Material Die mühsame Befreiung der Mala- bei der Hermann-Gundert-Welt-Mala- über das Leben und Wirken von Her- yalam-Sprache vom klassischen Sans- yalam-Konferenz in Berlin begegnete. mann Gundert in Indien, sondern auch krit und die bewusste Rückbesinnung Ein zentrales Thema dieser Konferenz für fundierte Beiträge über eine Reihe dieser Sprache auf ihren dravidischen war die Darstellung der wertvollen Bei- von Themen, die das Leben in Kerala Ursprung verankert in Tamil, die Her- träge, die die deutschen Missionare, ins- und die Beziehung zwischen Deutsch- mann Gundert begonnen hat, setzten besondere der Baseler Missionar Dr. land und Indien betreffen. ihren Gang schleichend fort bis Anfang Hermann Gundert, geleistet haben, um der siebziger Jahre des letzten Jahrhun- die südindische Sprache Malayalam und Ich habe bis jetzt von zwei Projekten derts. Heute ist Malayalam eine der deren Literatur zu entwickeln und zu gesprochen, bei denen ich mit Herrn lebendigsten Regionalsprachen Indiens bereichern. Viele namhafte indische Frenz eng zusammengearbeitet habe. mit großer Breite und Spannkraft, in der Sprach- und Literaturwissenschaftler Ich fand in ihm einen angenehmen Part- Literatur von Weltrang entsteht. Diese hielten fundierte Vorträge hierüber. Am ner und Freund, der Sinn für Humor Tatsache ist längst in Kerala anerkannt Ende der Konferenz wurde in einem hatte und immer ausgeglichen war, aber und durch die Arbeit von Albrecht Frenz Gespräch zwischen mir und Herrn Dr. seine Ziele mit Leidenschaft verfolgte. allmählich in Deutschland auch. Was Frenz vereinbart, alle Referate, die über Und im Zentrum seiner Arbeit stand noch fehlt, sind Strukturen und Rahmen- dieses Thema gehalten wurden, ins immer der Gedanke, wie die Verständi- bedingungen, um die Literatur aus die- Deutsche zu übersetzen und einen Sam- gung zwischen Menschen in Europa und ser Sprache den deutschen Lesern melband herauszugeben. So kam das Indien, zwischen Deutschland und Süd- zugänglich zu machen. Es mangelt z.B. erste Produkt unserer gemeinsamen Indien, verbessert, optimiert werden an guten Übersetzern, die direkt aus dem Arbeit „Bote zwischen Ost und West“ könnte. Und was er in diesem Bereich Malayalam ins Deutsche übertragen 1987 in der Süddeutschen Verlagsgesell- bis jetzt zu Stande gebracht hat, ist können, dem fehlen Finanzmittel, und schaft, Ulm, heraus. enorm. Die Liste seiner missionsge- große Verlage halten sich zurück, in die- schichtlichen und kulturhistorischen sem Bereich zu investieren. In diesem Bei der Malayalam Konferenz in Berlin Veröffentlichungen, in eigener Verant- Zusammenhang möchte ich mit Freude wurde der Gedanke ausgesprochen, im wortung und in Zusammenarbeit mit bekannt machen, dass es mir in Zusam- 100-sten Todesjahr Hermann Gunderts anderen Autoren (insbesondere mit Prof. menarbeit mit der deutschen Journalistin eine Konferenz in Stuttgart abzuhalten. Scaria Zacharia aus Kerala), in Christina Kamp vor kurzem gelungen

19 ist, auch mit Unterstützung der „Her- Vor mir blüht der noch kahle Tempel- Bekehrt und Unbekehrt, Rechtgläubig mann Gundert Gesellschaft“ , eine An- baum, und Ketzer. thologie zeitgenössischer Erzählungen verströmt sich bis ins Innere. Jeder Tempel zeigt auf Christus: und Gedichte aus der Malayalam-Spra- Rasch gehe ich die Gänge und Hallen Christus ist keiner, che herauszubringen. Ich bin sicher, entlang, der den andern so machen will, wie ich dass Herr Frenz eine solche Initiative bis zur Tausend-Säulenhalle: selber bin, auch in der Zukunft im Rahmen seiner aufgereiht stehen links und rechts Gott- sondern der jedem in Seiner Weise Möglichkeiten unterstützen wird. heiten aus Stein, begegnet, sollen für Hindu-Könige von christli- ihn gestaltet nach Seinem Willen, Ich möchte um Verzeihung bitten, wenn chen Künstlern gefertigt sein, schaffend so viele Ausprägungen, ich mit meinen bisherigen Ausführungen die bei der Inquisition den christlichen wie es Christen gibt auf der Welt, den Eindruck erweckt habe, dass das Kolonisatoren entkamen. befreit in die Schönheit, Interesse und Betätigungsfelder von der Vielgestalt entspringend. Herrn Frenz sich auf Hermann Gundert Die Kolonisatoren: – Mancher Missionar hackte vor seinem und seine Beiträge zur Malayalam Spra- begehrend indisches Land, Haus und vor der Kirche che und Literatur beschränkt. Nein, auf unterwerfend Menschen, den Tempelbaum aus, keinen Fall. Herr Frenz ist ein vielseitiger unterdrückend Seele und Geist, aber Gott ließ ihn wieder wachsen.– Mensch und geht vielen Interessen nach. Missachtend die alte Geschichte.- Der Herr, der im Herzen das Licht Vor allem war er 29 Jahre als evangeli- Seit den ersten Jahrzehnten unserer Zeit anzündet, scher Pfarrer tätig, davon 3 Jahre in leben in Indien die Thomas-Christen entfacht es überall auf Erden – Tamil Nadu, Indien. Seine missionsge- friedlich neben den anderen Religionen, ich bin froh, dass ich im Tempel bin, schichtliche Arbeit erstreckt sich auch auf keinen Absolutheitsanspruch kennend ich bin froh, dass Er mir dort begegnet, Tamil Nadu und Karnataka, wo die deut- und dennoch überzeugt von Christus. ich bin froh, dass ich mit Menschen im schen Missionare wie Bartholomäus Zie- Wer hat christlicher gehandelt: Tempel reden kann.“ genbalg, Herrmann Mögling etc. arbeite- die Verfolger oder die, ten. 2003 erschien ein Band von ihm über die den Flüchtlingen Schutz gewährten, Herr Frenz ist wahrlich ein Weltbürger die Entstehung der Siedlung Anandpur in ihnen Arbeit und Brot gaben, und ein großer Indien-Freund. Seine Kodagu, Karnataka, mit dem Titel „Frei- sie einen Hindu-Tempel künstlerisch Nähe zu Tagore kann nicht angezweifelt heit hat Gesicht“. In der letzten Zeit gestalten ließen? werden. Deshalb ist er ein würdiger Trä- beschäftigt Herr Frenz sich auch mit Gottes Wege mit den Menschen ger dieses Preises. Ich gratuliere ihm Kunst. 2004 veröffentlichte er zusammen übersteigen die kleinliche Einteilung herzlich und danke ihm für seine mit Krishna Kumar Marar einen Kunst- von Links und Rechts, Schwarz und Freundschaft in all diesen Jahren. band auf Englisch und Deutsch über die Weiß, - Jose Punnamparambil Tempelmalerei Nordkeralas mit dem Titel „Wandmalerei in Nordkerala, Indi- en“. In der Vorbemerkung schreibt er: „ Khovar und Sohrai Die Wandmalereien in Nordkerala Kunst der Adivasi-Frauen in Hazaribagh, Jharkhand gehören zu einem faszinierenden Kul- turerbe. Sie vermitteln in ihrer Farbigkeit und Linienführung eine Lebensfreude, Im Rahmen der Rourkela-Konferenz erhalten. So wurde eine Kooperative die auf die Betrachter überspringen.“ im Arbeitnehmer Zentrum Königswin- von Künstlerinnen ins Leben gerufen Sein Interesse an der Volkskunst Indiens ter vom 22. bis 24.9.2006 fand eine und eine neue ‚mobile‘ Darstellungs- führte ihn 2005 nach Nord-Bihar, wo er Ausstellung der traditionellen Malerei form auf Papier entwickelt. Die oben- an die vierzig Malerinnen und zwei der Adivasi-Frauen in Hazaribagh, genannte Ausstellung bestand aus eine Maler in verschiedenen Dörfern besuch- Indien, statt. Die heute sichtbaren Tra- Auswahl dieser Arbeiten. Durch ihre te, um sich mit ihrer bekannten Malkunst ditionen der Wandmalerie in Hazari- Tätigkeit in der Kooperative führen die „Madhubhani“ vertraut zu machen. Dar- bagh und Umgebung hat zwei große Frauen die überlieferte Zeichen- und aus entstand ein entzückendes Bilderbuch Stilrichtungen: die Khovar-Kunst zur Symbolsprache fort. Mit den Erlösen mit dem Titel „Madhubani-Bilder 1880– Frühlings-und Heiratszeit mit ihrer aus dem Verkauf der Bilder wird das 2005“. z.T. versteckten Fruchtbarkeitssymbo- wirtschaftliche Überleben der Künstle- lik und die Sohrai-Kunst zur Herbst- rinnen und ihrer Familien gesichert, Und schließlich ist Herr Frenz, zu unse- und Erntezeit mit überwiegend Tier- aber auch die notwendige Öffentlich- rer Überraschung, auch ein Dichter. Er und Pflanzen-Dekors. Das gesamte keitsarbeit zur Erklärung dieses Kon- hat, nach meiner Kenntnis, zwei Gebiet, in dem sich diese lebendige flikts – industrieller Fortschritt versus Gedichtbände veröffentlicht. Das fol- Kunstform findet, wird heute von Existenzrechte und Kulturtraditionen gende Gedicht gefiel mir besonders, zunehmender Industrialisierung, vor der Menschen - unterstützt. weil es viel über seine Gedankenwelt allem durch den Kohleabbau im Tage- - JP und Geisteshaltung aussagt: bauverfahren bedroht. Im Angesicht dieser Bedrohung bemüht sich eine Für weitere Information: Tempel örtliche Initiative in Hazaribagh, diese sarini, c/o Johannes Laping, Christophstr.31, Duft steigt in meine Nase, Kunsttraditionen so gut es geht zu 69214 Eppelheim, email:[email protected] füllt mich mit Neugier.

20 Lebensgeschichte aus Indien Schwieger-Familie aufbringen. Deshalb ging sie zu ihren Eltern. Sie musste auch das Geld für die Bestattung ihres Ehe- Keshaben mannes aufbringen. Sie überließ ihr Land für 5.000 Rupien einem Geldver- Die Geschichte einer starken Frau leiher und erhielt es erst fünf Jahre spä- ter zurück. Es war ein zinsloser Kredit, aus dem ländlichem Indien denn das Land wurde bewirtschaftet.

Sarath Davala (Hyderabad) und Christina Kamp (Bonn) Als sie einen Monat nach dem Tod ihres Mannes in das Haus ihrer Schwiegerel- tern zurückkehren wollte, war die Tür Keshaben lebt in einem Dorf namens se. Umesh ist heute 22 und geht aufs verschlossen, so dass sie nicht hinein Poyda, rund 100 Kilometer nördlich von College. Er hat einen Bachelor- konnte. Eine Zeit lang lebte sie bei einer Ahmedabad im indischen Bundesstaat Abschluss in Hindi und studiert jetzt im ihrer Verwandten im gleichen Dorf. Die Gujarat. Sie lebt im Haus ihres verstor- Masters-Programm. In einem Jahr wird kleinen Kinder waren bei ihr. benen Ehemannes in einem Gebäude- er sein Studium abgeschlossen haben. komplex zusammen mit ihren Schwie- Da die beiden Söhne zu Kalyan Singhs gereltern und den Familien der beiden Eheleben in Vijaypur Familie gehören, bestand sie auf ihr Schwager. Die einzelnen Einheiten sind Als Keshaben heiratete, lebte der Recht, bei der Schwieger-Familie in wie ein Reihenhaus aneinander gebaut, zweitälteste Bruder ihres Mannes, Dou- Poyda zu leben. Zu diesem Zeitpunkt in jedem Haus lebt eine Familie. lat Singh, in Vijaypur, im gleichen war ihr ältester Sohn Umesh 13 Jahre Distrikt rund 50 Kilometer von Poyda alt. Er blieb zunächst bei ihren Eltern, Keshaben wurde in Daulatabad geboren, entfernt. Er arbeitete in einer Fabrik, die beendete die 10. Klasse und kam wieder etwa 30 Kilometer östlich von Poyda. Bewässerungspumpen herstellte. Er lud zu ihr, als er 15 Jahre alt war. Da Kesha- Ihr Geburtsdatum oder ihr Geburtsjahr seinen Bruder Kalyan Singh ein, auch ben immer wieder krank war, kümmerte weiß sie nicht. Es wurde damals nicht dorthin zu kommen und dort zu arbeiten. er sich um den Haushalt. Er kochte und erfasst und spielte später auch keine Kalyan Singh bekam einen Job in einer machte sauber, wie seine Mutter es tat. Rolle mehr. Heute wird sie etwa 37 kleinen Firma, in der er Maschinen Jahre alt sein. bediente. Keshaben war bei ihm. Sie Keshaben arbeitete auf verschiedenen lebten bei Doulat Singh, der dort ein Feldern als Landarbeiterin. Einen Monat Kindheit, Ehe, Kinder Haus gekauft hatte. Keshaben war Haus- lang, nur in der Regenzeit, konnte sie 35 Keshaben wuchs in einer Landarbeiter- frau und war lange Zeit krank. Rupien am Tag damit verdienen. Ihre familie auf, die auch eigenes Land Schwieger-Familie bot ihr keine Unter- besaß. Als Kind ging sie etwa drei Jahre Ihr Mann, so sagt sie, war ein guter stützung und lud ihre Kinder nie in eines lang zur Grundschule bis zur vierten Mensch, und er hat auch gut verdient. Er der anderen Häuser ein, obwohl diese Klasse (bis sie etwa sieben Jahre alt hat seiner Familie sehr geholfen. Das deutlich größer sind als Keshabens. Die war). Dann wurden ihre älteren Schwe- Problem aber bestand darin, dass er für weinenden Kinder bekamen von der stern verheiratet und sie musste zu seine eigenen Kinder nicht gespart hat. Schwieger-Familie nicht einmal etwas Hause bleiben, die Hausarbeit machen, Er gab alles für seine Eltern und seine zu essen. sich um die Büffel kümmern und auf Schwestern aus. Alles, was die Familie ihre drei bis vier Jahre jüngere Schwe- heute besitzt, hat Keshaben selbst ver- SEWA-Mitgliedschaft ster aufpassen. dient. Seit sechs Jahren ist Keshaben bei SEWA organisiert. Sechs Monate nach- Im Alter von 17 Jahren wurde sie mit Witwe mit 28 dem ihr Mann starb, schloss sie sich Kalyan Singh verheiratet. Zwei Jahre 1996 wurde ihr Mann krank und sie SEWA an. Ein SEWA-Mitglied, Chand- lang blieb sie noch im Haus ihrer Eltern kamen nach Poyda zurück. Zwei Mona- rikaben, hatte ihr Dorf besucht und hatte und besuchte regelmäßig das Haus ihres te später starb er an Nierenversagen. erzählt, dass sie durch SEWA Arbeit Ehemannes. Im Alter von 19 Jahren zog Seine Familie wollte sie zurück zu ihren bekommen und ein Einkommen erzielen sie ganz zu ihrem Ehemann. Eltern schicken. Sie erhielt von ihrer könnte. Für einen Mitgliedsbeitrag von Schwieger-Familie keinerlei Unterstüt- fünf Rupien wurde sie Mitglied bei Ihr erster Sohn, Umesh, wurde 1983 zung. Als ihr Mann gestorben war, SEWA. 2000 und 2001 durfte sie an geboren. Nach Umesh folgten zwei musste sie sich einen weißen Sari zule- ihren ersten Ausbildungsprogrammen Mädchen. Das erste starb im Alter von gen, die typische Witwen-Kleidung, die teilnehmen. etwa zweieinhalb Jahren an einer ange- ihren Status deutlich macht. Diesen borenen Krankheit, das zweite Mädchen weißen Sari muss sie zu jedem offiziel- Im Dorf gab es eine Frauengruppe, die starb im Alter von einem Jahr. Das vier- len Anlass tragen (nicht jedoch zur Ersparnisse zusammen legte und bei te Kind, ihre darauf geborene Tochter Arbeit und nicht zu Feiern und Festen, Bedarf Kredite vergab. Sie trat dieser Sharaddha, blieb am Leben. Sie ist heute denn daran nimmt sie nicht mehr teil). Gruppe bei, hatte jedoch kein Einkom- 15 Jahre alt und geht in die zehnte Klas- men, von dem sie etwas hätte sparen se. Das jüngste Kind, Sohn Ramesh, ist Sie musste das Geld für den weißen Sari können. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie 12 Jahre alt und geht in die siebte Klas- ohne jegliche Unterstützung ihrer nur ihr Einkommen als Landarbeiterin.

21 Deshalb bat sie SEWA, ihr Arbeit zu Mit dem Reparieren von Handpumpen gespart hatte, kaufte sie eine junge Büf- geben, damit sie ihre Kinder zur Schule verdient Keshaben 35 Rupien pro felkuh. Diese Büffelkuh gebar ein weib- schicken und auch Geld sparen kann. Arbeitstag. Zusätzlich erhält sie 18 liches Kalb, das nun eine drei Jahre alte Rupien Fahrgeld. Der Vertrag, den das Kuh ist und wiederum ein Kalb hat. Die Zu dieser Zeit musste sie mit dem Team mit der Regierung hat, umfasst erste Büffelkuh wurde krank und starb. Widerstand ihrer Schwieger-Familie fer- 200 Wasserpumpen in 17 Dörfern eines tig werden, die darauf bestand, dass Taluks. Die Wasserbehörde zahlt 568 Das Kalb, das Keshaben jetzt hat, ist Frauen nicht arbeiten gehen sollten. Rupien pro Wasserpumpe für die War- weiblich. Sie hat vor, es zu behalten. Der Gleichzeitig erhielt sie von der Familie tung. Außerdem werden Ersatzteile und Zeitraum, in dem eine Büffelkuh Milch keine Unterstützung. Sie blieb bei ihrer Werkzeug bereitgestellt. Der Vertrag hat gibt, beträgt rund zehn Jahre. Drei bis Entscheidung, arbeiten zu gehen - ande- eine Laufzeit von einem Jahr und läuft vier Monate im Jahr gibt die Kuh keine renfalls müssten ihre Schwiegereltern demnächst aus. Keshaben ist nicht Milch. Etwa alle zwei Jahre kann eine für ihren Lebensunterhalt aufkommen. sicher, ob er verlängert wird oder nicht. Kuh ein Kalb bekommen. Mit der Büffel- Doch sie hat Hoffnung. Sollte ihr Ver- milch, die Keshaben an eine Genossen- Reparieren von Wasserpumpen trag nicht verlängert werden, wird sie schaft verkauft, verdient sie rund 500 Bhartiben, ein Mitglied von SEWA, ver- durch SEWA andere Arbeit finden. Rupien (manchmal mehr) im Monat. Die handelte mit der Wasserbehörde in Kuh gibt morgens und abends jeweils Gandhinagar, der Hauptstadt des Bun- Büffelhaltung etwa zweieinhalb Liter Milch. Keshaben desstaates Gujarat. Sie überzeugte den Ein weiteres kleines Einkommen erzielt behält davon rund einen halben Liter für leitenden Beamten, dass auch Frauen Keshaben aus der Büffelhaltung. Eine den Haushalt und verkauft die restliche Wasserpumpen reparieren könnten, Verwandte von ihr, die im gleichen Dorf Milch für zehn Rupien pro Liter. wenn sie die nötige Ausbildung erhiel- lebt, hatte vor ein paar Jahren eine Büf- ten. Im Jahr 2001 und 2002 wurde felkuh, die bei ihr keinen Nachwuchs Während der Regenzeit (Juni bis Sep- Keshaben von der Wasserbehörde im bekam. Sie überließ sie Keshaben, die tember) gibt es viel frisches Futter auf Reparieren von Pumpen ausgebildet. 14 für das Tier sorgte, um zu schauen, ob den Feldern, und dies zudem kostenlos. Frauen wurden gemeinsam ausgebildet. sich „etwas Positives“ entwickeln Wenn Büffelkühe frisches Gras fressen, Sie bildeten Teams von jeweils sieben würde. Die Büffelkuh wurde trächtig geben sie mehr Milch. Zu anderen Jah- Frauen, die von SEWA koordiniert wur- und brachte ein weibliches Kalb zur reszeiten muss Trockenfutter gekauft den. Welt. Von den 10.000 Rupien Ver- werden. kaufserlös für das Kalb erhielt Keshaben Die beiden Teams wurden den Dörfern 5.000 Rupien. Mit diesen 5.000 Rupien Von ihrem Feld erzielt Keshaben ein im Distrikt zugeteilt. Zunächst mussten plus weiteren 4.000 Rupien, die sie kleines Zusatzeinkommen. In den ver- sie die alten Teile defekter Wasser- pumpen entfernen. Für diese Arbeit er- hielt jede der Frauen 50 Rupien am Tag. Indische Küche Für die leichtere Arbeit, neue Teile ein- zusetzen, erhielten sie 30 Rupien am Kichererbsencurry Tag. 4 Portionen, vegetarisch Kichererbsen abgießen, das Kochwas- Zwei Jahre lang arbeitete Keshaben mit CURRY: 200g getrocknete Kichererb- ser dabei auffangen und etwas ab- dem Team von 2001/2002 im Dhansura sen, 2 Zwiebeln, 1 EL Öl, 1 Briefchen kühlen lassen. Taluk. Dann wurde ihr Vertrag durch die Safranfäden, 1 l Gemüsebrühe, 2 EL Kochwasser, restliche Gemüsebrühe, Wasserbehörde nicht verlängert und sie Kichererbsenmehl, 300g Vollmilchjo- Kichererbsenmehl und Joghurt ver- war arbeitslos. Sie war gezwungen, ghurt, Salz, frisch gemahlener Pfeffer; rühren und langsam unter Rühren ihren Sohn Umesh zu ihrem Bruder nach Gewürzöl; 2 kleine rote Chilischoten, erhitzen. Mit Salz und Pfeffer ab- Ahmedabad zum Arbeiten zu schicken. 2 EL Öl, 1 TL schwarze Senfkörner, ½ schmecken. Die Kichererbsen zugeben Angesichts ihrer Situation entschied TL Asafoetida (siehe Tipp unten), 1 TL und etwa 15 Minuten kochen lassen. SEWA, sie einem anderen Team im Kreuzkümmel (Kumin), 1 TL Bocks- benachbarten Manpur Taluk zuzuteilen. hornkleesaat, 3 Nelken Für das Gewürzöl: Chilischoten längs Umesh kam zurück und begann mit dem halbieren, entkernen und fein hacken College, das drei Jahre dauerte. Für das Curry: Kichererbsen über (mit Küchenhandschuhen arbeiten). Nacht in reichlich kaltem Wasser ein- Das Öl in einem kleinen Topf erhitzen. Keshabens gegenwärtiger Vertrag mit weichen, dann abgießen und abtropfen Senfkörner, Asafoetida, Kreuzkümmel, der Wasserbehörde deckt 15 Arbeitstage lassen. Bockshornkleesaat, Nelken und Chi- im Monat ab. Die Dorfbewohner infor- Zwiebeln schälen und in Streifen lischoten darin andünsten. Das mieren das Sabarkantha Distrikt-Büro schneiden. Öl in einem Topf erhitzen Gewürzöl zum Servieren über das von SEWA in Bayad, wenn eine Wasser- und die Zwiebelstreifen darin andün- Curry geben. pumpe repariert werden muss, und sie sten. Servieren. bekommen einen Termin genannt, wann Kichererbsen, Safran und etwa 750 ml die Pumpe repariert wird. Normalerwei- Gemüsebrühe zugeben und 30 Minuten (Quelle: Brigitte Nr.22, 11.10.2006) se wird die Reparatur innerhalb einer bei kleiner Hitze kochen lassen. Woche ausgeführt.

22 gangenen Jahren gab es jedoch Dürren, quelle geworden. Durch SEWA war sie Studienjahr abschließt und dann Verant- und ihr Einkommen war sehr gering. sogar zu einem Fortbildungsprogramm wortung für die Familie übernimmt. Erst dieses Jahr gab es wieder Regen im in Neu-Delhi. Heute informiert sie ande- Überfluss. re Frauen über die verschiedenen Keshabens drei Kinder lernen fleißig SEWA-Aktivitäten und wirbt neue und helfen ihr bei der Hausarbeit. In der Lebenshaltungskosten SEWA-Mitglieder. Sie hat an verschie- Schule sind sie sehr viel besser als ihre Die Lebenshaltungskosten des Haus- denen Trainingsprogrammen von SEWA Cousins und Cousinen in der Nachbar- halts beziehen sich vor allem auf teilgenommen und sich zu einer schaft. Lebensmittel und die Ausbildung der Führungsperson weitergebildet. Kinder (Schulgebühren, Kleidung/ Keshaben ist eine starke Frau. Als sie Schuluniform, Bücher, Schulmaterialien Keshabens Leben ist voller dramatischer zusammen mit ihren Kolleginnen die und die Busfahrkarte). Früher waren Ereignisse, angesichts derer sie mensch- Wasserpumpe reparierte, die schweren diese Kosten niedriger. Als die Kinder in liche Stärke unter Beweis gestellt hat. Rohre nach oben zog und die großen Schulen gingen, in denen Gujarati die Ventile mit einer Stange drehte, zerbra- Unterrichtssprache war, waren die Eine Frau, die rund 10 Jahre ihres Ehe- chen daran sämtliche Mythen, dass Schulgebühren minimal. Von der ersten lebens ständig krank war, ersteht prak- Frauen auf Grund ihrer schwachen Kon- bis zur fünften Klasse ist die Grund- tisch aus der Asche des Scheiterhaufens stitution leichte Arbeit verrichten soll- schule kostenlos. Deshalb muss Kesha- ihres Ehemannes auf und übernimmt die ten. Keshaben ist eine Frau mit einem ben für ihren jüngsten Sohn noch nicht Verantwortung für ihre Kinder. Die Auftrag. Sie arbeitet, als ob sie von die- bezahlen. Für die Tochter kostet die enorme Energie, mit der sie ihre Arbeit sem Auftrag besessen sei. Zulassung zur achten Klasse 200 Rupi- verrichtet, muss man erlebt haben, um es en, die Busfahrkarte 60 Rupien im zu glauben. Als es darum ging, ihre Rechte und die Monat. Die College-Gebühren für Rechte ihrer Kinder zu verteidigen, hat Umesh belaufen sich auf 2.000 Rupien Sie ist von Männern umgeben, die ihr in die scheinbar schwache und kranke Frau pro Semester. Seine Busfahrkarte kostet jeder Hinsicht das Leben schwer in jeder Hinsicht Stärke gezeigt. Sie hat 100 Rupien im Monat. machen und sie aus dem Haus vertreiben sich auch dem Vorurteil im Dorf entge- wollten, das rechtlich ihr gehört. Unter gen gestellt, dass Frauen nicht arbeiten Wohnsituation diesen widrigen Umständen hat sie ihren gehen sollten. Dies tat sie direkt vor den Im Rahmen des öffentlichen Wohnungs- ältesten Sohn auf eine Art und Weise Augen des Patriarchen, ihres Schwieger- baus bekam Keshaben als Witwe von erzogen, die ihn zum Gegenteil dessen vaters. „ der Regierung einen Zuschuss von gemacht hat, was die Männer um ihn 40.000 Rupien angeboten, um ihr Haus herum verkörpern. Er ist seiner Mutter (Diese Lebensgeschichte wurde dokumentiert im instand zu setzen. Doch ihr Schwieger- gegenüber sensibel und fürsorglich und Rahmen des SEWA-Explosure- und Dialogpro- gramms, Gujarat, Indien, September 2005) vater legte Widerspruch ein und unter- übernimmt Hausarbeit. In ihn setzt sagte ihr, das Haus auf seinem Grund- Keshaben ihre Hoffnung für die Zu- stück zu bauen. Mit dem Geld hätte sie kunft. Sie wartet darauf, dass er noch ein ein gutes Haus bauen können, doch das Problem bestand darin, dass ihr Haus dann besser gewesen wäre als sein eige- Gisela Bonn-Preis für Herbert Lang nes. Das war weder für ihn noch für seine Söhne akzeptabel. Ihr Schwieger- Der vom Indischem Kulturrat (Indian westfunk, vom Hessischen Rundfunk, vater schlug einen alternativen Standort Council for Cultural Relations) ge-stif- von Radio France etc. am äußersten Rand des Grundstücks tete Gisela Bonn-Preis wurde in die- vor, doch den akzeptierte sie nicht, denn sem Jahr an den in Europa und Indien Der Preis geht an Herbert Lang mit das hätte bedeutet, dass sie ihren hoch angesehenen Meister indischer der Begründung: Er leistet einen ein- Anspruch auf ihren Teil am Gebäude- Instrumentalmusik Herbert Lang ver- drucksvollen und nachhaltigen Beitrag komplex verloren hätte. So entschied liehen. Die Preisübergabe fand am zur Verbesserung des Verständnisses sie sich, in ihrem baufälligen Haus woh- 30.09.06 im Rahmen einer Festveran- europäischer Musikfreunde für die nen zu bleiben und den Zuschuss von staltung in den Räumen der Francki- vielfältigen Wurzeln und Darstellungs- der Regierung nicht in Anspruch zu schen Stiftungen in Hall (Saale) statt. formen klassischer indischer Musik nehmen. und ihrer führenden Interpreten. Herbert Lang hat sich in indischer Das gesamte Land und die Gebäude sind Instrumentalmusik spezialisiert und ist Der Gisela Bonn-Preis wurde nach auf ihren Schwiegervater eingetragen. bekannt als Meister indischen Trom- dem Tode der über die Grenzen Eine rechtliche Übertragung des Eigen- mel „Mridangam“ Seit 1996 tritt er Deutschlands hinaus bekannten Indo- tums wäre sehr teuer. als Instrumentalist mit dem internatio- login und Publizistin Professor Dr. nal renommierten Vokalisten T.V. Gisela Bonn, Stuttgart, im Jahre 1996 Keshabens Stärke und Hoffnung für Gopalakrishnan un vielen europä- vom Indischen Kulturrat (ICCR-Indian die Zukunft ischen Ländern auf. Seine Konzerte Council for Cultural Relations) gestif- Das Reparieren von Wasserpumpen, für sind von zahlreichen Rundfunkstatio- tet und wird jährlich vergeben. das Keshaben durch SEWA ausgebildet nen ausgestrahlt worden, u.a.vom Süd- - JP wurde, ist zu ihrer Haupteinkommens-

23 die positiven Veränderungen von Spar- und Kreditprogrammen auch bei diskri- Kleines Geld minierten Kasten und ethnischen Grup- pen zeigten. Das Projekt untersucht, mit großer Wirkung INGO-IDEAs („NGO Impacton Die im Projekt NGO-IDEAs (NGO und lernen, es produktiv einzusetzen, Development, Empowerment and Impact on Development, Empowerment führt das nicht nur zu verbesserten Actions“) ist ein gemeinsames Vor- und Actions) zusammengeschlossenen Lebensbedingungen durch ein höheres haben von 32 indischen und 14 deut- deutschen Hilfswerke und der Verband Einkommen, mehr Bildung, bessere schen Hilfswerken, mit dem sie die Entwicklungspolitik deutscher Nichtre- Gesundheit und Ernährung, sondern auch Wirkungen ihrer Spar- und Kredit- gierungsorganisationen e.V. (VENRO) zu einer Aufwertung ihres Ansehens und programme ermitteln. Das Projekt begrüßen die Verleihung des Friedens- ihrer Rechte und zu einem Rückgang von wird aktiv von VENRO unterstützt. nobelpreises an Mohammed Yunus und Gewalt gegen Frauen.“ Aufgrund ihrer Projektträgerin ist die PARITÄT, die die Grameen Bank. „Die Vergabe von gestiegenen wirtschaftlichen Kompetenz Koordination obliegt der Karl Kübel Kleinstkrediten ist auch für die meisten und Leistungsfähigkeit nähmen Frauen Stiftung für Kind und Familie. Das VENRO-Migliedsorganisationen ein zunehmend an familiären und politisch- Bundesministerium für wirtschaftli- zentrales Instrument zur Überwindung gesellschaftlichen Entscheidungen teil. che Zusammenarbeit und Entwick- der Armut“, so Ralf Tepel vom VENRO- „Die lokale Entwicklung wird so stärker lung trägt zur Finanzierung des Vor- Vorstand. „Mit dieser hohen Auszeich- an den Bedürfnissen der Armen ausge- hanbens bei. www.ngo-ideas.net nung sehen sich die Hilfsorganisationen richtet“, so Tepel weiter. in ihrer Arbeit bestätigt und ermutigt.“ Die Analysen von NGO-IDEAs in Indi- (Quelle: Pressemitteilung Venro) en hätten außerdem ergeben, dass sich Die 30-jährige Geschichte der Vergabe von Krediten an Menschen ohne finanzi- elle Sicherheiten habe gezeigt, dass die Schwester Veena ist neue General Oberin der Verfügbarkeit von Mikrokrediten eines der wirkungsvollsten Instrumente im Johannesschwestern von Leutesdorf Kampf gegen die Armut sei. Die Gra- meen Bank ist zu einem Vorbild für viele Schwester Veena kam bereits 1964 ähnliche Einrichtungen in der ganzen zusammen mit 30 anderen Kandidatin- Welt geworden. Im Mittelpunkt der nen aus Kerala nach Leutesdorf. Spä- Spar- und Kreditprogramme deutscher ter wurde sie nach England geschickt Nichtregierungsorganisationen in Indien für eine Ausbildung als Lehrerin. Die- stehen Frauen. „Die Programme bieten se Ausbildung machte sie an der Sout- Frauen nicht nur finanzielle Dienstlei- hampton Universität. 1974 kehrte sie stungen wie Sparkonten, Kredite und zu ihrem Missionsgebiet Chanda in Versicherungen, sondern begleiten sie Indien zurück. Sie engagierte sich vor- mit Bildungsprogrammen und Unter- nehmlich im Bildungsbereich. stützung für Selbsthilfegruppen die dazu beitragen, dass arme Frauen ihr Leben So wurde die St. Johns School in Hing- nachhaltig verändern können“, so Tepel haghat gegründet und zu einer erst- weiter. „Diese Frauen, denen zuvor der klassigen Sekundarschule aufgebaut. Zugang zu üblichen Banken versperrt Von 1990 bis 1997 war sie mit der Auf- blieb, sind nun umworbene Kundinnen. Schwester Veena Pannackapallil aus gabe betraut, die Grundschule Agra- Die Verbesserungen ihrer Lebenssituati- Athirampuzha, Kerala, Indien wurde gamy Primary School zu einer Sekund- on wirkt sich auf ihre Familie und auf am 8.10.2006 zur neue General Obe- arschule aufzubauen. Dies ist ihr trotz die gesamte Gemeinschaft aus.“ rin der Johannesschwestern von Leu- einiger Schwierigkeiten gut gelungen. tesdorf (Rheinland-Pfalz) gewählt. Schwester Veena hat außerdem bei der Im Projekt NGO-IDEAs haben sich 32 Gründung und Entwicklung von ver- indische und 14 deutsche Hilfswerke Die Ordensgemeinschaft Johannes- schiedenen Einrichtungen der Ordens- zusammengeschlossen, um die Wirkun- schwestern hat ihr Mutterhaus in Leu- gemeinschaft eine Schlüsselrolle ge- gen ihrer Spar- und Kreditprogramme für tesdorf (am Rhein). Ihre Schwestern spielt, wie z.B. St. Johns Priestersemi- Arme zu ermitteln. „Die Bandbreite der arbeiten auf drei Kontinenten: Europa, nar in Kothamangalam, Ashadeepam Wirkungsfelder ist enorm“, so Tepel. Afrika und Asien. In Indien sind die KG Vettukkad (beiden in Kerala) etc. Neben persönlichen Veränderungen wie Johannesschwestern besonders im erhöhtem Selbstbewusstsein durch eine Missionsgebiet Chanda (Maharashtra) Die neue General Oberin sieht den verbesserte Bildung, bewirkten die Pro- aktiv. Auch im südindischen Staat Schwerpunkt ihrer Arbeit in den wach- gramme auch kulturelle, soziale, wirt- Kerala hat die Gemeinschaft einige senden Problemen der Armen. schaftliche und politische Verbesserun- wichtige Einrichtungen. - Jose Punnamparambil gen. „Wenn Frauen über Geld verfügen

24 welche Faktoren Veränderungen beför- Erzählung dern und behindern und welche Wir- kungszusammenhänge bestehen. Dabei werden auch die Wechselwirkungen der Wie ich zum Greis wurde Veränderungen auf Frauen und Männer sowie auf Mädchen und Jungen erkun- Edward Nazareth det. Der vollständige Bericht über die Wirkungen der Spar- und Kreditpro- Seit drei Jahren bin ich Rentner. Ich Bereits in diesen ersten beiden Jahren gramme der Nichtregierungsorganisatio- habe bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet, bekamen wir einen kräftigen Sohn und nen und ein Instrumentarium zur Beob- bevor ich Rentner wurde. Eigentlich eine hübsche Tochter. Sie schenkten uns achtung und Bewertung der Wirkungen wollte ich fünf Jahre früher, d.h. mit 60, große Freude. Im dritten Jahr nach mei- erscheint im Frühjahr 2007. „ in Rente gehen. Leider wurde ich aber ner Ankunft fing ich an zu arbeiten. So weder herzkrank noch bekam ich einen lebte unsere Familie in Liebe und gele- Rückfragen: Schlaganfall. Auch nahm mich keine gentlichem Streit und brachte viele deut- VENROe.V., Dirk Bange (V.i.S.D.P.) Kaiserstr. andere ernsthafte Krankheit ins Visier. sche Frühlinge und Winter hinter sich. 201, 53113 Bonn, Tel:+49/ (0)228/9467714/- Abgesehen von den üblichen altersbe- Unsere Kinder wuchsen schnell heran, 0,Fax:+49/(0)228/946 77-99 E-Mail: [email protected] dingten Wehwehchen und Unpässlich- studierten zügig und fanden gute Ar- Internet: www.venro.org keiten lebte ich, meiner Auffassung beitsstellen. Sie übernahmen den west- nach, gesund. Um meine Gesundheit auf lichen Lebensstil vollkommen und leb- diesem Niveau zu erhalten, machte ich ten entsprechend in eigenen Häusern, jeden Tag Yoga. Alkohol und Rauchen getrennt von uns. An unseren Geburts- hatte ich längst aufgegeben. Ich schluck- und Namenstagen besuchten sie uns. te täglich einige Vitamin-Tabletten und aß sehr maßvoll. Aus all diesen Gründen Meine Frau ging schon fünf Jahre vor sah ich tatsächlich zehn Jahre jünger mir in Rente. Nachdem auch ich in aus. Ich war mir absolut sicher, kernge- Rente gegangen war, wollten wir ge- sund zu sein. meinsam Vieles unternehmen. Wir ent- schieden uns, den Rest unseres Lebens Damals konnte ich nur nach Deutsch- richtig auszukosten. In fremde Länder land kommen, weil meine Frau mich reisen, Kreuzfahrten machen.....so be- geheiratet hatte. Eine große Zahl indi- gannen wir, wie allgemein üblich, ein scher Männer kam auf diese Weise nach fröhliches und unbekümmertes Leben zu Leserbrief Deutschland und musste sehr darunter führen. Ah, wie viele Reisen haben wir leiden. Mein Fall aber war eine Ausnah- unternommen, wie viele Länder gese- me. Meine Frau war nicht nur hübsch hen! Diese Reisen machten uns jedoch Ein nuancenreiches und von angenehmem Wesen, sie war sehr müde, vielleicht wegen unseres Bild auch ein echter Familienmensch. Daher Alters. Bei den Kreuzfahrten, die wir war unser Eheleben glücklich und sorg- machten, konnte meine Frau sich nicht Vielen Dank für die neue Ausgabe los. Ich muss allerdings zugeben, dass aufrecht halten. Sie musste sich häufig von „Meine Welt“. ich während meiner ersten beiden Jahre übergeben. Wegen solcher Schwierig- in Deutschland – in dieser Zeit war ich keiten beschlossen wir, auf Fernreisen Mein Kompliment besonders für arbeitslos und kümmerte mich nur um und Kreuzfahrten zu verzichten. Reisen Ihren Mut, auch heiße Eisen anzufas- den Haushalt – irgendwie in zwei außer- in die nähere Umgebung genügten uns. sen, denen die Mainstream-Medien eheliche Beziehungen hineingerutscht Ab und zu reisten wir in die Heimat und allzu wenig oder nur sporadisch Auf- bin. Der Grund dafür könnte mein verbrachten einige Zeit bei den Kindern merksamkeit widmen, wenn es um jugendliches Alter gewesen sein. unserer Geschwister. Doch auch hiermit sensationelle Entwicklungen geht. Obwohl ich alles sehr vorsichtig in die hörten wir auf, als wir feststellten, dass Auch bieten Sie ein „Gegengewicht“ Wege geleitet hatte, war ich nicht sicher, unser Besuch für sie sehr anstrengend in Form von Artikeln, die einem Mut ob meine Frau nicht doch davon Kennt- war. Was nun? Beim Nachdenken über machen, sich zu engagiere, nicht ein- nis hatte. Jedenfalls ließ sie sich nichts mögliche Zukunftsaktivitäten hatte ich fach zu warten, bis andere es tun. anmerken. Was der Grund dafür war, eine Idee. Warum nicht ins „Schwarz- Das Resultat ist ein nuancenreiches dass sie auf einen möglichen Verdacht waldhaus“ zum Tanzen gehen? Bild, von dem ich mir wünsche, dass hin nicht reagierte, blieb eine offene es viele Schüler, Studenten und Frage, die mich sehr beunruhigte. Unser Wohnort ist Hilden, unweit von Pädagogen erreicht – gerade zu Düsseldorf, der Hauptstadt des Bundes- einer Zeit, da Indien und China stän- ______landes Nordrhein-Westfalen. Mein Ar- dig als Success Stories in die Wirt- Edward Nazareth, geb. 1947 in Mukkattu, Kerala, lebt beitsplatz war in Mettmann. Man kann schaftsnachrichten gelangen. Dafür seit 1974 in Deutschland und schreibt Kurzgeschichten in auf zwei Wegen nach Mettmann gelan- sind Ihre Buchbesprechungen von seiner Muttersprache Malayalam, vornehmlich über das gen: über die Autobahn und durch das besonderem Wert. Leben der Keralesen in Deutschland. Bis jetzt sind zwei Neandertal. Für die Fahrt über die Auto- - Ludwig Pesch Sammlungen seiner Kurzgeschichten veröffentlicht wor- bahn nach Mettmann brauchte ich 15 den. Minuten und durch das Neandertal 25

25 Minuten. Ich nahm immer den Weg Vorfreude schon am Anfang jeder liche und glückliche Atmosphäre in der durch das Neandertal. Landschaftlich ist Woche auf Mittwoch, Freitag und Sams- Familie nicht stören, indem ich meiner diese Gegend herrlich. Der Ort ist über tag. Das Tanzengehen wurde für uns bei- Frau irgendwelche dummen Fragen Deutschland hinaus bekannt. Die Ur- nahe zur Sucht. stellte. So hielt ich den Mund. menschen dieser Gegend lebten hier, so behaupten die Deutschen. Die Land- So ging es ein Jahr lang mit dem Tanzen. Dass aus diesen regelmäßigen Tänzen schaft mit Bergen, Tälern und dicht ge- Dann merkte ich, dass ein Deutscher an der beiden ein kompliziertes Problem wachsenen Wäldern ist, insbesondere im fast jedem Tag, an dem wir zum Tanzen für mich geworden war, stellte ich viel- Frühling, einfach atemberaubend. Wenn gingen, bei meiner Frau war und mit ihr leicht etwas zu spät fest. Der Freund, ich diesen Weg entlang fahre, erinnere tanzte. Mit wachsender Eifersucht (und dessen Name Hans Schiescher war, be- ich mich immer an die folgenden Zeilen wachsendem Schmerz) stellte ich fest, gann, auch an den Tagen mit meiner unseres großen Dichters Changanpuzha: dass auch meine Frau wahnsinnig daran Frau zu telefonieren, an denen kein Tanz „Die blumengeschmückten Wälder interessiert war, mit ihm zu tanzen. Na stattfand. Stundenlang sprachen sie am drängten sich aneinander, fröhlich ja, versuchte ich mich zu beruhigen, was Telefon miteinander wie ein junges Lie- schwimmend in ihrer grünen Pracht.“ kann geschehen? Wenn sie unbedingt bespaar. Meine Frau begann, die Haus- Ich wählte immer diesen Weg, weil er so mit ihm tanzen will, soll sie es tun. Was arbeit zu vernachlässigen. Das Kochen hinreißend schön ist. Wenn man den kann in unserem Alter passieren? Sie fiel jetzt in meine Verantwortung. Sie Berg ins Neandertal hinunter fährt, führt soll auch außer der Reihe eine Freude nahm sich viel Zeit an diesen Tagen, um der Weg nach rechts in Richtung Mett- haben. Das ganze Leben lang hat sie sich schön zu machen. Sie hatte nie mann. Wenn man etwas weiterfährt, große Lasten getragen. Jetzt ist sie end- großes Interesse an teuren Kleidern sieht man schon das „Schwarzwald- lich von Belastungen frei. Wenn sie also gehabt. Nun war sie verrückt nach kost- haus“. Mittwochs, freitags und samstags beim Tanzen mit einem anderen Mann spieligen Modekleidern und kaufte sie in stehen dort viele geparkte Autos. An die- Freude hat, soll sie das tun. Es wird teuren Boutiquen. Wenn ich ihr früher sen Tagen strahlt und glitzert das ihren Appetit anreizen. Das eigentliche starkes Parfüm gekauft hatte, machte sie Schwarzwaldhaus im Glanz elektrischer Mahl nimmt sie zu Hause ein, mit mir. davon kaum Gebrauch, weil sie angeb- Lichter. Man kann dann sehen, wie Das waren meine Gedanken. Trotzdem lich davon Kopfschmerzen bekam. Und männliche und weibliche Ruheständler plagte mich der Verdacht, dass irgendet- nun? Nun kaufte sie das teuerste Parfüm aus der Nachbarschaft in einem Saal mit was nicht stimmte. Ich war tatsächlich und trug diesen Duft überall hin. Sie war indirektem, rotem Licht zu reizender beunruhigt. Ich wollte aber die fried- nicht mehr bereit, in der Küche zu ste- Musik tanzen. Die Tanzhalle ist so gebaut, dass sie mich an die Vorderseite eines alten Naalukettu* mit rotem Zie- Der unsichtbare Kollege Immigrant geldach in meiner Heimat erinnert. Im gelben Licht kann man das beschriebene In Deutschland leben 15 Millionen zent aller Migranten haben Arbeit, Schild deutlich erkennen: „SCHWARZ- Menschen, die Ausländer sind oder viele verdienen ordentlich. 90 000 aus- WALDHAUS“. Deutsche, deren Eltern aus dem Aus- ländische Kinder sind in den Gymnasi- land stammen. Fast drei Millionen en auf dem Weg zum Abitur. Die Mehr- Wir begannen also, dort als Tanzpaar Menschen mit ausländischem Pass heit der Zuwanderer und ihrer Famili- regelmäßig westliche Tänze zu tanzen. arbeiten in deutschen Betrieben. Sie en lebt ein normales deutsches Leben, Als wir jung waren, hatten wir schon stehen am Band, schaffen auf dem wie Hasan Sahin. ersten Unterricht in westlichem Tanz Bau, sitzen im Büro. Sie sind Arbeiter, genommen. Dafür hatte es folgenden Handwerker und hoch qualifizierte Die meisten Migranten kamen wegen Anlass gegeben: Ab und zu fanden da- Fachkräfte, manche auf dem Weg nach der Arbeit nach Deutschland. Arbeit mals unter den Keralesen Zusammen- oben. Aber wenn Deutschland über ist das Tor in die Betriebe und ebnet treffen und Seminare statt. Bei solchen seine „Ausländer“ redet, redet es den Weg in die Gesellschaft, Arbeit Gelegenheiten wurden immer westliche meist über Probleme. Es diskutiert macht die Ausländer zu deutschen Tänze getanzt. Aber die meisten waren über Arbeitslosigkeit, schlechte Bil- Steuerzahlern und zu deutschen Ren- nicht richtig in westlichen Gesell- dung, überforderte Schulen, Ghettos tensparern. Arbeit zu haben bedeutet schaftstanz eingeweiht. So machten sie und Kriminalität, über Kopftücher, Normalität – und Integration. irgendwelche komischen Bewegungen Islamismus und mangelnde Integrati- mit ihren Händen und Füßen. Ich und on. Es betrachtet Migration mit großer Unzähligen Ausländern wird in meine Frau aber dachten, dass wir rich- Sorge und Migranten als große Bürde. Deutschland allerdings die Arbeit ver- tige Tanzschritte lernen sollten. Wenn Die Probleme existieren: Ein Viertel boten. Viele tausend bleiben ohne schon, denn schon. So nahmen wir eini- aller Zuwanderer hat keine Arbeit, Lehrstelle. Und über jene, die arbeiten ge Zeit Tanzunterricht. Dies war für uns genauso viele gelten als arm. An den und integriert sind, redet die Republik von großem Nutzen. Die meisten im Hauptschulen sind Ausländer weit nur selten. Kollege Immigrant bleibt Schwarzwaldhaus waren Deutsche in überrepräsentiert, an den Gymnasien meistens unsichtbar. unserem Alter. Wir beide waren die ein- weit unterdurchschnittlich vertreten; in - Christian Tenbrock zigen Farbigen dort. Daher warteten Berlin-Neukölln oder Duisburg- viele begeistert darauf, mit uns zu tan- Marxloh leben sie in autarken auslän- (Quelle: Auszug aus „Kollege Immigrant“ in zen. Auch viele ganz Alte wollten mit dischen Parallelwelten. Aber 75 Pro- „Die Zeit“ Nr.40 vom 28.09.2006) mir tanzen. So warteten wir mit großer

26 hen und Rezepte aus unserer Heimat zu noch gab. Ich entschloss mich, auf Kon- (Aus dem Malayalam von Jose Punnamparambil) (Quelle: „Drei Blinde beschreiben den Elefan- kochen. Sie wollte ihre Kleider und ihr frontationskurs zu gehen. Wütend sagte ten”, Zeitgenössiche Erzählungen und Gedichte Haar nicht mit üblem Geruch versetzen. ich ihr: „Was hast du vor? Ich werde dir aus Kerala. Herausgegeben von Christina Kamp Langsam übernahm ich viele Haushalts- nicht erlauben, so weiter zu machen. Du und Jose Punnamparmabil, Horlemann Verlag, tätigkeiten, die sie immer gemacht hatte. bist meine Frau. Ich werde es nicht 2006.) Der Gedanke, dass ich, wenn es so wei- zulassen, dass du mit irgendjemandem *Traditionelles, von vier Seiten geschlossenes Haus mit ter ginge, bald in großer Gefahr stünde, herumläufst wie eine tanzende Hure!“ einem Innenhof. brachte mich zu dem Entschluss, ernst- Ich packte sie bei der Hand. haft Wege zu überlegen, wie man mit dem Tanzbesuch endgültig Schluss Sie stieß meine Hand weg und sah machen könnte. lächelnd zu, wie ich explodierte. Ohne irgendwelche Hemmungen sagte sie: „Friendship Award Eines Mittwochs machten wir uns wie „Denkst du, dass ich alles vergessen 2006“ der chine- gewöhnlich für den Tanzabend schön. habe, was du mir in den ersten Jahren Als wir unterwegs zum Auto waren, nach deiner Ankunft in Deutschland sischen Regierung legte ich meine Hand auf mein Herz, rief angetan hast? Zwei Jahre lang bist du für Sumit Banerjee um Hilfe und ließ mich zu Boden fallen, arbeitslos gewesen. Da habe ich für dich als ob ich bewusstlos würde. Meine Frau gesorgt. Nach schwerer Arbeit auf der geriet in Panik. Auf ihre Frage, was mit Station bin ich nach Hause gekommen, mir los sei, stöhnte ich und täuschte vor, habe für dich nach deinem Geschmack unter großen Schmerzen zu leiden und gekocht, dir nach Wunsch Alkohol nicht sprechen zu können. Sie bestellte gekauft, dich wie ein Dienstmädchen einen Krankenwagen und brachte mich bedient, bin mit dir ins Bett gegangen schnellstens ins Krankenhaus. Da meine und...und.... Und wie hast du dich dafür Frau den Verdacht äußerte, dass es sich revanchiert? Denkst du, dass ich nichts hier um einen Herzinfarkt handelte, davon weiß, wie du mit der deutschen untersuchte das Krankenhauspersonal Frau nebenan in Liebesspiele verwickelt mich gründlich. Am Ende hatten sie warst und mit meiner Freundin Reet- nichts feststellen können, was diesen hamma ins Bett gegangen bist? Damals Der in Kerpen (bei Köln) lebende Verdacht bestätigte. Trotzdem schlug schwieg ich, weil ich unseren Kindern indische Gummi-Technologe Sumit der Arzt vor, dass ich noch ein paar Tage keinen Schaden zufügen wollte. Wie ich Benerjee ist am 30.09.2006 von der für weitere Untersuchungen im Kran- in aller Stille gelitten habe, davon hast chinesischen Regierung mit dem kenhaus bleiben solle. Meine Frau hatte du keine Ahnung. Jetzt tut dir weh, was höchsten Preis für ausländische in der Zwischenzeit unsere Kinder sowie ich mache. Du hast überhaupt keinen Fachkraft „Friendship Award” aus- ihren Tanzpartner Hans Schiescher ins Grund, dich zu beschweren. Heute bist gezeichnet worden. Herr Banerjee Krankenhaus kommen lassen. du gesundheitlich nicht in der Lage, war einer der 49 ausländische Fach- meine Wünsche und Bedürfnisse zu leute aus 19 Ländern, die diesen In der folgenden Zeit besuchte meine erfüllen. Was ist also verkehrt daran, Preis für ihre herausragende Lei- Frau mich im Krankenhaus gemeinsam wenn ich zu einem Mann gehe, der mich stung verliehen bakamen. Im Rah- mit Hans Schiescher. Auch während liebt und gesundheitlich in der Lage ist, men einer Festveranstaltung im meines Krankenhausaufenthaltes ging meine Bedürfnisse zu erfüllen? Reg’ „Great Hall of the People“ in Beijing sie wie immer mit Hans Schiescher zum dich nicht auf, mein Lieber. Du solltest gratulierte der Premierminister Wen Tanzen. Nachdem ich aus dem Kranken- dich auch nicht ärgern. Die Leute Jiabao Sumit Benerjee und die ande- haus entlassen worden und nach Hause draußen werden dich auslachen. Es ist ren Preisträger für ihre hervorragen- zurückgekehrt war, sagte sie mir: „Du nur in deinem Interesse, wenn du dich de Beiträge zur Modernisierung sollst jede körperliche Anstrengung ver- zusammenreißt und schweigst.“ Chinas und dankten ihnen herzlich meiden. Deshalb solltest du dich einige für ihren Einsatz. Zeit zu Hause ausruhen und nicht tanzen Sie machte sich schön wie immer, kam gehen. Ich werde alleine mit Hans ge- zu mir, gab mir ein Küsschen, wünschte Sumit Banerjee kam 1965 nach hen.“ Ein Hammer! Was ich gerade hatte mir einen schönen Abend und ging Deutschland und studierte Industrie- vermeiden wollen, war jetzt eingetreten. gelassen zum Auto von Hans Schie- chemie. Danach arbeitete er im Be- Mein vorgetäuschter Herzinfarkt hatte scher. Der betörende Duft ihres Parfüms reich Gummiverarbeitung und Pro- ihr nun völlige Freiheit gebracht. blieb im Zimmer hängen. In mir brauste duktion bei verschiedenen Firmen, der Wunsch auf, sie bei der Hand zu zuletzt als technischer Leiter bei Heute bin ich ein trauriger Mensch. Ein- nehmen, sie zu küssen, einfach so da zu Zeon Europe (Düsseldorf). Seitdem samkeit erdrückt mich jeden Abend. liegen mit meinem Kopf in ihrem Schoß er 2003 in den Ruhestand trat, ist er Meine Frau hat begonnen, auch die tanz- und ihre Hände zärtlich in meinen Haa- für „Senior Expert Service“ (SES) freien Abende mit Hans Schiescher zu ren zu fühlen. Aber ich saß da wie einer, tätig. In dieser Eigenschaft war Herr verbringen. Ihr Verhalten erweckte der zu nichts fähig ist, der nicht weiß, Banerjee zwischen 2003 und 2006 manchmal den Eindruck, dass sie es gar was zu tun ist, völlig hilflos, ja…wie ein 12 mal in China gewesen. nicht mehr wahrnahm, dass es einen nichtsnutziger Greis.... „ - JP Menschen wie mich zu Hause überhaupt

27 Interview Aktuell „Ich habe das Gefühl, dass die Deutschen meine Entwicklung als junger Künstler mit Interesse beobachten und begleiten“

Shihabuddeen Vaippipadath

Shihabuddeen Vaippipadath ist ein junger indischer Künstler aus dem südindischen Staat Kerala, der die seltene Chance hatte, an der renommierten staatlichen Kunstakademie in Karlsruhe moderne Malerei und Graphik zu studieren. Er hat vor kurzem sein Dimplom gemacht und ist jetzt fuer den Master-Studiengang eingeschrieben. Wir haben ihn u.a.gefragt, wie er dazu kam, in Deutschland Kunst zu studieren und welche Erfahrung er in Europa als indischer Künstler gemacht hat. Die Antworten drucken wir nachfolgend ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil. - Die Redaktion

Meine Welt: Sie sind ein junger indi- Sie ein Maler im klassischen Sinne des scher Künstler, der in Deutschland lebt. Wortes? Wie sind Sie nach Deutschland gekom- men, was war das Ziel Ihres Kommens Shihabuddeen V.: In Indien studierte nach Deutschland? ich Malerei und Graphik, in Deutsch- land Malerei, Graphik und digitale Shihabuddeen Vaippipadath: Von Video-Kunst. Malerei im klassischen 1994 bis 1998 studierte ich Malerei und Sinne wird als Studienfach an deutschen Graphik am College of Fine Arts der Kunstakademien nicht angeboten. Wir Universität Kerala., Thiruvananthapu- lernen diese nur als Theorie. Ich habe ram. Dies ist das einzige College in durch Erfahrung meinen eigenen Stil Kerala, das in bildender Kunst einen entwickelt, der dem deutschen Expres- akademischen Grad verleiht. Nur 13 sionismus nahe steht. Bewerber werden jährlich zum Studium ich in Malerei mit der besten Note zugelassen. bestand. Daraufhin entschied ich mich, Bei meinen Arbeiten spielen die Pinsel- mein Studium des deutschen Expresio- Bewegungen eine Schlüsselrolle. Die Von Anfang an war ich von Kunst aus nismus fortzusetzen. Wie ein glücklicher rhythmischen Strukturen von zwei Far- dem Westen fasziniert. Schon sehr früh Zufall traf ich genau um diese Zeit den ben schaffen die räumliche Dimension im Leben entwickelte ich eine Begabung deutschen Maler Herr Otto Eberhardt, auf der Leinwand (Canvass). In jedem für Zeichnung und Malerei. Später lern- der 1956 an der bekannten Staatlichen meiner Werke drängen die Pinselstriche te ich dazu Techniken wie Lithografie, Akademie für Bildende Künste, Karlsru- auf einem begrenzten Raum um die Radierung und Holzschnitt. he, unter HAP Grieshaber studiert hatte. Schaffung einer Form. Wenn ich vor der Viele berühmte deutsche Expressioni- Leinwand stehe, denke ich eine kleine Unsere Bibliothek war der einzige Ort, sten wie Emil Nolde haben dort gelehrt. Weile nach und beginne dann zu malen. an dem ich westliche Kunst kennenler- Mit Herrn Otto Eberhardt sprach ich Ich steure meine Linien nicht, sie kom- nen konnte. Sie war tatsächlich eine dann über meinen Wunsch, an der Karls- men spontan aus meinem Inneren und Fundgrube für Kunststudenten\studen- ruher Akademie weiter zu studieren. bewegen sich frei auf der Leinwand. Die tinnen. Ab und zu mal begegneten wir Gerade zu dieser Zeit war Herr Eber- Schnelligkeit der Pinselstriche erzeugt dort Künstlern aus dem Westen. hardt auf der Suche nach einem Künstler jedoch den Eindruck, dass die Figuren gewesen, der ihm dabei helfen soll, sein sich innerhalb des spezifischen Raumes Durch Bücher bekam ich Einblicke in Mosaik-Projekt im eigenen Haus zu rea- bewegen. Auch wenn ich Fehler mache, Kunstrichtungen wie „Renaissance“, lisieren. Er lud mich sofort nach produziert dies einen entsprechenden „Impressionismus“, „Expressionismus“ Deutschland ein, stellte mich als Mitar- Rhythmus auf der Leinwand. In den etc. Die Beschäftigung mit moderner beiter seines Projekts ein und sorgte für meisten Fällen beginne ich zu malen , Kunst ließ mich eine bestimmte Ähn- einen Studienplatz an der Karlsruher ohne eine vorgefertigte Skizze oder eine lichkeit meiner Malerei mit deutschem Kunstakademie. So kam ich nach vorgedachte Idee. Die rhythmischen „Expressionismus“ erkennen. Der deut- Deutschland und studierte hier weiter. Bewegungen des Pinsels entwickeln sche „Expressionismus“ ist bekanntlich Vor kurzem habe ich mein Diplom erfol- sich spontan und lassen auf der Lein- revolutionär in der Kunstgeschichte des greich abgeschlossen und bin jetzt für wand eine prachtvolle Oberfläche ent- 20. Jahrhunderts. Er kreierte eine radikal den Masters an der gleichen Akademie stehen. Mit zunehmender Erfahrung neue Theorie und einen neuen Stil eingeschrieben. kann ich die Linien steuern. Sie sind die moderner Kunst. So wählte ich den lyrische Reflektion meines persönlichen deutschen Expressionismus als Spezial- Meine Welt: In welchem Bereich haben Stils und meiner Philosophie. fach für meine Abschlussprüfung, die Sie sich als Künstler spezialisiert? Sind

28 Um meine Ideen zum Ausdruck zu brin- gen, setze ich verschiedene Medien ein. Zur Zeit benutze ich das digitale Me- „Eine Welt voller Inder“ dium. Hier habe ich bereits meinen eige- nen Stil entwickelt. Die Zuschauer kön- Shashi Tharoor nen sehen, wie auf einer leeren Lein- wand ein Portrait, eine Figur oder eine In meinem Traum lösen sich alle diese Armut romantisieren, jedes Dorf soll Malerei entsteht. Grenzen auf. Die ganze vielfarbige, alle Annehmlichkeiten haben, welche multikulturelle Welt vermischt sich. So die Elektrizität zu bieten hat. Aber die Meine Welt: Wie reagieren die Deut- wie bei uns in Indien schon seit ein paar Versorgung damit darf nicht Landschaft schen, die Europär, auf Ihre Kunstwer- tausend Jahren. Ich habe nur eine große und Umwelt zerstören. Mit modernen ke? Finden sie das „indische“ in Ihren Sorge: Irgendwann würden dann alle Technologien kann man Energie heute Werken als „exotisch“ oder als etwas Menschen indisch aussehen. Vielleicht zum Glück aus Biogas oder Solarzellen „zusätzliches“, das die Qualität Ihrer wäre das ja auch ein Traum: eine Welt gewinnen. Direkt in den Dörfern. Im Werke erhöht? voller Inder! Haus hatten wir auch keinen Wasser- Kerala ist berühmt für seine schönen hahn. Als Kind beobachtete ich die Shihabuddeen V.: Wenn etwas unge- Strände, aber Elavanchery liegt im Erwachsenen, wie sie sich beim Zäh- wönlich Neues in Europa zum ersten Inland, am Fuße des Western-Ghat-Pla- neputzen über die Veranda lehnten und Mal entsteht, wird dies als „exotisch“ teaus. Die Landschaft ist absolut köst- das Wasser in die Felder spuckten, das wahrgenommen. Wenn aber durch lich, nirgends sonst habe ich eine solche man aus dem Brunnen zog. Erfahrung und Beobachtung das „Neue“ Vielfalt an Grünschattierungen gesehen. als etwas besonders Wertvolles und Nirgends ein solches Rot des Bodens, Hunderte Millionen Menschen haben Bereicherndes bestätigt wird, dann dieses Blau der Gewässer. Es ist eine keinen Brunnen, für Wasser laufen sie akzeptiert und schätzt man dies hier. Traumlandschaft. Unser Haus lag mitten kilometerweit. In meinem Traum muss in den Reisfeldern. Ich erinnere mich an das niemand mehr. Ich kann nicht ver- Bei der 16. Karlsruhe Künstlermesse die leise Brise und an die Stille. Man stehen, wie wir im 21. Jahrhundert mit bekam ich eine besondere Erwähnung hörte nur die Grashüpfer. Aber solche all der Technologie und all den Ressour- von der Jury für meine digitale Video- Stimmungen gibt es natürlich überall in cen, die wir zur Verfügung haben, weiter Arbeit. Ich habe das Gefühl, dass die der Welt auf dem Land. zulassen, dass mehr als eine Milliarde Deutschen meine Entwicklung als jun- Menschen noch immer von weniger als ger Kübnstler mit Interesse beobachten Unser Haus war das größte im Dorf, und einem Dollar am Tag leben. Wir dürfen und begleiten. Ich bin sicher, dass sie in ich weiß noch, wie Leute mit allen mög- nicht länger tolerieren, dass kleine Kin- meiner Arbeit etwas „Neues“ entdeckt lichen Krankheiten davor Schlange der abends hungrig zum Schlafen ins haben, sonst würden sie mich nicht zur standen. Denn meine Großmutter gab Bett geschickt werden. Genauer gesagt, Teilnahme an wichtigen Ausstellungen Medikamente aus. Aspirin, Hustensirup, auf den Fußboden. einladen bzw. zulassen. was immer sie gerade in der Stadt Meine Literatur ist immer ein Vehikel gekauft hatte. Sie hatte wohl einen gewesen, für politische Ideen zu strei- Meine Welt: Welche Pläne haben Sie höheren Schulabschluss, aber keinerlei ten. Wenn es nun in meinem Traum für die Zukunft? Wollen Sie hier eine medizinische Ausbildung. In meinem allen Menschen gut geht: Heißt das Atelier einrichten und als Künstler Traum hat jedes Dorf der Welt ein dann, dass ich über gar nichts mehr arbeiten? Gesundheitszentrum, wo nicht mehr schreiben kann und muss? Nein. Auch Großmütter arbeiten, sondern Ärzte. in Europa, wo vor hundert Jahren noch Shihabuddeen V.: In Indien studieren Als wir Elektrizität bekamen, gab es auf große Armut herrschte und es heute wir Kunst, machen dann unseren akade- einmal so etwas wie angenehme Aben- allen besser geht, ist den Literaten der mischen Grad, aber danach ist es sehr de. Vorher herrschte der Terror der Dun- Stoff für gute Romane nicht ausgegan- schwer, ein Atelier einzurichten und als kelheit. Wenn ich nachts mal rausmuss- gen. freischaffender Künstler zu leben. Es ist te, dann zitterte ich vor Angst wegen der - Aufgezeichnet von Christiane Grefe nicht leicht, finanzielle Unterstützung zu Schlangen. Bis die Magie der Lampen bekommen. Ohne Förderung wie Sti- kam. Ich gehöre nicht zu denen, die (Quelle: „Ich habe einen Traum“, Die Zeit Nr.40, pendien, Fellowships etc. kann ein junge 28.9.2006) Künstler oder eine junge Künstlerin nicht viel weiterkommen. Vielleicht für Kunst. Sie gehen zu Ausstellungen, Auch bei der Qualität des Materials und wird sich die Lage ändern wenn Indien kaufen und sammeln Kunstwerke. Hier dessen Auswahl wie auch bei modernen wirtschaftlich Fortschritte macht. liegt das Geheimnis europäischer Kultur- Techniken, die die Künstler in Europa entwicklung. Die Europäer setzen auf zur Verfügung haben, hinkt Indien weit In Europa ist die Situation total anders. Innovation, erwarten immer was „Neues“. hinterher. Außerdem genießen die Hier sind in allen Ecken Menschen dabei, Sie wollen das Alte erhalten, aber gleich- Künstler hier absolute Freiheit, ihre die Kunst zu fördern und zu erhalten. Sie zeitig neue Werke sammeln. Tausende kreative Arbeit auszustellen, und das geben einen bestimmten Teil ihres Ein- von Künstlern in Europa verbringen das kunstliebende Publikum besitzt eine kommens für Kunst aus. Fast alle Städte ganze Leben mit Experimentieren, um Mentalität, die das „Neue“ in der Welt haben ihre Kulturzentren und Ausstel- „Neues“ in der Kunst entstehen zu lassen, der Kunst akzeptiert und würdigt. „ lungshallen. Menschen engagieren sich um neue Richtungen anzubahnen.

29 Buchbesprechung den Anpassungsstrategien an die Mo- derne gehört eine zunehmende Kom- merzialisierung des Umfelds dieser Theyyam: Von Göttern und Tempelfeste mit diversen jahrmarktähn- lichen Verkaufsständen, wie auch schlussendlich die Kommerzialisierung Menschen des The-yyam selbst – für den Touris- mus. Dies mag, so bemerkt Aubert, zwar den Künstlern helfen, das äußere Johnathan Watts, Kerala - of Gods and Men. Verlag 5 Continents Editions, Mai- Erscheinungsbild zu wahren, sei jedoch land/Musée d’Ethnographie, Genf, 2004, ISBN 8874391161. „keine Lösung“. - Christina Kamp

Wenn in den kommenden sieben Mona- tionen aus einigen anderen Teilen ten der Klang der „Chenda“-Trommeln Keralas dokumentiert. Das Buch ist ein durch die Dörfer der Malabar-Region im Produkt umfassender ethnographischer nördlichen Kerala hallt, werden die Feldforschung. Es ist als Begleitband zu nächtelang andauernden Tanzrituale des einer Ausstellung erschienen, die bis „Theyyam“ Jung und Alt, Frauen und Ende 2005 im ethnographischen Mu- Männer, und Menschen verschiedener seum in Genf zu sehen war. In einer Ein- Kasten und Gesellschaftsschichten in führung gibt der Kurator Laurent Aubert ihren Bann ziehen. In einer Kombinati- Einblicke in den gesellschaftlichen Kon- on von Tanz, Musik und Ritual erwa- text des Theyyam und macht deutlich, chen uralte Mythen und Geschichten unter welchem wirtschaftlichen Druck zum Leben. Sie sind eng mit dem jewei- diese alten Traditionen heute stehen. Zu ligen Ort und Tempel verbunden und tief in der Hindu-Kultur der Malabar-Region verwurzelt. Gute Ernteerträge, Frucht- „Rent-a-womb“ barkeit und Wohlstand werden heraufbe- schworen, Krankheiten und Epidemien Fortpflanzungstourismus als Outsourcing-Geschäft abgewendet. Die Tänzer sind Angehöri- ge der untersten Kasten. Während der Christina Kamp Theyyam-Feste stehen sie im Mittel- punkt des gemeinschaftlichen Lebens, Besonders „billig“ können sich Aus- indische Frau, die ein Kind austrägt, personifizieren in ihrem Tanz die unter- länderinnen ihren Kinderwunsch in das nicht das Kind ihres Mannes ist, schiedlichen Götter und Göttinnen und Indien erfüllen bzw. erfüllen lassen. In von der Gesellschaft stigmatisiert nehmen Opfergaben entgegen. Ihre far- einer Klinik in Mumbai zum Beispiel werde. Zudem könne in einem Land benfrohen Kostüme und der atemberau- betragen die Kosten nur etwa ein wie Indien, wo eine Frau ihrem Mann bende, bis zu sechs Meter hohe Kopf- Zehntel dessen, was die auf Nach- und dessen Familie zu Gehorsam ver- schmuck und das exquisite Make-Up wuchs hoffenden Frauen zum Beispiel pflichtet sei, nicht ausgeschlossen wer- stehen dem von Kathakali-Tänzern in in den USA bezahlen müssten. Die den, dass sie auf Druck der Familie nichts nach. Doch während Kathakali- indischen Frauen, die als Leihmütter und gegen ihren eigenen Willen einer Darbietungen eine Tradition der höheren dienen, kommen vorwiegend aus der Leihmutterschaft zustimmt. Kasten sind und für den Tourismus unteren Mittelschicht. Sie erhalten für bereits hinreichend „erschlossen“ und eine Leihmutterschaft rund 2.500 US- Wenig Beachtung fand dagegen bis- entsprechend verkürzt wurden, ist diese Dollar – viel Geld in Indien, wo fast 80 lang die Tatsache, dass mit 540 Todes- Entwicklung dem Theyyam bislang Prozent der Bevölkerung mit weniger fällen pro 100.000 Lebendgeburten die weitgehend erspart geblieben. als zwei US-Dollar am Tag auskom- Müttersterblichkeit in Indien sehr hoch Dass sich dies bald ändern wird, ist men müssen. Ärzte, die an dem Fort- ist, nicht selten aufgrund der schlech- abzusehen. Die Regierung Keralas hat pflanzungstourismus verdienen, wei- ten Ernährungslage der Mütter. Selbst den Kannur-Distrikt im Norden des sen darauf hin, dass für die indischen wenn eine Frau als Leihmutter deut- Bundesstaates als eine der Gegenden Leihmütter während der Schwanger- lich besser versorgt wird, als bei der ausgemacht, in denen der Tourismus schaft gut gesorgt werde und sicherge- Schwangerschaft und Geburt ihrer künftig besonders gefördert werden soll. stellt würde, dass sie keine zu enge eigenen Kinder, so bleibt eine Geburt Gleichzeitig werden die Theyyam-Tra- Bindung zu dem Kind entwickelten. doch immer mit einem erheblichen ditionen, die selbst Keralesen in anderen Risiko verbunden – einem Risiko, das Landesteilen kaum vertraut sind, durch Doch in der indischen Presse gibt es auf diese Weise mit „ausgelagert“ Publikationen nach und nach bekannter auch deutliche Kritik an dem neuen wird. gemacht. So hat Johnathan Watts in sei- Outsourcing-Geschäft. In der „Asia nem Bildband „Kerala – Of Gods and Times“ vom 16. Juni 2006 weist Sudha (Quelle: EED TOURISM Watch 09/2006) Men“ auf eindrucksvolle Weise Ramachandran darauf hin, dass eine Theyyam-Rituale und verwandte Tradi-

30 Und bei wirklich schrecklichen Er- eignissen, dem Tod eines jungen Men- Yoga und ich schen …? Sie meinen, wenn eines meiner Kinder sterben würde? Er sagte, dass ihm das Heike Faller zum Glück nicht widerfahren sei, aber er glaube, dass er auch in so einem Fall nach kurzer Zeit wieder in eine Gegen- Yoga versetzt einen an einen Ort in akuten Krise, der Rest macht langfristig wart zurückkehren könne, die nicht um einem selbst, in einen Bewusstseinszu- Yoga. den Verlust der Vergangenheit kreise. stand, den man wahrscheinlich auch Diese zehn Minuten totaler Entspan- durch dieses oder jenes, durch Drogen nung, sagt die Freundin, für die ginge sie (Wenn das stimmt, frage ich mich, wie oder Gartenarbeit erreichen kann. Auch zum Yoga. Ich habe mir gar nicht die es sein kann, dass wir im Westen eine so ich selbst bin in meinem Leben schon Mühe gemacht, mich ausführlich mit wirksame Technik der mentalen Kon- oft über diese Lichtung gestolpert, beim den spirituellen Hintergründen von Yoga trolle vergessen haben. Oder ist das die Schreiben oder einem Ball hinterherlau- zu beschäftigen, weil mich das kurze Art von Ruhe und Vertrauen, die meine fend, aber immer zufällig, absichtslos. Glücksgefühl an sich schon überzeugte. Oma beim Rosenkranzbeten erfahren Yoga gibt einem das beruhigende Eigentlich geht es dabei natürlich noch hat? Ist das der Grund, weshalb sie zwei- Gefühl, dass man diesen Ort mit ein paar um viel mehr, nämlich um Selbster- mal die Woche in die Kirche ging? Und einfachen Übungen und etwas Glück kenntnis und, wenn ich es richtig ver- haben wir Jüngeren, im Zeitalter von jederzeit wieder finden kann. standen habe, darum, sich unserer höhe- Prozac und Coaching, einfach das Ver- ren göttlichen Natur bewusst zu werden, trauen in uns selbst verloren, in unsere Es ist, als erreiche man eine Lichtung. die uns mit allem verbindet und der es Hausapotheke?) Es ist unglaublich, wunderbar egal ist, ob man gerade Stress im Job Wie ist es dort? Auf die Gefahr hin, dass hat. Wir sind unglücklich, weil wir glau- Es ist kein Wunder, dass eine Philoso- ich wie eine amerikanische Touristin ben, auf unser kleines Ego beschränkt zu phie, deren Botschaft es ist, dass das klinge, die zum ersten Mal Venedig sein, und weil wir nicht erkennen, dass Glück in der Gegenwart zu finden ist sieht: Es ist unglaublich, es ist wunder- in jedem von uns ein höheres, göttliches und mit einfachsten Mitteln zu errei- bar. Es ist ein Ort völliger Ruhe, an dem Selbst existiert. So hatte es bei einem chen, aus einer Gesellschaft stammt, in man weder über die unbeantworteten E- Wochenendseminar am Prenzlauer Berg der es bis vor kurzem wenig andere Mails des vergangenen Tages nachdenkt der indische Arzt und Yogameister Sri Wege dorthin gab. Dieses fragile Indien, noch über die unbeantworteten Fragen Krishna erklärt. Er war noch beein- wo bis heute der Verkehrsunfall eines des Lebens. Als Erwachsener braucht druckender als die Yogalehrer, die ich Vaters die Familie zu Bettlern machen man offenbar die Anleitung eines Leh- bis dahin kennen gelernt hatte, ein älte- kann und an dessen Rändern auch heute rers, um dahin zu finden. Jemand, der rer Inder mit grau meliertem Bart, der, noch Streichholzmenschen sitzen, die so einem inmitten des Plänemachens und wenn er sich zur Tafel umdrehte, von dünn und klein sind, als gehörten sie Zurückschauens, mit dem wir sonst un- hinten aussah wie ein 20-Jähriger. In den einer anderen Spezies an. Bettelnd, ser Leben zu steuern versuchen, die Pausen saß er im Lotussitz und starrte trotzdem lächelnd, als sähen sie etwas, Erlaubnis gibt, alles für einen Moment still ins Universum. Er schien hoch- was wir nicht sehen. Die Westler, die seit zu vergessen. Sich stattdessen auf die konzentriert, jedes Wort bedächtig hinter Jahren hierher kommen, um Yoga zu Yogaübung konzentrieren. Den Alltag das andere setzend. Nach dem Seminar machen, sind reich im Vergleich. Aber und die Sorgen hinter sich lassen. In fragte ich ihn, ob die Idee, sich auf den von ihnen müssen gerade viele lernen, jeden Bereich des Körpers hineinatmen. Moment zu konzentrieren, ganz in der dass sich das Glück nicht mehr auf eine Alle störenden Gedanken einfach vor- Gegenwart zu sein, wirklich funktionie- Zukunft verschieben lässt, in der alle beiziehen lassen. ren würde, nicht nur bei Stress, sondern immer reicher sind. Also lernen sie von Allein für dieses Bild bin ich dem Yoga in wirklich schwer belastenden Lebens- einer Gesellschaft, in der noch immer an dankbar. Probleme werden nicht, wie im situationen, bei Krankheiten oder wenn jeder Straßenkreuzung der soziale westlichen Denkmodell, verdrängt, son- jemand stirbt. Abstieg lauert, in der ein falscher Schritt dern man lässt sie weiterziehen, als exi- Ja, natürlich, sagte er. oder die Heirat mit dem falschen Mann stierten sie außerhalb des eigenen Kop- Ob er ein Beispiel nennen könne, aus Elend über die ganze Familie bringen fes, wie lästige Wolken, denen man seinem eigenen Leben? kann. „ nachhängen kann oder auch nicht. Den Tod seiner alten Mutter, sagte er, den habe er schon nach kurzer Zeit über- (Quelle: Auszug aus „Massenbewegung“, Die Zeit Am Anfang ist es nicht leicht. Dann, wunden. vom 26.10.2006) schon in der ersten Stunde, erreicht man Ich hatte erwartet, dass jetzt eine die Lichtung, für ein paar Sekunden nur, schwammige Zeitangabe folgen würde, und das Gefühl ist so überzeugend aber er legte sich tatsächlich fest: Nach schön, dass man von nun an bereit ist, wenigen Stunden sei die Trauer vorbei alles zu tun, was diese Lehrerin da vorne gewesen, was nicht bedeute, dass ihm sagt. Etwa ein Drittel der Yogaschüler, seine Mutter nicht fehle, aber dass er sagt Patricia, kommt nur einmal, ein eben in der Lage gewesen sei, zu akzep- weiteres Drittel kommt wegen einer tieren, dass das Leben weitergehe.

31 Erzählung „Soll ich einen kleinen Imbiss zuberei- ten …?“ „Hm, …was könntest du denn machen Warum? …?“ „Ich habe Fertiggerichte …“ „Das mag ich alles nicht mehr, … das Rishaban habe ich satt …“ „Oh, …dann kochen Sie selber?“ Er lachte. Seine Zähne blitzten. Er trug einen Bart. Einen Bart, über den zen. But… wenn ich Musik höre, no „Wenn ich eine Köchin einstelle, muss Großmutter gesagt hätte: ‚Als hätten problem.“ ich mich ihren Entscheidungen anpassen sich Sesam und Reis miteinander ver- Er setzte sich wieder. … Warum unnötigen Ärger?“ mischt’. Ein Körper wie ein Kürbis. Ein „Tea or coffee?“ „Vertragen Sie Baddschis, Bondas …?“ loses Hemd. Eine schwarze Hose. Eine „Tea …“ Kaum hatte sie diese Frage gestellt, da Brille auf der Nase. Bald kam sie wieder mit einem Tablett schien es ihr, dass sie nicht so hätte fra- Seine Stimme war laut und deutlich, als mit Gebäck und zwei mit Tee gefüllten gen sollen. Es war, als würde es darauf er sagte: Tassen. hinweisen, dass er ‚alt’ war. „Fünfzig Jahre alt, meine Liebe …“ „Hast du den Tee zubereitet …?“, fragte „O. k., … alles, was du magst, aber …“ Er hatte ihr im Voraus eine Nachricht er, wobei er sie zum ersten Mal im Sin- ‚Was du magst’ – diese Worte gefielen zukommen lassen, und am Nachmittag gular anredete. ihr, riefen fast ein bisschen zuviel des heutigen Sonntags … „Nein, … den habe ich an der Teebude Gefühlsaufwallung in ihr hervor. Den- „Soll ich nach zwei Uhr kommen?“, gekauft …“ noch Worte, die sie so viele Jahre lang hatte er gefragt – und nun das vereinbar- Er spähte in die Küche. nicht mehr gehört hatte. te Treffen. „Sie ist sehr sauber …“ „Ich habe Kokosnuss-Chutney zuberei- Als er kam, war es halb drei. Der Klang tet. Es ist auch noch Sambar von heute der Hausglocke gefiel ihm, wie es Im Türrahmen des Schlafzimmers morgen da …“ schien. bewegte sich der von ihm kurz zuvor Sie stand auf. „Im Haus mancher Leute klingelt es gestreifte Vorhang aus Perlenschnüren „Nein, ich möchte nichts … um Gottes sogar noch, nachdem einer, der gekom- immer noch leicht im Wind. willen …“ men war, wieder fortgegangen ist“, sagte Er schlürfte den Tee. „Keine Sorge!… Nur ein kleiner er mit einem ansteckenden Lachen. „Darf ich wissen, warum du auf einmal Imbiss!“ Manimegalai hatte einen Sari angelegt. so eine Anzeige aufgegeben hast?“ Sie stellte den Kassettenrekorder ihm Mit ihren 42 Jahren hatte sie sich an frei- Manimegalai rief sich die Zeilen ihrer gegenüber hin. en Tagen an das Tragen von Hausklei- Anzeige ins Gedächtnis. „Es sind nur vier, fünf Kassetten da, die dern gewöhnt. ‚Frau, 42 Jahre alt, in einem Regie- ich irgendwann einmal gekauft habe Weil Sundaramurti, der gerade gekom- rungsamt tätig, mittlere Hautfarbe, …“, sagte sie etwas verlegen. men war, von ihr noch nicht als ‚derjeni- durchschnittliche Größe, nicht zu dick, Eine halbe Stunde später war der Imbiss ge, welcher’ betrachtet wurde, verhielt sucht Ehemann. Chiffre Nummer …’ fertig. Zwischendurch Unterhaltung. sie sich traditionell. „Sehr kurz und bündig. Dann hast du in Jetzt wurden die Worte immer noch ganz „Manche Leute schlafen am Sonntag- einem Brief etwas ausführlicher ge- leicht gewechselt, ganz natürlich, ohne nachmittag. Ich höre Musik. Karnati- schrieben. ‚Ein jüngerer Bruder … eine irgendeine Grenze. sche, …westliche, … alles ohne Aus- jüngere Schwester, beide verheiratet und „Der Sari bereitet dir Schwierigkeiten nahme. Vorgestern hörte ich Puschpa- häuslich niedergelassen. Vater und Mut- …“, sagte er, als er merkte, dass sie sich vanam …“ ter leben nicht mehr. Eigene Wohnung.’ unbehaglich fühlte. Er saß völlig ungezwungen da, als sei er Richtig?“ „Nein, nein, es ist alles in Ordnung …“ es schon viele Tage lang gewohnt. Manimegalai wiegte zustimmend ihren „No restriction … sei, sei du selber …“ „Ich lese Bücher …“, sagte sie. Kopf. Er nahm … und aß. „Ich weiß … wenn ich meinen Blick auf „In fact bin ich Witwer. Ein Jahr nach „Dein jüngerer Bruder … Deine jüngere das Regal werfe – was für ein der Heirat … ist sie gestorben. Bei der Schwester … was meinen sie?“ Geschmack! … Kann ich mal schauen?“ ersten Niederkunft, … Mutter und Kind, „Und Ihr jüngerer Bruder …Ihre jünge- Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob er … ein Junge, … dreieinhalb Kilo soll er re Schwester?“ sich abrupt. Für sein Alter ein wenig zu gewogen haben …“ „Hm …“. Er zuckte mit den Schultern. fahrig. Wenn Großmutter noch da wäre Dass Sundaramurti jetzt seine Brille „Es scheint, dass sie nichts dagegen … ‚In einem Haus ohne Kinder …’ abnahm, war nur zu natürlich. haben. Es ist ja mein Wunsch … aber … Genug! … Ach was! … Immer wieder Er wischte sich die Augen aber nicht nachdem ich dich jetzt persönlich gese- diese Erinnerungen an Großmutter. trocken. hen habe …“ Während Manimegalai wieder zu sich „Danach hatte ich nicht den Wunsch, „Nachdem Sie mich gesehen haben …?“ fand, hielt Sundaramurti Bücher in sei- noch einmal zu heiraten. Also blieb ich „Du bist eine sehr junge Frau. I am fifty nen Händen. Er hatte sie einem Regal- allein. Ich habe einen jüngeren Bruder years old …“ fach entnommen. und eine jüngere Schwester. Beide sind Er lachte schwach. „So wie früher kann ich nicht mehr verheiratet und niedergelassen...... Manimegalai schwieg. lesen. Im Nu bekomme ich Kopfschmer- Genug! … Nur ich bin ohne Anhang …“ Vor sechzehn Jahren … Ein Zeitpunkt,

32 zu dem man sich nach einer Braut wählt hast, bitte eine Antwort … Willst sein nicht mehr ertragen ..….....“ - und umschaute. ‚Sie hat weder Mutter noch du mich jetzt immer noch wie einen im Nu füllten sich ihre Augen mit Trä- Vater … Nun gut! …Sie muss ihren jün- Gast behandeln …? Was ist denn, meine nen. „ geren Bruder und ihre jüngere Schwe- Liebe …?“ ster verheiraten. Gut! Aber für eine ‚Für so etwas Verständnis haben, ihm (Quelle: Kalki, Ceptampar 1996. Annacalaiyil oru Braut ist sie fast schon zu alt.’ Beachtung schenken, Nachsicht üben, intiyan. Ilakkiyac cintanai 1996. am antin pannirantu ciranta cirukataikal. Cennai: „Was ist? In Gedanken …?“ Mitmenschlichkeit – all das gab es leider Vanati patippakam, 1997. S. 100-105; „Es ist nichts …“, sagte sie. in der Zeit, als ich im heiratsfähigen Originaltitel: En?) „Sag doch! Bis jetzt hast du immer noch Alter war, nicht.’ Aus dem Tamil übersetzt von Dieter B. Kapp nicht auf meine Frage geantwortet … Nachdem sie so über dies und das nach- Weshalb auf einmal diese Anzeige? gedacht hatte, … sagte sie: Nachdem du mich nun einmal ausge- „Das Alleinsein, … ich kann das Allein-

Indien in der deutschen Presse Konkurrenz aus dem Indernet In einer Dorfschule in Südindien werden Kinder armer Fischer zu Computerfachleuten ausgebildet. Die meisten träumen von Jobs bei europäischen oder amerikanischen Firmen

Katharina Nickoleit in Pondicherry

Konzentriert sitzen die Schüler vor Umso wissbegieriger und fleißiger ler- werden wir später viel mehr Geld ver- ihren Bildschirmen. Keiner aus der nen die Schüler an der Kolping Matri- dienen als unsere Eltern“, sagt Heama. neunten Klasse der Kolping Matricula- culation School, die auch Jugendlichen Ihr Vater ist Fischer, die Mutter hat nie tion School flüstert oder schaut aus aus ländlichen Gegenden eine Chance einen Beruf gelernt, doch das Mädchen dem Fenster. Nur das leise Klackern geben will. mit den schwarzen Zöpfen ist zuver- der Computertastaturen ist zu hören. sichtlich, später reich zu werden, sehr Der Lehrer hat derweil nicht viel zu Schon die vierjährigen Vorschüler reich sogar. tun, er schaut seinen Schülern über die machen erste Fingerübungen auf der Schulter und beantwortet ab und zu Tastatur. „Diese Kurse sind uns wich- Alles, was die 14-Jährige an der Schu- eine Frage. Eine Atmosphäre stiller tig, denn ohne fundierte Computer- le lernt, erarbeitet sie in irgendeiner Emsigkeit, die so gar nicht in die land- kenntnisse gibt es in Indien keine Form auch am Computer. Kunstunter- läufige Vorstellung vom Schulalltag in Chancen auf dem Arbeitsmarkt“, richt wird bei ihr zu Grafikdesign, und Deutschland passen will. erklärt der Schuldirektor Venmani fast nebenbei lernt sie dabei Program- Gabriel Paul. me wie Photoshop kennen. Wer ein Die Schule steht ja auch in Indien, in Referat schreibt, bereitet selbstver- einem Dorf bei Pondicherry im Süden Weil die Computerschulung so wichtig ständlich dazu eine Powerpointpräsen- des Landes. Und Computer, das ist dort ist, ist sie in Indien auch ein großes tation vor. Und die Informationen für so etwas wie ein Zauberwort. Wer ei- Geschäft. In manchen Schulen müssen ihr Aufsätze suchen und finden die nen Computer beherrscht, dem winkt die Eltern für die Kurse bezahlen, und Schüler im Internet. eine blühende Zukunft, heißt es in Indi- wer arm ist, kann sich das oft einfach en. Die Zahlen sprechen dafür: Banken nicht leisten. An der Kolping Matricu- Der Druck auf die Schüler ist groß, aus Europa verlegen ihr so genanntes lation School ist das anders: „Unsere nicht nur weil die Eltern Höchstleistun- Backoffice nach Südindien, 80 Prozent 650 Schüler sind Kinder von einfachen gen erwarten. Von den fast 1,3 Milliar- der US-amerikanischen Steuerer- Fischern oder Handwerkern. Noch vor den Indern können es nur die Besten klärungen werden bereits in Indien ge- zehn Jahren hätten sie die Berufe ihrer schaffen, einen wirklich guten Job zu macht, Röntgenbilder aus Australien Eltern ergriffen, keiner wäre auf die finden. Die Auswahlverfahren sind werden zur Analyse auf den Subkonti- Idee gekommen, ihnen eine höhere Aus- hart. nent geschickt. bildung zu geben, geschweige denn, ihnen Computerkenntnisse zu vermit- Bereits am College, bei jedem Prakti- Das Internet macht es möglich. Doch teln. Aber mit dieser Ausbildung be- kum und natürlich bei jedem möglichen alle Träume von gut bezahlten Jobs set- kommen sie die Chance, von der Unter- Arbeitgeber warten komplizierte Ein- zen eines voraus: Computerkenntnisse. in die Mittelschicht aufzusteigen“, sagt stellungstests auf die Bewerber, und Und eine gute Ausbildung, die diese Direktor Paul. wer nicht gut genug ist, fliegt sofort vermittelt, gibt es in Indien oft nur in raus. den Städten. Wer auf dem Land lebt, hat Den Schülern ist bewusst, was für eine meistens von vornherein verloren im Chance sich ihnen bietet. „Wenn wir (Quelle: Welt am Sonntag, 03.09.2006. leicht ver- Wettrennen um Dollars und Euros. jetzt hart arbeiten und viel lernen, dann kürzt)

33 Bericht Indien als Ehrengast im Spiegel der Buchmesse in

– Atithi Devo Bhava – Der Gast wird wie Gott geehrt –

Sushila Gosalia

„Ich glaube nicht, dass man das kopieren kann. Aber dass in Indien so viele Sprachen und Völker zusammenleben und eine lange Geschichte des Friedens haben, das kann uns durchaus Vorbild sein”1 Bundespräsident Horst Köhler

– Atithi Devo Am 1. November strahlte der Fernseh- gend in der deutschen Übersetzung aus Bhava, so heißt es im Volksmund in sender 3SAT einen Thementag (von 6.15 der englischen Sprache erschienen. Die Indien: „Der Gast wird als Gott geehrt“, Uhr bis zum nächsten Tag, dem 2. neue indische Literatur, die in deutscher und so ist es zur Zeit in Deutschland: November 2006) über „Indien ent- Übersetzung vorliegt, ist wiederum Indien ist als Ehrengast der 58. Frank- decken“ mit Dokumentationen, Spielfil- meist von indischen Schriftstellern ver- furter Buchmesse wie Gott empfangen, men, sowie Berichten über Reiserouten, fasst, die im Ausland (Amerika – Eng- geehrt und zelebriert worden. Nicht nur Pilgerorten, Spiritualität, Ayurveda u.a. land) leben, aber regelmäßig Indien auf der diesjährigen Buchmesse, son- aus. besuchen und sich dort auch eine Weile dern auch in deutschen Medien, Presse, aufhalten. Kinos und auch Theaterarenen sind die Literatur, Literatur-Projekte und indischen Literaturwerke, Bollywood- Kulturforum im Vorfeld der Buch- Das Buchjournal Nr. 3/2006 (herausge- Filme sowie das Mammut-Tanzspekta- messe geben vom Börsenverein des Deutschen kel „Bharati“ (ca. 100 Tänzer und Sän- Im Vorfeld der Buchmesse brachten die Buchhandels e.V.) brachte umfangreiche ger auf der Bühne, begleitet von traditio- renommierten Zeitungen, wie die Informationen über die Neuerscheinun- nellen Musikinstrumenten) begeistern Wochenzeitung „DIE ZEIT“, Frankfurter gen aus der indischen Literatur und das deutsche Publikum in verschiedenen Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Autoren-Porträts. Suhrkamp und der Städten Deutschlands seit September Rundschau, Die Welt, Süddeutsche Zei- Insel-Verlag haben einen Sonderkatalog 2006 bis Februar 2007. tung, Handelsblatt u.a., spezielle Beila- über „Indien heute – ein literarischer gen sowie Dossiers über Indien und über Kontinent wird entdeckt“ herausge- Die Buchmesse mit dem Gastland Indi- die literarischen Werke von prominenten bracht, in dem diverse Informationen en ist am 8. Oktober 2006 mit einem indischen Autoren, deren Interviews über Romane, Reportagen, Erzählungen, großen Erfolg und großer Resonanz sowie über die Sach- und politisch-öko- Gedichtbände, Reisebücher etc. ausführ- beendet worden, aber die Lesevorträge, nomischen Bücher von deutschen Wis- lich dargestellt worden sind, um das Diskussionen und Interviews mit indi- senschaftlern und Indienkennern. Auch zeitgenössische Indien vorzustellen. schen Literaten, die offiziell vom Natio- das Fernsehen sendete Dokumentarfilme nal Book Trust, India (ein 1954 von und Reportagen über das moderne Indien Jawaharlal Nehru gegründetes staatli- mit Inhalten wie z.B. „Indien– unaufhalt- Das Projekt „AKSHAR“ ches Volksbildungsinstitut in New sam“ von Claus Kleber und Angela Im Vorfeld der Buchmesse wurde ein Delhi) sowie von anderen Institutionen, Andersen. Dieser Film dokumentierte literarisches Projekt „AKSHAR“ (ein Verlagen etc. zur Frankfurter Buchmes- optisch die verschiedenen Gesichter Hindi-Wort für „Buchstabe“) von sechs se eingeladen worden waren, hielten Indiens, wie die Hightech-Stadt Banga- indischen Goethe-Instituten zusammen auch danach weiter an. Am 13. Oktober lore, den Dharavi-Slum Mumbai, das mit den deutschen Literaturhäusern ins wurde z.B. in Heidelberg im Deutsch- größte Elendsviertel Asiens, die Raffine- Leben gerufen. Im Rahmen dieses Pro- Amerikanischen Institut eine indische rie-Industrie in Jamnagar, Gujerat, jektes besuchten sieben indische und Nacht mit indischen Autoren wie Sunil Baumwollfelder in An-dhra Pradesh, wo sieben deutsche Autoren zwischen Juni Gangopadhyay, Mandakranta Sen, Uday die Bauern sich aus dem Teufelskreis und Oktober 2006 für vier Wochen das Prakash, sowie Martin Kämpchen (der von Schulden nicht mehr befreien kön- jeweils andere Land. Sie verfassten FAZ-Kulturkorrespondent in Indien, der nen und sich umbringen. literarische Porträts und schrieben Tage- seit 30 Jahren in Indien, Shantiniketan buch-Notizen (www.goethe.de/akshar) lebt) gefeiert. Indische Musik und Tänze Die literarischen Bücher der prominen- über ihre Impressionen und Erfahrun- begleiteten das Programm. testen indischen Autoren sind überwie- gen. Diese Autoren bereiteten gemeinsa-

34 me Veranstaltungen wie Lesevorträge, Challenger and Cultural Visions“ wurde DESI-Englisch) eine lebhafte Dynamik Diskussionen, Talkshows u.a. auf der in dieser Veranstaltung auf der Buch- entwickelt. Nicht nur die Stoffe bzw. die Buchmesse vor. Am 4.10.2006 wurde messe mit dem Titel „Europa und Indien Inhalte, sondern auch die literarische während der Buchmesse das Projekt – Kulturen in der Globalisierung“ prä- Stil- und Erzählkunst prägen die indi- AKSHAR-Stadtschreiberprojekt Indien- sentiert und diskutiert. Mehr als 120 sche englischsprachige Literatur. Die Deutschland unter dem Titel „Litera- Zuhörer, darunter der ehemalige Bun- neuesten literarischen Werke von eini- rische Begegnungen – On a Muggy desminister der Verteidigung, Dr. Volker gen begnadeten indischen Schriftstel- Night in Mumbai“ im internationalen Rühe, die amtierende indische Botschaf- lern, die sowohl in Indien als auch in Zentrum vorgestellt. terin in Deutschland/Berlin, Frau Meera Amerika und England leben, liegen auch Shankar, sowie zahlreiche europäische in deutscher Sprache vor. Diese Werke Im Rahmen dieses Projektes war der und indische Teilnehmer des Kulturfo- nehmen die Begegnung der westlichen Frankfurter Schriftsteller Martin Mose- rums folgten den Ausführungen von Dr. mit der indischen Kultur unter die Lupe bach vom 8. September bis Anfang Karan Singh, Präsident des Indian und analysieren die Folgen der Globali- Oktober in New Delhi zu Gast. Die Süd- Council for Cultural Relations, und Prof. sierung. deutsche Zeitung brachte seine Tage- Werner Weidenfeld, Vorstandsmitglied Die folgenden Werke wurden auf der buchnotizen in einer Serie von ca. 20 der Bertelsmann Stiftung. Die Veranstal- Buchmesse präsentiert, vorgelesen und Artikeln vom 11. September bis Ende tung wurde von Dr. Hans-Georg Wieck, mit den jeweiligen Autoren in den Medi- September. Seine Tagebucheintragun- Vorsitzender der Deutsch-Indischen en und zum Teil auch auf der Buchmes- gen sind nicht nur die Momentaufnah- Gesellschaft, moderiert. Im Vordergrund se diskutiert. men einer Großstadt, sondern auch ein standen dabei folgende Fragen: Wohin Porträt Indiens mit seinen Gegensätzen, entwickeln sich die politische und die Amitav Ghosh (Jg. 1956) Widersprüchen, religiösen Ritualen, kulturelle Identität beider Gesellschaf- Der Glaspalast; Zeiten des Glücks im dem Kastenwesen, musikalische Erfah- ten in Zeiten zunehmender Globalisie- Unglück; Indische Augenblicke rungen, literarische Tradition u.a. Sehr rung? Welche Chancen und Risiken interessant ist seine Bemerkung wäh- ergeben sich für den gesellschaftlichen Shashi Tharoor (Jg. 1956) rend eines Radiointerviews in einem Zusammenhalt in Europa und Indien? Indien zwischen Mythos und Moderne Rundfunkstudio in Delhi. Auf die Frage Und was erwartet Europa von Indien (2000); Erfindung Indiens; Das Leben der freundlichen Redakteurin: „Wie und umgekehrt mit Blick auf das 21. des Pandit Nehru; „Bollywood“ (2006) würden Sie einem Deutschen in wenigen Jahrhundert?3 Worten Indien beschreiben?“ antwortet Sudhir Kakar (Jg. 1938) er: „Daraufhin erleide ich einen intellek- Begegnungen und Veranstaltungen Die Inder, Porträt einer Gesellschaft; tuellen Kollaps und stammele nur noch auf der Buchmesse Liebe aus Indien, Moderne Erzählungen sinnloses Zeug“2. Das ganze Tagebuch Mit mehr als 7000 Ausstellern aus 111 (2006) lässt sich auf der Internetseite Ländern in 13 Hallen-Ebenen auf ca. www.goethe.de/akshar nachlesen. Auch 17.200 Quadratmetern Ausstellungs- Vikram Chandra (Jg. 1961) der Fernsehsender ARTE und Goethe- fläche hat die 58. Frankfurter Buchmes- Der Gott von Bombay (2006) Institute in Deutschland haben das Pro- se – die weltgrößte Bücherschau – ihr jekt „AKSHAR“ mit indischen Autoren- Rekordergebnis vom Vorjahr übertrof- Vikram Seth (Jg. 1952) lesungen in verschiedenen Städten fen. Ehrengast der Buchmesse 2006 war Eine gute Partie (1995); Zwei Leben Deutschlands unterstützt. Indien – zum zweiten Mal nach 1986. (2006) Indien, die aufstrebende Wirtschafts- Noch ein anderes Projekt, das „Interna- großmacht (neben China) erlebt derzeit Pankaj Mishra (Jg. 1969) tionale Kulturforum“, das die Bertels- weltweit nicht nur ökonomisch, sondern Unterwegs zum Buddha (2005) und mann Stiftung im November 2005 in auch kulturell und mit der internationa- „Temptations of the West-Subkontinen- New Delhi veranstaltet hat und an dem len erfolgreichen Filmindustrie aus tal Drift“ (2006) 70 indische und europäische Vertreter Bombay (Bollywood) medienwirksam aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivil- einen Boom. Amit Chaudhury (Jg. 1962) gesellschaft teilgenommen haben, ist Betörungen und fromme Lügen hier zu erwähnen. Im Rahmen dieses Indien präsentierte sich mit 70 offiziell Projektes wurde festgestellt, dass der eingeladenen Autoren und 200 Verlagen Neben diesen Werken liegen in diesem wirtschaftliche Aufschwung und das unter dem Thema „Today’s India – Das Jahr viele andere literarische Werke von gewandelte Selbstverständnis in Indien moderne Indien“. Das Thema 1986 war jüngeren Autoren/Autorinnen, die auch von unmittelbarer Bedeutung für Europa „Indiens Wandel in Tradition“. in indischem Englisch schreiben, in sind. Die Ergebnisse des Internationalen deutscher Übersetzung vor. Diese Werke Kulturforums wurden in einer Podiums- Indien, das alte Kulturland, durchläuft behandeln auch neue Themen – wie diskussion im Internationalen Zentrum zurzeit einen Prozess sozioökonomi- „Unterwelt“, politische Verbindungen der Frankfurter Buchmesse (Halle 5.O, scher, kultureller und politischer Verän- mit der Filmindustrie, den täglichen D 901) am Donnerstag, dem 05.10.2006, derungen im Kontext der ‚Globalisie- Lebenskampf von armen, unterprivile- 16:30 Uhr, präsentiert. Die Konferenz- rung’. Seit den letzten 10 Jahren hat gierten Bevölkerungsgruppen am Rande dokumentation „Cultures in Globalizati- indisch-englisch-sprachige Literatur – der Gesellschaft, religiöse Konflikte, die on – A Europe-India Dialogue on Global indisiertes Englisch – (das so genannte Welt hinter den Kulissen u.a.

35 Zu diesen literarischen Werken zählen schen Werken vorgestellt. Er hat desländern Indiens. Auch indische IT- die folgenden Werke, die auch auf der Gesprächsrunden mit z.B. Shashi Tha- Firmen präsentierten sich und ihren Ser- Buchmesse vorgestellt wurden: roor, Amitav Ghosh, Vikram Chandra, vice im Bereich des – elektronischen – Kiran Nagarkar (Jg. 1949) Rana Dasgupta, dem Lyriker Ranjit Publishing. Eine Fotoausstellung zeigte Krishnas Schatten (2002); Ravan und Hoskote („Die Ankunft der Vögel“) u.a. 27 großformatige Ansichten aus der Eddie (2005); Gottes kleiner Krieger moderiert. historischen Vergangenheit und dem (2006) heutigen Indien, die in Zusammenarbeit Interessant und aufschlussreich war von Frederking & Thaler Verlag, Mün- Kiran Desai (Jg. 1971) – Die diesjähri- auch die Sendung im ZDF-Nachtstudio chen, und Roli Books, New Delhi, vor- ge Bookerpreisträgerin – am 1. und 2. Oktober unter dem Titel bereitet wurde. Erbin des verlorenen Landes „Im Dschungel der Moderne – was wis- sen wir über Indien?“ In dieser Ge- Am Platz der Buchkunst in Halle 4 Altaf Tyrewala (Jg. 1977) sprächsrunde haben Sudhir Kakar, Olaf wurde Papierherstellung in Indien Kein Gott in Sicht Ihlau (Journalist und Publizist – „Welt- gezeigt, wie sie in jahrhunderte alter macht Indien, Die neue Herausforde- Tradition in einem der letzten kleinen Shobha De rung des Westens“, Siedler, 2006), Sha- Familienbetriebe im westindischen Bun- Glitzernacht lini Randeria (Soziologin und Ethnolo- desstaat Maharashra hergestellt wird. gin – Professur an der Universität Alka Saraogi Zürich) und Ilija Trojanow teilgenom- Es gab viele andere Ausstellungen in Umweg nach Kalkutta men. Museen und anderen Institutionen in und um Frankfurt. Eine Ausstellung in Suketu Mehta (Jg. 1963) Die Begegnung mit Mahasweta Devi der Goldhalle des Hessischen Rund- Bombay – Maximum City (Jg. 1926) auf der Messe war sicherlich funks in Frankfurt zeigte die Werke von für alle sehr beeindruckend und echt über 20 indischen Karikaturisten. Der Rana Dasgupta (Jg. 1971) indisch. Sie schreibt in bengalischer kritische Blick dieser Werke richtete Die geschenkte Nacht Sprache, viele ihrer Bücher und Essays sich u.a. auf die Rolle der Frau, auf sind in deutscher Übersetzung hier Umwelt und Globalisierung. Ca. 44 Autoren haben innerhalb des offi- erschienen.4 Sie ist eine engagierte Akti- ziellen Leseprogramms an Talkshows vistin und beschäftigt sich seit Jahren Noch eine interessante Ausstellung war und Buchpräsentationen teilgenommen. mit Stammesgemeinschaften und ausge- in der Zentrale der Kinder- und Jugend- Alle diese Werke zeigen „Indien“ in all grenzten Gruppen. Sie war auch eine der bibliothek in der Arnsburger Straße 24 in seinen Erfolgen, aber auch die noch exi- Hauptredner bei der Eröffnungsfeier der Frankfurt zu sehen. Die verschiedenen stierenden Widersprüche, Gegensätze Buchmesse am 3.10.2006, 17:00 Uhr, Bilderbücher aus unterschiedlichen Tei- und die eigene kulturelle Identität. neben Dr. Frank-Walter Steinmeier – len Indiens, sowohl in Englisch als auch Bundesaußenminister, und Shri Arjun in verschiedenen indischen Sprachen, Die Buchmesse ist ein Ort der Begeg- Singh – Minister for Human Resource vermittelten einen Einblick in viele nung und Informationen, somit bietet sie Development –, im Kongresszentrum, Bereiche des Lebens in Indien. eine wirksame Plattform für neue Erfah- Messegelände. rung und gegenseitige Aufmerksamkeit. So gesehen war die Frankfurter Buch- Es haben viele wertvolle und sich loh- In diesem Zusammenhang ist der Kon- messe 2006 sehr ereignis- und inhalts- nende Begegnungen auf dieser Messe gress zum Thema „India on the Rise“ zu reich und vielfältig gestaltet. Das Plakat stattgefunden, z.B. die Begegnung zwi- erwähnen. Am 3.10.2006 fand dieser mit der Überschrift „Today’s India“ und schen Günter Grass und Amitav Ghosh – Kongress mit Diskussionen über folgen- sechsmal sechs farbige Quadrate, in moderiert von dem Schriftsteller Ilija de Themen statt: jedem ein anderes Schriftzeichen, gibt Trojanow, der 1965 in Sofia geboren auch den ersten Eindruck von der Viel- wurde und in Nairobi/Kenia aufgewach- 1. India and the World Economy fältigkeit der Sprachen und Schriften in sen ist und später in Deutschland stu- 2. India Today: Challenges of Globali- Indien. Im Forum der Messe konnte man dierte. Von 1998 bis 2003 lebte er in sation. an Bildtafeln die verschiedenen Schrift- Bombay/Mumbai. Seither lebt er überall zeichen lesen und viele indische regio- – Kapstadt, München und oft anderswo. Neben zahlreichen literarischen Veran- nale Sprachen über Kopfhörer akustisch Er ist ein guter Indienkenner und hat staltungen zum Gastland Indien auf der hören. zahlreiche Sach- und Reisebücher über Buchmesse und im Literaturhaus Frank- Indien vorgelegt. Dazu zählen z.B. (mit furt gab es auch diverse andere Pro- Im Großen und Ganzen – die 58. Buch- Katrin Simon) „Indien Land des kleinen gramme, die sich mit indischer Kunst, messe 2006 mit Indien als Atithi-Ehren- Glücks“, IlijaTrojanow (Hg), „Wespen- Musik, Theater, Tanz, Handwerk, Touri- gast scheint bei Kritik und Leserschaft nest Indien“, Heft 144; „Gebrauchsan- stik und Bollywoodfilmen beschäftigten gut angekommen zu sein. Der Erfolg der weisung für Indien“ und „An den inne- und „Indien“ in diesen Bereichen prä- Buchmesse ist wahrscheinlich nicht ren Ufern Indiens“. sentierten. allein darauf zurückzuführen, dass sie sehr gut organisiert, gestaltet und mit Während der Buchmesse hat Ilija Troja- Es gab Ausstellungen wie Delhi Haat, Inhalten gefüllt war, sondern auch ihren now viele bekannte indische Gegen- ein indischer Markt mit Kunst- und eigenen indischen Charakter – Kultur, wartsautoren mit ihren neuen literari- Kunsthandwerk aus verschiedenen Bun- Sprache, Vielfalt, Sensibilität – aus-

36 strahlte. Die Buchmesse eröffnete eine für Bengali, Hindi und neuerdings auch und viel gelesen werden. In Deutschland ganz eigene Wahrnehmung des moder- für Malayalam. Zwischen 1986 (Buch- aber kennt kaum jemand diese Autoren. nen, aber auch traditionellen Indien in messe mit Schwerpunktland Indien) und Es ist zu hoffen, dass die 58. Buchmesse Deutschland. Der Raum, die Konzeption jetzt 2006 (Buchmesse mit Indien als mit Indien als Ehrengast nicht nur ein und die Gestaltung dienten als wirksa- Gastland) hat sich in dieser Sache sehr Strohfeuer war, wie Alokeranjan Das- mer Träger des Indienbildes in Deutsch- wenig geändert. gupta, ein bekannter bengalischer Dich- land. Das wurde bewertet und hat ein ter in Deutschland, die 1986er Buch- großes Ansehen für „Indien“ gebracht. Erfreulicherweise gibt es zwei neue messe mit Indien als Gastland bezeich- Initiativen: Eine ist die Gründung (2003) net hatte.11 Dennoch ist festzuhalten, Resumée des Draupadi Verlages6 von Christian dass die 2006er Buchmesse mit Indien Es machte sich bemerkbar, dass das Weiß in Heidelberg, und die zweite ist als Ehrengast – Atithi Devo Bhava – in Indienbild in deutschen Medien nicht die Gründung (2006) des Literatur der Tat eine überdurchschnittliche Reso- mehr so verzerrt dargestellt wird. Mit Forum Indien e.V.7 in Düsseldorf. Im nanz erlebt hat. „ großer Freude und Eifer wurde Indien Draupadi Verlag sind einige Werke aus als Ehrengast auf der Buchmesse emp- dem Hindi, Bengali und Malayalam in Anmerkungen: fangen, sozusagen mit dem Roten Tep- deutscher Übersetzung erschienen.8 1 vgl. hierzu, „Der Bundespräsident liest Punjabi“ in Die pich. Aber die neuen literarischen Werke Auch im Horlemann Verlag, Bad Hon- Welt v. 07.10.2006, S. 1. 2 vgl. hierzu, Martin Mosebach, Indisches Tagebuch (4) auch von den deutschen Indienkennern nef, sind einige Werke aus dem Wildes Schäumen, in Süddeutsche Zeitung, v. 14. Sept. versuchen zu zeigen, dass das traditio- Malayalam und Bengali in deutscher 2006. S. 17. nelle Indien mit Kastenwesen, hierarchi- Übersetzung erschienen, wie z.B. „Im 3 vgl. hierzu, Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung, Projektarbeit: „Das Internationale Kulturforum, New scher Gesellschaftsstruktur, Armut, u.a. Schatten des Taj Mahal. Indien erzählt. Delhi 2005“, Frankfurt/Gütersloh. v. 05.10.2006. nicht verschwunden ist, sondern dass es Zeitgenössische Erzählungen und Lyrik 4 vgl. hierzu, Ramachandra Guha, Mahasweta Devi, Eine immer noch neben dem modernen Indi- aus indischen Regionalsprachen“ Vorkämpferin der Adivasi, in Meine Welt, Zeitschrift des en existiert. 60% der indischen Bevölke- (2006); „Drei Blinde beschreiben den Deutsch-Indischen Dialogs, Sonderausgabe zur Buch- messe 2006, Indien von heute, S. 56-57; Mahasweta Devi, rung lebt immer noch auf dem Lande in Elefanten. Kerala erzählt; (2006); a bio-Profile, Frankfurter Buchmesse 2006, (Hrsg.) den Dörfern. Es gibt immer noch Anal- „Bhaskara Pattelar und andere National Book Trust, India, New Delhi, 2006. phabeten trotz IT-Experten. Die Stellung Geschichten“ von Paul zacharia (aus 5 vergl. hierzu, Urvashi Butalia, Das Land der 18 Spra- der Frau in vielen Bundesstaaten ist dem Malayalam); „Aufstand im Munda chen, in Die Zeitliteratur, Sonderbeilage Die Zeit, Nr. 40, v. Sept. 2006, S. 5. immer noch nicht auf der gewünschten Land“ von Mahasweta Devi (aus dem 6 vgl. hierzu, Der Draupadi Verlag, Zeitgenössische Lite- Rangordnung der Gesellschaft. In vielen Bengalischen von Barbara Dasgupta)9 ratur aus Indien, in Meine Welt, Juni 2006, S. 21. Bundesstaaten nimmt die Frau immer 7 vgl. hierzu, Meine Welt, Sept. 2006, Sonderausgabe zur noch eine untergeordnete Stellung ein. Der Literatur Forum Indien Verein Frankfurter Buchmesse 2006, Indien von heute, S. 37. 8 vgl. hierzu, Draupadi Verlag, Heidelberg, Ein Verlag für Diese Tatsachen kommen auch in vielen möchte einen Beitrag zur Förderung von Indien, Verlagsprogramm Herbst 2006, Informationsfalt- Sachbüchern und literarischen Werken Literatur aus Indien und anderen süd- blatt. deutscher und ausländischer Autoren asiatischen Ländern im deutschsprachi- 9 vgl. hierzu, Indische Literatur in deutscher Überset- zum Ausdruck, und es ist gut so. Darü- gen Raum leisten, indem die Werke aus zung, Neuerscheinungen 2006, in Meine Welt, Sept. 2006, Sonderausgabe zur Buchmesse 2006, S. 78 – 83. ber hinaus beleuchtet die Literatur jün- indischen Sprachen in deutscher Über- 10 Ebenda gerer Autoren die Realitäten hinter den setzung veröffentlicht werden können.10 11 vgl. hierzu, Alokeranjan Dasgupta, Ein Strohfeuer und Kulissen des Großstadt-Glamour – wie danach, in Meine Welt, Juni 1996, S.18. Mumbai – Kalkutta, Delhi u.a. Es ist zu hoffen, dass diese Initiativen Erfolge haben und hier in Deutschland Ferner ist festzustellen, dass eine große lebende Inder, die aus verschiedenen Anzahl von literarischen Büchern in Sprachregionen (Bundesländern) kom- Indien in regionalen Sprachen wie Guja- men, versuchen, die Literatur aus deren rati, Hindi, Bengali, Tamil, Telugu, Regionen hier bekannt zu machen und Urdu, Malayalam, Marathi, Punjabi, geeignete Übersetzer und Finanzie- Weniger Assamese, Oriya, Maithili u.a. verfasst rungsmöglichkeiten zu finden. Der Kinderarbeit wird. Es gibt in Indien 23 offiziell aner- National Book Trust of India, die Sahi- kannte Regionalsprachen und Tausende tya Academy und Goethe Institute in Erstmalig ist die Zahl der Kinder, die von Dialekten. Englisch wird nur von Indien sowie einige Verlagshäuser hier dauerhaft arbeiten müssen, gesun- 5% der Inder gesprochen, aber die eng- in Deutschland könnten dabei behilflich ken. Laut Internationaler Arbeitsor- lischsprachige Literatur macht 30% der sein. Die Frage ist jedoch, ob die Litera- ganisation (ILO) sind es heute 28 Buchproduktion aus,5 konstatiert Urva- ten, die in indischen Regionalsprachen Millionen Kinder weniger – das sind shi Butalia, von Zubaan Books, Verlag wie Gujarati, Punjabi, Oriya, Tamil, elf Prozent – als vor vier Jahren. in New Delhi. Telegu oder Assamese schreiben, auch Dennoch arbeiteten 218 Millionen bereit sind, dazu beizutragen, dass ihre Kinder, mehr als die Hälfte unter Es werden sehr wenige Literaturwerke Werke auch in deutscher Sprache über- extremen Bedingungen in Minen, aus z.B. Gujarati, Tamil, Telugu, Punja- setzt werden. In Gujarati gibt es z.B. Chemiefabriken oder als Prostituier- bi, Oriya u.a. in deutscher Sprache über- namhafte Literaten wie Suresh Dalal, te. setzt. Der Grund liegt darin, dass es in Gunnvaut Shah, Ila Arab, Varsha Adalja, Deutschland kaum Übersetzer für diese Priti Sengupta u.a., die auch in Amerika, (Quelle. Kontinente 4/2006) Sprachen gibt. Es gibt gute Übersetzer England, Kanada u.a. sehr bekannt sind

37 Interview Aktuell „Nicht jeder, der eine Sprache gut beherrscht, ist auch ein guter Übersetzer“

Margot Gatzlaff

Frau Dr. Margot Gatzlaff ist eine der namhaften Indologinnen und Übersetzerinnen Deutschlands. Sie hat viele wichtige Werke aus dem Hindi ins Deutsche übersetzt. Nachfolgend drucken wir ein Interview mit ihr ab, in dem sie u.a. Auskunft über ihren Kontakt zu Indien, über ihr Leben als auf Indien spezialisierte Literaturwissenschaftlerin/Übersetzerin gibt. Die Fragen stellte Frau Dr. Sushila Gosalia - Die Redaktion

Meine Welt: Frau Dr. Gatzlaff, Sie damals vor allem Prem Cand und Yash- beschäftigen sich seit vielen Jahren pal, von de-nen ich auch Erzählungen sowohl beruflich als auch privat mit der und von Prem Cand den Roman „Nir- Hindi-Sprache und -Literatur. An der mala“ (Reclam, 1976) übersetzt Universität Leipzig haben Sie nach der habe. Inzwischen kenne ich viele an- Wende den Studienbetrieb am Institut für dere und habe insbesondere übersetzt Indologie wieder aufgebaut. Sie überset- Bhisham Sahnis Romane „Basanti“ zen Romane von indischen Schriftstel- (Reclam, Leipzig 1984, Im Waldgut, lern aus der Hindi-Sprache ins Deutsche Frauenfeld 1989) und „Tamas“ (Im (zuletzt den Roman von Alka Saraogi Waldgut, Frauenfeld 1994) oder Jagdish „Umweg nach Kalkutta“, Insel Verlag Candras Roman „Unberührbar“ (Gustav 2006). Kiepenheuer, Leipzig 1991). Die indi- Sie sind auch die Verfasserin von „Gram- sche Literatur ist so breit und so vielfäl- matischer Leitfaden des Hindi“ (Enzyklo- tig, sie ist einfach faszinierend. Beson- pädie, Leipzig 1967 ff.) sowie Herausge- ders gefällt mir an den modernen Wer- berin und Mitautorin eines Wörterbuches Margot Gatzlaff-Hälsig, Dr. sc. phil., ken ihre Realitätsnähe, das Aufgreifen Hindi-Deutsch (Helmut Buske-Verlag Universitätsdozentin i.R. Geboren und Anprangern von Problemen und Hamburg 2002). Wie sind Sie darauf 1934 in Stollberg/Erzgebirge, verhei- Missständen in der Gesellschaft, ihre gekommen, sich mit Indien zu befassen? ratet, 3 Söhne, 4 Enkel. 1954 bis Buntheit und Vielfältigkeit. Allerdings Wo haben Sie die Hindi-Sprache erlernt? 1960 Studium der Indologie in Lenin- ist sie so umfangreich geworden wie ein Was beeindruckt Sie besonders an Indien grad und Moskau. Mitarbeiterin an riesiges Meer, so dass man in ihr zu und der indischen Literatur? der Universität Leipzig seit 1961, ertrinken glaubt. dort 1968 bis 1999 Dozentur für Frau Dr. Margot Gatzlaff: Ich hatte ein Hindi. Promotion und Habilitation Meine Welt: Haben Sie engere Kontakte Germanistik Studium an der Universität an der Universität Leipzig zu Sprach- zu indischen Wissenschaftlern und Lite- Rostock angefangen und wurde nach ca. fragen Indiens. Zahlreiche Veröffent- raten in Indien und/oder hier in einem halben Jahr gefragt, ob ich nicht lichungen zu Fragen der neuin- Deutschland? Waren Sie selbst einmal in Lust hätte, ein Indologie-Studium in dischen Sprachen und Literaturen, Indien? Leningrad aufzunehmen. Das habe ich insbesondere über Hindi und Urdu, dann auch gemacht, obwohl ich damals darunter Lehr- und Wörterbücher. Frau Dr. Gatzlaff: Ich hatte viele kaum eine Vorstellung von Indien hatte. Außerdem Übersetzungen von Roma- Kontakte zu indischen Wissenschaft- Dort erlernte ich Hindi, Urdu, Sanskrit nen und Erzählungen indischer lern und Literaten in Indien. Die Auto- und sogar ein wenig Tamil. Die Beschäf- Schriftsteller aus dem Hindi ins ren, die ich übersetzt habe, kannte ich tigung mit diesen Sprachen erleichterte Deutsche. 1996 Auszeichnung mit persönlich. Besonders Bhisham Sahni, mir übrigens das Erlernen der russischen dem Rabindranath Tagore-Literatur- leider inzwischen verstorben, war eine Sprache, in der ja mein ganzes Studium preis der Deutsch-Indischen Gesell- beeindruckende Persönlichkeit. Seine erfolgte. Das lag daran, dass die Be- schaft sowie 1998 mit dem Gisela Warmherzigkeit, gepaart mit außeror- schäftigung mit Sprachen neben dem Bonn Award des Indian Council for dentlicher Bescheidenheit hinterließen Erlernen der Vokabeln ein systemati- Cultural Relations. einen unauslöschlichen Eindruck bei sches Studium der Grammatik erfordert. mir. Aber auch Jagdish Candra oder Bei allen Unterschieden, die Sprachen Yashpal Jain, der Redakteur des Verla- aufweisen, haben sie doch eines gemein- Im Verlaufe meines Studiums habe ich ges „Sasta Sahitya Mandal“, der mich sam. Wörter und Begriffe allein genügen neben vielen klassischen Werken der mit indischen Märchen bekannt mach- nicht, sie müssen in Beziehung zueinan- altindischen Literatur (die Veden, das te, die ich später übersetzte (Insel, Lei- der gesetzt werden und dazu gibt es die Ma-habharata, das Ramayana usw.) pzig 1991), dürfen nicht unerwähnt Grammatik mit ihren Regeln. auch Hindi-Schriftsteller gelesen, bleiben. Rajendra Yadav, der Heraus-

38 geber der Literaturzeitschrift „Hans“, Frau Dr. Gatzlaff: Zunächst wären chen beherrschen, was auch der Ver- die ja von Prem Cand gegründet Urdu in Heidelberg und Tamil in Köln nachlässigung dieser Sprachen bis vor wurde, hat mir viele wichtige Hinwei- zu ergänzen. Insgesamt ist das eine nicht nicht allzu geraumer Zeit an den Univer- se und Ratschläge gegeben. All die so einfach zu beantwortende Frage, bei sitäten geschuldet ist. Außerdem ist Menschen zu nennen, die mich mit denen viele Aspekte ein Rolle spielen. Übersetzen nicht jedermanns Sache. Da Indien verbinden, hier aufzuführen, Ohne eine Wertung aufzustellen, möchte gehört viel Lust und Liebe, aber auch wäre einfach zu lang. Hieraus ersehen ich nur einige nennen. Deutschland ist Einfühlungsvermögen und Ausdauer Sie schon, dass ich sehr oft in Indien wesentlich kleiner als Indien, wenn man dazu. Nicht jeder, der eine Sprache gut weilte. In den sechziger Jahren hatte sich den Atlas betrachtet. Also sind auch beherrscht, ist auch ein guter Übersetzer. ich ein zweijähriges Zusatzstudium an die Möglichkeiten, sich mit einem so der Universität Delhi mit Stipendium großen Land wie Indien zu beschäftigen, Meine Welt: Frau Dr. Gatzlaff, ich der indischen Regierung. Später hatte wesentlich geringer. Hinzu kommen weiß, dass Sie auch in der Deutsch-Indi- die DDR im Rahmen des kulturellen ökonomische Zwänge. Man muss sich schen Gesellschaft sehr aktiv sind. Wie Austauschprogramms die Erarbeitung also beschränken. Und da drängen sich beurteilen Sie deren Veranstaltungen eines Wörterbuches Hindi-Deutsch natürlich die am weitesten in Indien ver- und Publikationen speziell im Kontext und Deutsch-Hindi in Angriff genom- breiteten Sprachen in den Vordergrund, der Integration und kulturellen Identität men, was mich zusammen mit Berliner aber man wendet sich jetzt auch immer der zweiten Generation der in Deutsch- Kolleginnen und Kollegen mehrfach mehr anderen indischen Sprachen zu. land lebenden Inder? Wo liegen derzeit nach Indien führte. Zum anderen hat in Deutschland die die Schwerpunkte in der Aufgabenstel- klassische Indologie, die sich ja mit lung der Gesellschaft? Meine Welt: Was sind Ihre Eindrücke Sanskrit, der altindischen Literatur und von der diesjährigen Frankfurter Buch- Kultur befasst, eine lange Tradition. Die Frau Dr. Gatzlaff: Zu dieser Frage messe mit Indien als Gastland? Es gab neuindischen Sprachen hatten es deshalb kann ich nicht allzu viel beitragen. Da dort ja viele Veranstaltungen, insbeson- schwer, sich gegen diese Tradition, für ich in Frohburg wohne, also etwas weit dere Lesungen von indische Autoren in die Deutschland ja seit dem 18.Jahrhun- weg von den einzelnen Zweiggesell- verschiedenen Sprachen (Hindi, Urdu, dert in der ganzen Welt berühmt ist, schaften, kann ich nicht oft an Veranstal- Bengali, Malayalam, Tamil und vielen durchzusetzen. Es gelingt ihnen aber tungen der Gesellschaft teilnehmen. Ich anderen)? Wie beurteilen Sie dieses viel- immer mehr, sich einen ebenbürtigen bin sozusagen zahlendes Mitglied bei fältige Angebot? Platz neben dieser Tradition zu erobern. der Berliner Zweiggesellschaft. Ich

Frau Dr. Gatzlaff: Die Frankfurter Meine Welt: Die englischsprachige Buchmesse war für mich eine unglaub- indische Literatur scheint in Deutsch- Religionen lich schöne Erfahrung. So viele Schrift- land ziemlich verbreitet zu sein. Von und Globalisierung steller und Dichter aus den verschieden- einigen Autoren liegen auch deutsche sten Gegenden Indiens zu erleben, die, Übersetzungen ihrer Werke vor, die z. T. kurz vorgestellt, aus ihren Werken in sogar zu Bestsellern geworden sind – Religionen wandeln sich. Sie durch- ihrer Muttersprache lasen, was dem Zu- wie etwa Amitav Ghosh, Sashi Tharoor, dringen sich im Zeitalter der Globa- hörer in deutscher Übersetzung ver- Vikram Seth, Vikram Chandra, Sudhir lisierung schneller, als sie es je zuvor ständlich gemacht wurde, war einfach Kakar, Salman Rushdie. Wie beurteilen taten. Und sie lernen voneinander. faszinierend und einmalig, denn so et- Sie die Chancen, dass vielleicht durch Fernöstliche Religionen zeigen sich was gibt es wohl kaum in Indien selbst. die Buchmesse angeregt, auch indische vom monotheistischen Gleichheits- Obwohl auch das nur Ausschnitte aus Literatur der einheimischen regionalen postulat beeindruckt. Christen lernen dem reichhaltigen literarischen Schaffen Sprachen übersetzt und auf dem deut- fernöstliche Meditation. Dennoch dieses riesigen Landes waren, bekam schen Buchmarkt eingeführt wird? werden die verschiedenen Religionen man doch eine Vorstellung davon, wie wohl nie ganz zueinander finden. Ge- der literarische Prozess in Indien ver- Frau Dr. Gatzlaff: Ich sagte ja schon, gensätze werden immer bleiben: ver- läuft. Ich glaube, die Buchmesse hat dass die Buchmesse viele Anregungen schiedene Gewissheiten darüber, wie viele neue Impulse für die Buchproduk- für weitere Übersetzungen gegeben hat. das Absolute beschaffen ist, an das tion in Deutschland vermittelt, die hof- Mit der englischsprachigen indischen man glaubt. Und wie man sich ihm fentlich in der nächsten Zeit auch umge- Literatur ist es eben so, dass sich im nähern soll. setzt werden. Englischen wesentlich mehr Menschen Religionen werden immer um die auskennen, weshalb Literatur in dieser Herzen der Menschen wetteifern, das Meine Welt: In Deutschland gibt es an Sprache besser verfolgt und ausgewertet ist gut so. Bitter ist nur, dass sich verschiedenen Universitäten Institute wird. Leider sind die aus dem Engli- immer wieder Menschen mit ihren für Indologie, die sich m.W. aber nur auf schen getätigten Übersetzungen indi- Gewissheiten an den Rand gedrängt drei Sprachen beschränken: Hindi, Ben- scher Autoren manchmal nicht sehr gut, fühlen. Und dass sie keinen anderen gali und Malayalam. In Indien gibt es da diesen Übersetzern oft die Kenntnis Ausweg sehen, als mit Waffengewalt aber noch 18 Amtssprachen, dazu noch der indischen Verhältnisse fehlt, in die um ihre Identität zu kämpfen. viele Dialekte. Woran liegt es, dass z.B. sie sich nicht richtig hineinversetzen - Burkhard Weitz Gujarati, Punjabi oder Oriya nirgends können. Hinzu kommt, dass es leider gelehrt werden? verhältnismäßig wenige Indologen gibt, (Quelle: „Glauben alle an denselben Gott?“, die in Indien derzeit gesprochene Spra-

39 stehe aber gern zu Verfügung, wenn die Projekt Gesellschaft mich für Vorträge, Modera- tionen u.a. braucht. Ich glaube, die Ge- Erfolgreiche Katastrophenhilfe sellschaft erfüllt wichtige Funktionen. Als Bindglied zwischen Deutschland Kinderheim erhält Bestnoten und Indien ist sie sicher wichtig, auch für die in Deutschland lebenden Inder, von Prüfungskommission da dadurch ihr Zusammengehörigkeits- gefühl, ihre Kenntnisse über ihr Heimat- Erfreuliche Nachrichten aus Südindien: Küstenregion eine Anlaufstelle werden. land gefördert werden. Aber genauso In dem am stärksten vom Tsunami zer- Schon 2006 hat der Peace Trust regel- wichtig ist die Gesellschaft für die Ver- störten Distrikt Südindiens, Nagapat- mäßig indische und internationale Gäste breitung von Kenntnissen über Indien in tinam, hat das von UNDP und Fischerei- eingeladen und aufgenommen, an den Deutschland, für die Förderung von genossenschaft geförderte Coordination Wochenenden wurden dann Seminare diesbezüglichen Projekten und vieler and Resource Center 20 Kinderheime, für Kinder und Erwachsene veranstaltet. anderer Dinge. Sicher gibt es da noch die nach der Flutkatastrophe 2004 ent- Weitere Informationen: viele Möglichkeiten. Mich selbst hat die standen sind, auf den Prüfstand gestellt. Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, Christi- Gesellschaft bei der Veröffentlichung Eine fünfköpfige Kommission besuchte na Weber, Tel.06251-700556 oder c.weber@kkstif- tung.de. des Wörterbuches Hindi-Deutsch eben- alle Einrichtungen für mehrere Tage und Spendenkonto: Sparkasse Bensheim BLZ 509 500 falls tatkräftig unterstützt. Dafür bin ich beobachtete dabei Alltagsabläufe in der 68, Konto-Nr. 307 00 00, Stichwort „Kinderheim Dr. Wieck sehr dankbar. Kinderbetreuung sowie Anlage und Indien“. Infrastruktur der neuen Gebäude. Das Meine Welt: Wie beurteilen Sie das von der Karl Kübel Stiftung und dem gegenwärtige Indienbild in Deutsch- indischen Partner „Peace Trust“ geför- Tsunami-Wiederauf- land? Gibt es so etwas wie „indische derte Kinderheim, das mit Unterstüt- bau der Karl Kübel Identität“ in Deutschland? zung der hessischen „Global Player“ Fraport und Döhler und dem Unterneh- Stiftung Frau Dr. Gatzlaff: Ich weiß nicht, was mensnetzwerk „Strahlemann-Initiative“ Die im südhessischen Bensheim an- unter „indischer Identität“ zu verstehen erbaut werden konnte, wurde von der sässige Karl Kübel Stiftung für Kind ist. Das Indienbild hat sich in Deutsch- Kommission in der Beurteilung auf den und Familie wurde 1972 vom Unter- land im Laufe der Jahrzehnte, um nicht ersten Platz gesetzt. Das „Strahlemann nehmer Karl Kübel gegründet. Sie zu sagen Jahrhunderte, stets gewandelt. Peace Support Center“ wird damit als engagiert sich seit Anbeginn für die Am Anfang stand die Bekanntschaft mit beispielhafte Einrichtung („Model Unterstützung von Kindern und dem alten Indien und seine Bewunde- Home“) für den Distrikt empfohlen. Eltern in unterschiedlichen Kulturen. rung. Goethe, Heine und andere Dichter Projekte in Ländern der so genann- waren davon ja sehr beeindruckt. Später Dieses Lob bringt nicht nur das Team ten „Dritten Welt“ stehen genauso schoben sich spirituelle Aspekte in den vor Ort zum Strahlen, sondern auch die wie Projekte in Deutschland im Mit- Vordergrund, das war nach dem Besuch Partner in Deutschland. Denn bevor die telpunkt der Arbeit. Rabindranath Tagores in den zwanziger Anlage im Juni 2006 erfolgreich einge- Jahren des vorigen Jahrhunderts in weiht werden konnte, wurden viel Nach der Flutkatastrophe hat die Deutschland. Danach stellte man sich Arbeit und Kreativität investiert, um die Karl Kübel Stiftung für Kind und unter Indien mehr ein märchenhaftes Kinder in provisorischen Hütten zu ver- Familie mit betroffnenen indischen Land vor mit prächtigen Palästen, Tem- sorgen und den Lehrern das Leben in Partnern mehrere Projekte in der peln, Maharadschas, Tigern und Elefan- den Notlagern zu erleichtern. Die Küstenregion initiiert. Mit den ten. Das ist wohl der im vorigen Jahr- Kosten für Land und Baumaterial stie- großen Spendenprojekten „Hessen hundert aufkommenden Filmindustrie gen 2005 immer rasanter und der Bau hilft den Flutopfern“ und „Bensheim geschuldet, die Filme wie „Der Tiger verzögerte sich – bedingt durch Unwet- hilft“ werden seit knapp zwei Jahren von Eschnapur“ u. a. produziert. Z. Zt. ter – mehrfach. Die mittellosen Familien sieben Fischerdörfer in Tamil Nadu Spielen Filme aus Bombay, das jetzt bzw. alleinstehenden Väter und Mütter in Kooperation mit dem Land Hessen Mumbai heißt, eine große Rolle. Man wurden immer wieder persönlich und privaten Spendern unterstützt. fasst das ja unter dem von Hollywood besucht und von der Wichtigkeit von Dabei ging es zuerst um die Sofort- abgeleiteten Begriff „Bollywood“ zu- Bildung für ihre Kinder – auch im Kata- hilfe und die Wiederbeschaffung der sammen. Doch das erstreckt sich wohl strophenfall – überzeugt. So können Einkommensbasis, heute geht es um doch mehr auf die Großstädte. Da ich im Schulabbruch und das Abgleiten in Kin- den langfristigen und zukunftsorien- ländlichen Raum lebe, weiß ich, dass er derarbeit vermieden werden. tierten Wiederaufbau mit Hausbau, von solchen Entwicklungen wenig be- Berufsbildungsprogrammen und Ab- troffen ist. Ich versuche, durch populär- Im Wiederaufbau nach dem Tsunami sicherung der Bildungschancen der wissenschaftliche Vorträge wenigstens gehört dieses Kinderheim zu den weni- Kinder. Das Strahlemann-Kinder- in meinem Wohngebiet und Umgebung gen langfristigen internationalen Maß- heim für Flutopfer wurde im Juni Kenntnisse über das reale Indien zu ver- nahmen vor Ort. An den Wochenenden 2006 mit dem indischen Partner breiten. „ wird das Haus auch den Einwohnern der „Peace Trust“ eröffnet. umliegenden Fischerdörfer geöffnet und soll als Bildungszentrum in der armen

40 Meinung Die Frankfurter Buchmesse 2006 und die indischen Teilnehmer

Indien war der Guest of Honour auf der westlichen Verlegern und Kontakte mit nen Mitglieder vertreten; sie müssten diesjährigen Buchmesse, zu der etwa Groß-händlern erhofft. Sie wünschten gemeinsam mit der Regierung an den 200 Verleger aus Indien angereist waren. sich eine Podiumsdiskussion zwischen Voraussetzungen arbeiten, dass indische Außer einigen großen Verlagshäusern, westlichen und indischen Buchhändlern Verleger problemlos am internationalen die bereits Zusammenarbeit mit westli- und Verlegern. Diese Chance wurde online Markt teilnehmen können. Die chen Verlegern eingegangen sind, waren nicht genutzt, alles blieb der Eigeninitia- Verleger selbst müssen die technische die meisten Inder zum ersten Mal auf tive des Einzelnen überlassen. Qualität ihrer Bücher wesentlich verbes- der Messe, viele von ihnen zum ersten sern und für den Westen interessante Mal in Europa oder im Westen über- Die Foren von Google, Amazon und Titel in Übersetzungen anbieten. Westli- haupt. Einen der indischen Verleger Motilal UK brachten den Indern vor che Großhändler ihrerseits sollten das habe ich fünf Tage lang auf der Messe allem die Erkenntnis, dass es fast un- bisher weitgehend unbekannte Potential begleitet und möchte hier über meine möglich für sie ist, als Einzelner in den indischer Verlagskataloge ausschöpfen, Beobachtungen berichten. europäischen Markt einzusteigen. Goo- das für den westlichen Markt zu gle book search ist einfach und kosten- erschließen sich lohnt. Die Newcomer waren realistisch genug, los, gibt aber lediglich Informationen - Waltraud Ganguly beim ersten Mal keine großen Geschäfte und links zu online Anbietern, die gera- zu erwarten. Sie hofften auf Erfahrungen de das Hauptproblem für die Inder dar- und Kontakte. Für viele von ihnen war stellen. Die Listung bei Amazon, dem die Messe jedoch eine herbe Enttäu- größten onlineshop für Bücher, ist für schung. Wichtige Chancen wurden nach Inder nicht möglich bzw. sinnlos, weil der Meinung vieler Teilnehmer verpasst, sie kein Konto in UK eröffnen können, Literatur der Dalits die bestehenden Möglichkeiten wurden das gleiche gilt für die EU und USA. Mit nicht genutzt. Hoffnungsvolle junge diesem Problem beim Forum konfron- In den vergangenen zwei Jahrzehn- Verleger fühlten sich von ihren Standes- tiert, antwortete der Referent, man ten hat noch eine Autorengruppe an vertretungen allein gelassen. Der Natio- kenne das Problem und „we work on it“. Bekanntheit gewonnen: die Dalits. nal Book Trust (NBT) und die Federati- Im privaten Gespräch danach mit einer Dalits leben am unteren Ende der on of Publishers (FPI) kümmerten sich Vertreterin von Amazon hatte diese Kastenleiter und werden auch als nach ihrer Meinung vor allem um die lediglich die wenig ermutigende Bemer- Unberührbare bezeichnet. Sie stellen eigene Imagepflege und nicht um die kung „I am not going to discuss this with eine große indische Bevölkerungs- Belange der indischen Teilnehmer. Der you.“ gruppe dar – gleichwohl werden sie Präsident der Federation wurde zwar Eine weitere Möglichkeit, Bücher auf in sozialer Hinsicht wie auch auf dem mehrfach in der indischen Abteilung ge- den englischen Markt zu bringen, Arbeitsmarkt diskriminiert. Zum er- sehen, persönliche Kontakte und Ge- besteht über den Großhändler Motilal sten Mal wurden ihre Werke in den spräche mit Mitgliedern über deren Pro- UK, der mit Motilal India zusammenar- frühen Achtzigern veröffentlicht; bleme, Wünsche und Ideen fanden beitet. Zunächst ist diese Möglichkeit viele Bücher, Gedichte und Autobio- jedoch nicht statt. aber wenig einladend, weil 4-5 Freiex- grafien wurden ins Englische sowie emplare zu jedem Buch verlangt werden in weitere Sprachen übersetzt. Ihre Der Hauptvorwurf der meist jungen Ver- und der Handel „exclusively“ oder kraftvolle, wütende Literatur benutzt leger traf den National Book Trust jedenfalls „preferably“ über Motilal häufig autobiografische Erlebnisse (NBT), der die Teilnahme der indischen abgewickelt werden muss. zur Schaffung einer neuen Art des Er- Verleger organisiert hatte. Der NBT Eine weitere schmerzliche Erkenntnis zählens, die Fakten und Fiktion kom- stellte indische Bücher aus und hielt war sehr ernüchternd für viele Inder: die biniert. Zu den bekanntesten Vertre- Autorenlesungen. Es gab ein anspruchs- Qualität indischer Druck- und Binde- terinnen dieser Gattung zählen Fau- volles kulturelles Programm, das inter- technik ist meist unbefriedigend und mit stina Bama, deren erste Novelle essant war für den westlichen Besucher westlichen Standards nicht zu verglei- Karukku den Crossworld Literary und das den NBT selbst als Veranstalter chen – ein ernstzunehmender Hinde- Award gewann, und Narendra Yadav, in ein gutes Licht rückte. Die Verleger, rungsgrund für den Handel mit dem deren Autobiografie Mein Leben ein die in ihren Ständen auf interessierte Westen, der sich nur im Lauf der Zeit internationaler Verkaufserfolg Kunden warteten oder in anderen Hallen ändern kann. wurde. auf Kontaktsuche unterwegs waren, - Urvashi Butalia bekamen kaum etwas davon mit und Das Resumée vieler indischer Teilneh- profitierten nicht davon. Statt kulturel- mer war denn auch: „The system has to (Quelle: Zeit Literatur Nr. 40, Sept. 2006, Son- lem Programm und food festival hatten be changed“. Die Standesorganisationen derbeilage) sie sich organisierte Gespräche mit müssen mehr die Interessen ihrer einzel-

41 Unterhaltung Bollywood – Die indische Filmindustrie entdeckt die Bergstraße und den Odenwald als neue Drehorte in Deutschland

Sushila Gosalia

Die indische Filmindustrie „Bollywood“ Als besonders ‚exotischer‘ Drehort gilt lich wie es in den Schweizer Bergen, wo (eine Wortzusammensetzung aus Bom- ebenfalls der Heppenheimer Marktplatz viele Bollywoodfilme gedreht worden bay und Hollywood) hat viele Filme seit mit seinen für Asiaten ungewohnten sind, geschehen ist. Diese Zusammenar- ca. 40 Jahren in der Schweiz, in Interla- Fachwerkhäusern. Der Produzent dieses beit zwischen Bollywood, Tollywood ken und Umgebung gedreht. Der po- Filmes ist Vinod Kumar Singh aus Bom- und Bergstraße soll außerdem einen Bei- puläre Filmschauspieler und Regisseur bay-Mumbai. Er hat Bollywood nach trag für das gegenseitige Verständnis der Raj Kapoor hatte Mitte der 60er Jahre Deutschland gebracht und möchte 2007 Kulturen leisten und den Austausch von Interlaken als Drehort entdeckt. Der zehn weitere Filme an der Bergstraße Filmen fördern. erste Film, der dort gedreht wurde, war drehen. Schon im Dezember 2006 will „SANGAM“ von Raj Kapoor. Vinod Kumar Singh in Heppenheim mit In diesem Zusammenhang ist zu erwäh- den Aufnahmen für seinen zweiten, nen, dass ein Filmabkommen zwischen Danach folgten viele andere Filme wie ebenfalls komplett an der Bergstraße der Bundesrepublik Deutschland und „An Evening in Paris“ und „Akele Akele gedrehten Film beginnen mit dem Titel der Republik Indien geplant ist. Das auf Khan Ja Rahe Ho“ von Shakti Samant. „Love in Heppenheim“, ein typischer eine indische Initiative zurückgehende Viele Filme von Yash Chopra wie Bollywoodfilm mit Tanz und Gesang. Papier liegt seit längerer Zeit unter- FASLE, Chandani, Dar, Parampura, Dil- schriftsreif in den Schubladen des Kul- wale Dulhaniya Le Jayenge und auch Landrat Wilkes hat sogar für das in- turstaatsministers in Berlin.3 „ der neueste Film Veer-Zaara mit Shah dische Filmteam ein Büro zur Verfügung Rukh Khan wurden auch in der Schweiz gestellt. „Mit dieser in Heppenheim 1 vgl. hierzu, miro, Indische Filmproduzenten fah- ren auf romantische Kulisse ab, in Südhessen Mor- gedreht. ansässigen ‚Indo-German Film Agency‘ gen, v. 14.07.2005, S. 28. hat der Kreis Bergstraße quasi seine 2 vgl. hierzu, Inder drehen weitere Filme in Süd- Nun aber braucht Bollywood neue Dreh- eigenen Location-Scouts direkt neben hessen, Bollywood; Heppenheim und Odenwald orte. Auf der Suche nach Drehorten dem Landratsamt.“ Das vor wenigen dienen als Kulissen für neue Produktionen, in Süd- hessen Morgen, v. 23.10.2006, S. 20. machte eine Gruppe von 15 Produzenten Monaten eröffnete Büro ist ein Joint 3 vgl. hierzu, Marketing – Filmabkommen mit aus der indischen Filmcity Bombay Venture von Singhs indischer Produk- Indien geplant, in Südhessen Morgen, v. (Mumbai) im Juli 2005 Station in tionsfirma „Sigma Films“ und der Wirt- 23.10.2006, S. 20. Lorsch, Heppenheim und Bensheim an schaftsförderung Bergstraße – und laut der Bergstraße. Koordiniert hat den Landrat Matthias Wilkes (CDU) „in knapp zweitägigen Besuch der indischen dieser Form bislang einmalig in der Filmproduzenten das Büro „Location- westlichen Welt“.2 Hessen“ in Frankfurt, ein Projekt der Hessischen Filmförderung. Auch Tollywood an der Bergstraße Noch ein anderer Filmproduzent, Ra Ja Wussten Sie schon „Tägliche Direktflüge Bombay-Frank- Ramesh aus Chennai (das frühere furt und nur 30 Minuten an die Berg- Madras), schaute sich in Michelstadt … dass Indien, gemessen an der straße – logistisch sei es kein Problem, und Erbach nach Drehorten um für zwei Kaufkraft des Bruttosozialprodukts, hier zu drehen“, so der Landrat des Krei- Song-Sequenzen seines Films „Aadtha die viertgrößte Volkswirtschaft der ses Bergstraße, Matthias Wilkes1 und Aattamellam“ in der in Chennai gespro- Erde ist? Gemessen am Pro-Kopf- am 7. Oktober 2006 feierte erstmals ein chenen Sprache Telugu, die von über 70 Einkommen rangiert Indien dagegen indischer Film „Humraah“ (The Traitor Millionen Indern gesprochen wird. Die- auf Platz 159. Die Leistungsfähigkeit – Der Verräter) mit Kushesh Kuresh ser Film wird von der Produktionsfirma der indischen Wirtschaft erreicht in Rusto als Hauptdarsteller und seiner Madras Entertainment aus Chennai pro- einigen Branchen (Informationstech- Filmpartnerin, der Italienerin Valeria duziert und fällt somit in die Kategorie nologie, Pharmazie) internationales Mei, seine Weltpremiere außerhalb des der so genannten Tollywood-Filme. Das Spitzenniveau, aber immer noch eigenen Landes, in Kinopolis, Viern- „T“ in Tollywood steht für die Telugu- kann sich ein Viertel der Bevölkerung heim. Ein Teil der Dreharbeiten ging im Sprache. nicht ausreichend ernähren. November 2005 auf dem Stadtplatz über die Bühne. Die Bollywoodfilme sollen indische (Quelle: PPP Report, GTZ 21.10.2006) Touristen an die Bergstraße locken, ähn-

42 Buchbesprechung Ein spannendes Lesebuch

„Die Geister Indiens – Ein Kaleidoskop“ (hrsg. von Claudia Wenner), Fischer Taschenbuch Verlag 2006, Frankfurt am Main, 464 Seiten.

Kommunalistische Spannungen, Mega- die Folgen der Teilung Indiens und dar- Ein wenig unausgewogen ist die Samm- städte, Bollywood, Religion, arrangierte auf, wie leicht sich zwischenmenschliche lung in der Hinsicht, dass der Anteil der Ehen, Eunuchen und Kasten sind Grenzen aufbauen und wie schwer wieder weiblichen Autoren nur etwa ein Drittel Schlagworte, die mit Indien im westli- einreißen lassen, bietet der Text der in ausmacht und sie zudem fast ausschließ- chen Ausland häufig verbunden werden. Ambala (im heute pakistanischen Teil des lich durch kurze Internetartikel oder Die Anthologie „Die Geister Indiens – Panjab) geborenen Verlegerin Urvashi autobiographische Texte vertreten sind. Ein Kaleidoskop“ hat sich ihrer ange- Butalia. Eher witzig zu lesende Texte wie Der ebenso vielfältige und gleichberech- nommen, um sie aus – weitgehend – Manju Latha Kalanidhis „Arrangierte tigt nennenswerte Beitrag, den Frauen indischer Sicht in einer Mischung aus Ehen im Chatroom“ wechseln sich ab mit zur erzählenden indischen Literatur, ob Essays, Zeitungsartikeln, Internetkom- kritischen Überlegungen zur Globalisie- in Englisch oder in Regionalsprachen, mentaren und einigen wenigen literari- rung wie in Kalpana Sharmas Artikel leisten, kommt damit zu kurz. Den schen Texten mit Leben zu füllen. Dane- „Sind Sie ein Global Citizen?“ oder nach- Gesamteindruck stört zudem etwas die ben beschäftigen sich viele der Beiträge denklich stimmenden Stellungnahmen Aufnahme von Romanauszügen, wie mit den aktuell in Indien geführten De- über die nach wie vor als überheblich zum Beispiel den Passagen aus Vikram batten um die indische Identität und die empfundene Haltung „des Westens“ Seths „Eine gute Partie“ oder Kiran Frage, was letztendlich wirkliche „indi- gegenüber Indien, wie in dem recht Nagarkars „Ravan und Eddie“. Auch sche Literatur“ ausmacht und inwiefern aggressiven Artikel „Nach dem Tsunami“ wenn sie inhaltlich für den gewählten dies von der gewählten Sprache abhän- von Vaiju Naravane. Kontext fraglos relevant und passend gig ist. Zusätzlich thematisiert das Buch sind, geben sie doch einen unzureichen- das Leben der Millionen im Ausland Neben den hauptsächlich aus dem Eng- den und in ihrer Herausgerissenheit aus lebenden Inder, so genannter NRI (Non lischen übertragenen Beiträgen haben ihrem Zusammenhang verzerrten Ein- Resident Indians) oder POI (Persons of auch einige Textbeispiele Eingang ge- druck von dem Werk der Autoren – wo- Indian Origin). Unter den Autoren sind funden, die mittelbar oder unmittelbar bei dies allerdings ein Problem ist, das in Indien sehr anerkannte Schriftsteller aus den so genannten Regionalsprachen vielen Anthologien innewohnt. Von die- wie Khushwant Singh oder Raja Rao, übersetzt wurden. Dazu zählt neben dem sen zwei Punkten abgesehen ist „Die die in Deutschland dem breiten Lesepu- bereits erwähnten autobiographischen Geister Indiens“ allerdings ein sehr blikum bisher wenig bekannt sind. Die und im gesprochenen Idiom des Tamil spannendes Lesebuch, das viele Anre- Textsammlung lädt damit zu manch ihrer Dalitgemeinschaft verfassten Text gungen zum Weiterlesen gibt. spannender Entdeckung ein. von Bama, eine Erzählung von Paul - Sophia Kratz Zacharia aus dem Malayalam und ein In ihrem Vorwort schreibt Herausgebe- Essay von Nirmal Verma aus dem Hindi. rin Claudia Wenner: „ (…) es gilt weiter- hin, dass jeder Gemeinplatz über den Subkontinent mit seinem Gegenteil Die Krise der neuen Zeit pariert werden kann und dass sich über Indien nur im Plural sprechen lässt.“ Menschen und Gesellschaften sind Menschen, die in den gesellschaftli- Entsprechend hat sie sich gegenseitig keine Marmorblöcke. Aber dass Abfall chen Ordnungen ihrer Herkunftslän- widersprechende ebenso wie einander abgesondert werden muss, um eine der nutzlos wurden, auswanderten und ergänzende Meinungsäußerungen einer Form zu vervollkommnen, ist eine durch den Export ihres Lebensstils die großen Bandbreite von Autoren zusam- Grundregel moderner Gestaltung. Das Existenzgrundlagen in ihren Zufluchts- mengestellt, die schlaglichtartige Ein- Angenehme wird nur erkennbar, wenn ländern zerstört haben. Heute ist der blicke in das Leben in der größten man das Nutzlose wegwirft. Was inter- Planet bis in die letzte Ecke besetzt. Es Demokratie der Welt gewähren. essiert, ist die Harmonie des Produkts, gibt keine Müllabladeplätze mehr. Die der Abfall soll von den Müllmännern, Überflüssigen fallen aus dem Klassen- So setzt sich der Text „Adivasi“ der Jour- den unbesungenen Helden der Moder- system, aus jeder gesellschaftlichen nalistin Kalpana Sharma mit der aktuellen ne, entsorgt werden. Der Erfolg unse- Kommunikation heraus und finden Situation der Adivasi und ihrem Kampf rer sozialstaatlichen Demokratien be- nicht wieder hinein. Das ist das Neuar- um das Weiterleben in den ihnen ange- ruhte lange Zeit auch darauf, dass wir tige der Krise. stammten Wäldern auseinander und die den menschlichen und materiellen - Zysmunt Bauman ehemalige Nonne Bama aus Tamil Nadu Abfall exportiert haben. Die Moderne beschreibt in „Karukku“ die tägliche Dis- ist von Anbeginn gekennzeichnet durch (Aus dem Interview: „Wenn Menschen zu Abfall kriminierung der Dalit aus eigener Erfah- Wanderungsbewegungen zahlloser werden“, Die Zeit Nr.47, 17.11.2005) rung. Einen sehr persönlichen Blick auf

43 Buchbesprechung Städte, auch durch Chorwad, wo Dhirubhai Ambani, der erfolgreichste Unternehmer Indiens, Gründer von Ein bewegendes Buch „Reliance Industries“, geboren wurde. Auf dem Rückweg nach Ahmedabad unterbricht Imhasly in Rajkot, wo Gan- Bernard Imhasly, Abschied von Gandhi? Eine Reise durch das neue Indien. dhi die Schule besucht hatte. Herder Verlag Freiburg 2006. 256 Seiten. In Ahmedabad trifft er Elaben Bhatt, die Gründerin der Frauengewerkschaft Indien war Ehrengast auf der Frankfur- nen Weg beschreiten, sei es in Sandalen SEWA (Self-Employed Women Asso- ter Buchmesse 2006. Aus diesem Anlass oder in Anzügen. Präsent ist er aber auch ciation), aus der nun die SEWA-Akade- sind – neben vielen literarischen Werken bei jenen, die diesen Weg vollkommen mie hervorgegangen ist – sowie Mitglie- indischer Schriftsteller in deutschen ablehnen, bei den Naxaliten, die seine der der bekannten Familie Sarabhai und Übersetzungen – auch einige neue Sach- Statuen in die Luft jagen, ebenso wie bei den Generalsekretär des „Vishwa Hindu bücher über die sozio-ökonomische und den Nationalisten, die in einem Atom- Parishad“, des Weltrates der Hindus politische Entwicklung in Indien er- pilz stolz eine ‚Hindu-Bombe‘ er- (VHP) Praveen Togadia. Gesprochen schienen. Der Aufstieg Indiens zur po- blicken.…. Gandhi ist präsent in der wurde von dem antimuslimischen tenziellen Wirtschaftsmacht des 21. Zivilgesellschaft, aber seine Virulenz Pogrom 2002 und Gandhis Bedeutung Jahrhunderts beeindruckt die Welt. Zu- fehlt ausgerechnet da, wo er sich zeit- für das heutige Indien. (vergl. S. 47–72) gleich aber ist Indien eine Herausforde- lebens geortet hat: in der Politik des rung für den Westen. Dennoch sind viele Landes.“ (S. 253) Bei der Busfahrt von Ahmedabad nach alte Probleme wie Armut, Analphabetis- Delhi durch Rajasthan besucht Imhasly mus, Gewalt, ethnische und religiöse Imhaslys Reise beginnt in Ahmedabad, die Organisation „Mazdoor Kisan Shak- Konflikte, Probleme der Unberührbaren der größten Stadt Gujarats, wo im Mai ti Sangathan“ (MKSS), eine von Aruna (Dalits) und der Stammesgesellschaften 2002 schwere Ausschreitungen von und Bunker Roy in Devdungri initiierte immer noch ungelöst. Hindu-Fundamentalisten gegen Musli- NGO zur Stärkung der Interessen der me stattfanden. Von dort geht es zu- Landarbeiter. Das Engagement dieser Der Schweizer Journalist und Südasien- nächst nach Porbandar, der an der Küste Organisation für die Belange der Armen, Korrespondent der „Neuen Züricher von Saurashtra gelegenen Geburtsstadt besonders der armen Frauen, für soziale Zeitung“, der „Presse“ und der „Taz“, Mohandas Karamchand Gandhis. Auf und ökonomische Gerechtigkeit und das Bernard Imhasly, der seit 1984 mit sei- der Busfahrt beobachtet er die Land- Recht auf Information, das über Leben ner Familie in Indien lebt, versucht in schaft und blättert in seinem Zettelar- und Tod entscheiden kann, wird einge- seinem zur Rezension vorliegenden chiv mit Zeitungsausschnitten, die er hend beschrieben. „Das MKSS begann Buch „Abschied von Gandhi? Eine seit dem 2. Oktober 2004 (Gandhis Ge- nun mit unkonventionellen Formen wie Reise durch das neue Indien“ eine burtstag) über ein Jahr gesammelt hat. einem Straßen- und Puppentheater, die Bestandsaufnahme dieser gegensätzli- Er hat notiert, dass nicht nur der Schöp- Landbewohner auf ihr Recht auf korrek- chen Entwicklung. „Statt eines Blickes fer des modernen Indiens Mahatma te Entlohnung aufmerksam zu machen.“ in die Zukunft wird in diesem Buch das Gandhi, sondern auch der Schöpfer von (S. 81) Die Forderung der Mitglieder Hier und Jetzt Indiens beleuchtet. Und Pakistan Muhammed Ali Jinnah ausge- dieser NGO war „Right to Information“, um zu vermeiden, dass auch das nur eine rechnet in derselben Region groß gewor- daraus entstand eine nationale Bewe- Momentaufnahme wird, verankert es den sind (vergl. S. 14) und erwähnt an gung, die die Regierung zu entsprechen- dieses ‚Jetzt’ in der neueren Geschichte späterer Stelle: „Porbandar hat keinen den Beschlüssen veranlasste. (vergl. des Landes, und das ‚Hier’ in der Weite guten Ruf. Das Alkoholverbot im Bun- S. 83) „In Rajasthan, so hatten die der indischen Landschaft und Gesell- desstaat Gujarat hat die Hafenstadt zum MKSS-Mitglieder festgestellt, war unter schaft. Es ist ein Bericht über Reisen im wichtigsten Schmuggel-Umschlagplatz den Armen die Meinung weit verbreitet, heutigen Indien, für die ich Gandhi als für Spirituosen gemacht.“ (S. 24) dass das Recht auf Information und Reiseführer gewählt habe.“ (Vorwort öffentliche Arbeitsaufträge zur Bekämp- S. 8f.) Religiöse Toleranz fung von Dürre und Hunger so etwas Der Bürgermeister von Porbandar macht wie ein Geschenk des Staates seien.“ In 9 Kapiteln schildert Imhasly die im Gespräch auf die religiöse Toleranz (S. 87) Begegnungen mit Menschen und Land- zwischen Hindus und Muslimen auf- schaften. Gesprächsaufzeichnungen mit merksam – Hindus besuchen dort auch Später reist Imhasly mit dem Zug von Aktivisten der Zivilgesellschaft, deren Muslim-Schreine und umgekehrt Musli- Neu Delhi nach Champaran, durch den Tätigkeiten auf Gandhianischen Prinzi- me Hindu-Schreine. Hervorzuheben ist Bundesstaat Uttar Pradesh in den Nor- pien beruhen, mit Industrieunterneh- außerdem der Hinweis, dass „drei von den von Bihar. In Champaran hatte mern, Politikern – sogar dem indischen vier Gujarati-Haushalten Familienan- eigentlich der Unabhängigkeitskampf Staatspräsidenten Abdul Kalam, dem gehörige im Ausland, hauptsächlich in Indiens begonnen, als Gandhi 1917 dort Vater der Atombombe Indiens – lassen den USA haben.“ (S. 36) eine Kampagne gegen britische Indigo- erkennen, „dass immer noch zahlreiche Pflanzer lancierte. (vergl. S. 93) Wäh- Inder Gandhi als ihre Richtschnur neh- Von Porbandar nach Somnath geht die rend der Zugfahrt kam es zu einer Unter- men, sich an ihm messen, indem sie sei- Reise im Mietauto durch verschiedene haltung mit dem Grenzschutzoffizier

44 Ram Sevak über die Verhältnisse in Narayana Murthy, dem beliebtesten xen, die sich in seiner Person und Bio- Bihar, wo Entführungen und Krimina- Unternehmer Indiens von der berühmten grafie komprimieren: Erdigkeit und Spi- lität fast an der Tagesordnung sind. In Firma „Infosys“. „Wenn es ein Symbol ritualität, Einfachheit und Eleganz, Bhitiharma, in der Nähe von Champa- für das Erwachen Indiens als Wirt- Beharrlichkeit und Pragmatismus, Tole- ran, steht ein kleiner Ashram Gandhis schaftsmacht gibt, dann ist es Narayana ranz und Unerbittlichkeit, Dörflichkeit und in Motihari (Gandhis Hauptquartier Murthy“. (S. 212) „Was Nagpur und und Universalität. Es bleibt ein Rätsel, währende seiner Indigo-Kampagne) das Sevagram in der Zeit des politischen wie sich ein solches Spektrum menschli- Geburtshaus des berühmten Schriftstel- Unabhängigkeitskampfes gewesen sei, cher Verhaltensweisen in einer einzigen lers George Orwell (vergl. S. 116) das sei Bangalore im heutigen ‚ökono- Person entfalten konnte.“ (S. 254) Das mischen Unabhängigkeitskampf’. …. ist die eindrucksvolle Schlussbetrach- Andere wichtige Stationen der Reise ‚Das Herz und der Verstand Indiens tung Imhaslys. sind Kalkutta, Manipur (ein kleiner Staat kommen nicht mehr aus Nagpur‘, hatte jenseits von Bangladesh), Nagpur (im Baru geschrieben. ‚Die Stimme des Ein bewegendes Buch mit fundierten Osten des Bundesstaats Maharashtra, neuen Indiens kommt aus … Bangalore, Analysen der sozio-ökonomischen und Hyderabad (Cyberabad) in Andhra Pra- weil es die Heimat des Visionärs politischen Entwicklungen seit dem desh. Imhasly besucht Manipur, um dort Narayana Murthy ist.‘ (S. 214) Naraya- Unabhängigkeitskampf Gandhis bis zur Irom Sharmila zu besuchen, die Bürger- na Murthy lebt immer noch in einem „Wissensmacht Indien“, das in alle rechtlerin von einer NGO namens bescheidenen Haus und verwaltet sein öffentlichen Bibliotheken gehört, aber „Human Rights Alert“ und den Autor Vermögen treuhänderisch, wie es Gan- auch in Privathäusern der in Deutsch- Rutan Thiyam zu treffen. „Nagpur ist dhi praktiziert hatte. Er hat die „Infosys land lebenden Inder nicht fehlen sollte. der Ort, in dem Ambedkar am 14. Okto- Foundation“ gegründet, die größte - Sushila Gosalia ber 1956 zum Buddhismus übergetreten Wohltätigkeitsorganisation nach den war“ (S. 156) – er war der große Anfüh- Tata-Stiftungen. Das Besondere daran rer der Unberührbaren, der „Dalits“. ist, dass in Rajasthan die „ Infosys Foun- Nagpur ist aber auch das Regionalzen- dation“ gemeinsam mit der Bill-Gates- trum mehrerer christlicher Kirchen und Stiftung und dem „World Economic das Hauptquartier des „Rashtriya Forum“ sowie der Lokalregierung die Swayamsevak Sangh“ (RSS), des Mut- gesamte Grund- bzw. Volksschulbildung terverbands der meisten Hindutvan- zu reformieren begonnen hat und dafür Organisationen. Auch Gandhis Ashram 200 Mill.$ bereitstellte. (vergl. hierzu Sevagram befindet sich in dieser Regi- S. 216f.) on. Und was sagt der indische Präsident In Hyderabad (Cyberabad) trifft Imhasly Abdul Kalam dazu? Er hat die Bedeu- Wussten Sie schon, den Leiter der Firma „Advanced Tech- tung der Dorfentwicklung durchaus dass… nology Centre“ (ATC) von „Tata Con- erkannt. „PURA – Providing Urban Ser- … Tourismus der größte Industrie- sultancy Services“, Dr. Vidyasagar. „Er vices to Rural Areas … ist ein Stecken- zweig der Welt ist war einer der ersten Auslandsinder pferd des Präsidenten, eine Vision, gewesen, die den Wissensabfluss in die 600.000 Dörfer in 7000 ‚Cluster‘ zu ver- … der Flugverkehr zu neun Prozent USA umgekehrt hatten, als er trotz eines binden und damit die Migration in die zum Treibhauseffekt beiträgt Lehrstuhls an einer amerikanischen Uni- Städte zu bremsen.“ (S. 234) versität nach Indien zurückkehrte. Der … pro Jahr mehr als 6 Millionen Boom der Software-Industrie hat dem In dem letzten Kapitel erzählt Imhasly Deutsche ihren Urlaub in einem Ent- Land einen steigenden Rückfluss von von Gandhis Enkeln, was sie geworden wicklungsland verbringen Ingenieuren und Wissenschaftlern ge- sind, was sie machen. (vergl. S. 242– bracht, nicht zuletzt weil die Arbeits- 252). Der Titel des Buchs „Abschied … über zehn Prozent der Arbeitsplät- und Lebensbedingungen in Orten wie von Gandhi“ mit Fragezeichen lässt ze weltweit vom Tourismus abhängen Cyberabad immer mehr jenen im Silicon zunächst eine gewisse Verzweiflung Valley gleichen.“ (S. 191) Bemerkens- über die Bedeutung Gandhis im heuti- … über 12 Millionen Kinder im Tou- wert: „Nach Vidyasagars Meinung wird gen Indien aufkommen. Aber die Begeg- rismus arbeiten der Kampf um den langfristigen Erfolg nungen und Gespräche mit Aktivisten, Indiens nicht in den Denkfabriken ent- deren zivilgesellschaftliche Tätigkeiten … weite Teile der deutschen Reise- schieden, sondern in den Dörfern. Ent- auf Gandhianischen Prinzipien beruhen, branche sich zum Schutz von Kindern scheidend werde sein, ob es gelingt, und das Engagement reicher Unterneh- vor sexueller Ausbeutung durch Tou- Kinder über das fünfte Schuljahr hinaus mer wie Narayana Murthy widerlegen risten verpflichtet haben in der Schule zu halten …. Die Chancen diese Bedenken. „Die Wirkung Gandhis dafür haben sich zweifellos verbessert.“ spürte ich nicht in Form lautstarker … bei einer Pauschalreise oft weni- (S. 193) Bekenntnisse zu seinen Idealen, sondern ger als die Hälfte des Reisepreises im mehr in der Stille, die seine Präsenz Zielland ankommt. Symbol für das Erwachen Indiens ankündigt. …. Bei Gandhi klingt für In Bangalore – „Indiens neuer Haupt- mich etwas von der Essenz Indiens an, (Quelle: eed-Info-Flyer „Fair reisen“) stadt“ (S. 209) – begegnet Imhasly gerade in diesem Potpourri aus Parado-

45 Rezension tieferliegende Wahrheit des menschli- chen Daseins. Dies zu erreichen gelingt dem Dichter auch und vor allem, weil er „Ich glaube nicht an Grenzen“ sein eigenes dichterisches Tun, aber auch die eigene Person immer wieder K. Satchidanandan kritisch reflektiert. Damit verhilft der Dichter der Malayalam-Dichtung K. Satchidanandan „Ich glaube nicht an Grenzen“. Draupadi Verlag, Heidelberg gleichzeitig zu einer neuen Sicht. 2006, ISDN 3-937603-12-3),156 Seiten Im Hauptteil des Buches folgen die reichhaltigen Gedichte von K. Satchid- Der Gedichtband „Ich glaube nicht an ganzen Vielfältigkeit mit allen seinen anandan in deutscher Übersetzung. Aus Grenzen“ von K. Satchidanandan (156 Konflikten zu erfassen - auf sein eigenes den vielen Möglichkeiten, einen Ein- Seiten), erschienen in der Reihe: Moder- dichterisches Schaffen hatte. Auch das druck von den Gedichten zu vermitteln, ne indische Literatur (Bd. 5) im Draupa- politische Bewusstsein, das in den sieb- von denen ich mich auf der Dichterle- di Verlag (Heidelberg 2006, ISDN 3- ziger Jahren die moderne Malayalam- sung und Präsentation des Buches im 937603-12-3), der sich besonders für Dichtung nochmals veränderte, ist in Haus der Sprache und Literatur in Bonn moderne indische Gegenwartsliteratur den Werken des Dichters noch zu in vielfacher Weise habe inspirieren las- einsetzt, bietet die Direktübersetzung spüren. Sein eigenes hauptsächliches sen und die mich sehr fasziniert haben, einer Auswahl von Gedichten aus der Anliegen sei aber, bestimmte ethische möchte ich nur das Gedicht „Stottern“ südindischen (dravidischen) Sprache Werte – in einer vom Markt und den wählen. Schon die Eingangsverse Malayalam. Diese ist in den weiteren Mächten der Globalisierung regierten machen deutlich, dass es dem Dichter Kontext der Malayalam-Dichtung, eines Welt – zu vermitteln. Herausgestellt sind immer wieder gelingt, dem Leser die Überblicks über Land und die Kultur z.B. Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Welt mit anderen Augen zu präsentieren Indiens bzw. Keralas, die Sprache Liebe und vor allem „Respekt für alle und ihn so mehr zu sich selbst zu führen Malayalam und die Literaturgeschichte Formen des Lebens“. Wenn Satchida- bzw. es ihm zu ermöglichen, ein Körn- der Malayalam-Dichtung eingebettet. nandan von sich sagt, dass er „keinen chen Wahrheit des menschlichen Da- Bereits die transparent scheinende Widerspruch zwischen dem Sakralen seins zu entdecken. Es heißt dort: Stot- Tuschgraphik des Umschlags lässt die und dem Säkularen empfindet“ und dass tern ist keine Behinderung. Es ist eine Vielheit der Sprachen Indiens und der für ihn die Dichtung die Kraft gegen jeg- Art zu sprechen. Welt aufleuchten. Das Spiel von Buch- liche Art von Unterdrückung birgt, dann Im weitern Verlauf des Gedichtes wird staben und Schriftzeichen lädt ein, sich wird deutlich, dass er sein Schreiben als deutlich, dass das Stottern die Begeg- auf ein sprachlich eindrucksvoll über- „einen Schrei gegen Mauern“ versteht. nung mit dem Anderen als dem Anderen setztes Spektrum von Gedichten auf 86 Ein Protest und Weckruf, ein Ruf zur ermöglicht und den Freiraum für die Seiten einzulassen, die zum Miterleben Befreiung, der den Leser ergreift und verschiedenen Bedeutungen der Welt und Nachdenken anregen. Informations- nach den eigenen Mauern fragen lässt. lässt. Schließlich und endlich ist auch in reiche Einführungen in das Gesamtwerk diesem Gedicht das Gedicht selbst Satchidanandans und in die ausgewähl- Interkulturelle Begegnung Thema, wie die letzten Verse zeigen: ten Gedichte und ein facettenreiches In der Einführung zum Gedichtband Interview mit dem Dichter unterstützen stellt die Übersetzerin Frau Prof. Anna- Gott muss auch gestottert haben, das Verständnis. Hilfreich ist der Einzel- kutty Valiamangalam K.-Findeis, u.a. als er den Menschen schuf… nachweis der Originaltitel und der Quel- die Bedeutung der Malayalam-Dichtung Deshalb, alles was er sagt len wie Erläuterungen zu Motiven, Wid- als Dichtung in der Sprache des Volkes – Von seinen Gebeten zu seinen Geboten, mungen und Anspielungen. Beispielhaft im Gegenüber zum Sanskrit, der Spra- stottert, ist die Verbindung von Übersetzungen, che der Dichter, Denker und Priester – wie das Gedicht erklärenden und vertiefenden Essays heraus. Sie lenkt den Blick auf die Viel- und Gespräch. Das Rätsel der originalen fältigkeit der Themen der Gedichte, Auf die Gedichte folgt ein Interview, das Schrift in einem Faksimile und in zwei deren Inhalt die Begegnung mit allen die Übersetzerin mit dem Dichter führt Gedichtzeilen erschließt sich dem Un- Lebewesen sein können, aber auch Rei- und das einen Einblick in den Kontext kundigen in der Sprachmacht der deut- semotive, Zeitgeschehen oder die Kom- der Gedichte, aber auch in den Entwick- schen Übersetzung direkt aus der Spra- munikationsfähigkeit bzw. die Möglich- lungsprozess des Dichters und der Ge- che, die Dichter und Übersetzerin als keit der Sprache überhaupt. Hier wird dichte vermittelt. Es ist dem Leser so Muttersprache gemeinsam haben. deutlich, dass es bei allen Themen um möglich, einen Einblick in das Denken, die Möglichkeit der interkulturellen Be- die Eigenart und die Rolle des Dichters In dem eröffnenden Kapitel „Über Dich- gegnung bzw. des interkulturellen Dia- bzw. der Dichtung zu erhalten. tung, über Leben“ erklärt der Dichter, K. logs geht. Trotz des Wunsches nach Mit der Aussage: „Ich glaube nicht an Satchidanandan, wie er zur Dichtung größtmöglicher Freiheit und Entgren- Grenzen“ stellt der Dichter die Notwen- kam, aber auch, wo er sich innerhalb der zung wird die kulturelle Differenz nicht digkeit von Grenzen für das eigene Malayalam-Dichtung verortet und wel- übersehen. Die Gedichte führen den Leben, aber auch für ein Leben in chen Einfluss diese Dichtung mit ihren Leser zur Freiheit in der Anerkenntnis Gemeinschaft – im weitesten Sinne – in Veränderungen – in dem Bemühen, das des Anderen als den Anderen. Die Be- Frage. Umgekehrt provoziert diese Aus- zeitgenössische indische Leben in seiner gegnung ermöglicht den Blick auf die sage die Frage an den Dichter, wie weit

46 es überhaupt möglich sei, ohne Grenzen Rezension – und seien es nur die Grenzen für das eigene Leben, im Sinne der eigenen Identität – zu leben. Was ist „Indisch-Sein“? Der Gedichtband ist eine Einladung an den Leser, von der Lebendigkeit der Sudhir und Katharina Kakar, Die Inder. Porträt einer Gesellschaft. Verlag Natur zu lernen und selbst fließend mit C.H.Beck, München 2006. 206 S. Eur 19,90 den eigenen Grenzen umzugehen, sich von anderen Strömungen berühren, bewegen und bereichern lassen; die „Unser Buch handelt …. vom „Indisch- u. E. das erste und letzte Kapitel, die Bewegung des Dichters mitzugehen. Sein“, dem kulturellen Teil der Psyche, wesentliche Einsichten in die innere der die Alltagssorgen und Aktivitäten Struktur der indischen Gesellschaft und In diesem Sinne, ist der Gedichtband vieler Inder …. bestimmt: das Verhalten für das Verständnis des Denkens, Ver- „Ich glaube nicht an Grenzen“ eine gute gegenüber Vorgesetzten und Mitarbei- haltens und Handelns der Inder – trotz Gelegenheit an Weihnachten, das von tern …. Essgewohnheiten und Nah- offensichtlicher Unterschiede, auf die Aufbruch, von Auf-dem-Weg-Sein rungsmittel …Rechten und Verpflich- auch hingewiesen wird – vermitteln. spricht und die Dinge mit anderen tungen im Familienkreis – all dies wird Augen und in einem neuen Licht sehen genauso vom kulturellen Teil der Psyche Vor allem ist es das Bewusstsein der lehrt, sich mit dem Dichter aus Kerala beeinflusst wie auch Vorstellungen von Zugehörigkeit bzw. Eingliederung des auf den Weg zu machen, sich entgrenzen der richtigen Beziehung zwischen den einzelnen Menschen in Gemeinschaften, zu lassen und gemeinsam anzukommen. Geschlechtern oder zum Göttlichen. Für hierarchisch gegliederte Gruppensyste- Es lohnt sich, Neuland zu erkunden. Sat- den einzelnen Inder mag dieses zivilisa- me, das die indische Gesellschaft prägt – chidanandans Gedichte ermutigen dazu. torische Erbe zu unterschiedlichen Zei- im Gegensatz zur Individualisierung und Die Rezensentin dankt Dichter und ten und Lebenslagen von der Kultur sei- Konformierung, die in Ländern der Übersetzerin für die literarische Ent- ner Familie, Kaste, Klasse, ethnischer westlichen Welt vorherrschend sind. Auf deckung aus Anlass der Frankfurter Gruppe oder beruflicher Zugehörigkeit ein weiteres wichtiges Unterscheidungs- Buchmesse 2006. modifiziert oder überlagert werden. merkmal wird aufmerksam gemacht: - Britta Bierhoff Dennoch bleibt seine zugrunde liegende „dass Inder auf der Basis Kontextsensi- Identität als Inder bestehen, selbst bis in tivität statt Kontextfreiheit“ handeln, die dritte oder vierte Generation der d.h. dass es grundsätzlich keine allge- Diaspora hinein – ” (Vorwort, S. 7). mein gültige und für alle verbindlichen Regeln für „richtiges“ und „falsches“ Das in Goa lebende Autorenehepaar Verhalten und Handeln gibt. „Was eine Sudhir Kakar, Psychoanalytiker und Person tun oder lassen soll, hängt vom Schriftsteller, Katharina Kakar, auf asia- Kontext“ ab, den Wertvorstellungen der tische Religionen spezialisierte Religi- sozialen Gruppe, der man sich Drei Gerechtigkeiten onswissenschaftlerin, hat sowohl in zugehörig fühlt, den Zeitumständen Indien als auch bei längeren Aufenthal- (Friedens-, Krisen- oder Kriegszeiten); Die katholische Bischofskonferenz ten in Ländern der westlichen Welt die dem Denken und Verhalten des Inders Deutschlands hat ein beachtenswer- Menschen und Gesellschaften unter- ist also eine gewisse Relativität imma- tes Plädoyer für den Klimaschutz schiedlicher Kulturen kennen- und ver- nent, womit auch z.B. dessen oft beton- vorgelegt, das angesichts des Klima- stehen gelernt. Der besondere Wert ihres te Toleranz in Zusammenhang stehen wandels eine dreifache Gerechtig- Buches liegt denn auch darin, dass die mag (vergl. hierzu S. 182ff.). keitsfrage stellt: Gerechtigkeit ge- Autoren auf vielseitige eigene Beobach- genüber den Betroffenen in Entwick- tungen, Erfahrungen und Forschungser- Jedes Kapital enthält Interessantes und lungsländern, die fast keine Emissio- gebnisse zurückgreifen können, die Wissenwertes, auch konkrete Fallbei- nen freigesetzt haben, aber jetzt zudem in einer den Leser unmittelbar spiele aus Sudhir Kakars Praxis werden schon am schutzlosesten den Kli- ansprechenden Form mitgeteilt und erwähnt. Daneben fehlt es nicht an viel- maänderungen ausgesetzt sind; Ge- interpretiert werden. Die deutsche Über- fältigen Literaturbezügen und -hinwei- rechtigkeit gegenüber künftigen Ge- setzung der englischen Originalausgabe sen (vergl. anmerkungen S. 196-206). nerationen, die gar keine Emissionen stammt von Katharina Kakar. freigesetzt haben, deren Zukunft aber Jeder Leser wird durch dieses Buch eine verdunkelt wird; und Gerechtigkeit In 8 Kapiteln werden behandelt: Der Bereicherung erfahren. Es ist ihm eine gegenüber der Natur, denn der Kli- hierarchische Mensch, die innere Erfah- entsprechend weite Verbreitung zu wün- mawandel droht die wichtigsten Zen- rung des Kastenwesens, die indische schen. tren der Artenvielfalt zu Wasser und Frau: Tradition und Moderne, Sexua- - Elisabeth Lauschmann zu Land zu vernichten, die Korallen- lität, Gesundheit und Heilung, Religion riffe und den Amazonas-Regenwald. und Spiritualität, Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, die indische Psy- (Quelle: Germanwatch 02/2006) che. Am eindrucksvollsten bzw. auf- schlussreichsten (für Nicht-Inder) sind

47 Buchbesprechung Aufgaben, die daraus für die Lehreraus- und -weiterbildung entstehen, aufmerk- sam gemacht wird sowie auf die Not- Migration wendigkeit einer Kontaktpflege mit den Eltern der Migrantenschüler, wobei auch Eine pädagogische Auseinandersetzung die soziale Schichtung zu berücksichti- gen ist (PISA-Studie!).

Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik. Beltz Verlag Weinheim Ein ausführliches Literaturverzeichnis und Basel 2004. 240 Seiten (S. 226–240) beschließt die Arbeit. - Elisabeth Lauschmann

„Mit dem Leitbegriff der Migrations- die „pädagogischen Auseinandersetzun- pädagogik kommen durch Migrations- gen mit kultureller Differenz und migra- phänomene angestoßene Prozesse der tionsbedingter Pluralität“ und beginnt Meine Welt Pluralisierung und der Vereinseitigung, sich die „interkulturelle Pädagogik … der Differenzierung und der Ent-Diffe- als eigenständiges erziehungswissen- Die Zeitschrift „Meine Welt” er- renzierung, der Segregation und der Ver- schaftliches Fachgebiet“ zu etablieren.“ scheint zwei bis drei Mal im Jahr. mischung des Sozialen in den Blick.“ (vergl. S. 86f.) Eine Spende von mindestens 13,00 (S. 18) Euro wird von den Lesern erwartet. In 8 Kapiteln werden migrationswissen- Alle Rechte bleiben dem Herausge- Das vorliegende Buch von Paul Meche- schaftliche Perspektiven aufgezeigt und ber vorbehalten. Für unverlangt ein- ril vermittelt eine pädagogische Ausein- kommentiert. Im 5. Kapitel „Schule in gesandte Manuskripte übernimmt die andersetzung mit Fragen „natio-ethno- der Migrationsgesellschaft“ (S. 133– Redaktion keine Haftung. kultureller Pluralität“ in einer Migrati- 175), das den Hauptteil der Arbeit bildet, Die in den Beiträgen vertretenen An- onsgesellschaft unter besonderer Be- geht der Verfasser auf Detailfragen ein. sichten decken sich nicht immer mit rücksichtigung der Entwicklung in der Auffassung der Redaktion. Die Deutschland. In einem chronologischen Das Buch kann dazu beitragen, das Pro- Redaktion behält sich redaktionelle Überblick werden dazu 4 Phasen unter- blembewusstsein für die pädagogischen Änderungen vor. schieden (vergl. dazu S. 83–85): Herausforderungen, die sich in einer Alle Zuschriften sind an die Redak- – „die Dekade diskursiver Stille“ = Migrationsgesellschaft stellen, zu schär- tion zu richten. die 1960er Jahre, fen. Gut ist, dass auf die besonderen – „die Dekade des Defizitdiskurses“ = die 1970er Jahre, – „die Dekade des Differenzdiskur- Gedicht ses“ = die 1980er Jahre, – „die Dekade des Dominanzdiskur- Ein paar Zeilen für eine Katze ses“ = die 1990er Jahre. Schamsur Rahman In der 1.Phase, die durch einen größeren Zustrom von Gastarbeitern gekenn- zeichnet war, gab es „noch keine nen- Einige Jahre lang hatten wir in unserer außerdem sprach sie, tief verletzt, kein nenswerte pädagogische Reaktion“, da Wohnung eine Katze, Wort mit mir, mit baldiger Rückkehr der Migranten in süchtig nach Zuneigung, vor allem als sei das Verschwinden der Katze ihre Heimatländer gerechnet wurde. In meine jüngste Tochter meine Schuld. der 2. Phase begann angesichts einer zu- war zu ihr sehr aufmerksam – sich nehmenden Zahl von Ausländerkindern regelmäßig Wie soll ich ihr das nur erklären? an deutschen Schulen, ein gewisses Pro- um sie zu kümmern, täglich auf sie zu Beiläufig sagt man doch, blembewusstsein zu entstehen. Erst in warten, also, ich gehe jetzt, irgendwann sehen der 3. Phase setzte „eine intensive Kritik sie zu baden, sie zu füttern, für sie wir uns wieder, der Defizit-, Förder- und Sonderper- einen Teil ihrer man geht einfach so fort, lässt eine spektive der Ausländerpädagogik“ ein, Fischportion aufzuheben, war ihre täg- große Leere wobei jedoch soziale und caritative liche Aufgabe. als Geschenk zurück und sieht sich nie Gesichtspunkte im Vordergrund standen. Eines Tages verschwand die Katze, wieder. „Aspekte ethnischer, lingualer und kul- ohne etwas zu sagen, tureller Differenz werden in der Lehrer- wohin, konnte man nie herausfinden, bildung nicht adäquat und (noch) nicht vergeblich suchte man nach ihr, und (Quelle: Schamsur Rahman: Schamsur Rahma- als grundsätzliche Aufgaben von Lehre- meine jüngste Tochter war sehr ner Schreschtha Kabita. Kolkata: Dey’s Publis- hing, 1996 (5. Aufl.); S. 200-201.) rinnen und Lehrern behandelt“. (S. 85) unglücklich: Erst in der 4. Phase – nicht zuletzt ange- zwei Tage lang verzichtete sie auf ihr Aus dem Bengali übersetzt von Chira- stoßen durch rechtsextremistische und Essen, ranjan Podder rassistische Zwischenfälle – beginnen

48 Rezension je 5 Beiträgen, Bengali und Urdu (je 3 Beiträge), Marathi mit 2 Beiträgen und Das „Innenleben“ der Oriya und Kannada mit je 1 Beitrag. Zentrales Thema (mit Variationen) ist der einzelne Mensch in seiner Eingebun- InderInnen denheit in kleinere und größere soziale Gruppen, seine Konflikte und Anpas- Im Schatten des Taj Mahal. Zeitgenössische Erzählungen und Lyrik aus indischen sungsschwierigkeiten zwischen Tradi- Regionalsprachen. Ausgewählt, bearbeitet und zusammengestellt von Asok Pun- tion und Moderne, zwischen „Innen- namparambil. Herausgegeben von „Meine Welt“. Mit einem Vorwort von Martin leben“ der Menschen und Gesellschafts- Kämpchen. Horlemann-Verlag Bad Honnef 2006. 199 S. ordnung. Auffallend ist, dass über fast allen Beiträgen eine gewisse Schwermut und Verunsicherung liegen. „In den Erzählungen und Gedichten die- hauptsächlich über die Regionalliteratur -Elisabeth Lauschmann ser Anthologie erleben wir ein Panorama gehen“, schreibt Jose Punnamparambil der indischen Sozialgeschichte von der in seinem Nachwort zu der vorliegenden Befreiungsbewegung bis in unsere Zeit. Veröffentlichung. Es ist sein doppeltes ______Wir lesen vom Leben der Bauern, von Verdienst, dass er nicht nur in jeder Aus- (Fortsetzung von Seite 16) der Armut, der Grausamkeit der Kasten- gabe der von ihm redigierten Zeitschrift schranken, vom Zwist zwischen Hindus „Meine Welt“ mindestens eine Überset- (Hg.), Adivasis of Rourkela. Looking back on 50 Years of Indo-German Economic Co-opera- und Muslimen, zwischen Indien und zung aus der indischen Regionalliteratur tion. Documents – Interpretations – Internatio- Pakistan.“ (Vorwort s. 10f. ) abgedruckt, sondern auch dafür gesorgt nal Law, sarini occasional papers no. 4, 2006, hat, dass eine Auswahl dieser Beiträge 184 S. Dieser Bericht kann von der Website der Adivasi-Koordination kostenlos heruntergela- Auf der diesjährigen Frankfurter Buch- nun in einem Sammelband zusammen- den werden oder als Druckversion gegen eine messe mit „Indien als Ehrengast“ wer- gefasst und damit einem breiteren Leser- Spende von 10 Euro von sarini, c/o Johannes den viele Besucher erstmals darauf auf- kreis zugänglich gemacht ist. (Vgl. Laping, Christophstr. 31, 69214 Eppelheim, merksam geworden sein, welche bedeu- S. 192ff.) [email protected] bezogen werden. Adivasi- Rundbrief 25, August 2005: Adivasi-Zwangs- tende Rolle die Regionalsprachen, von umsiedlungen für „deutsches“ Hüttenwerk denen 23 staatlich anerkannt sind, in der Insgesamt sind es 35 Autoren, die hier Rourkela – 50 Jahre danach (dieser Rundbrief neueren indischen Literatur spielen. zu Worte kommen (Vgl. auch das Auto- – 4 Seiten – ist ebenfalls über www.adivasi- „Wenn wir das moderne Indien wirklich renverzeichnis S. 194–199). Als Ori- koordination.de zugänglich). erleben, entdecken oder erfassen wollen, ginalsprache dominiert Hindi (13 Beiträ- dann müssen wir den Weg dahin ge), es folgen Malayalam und Tamil mit

Sulabh – Sanitärversorgung für die Armen in Indien

Sulabh wurde 1970 gegründet, um Pro- Millionen Menschen Zugang zu Cents). Kinder, behinderte Menschen blemen zu begegnen, denen sich die Sanitärversorgung verschafft. Eine in und die nicht Zahlungsfähigen können unteren Kasten und einkommensschwa- Hyderabad durchgeführte Studie ist zu die Anlagen kostenlos in Anspruch neh- chen Gruppen in Indien bei der dem Ergebnis gelangt, dass das Ein- men. In 29 Slums hat Sulabh Toiletten- Sanitärversorgung gegenübersehen. kommen von etwa der Hälfte der Nut- blocks gebaut, die ge-bührenfrei sind, Heute ist die Organisation einer der zer von Sulabh-Anlagen unter der da sie durch Dienstleistungsverträge weltgrößten nichtstaatlichen Anbieter Armutsgrenze liegt. Dabei überwiegen mit Kommunen finanziert werden. von Sanitäranlagen. Abgesehen von Kleingewerbetreibende, Arbeiter und ihrer Größe erregt die Organisation Landarbeiter sowie viele Beschäftigte Sulabh stellt außerdem Latrinen her dadurch Aufmerksamkeit, dass sich des informellen Sektors. und vermarktet diese zu einem Kosten- ihre Dienstleistungen auch wirtschaft- punkt von umgerechnet zwischen 10 lich tragen. Dulabh geht nicht karitativ vor, son- und 500 US-Dollar. Speziell für ein- dern nach einem Geschäftsmodell. Die kommensschwache Haushalte konzi- In wenig mehr als drei Jahrzehnten ist Organisation schließt Verträge mit pierte kostengünstige Latrinen werden mit Sulabh aus einem bescheidenen Kommunen und privaten Anbietern ab, mit Hilfe staatlicher Zuschüsse ver- Projekt im indischen Bundesstaat Bihar um mit öffentlichen Mitteln Toiletten- marktet, die die Hälfte der Kosten eine Unternehmung geworden, die blocks zu bauen. Die örtlichen Behör- decken. Darüber hinaus gewährt der 1.080 größere und kleinere Städte den stellen Land zur Verfügung und Staat zinsgünstige Kredite mit einer Til- sowie 455 Bezirke in 27 indischen Bun- finanzieren die Versorgungsanschlüsse gungsfrist von 12–30 Jahren. desstaaten umspannt. Bisher hat die vor, doch alle laufenden Kosten werden Organisation über 7.500 öffentliche über Gebühren finanziert. Die Gebühr (Quelle: Bhatia 2004; Chary, Narender und Rao Toilettenblocks und 1,2 Millionen pri- für einmalige Nutzung beträgt etwa 2003; Patak 2006. Human Development Report 2006) vate Latrinen gebaut und damit zehn eine Rupie (umgerechnet zwei US-

49 Rezension tigung sozio-kultureller und religiöser (Sektenbildung!) Konflikte. Lebendig wie autobiographische Bemerkenswert ist, dass vorwiegend Sorgen und Nöte der Mittelschicht im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, Darstellungen wobei wiederum der Einfluss des Bil- dungswesens und Veränderungen in den Drei Blinde beschreiben einen Elefanten. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 2006, Lebensformen („Aushöhlung regionaler 207 Seiten Identitäten“, S. 15) Vereinsamung und Verunsicherung der Menschen beson- ders hervorgehoben werden. „Wenn eine erkennbare Teilwahrheit Die 26 Einzelbeiträge vermitteln dem oder selektive Wahrnehmung im Spiel Leser eindrucksvolle Bilder von den kri- Kurzbiographien der Autoren (S. 197– ist, spricht man in Kerala fast sprich- tischen Auseinandersetzungen und 202) und ein Glossar (S. 203–207) wörtlich vom Blinden, der einen Elefan- Reflexionen der Autoren über die sozia- beschließen die Anthologie. ten beschreibt.“ (Vorwort S. 7). len, kulturellen und politischen Proble- - Elisabeth Lauschmann me, mit denen sie sich infolge von Kein Blinder kann einen ganzen Elefan- zunehmender Urbanisierung, wirtschaft- ten beschreiben, nur Teile von ihm kann lichem Fortschritt und damit verbunde- er ertasten. Diese Erkenntnis schien den nem Wertewandel konfrontiert sehen. Herausgebern des vorliegenden Sam- Die meisten Kurzgeschichten sind so melbandes, in dem Kurzgeschichten und lebendig geschrieben, dass man meint, Gedichte zeitgenössischer Schriftstel- es handele sich um autobiographische ler/innen aus Kerala in sehr guten deut- Darstellungen – wie z.B. bei A. Ma- schen Übersetzungen zusammengestellt thews Geschichte der „Sieben Jungfrau- sind – die Originalsprache ist (mit weni- en“ (S. 152–165), in der die Schicksale gen Ausnahmen) Malayalam-, bezeich- von Krankenschwestern aus Kerala in nend für ihre Auswahl zu sein. Daher der Deutschland beschrieben werden, oder Titel, den auch E. Santhoshkumar für „Gelobt sei der Herr!“ (S. 168–194) von seinen eindrucksvollen Beitrag gewählt P. Zacharia – hier geht es um die Bewäl- hat. (Vergl. S. 126–136)

K. Satchidanandan schreibt in seinem Artikel „Die Grenzen überschreiten. Eine Einführung in die zeitgenössische Malayalam-Literatur“: Malayalam wird nur von vier Prozent der indischen Be- völkerung gesprochen und doch weist diese Sprache eine der fortgeschritten- sten und lebendigsten Literaturen des Subkontinents auf. Verschiedene Fakto- ren haben zu dieser literarischen Fort- schrittlichkeit beigetragen: der hohe Bil- dungsstand in Kerala, progressive ge- sellschaftliche Reformbewegungen, ein politisches Bewusstsein in der Öffent- lichkeit, ein aktives Verlagswesen, eine große Anzahl an Zeitschriften, ein akti- ves Netzwerk von Bibliotheken, eine interessierte und wachsame Leserschaft und die Verbindungen zwischen sozialen Bewegungen und der Literatur in ver- schiedensten Epochen. Das Malayalam war und ist offen für ausländisches Vo- kabular. …. Die Malayalam-Literatur wurde durch verschiedene Bewegungen und Trends der Weltliteratur beeinflusst. …. Sie akzeptierte (aber) nur die Ein- flüsse, die mit ihrem regionalsprach- lichen Instinkt im Einklang standen“ (S. 10)

50 Buchbesprechung men von Objekten, sondern in unge- wohnter Vielfalt auch mit Objekten am Subjekt – mit anderen Worten: die Demonstration der Trageweise der Ohr- Neuvorstellung: Buch über ringe erhält erfreulich viel Raum. Das ist besonders zu loben, denn beim Anblick indischen Ohrschmuck der zum Teil riesigen oder bizarr anmu- tenden Schmuckstücke taucht beim uneingeweihten Leser die Frage nach Umfang- und bildreiche Information über dem „Wie“ mit Sicherheit auf, und sie eine verloren gehende Kultur wird hier hervorragend beantwortet. Desweiteren schafft es Watraud Gangu- lys Buch, die handwerkliche Kunst der Reich von billigen Nachahmungen und indischen Gold- und Silberschmiede, Fälschungen. Womit die Autorin auch ihren Ideenreichtum und ihre Akribie bei gleichzeitig darauf hinweist, dass die der Ausarbeitung von Details bewun- von ihr beschriebene Schmuckkultur im dern zu lernen. Verschwinden begriffen ist und nahezu Zu erwähnen ist noch, dass das Buch alle gezeigten Objekte bereits musealen über folgende Quellen zu beziehen ist: Seltenheitswert erreicht haben (oder auf Verlagsbuchhandlung Uta Hülsey, dem besten Wege dazu sind). Hansaring 52, 46470 Wesel / Tel.0281- 27227 / Fax 0281-24682/ uh@ztahul- Der zweite Teil des Buches behandelt sey.de Buch- und Kunsthandel Müth, ganz systematisch alle wichtigen Regio- Kevelaerstr.130, 447665 Sonsbeck, nen des Subkontinents mit den ihnen Tel.02838-525; Fax 02838-96821; eigenen Erscheinungsformen. Dabei ist BuchundKunst-Mueth@t-online-de „ es Waltraud Ganguly gelungen, eine sehr informative Mischung aus Text und Bild zu finden, und zwar nicht nur mit „klinisch“ reinen, ästhetischen Aufnah-

Ihren „schönen indischen Schwestern“ hat die Autorin Waltraud Ganguly ihr Vaitari: Ein musikalisches Bilderbuch Buch über Ohrschmuck in Indien gewid- met, und die Photos indischer Ladies aus Kerala allen Alters und aller Schichten strafen sie bei Weitem nicht Lügen: Die Würde Dieses farbenfrohe Buch bietet Kin- und der Stolz, den diese Frauen aus- dern, Jugendlichen und Erziehern viel- strahlen, erklären die Faszination, der fältige Möglichkeiten zum gemeinsa- die Autorin in mehr als zehn Jahren men Musizieren. Das Motto „Sam, Feldforschung erlag und die sie einem Sammlung, Zusammen!” (www.sam. inter-essierten Leser erfolgreich weiter- mimemo.net) bedeutet, dass man auch zuvermitteln weiß. ohne Kenntnisse der indischen Musik Zweierlei verbindet Waltraud Ganguly etwas Schönes und Anregendes ge- gekonnt: ausgiebige sachliche Informa- meinsam gestalten kann. Zeitgemäße tion und gutes optisches Anschauungs- Bilder regen vor oder nach einer musi- material. Sie hat das in englischer Spra- kalischen Runde zum Malen oder che geschrieben Buch in zwei Hauptka- Zeichnen an. Zur Teilnahme genügen pitel aufgegliedert – das erste ist allge- Stimme und Hände. Da Musikinstru- mein gehalten und berichtet über die mente und anderer Vorbereitungsauf- Tragweise, ihren Charakter als Erken- wand sich ganz erübrigen, trägt Vaita- nungsmerkmal der Stammes- oder ri dazu bei, jede auch noch so kurze regionalen Zugehörigkeit, ihre Kenn- Gelegenheit schöpferisch zu nutzen. zeichnung des sozialen Status bzw. ihre Auch wenn nur eine einzige Musik- Eigenschaft als Kapitalanlage sowie oder Malstunde dem Thema Indien ge- zuguterletzt die medizinischen Aspekte widmet werden kann, verfügen Päda- des Tragens von Ohrschmuck (ein Kapi- gogen über eine reiche Palette von tel, das die Medizinerin Ganguly nicht Inhalten und Motiven zum Ausgestal- außer Acht lassen durfte). Natürlich gibt ten und Diskutieren. Ausstattung: 19 Muttersprache. (Sammel-)bestellun- es auch einen historischen Rückblick, Illustrationen, 20 x 28 cm mit Audio- gen per E-mail: samproject@mime- einen Ausflug zum Ohrschmuck indi- CD und Begleittext in der eigenen mo.net scher Männer und eine Exkursion in das

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