weiter zu den Aufgaben der Entwicklungs- BUCHBESPRECHUNGEN soziologie, festzustellen, warum und aus wel- chen Gruppen Entwicklungsforderung und RICHARD F. BEHRENDT Entwicklungsförderung entspringen, welches die sozialen Voraussetzungen und Folgen SOZIALE STRATEGIE eines Entwicklungsprozesses sind. Dies alles FÜR ENTWICKLUNGSLÄNDER sind Dinge, bei denen vor allem die deutsch- Entwurf einer Entwicklungssoziologie. Verlag S. Fischer, sprachige Soziologie noch ganz am Anfang am Main 1965. 640 S., Paperback 19,80 DM, steht. Behrendt stößt mit seinem Buch eine Tür Ln. 28 DM. auf, durch die hoffentlich in der nächsten Zeit Vor noch nicht langer Zeit sah man die Ent- zahlreiche deutsche Soziologen ihren Weg neh- wicklungspolitik vorwiegend unter technisch- men werden. finanziellem Aspekt, und Fragen nach tech- Es ist also gerade der Kulturwandel, vor nischer Realisierbarkeit sowie nach dem Um- allem durch die Übernahme von Elementen fang der Finanzierbarkeit standen im Vorder- fremder Kulturen (Akkulturation), der eine grund. Inzwischen hat man erfahren, daß dies zentrale Bedeutung in diesem Buch einnimmt, noch die einfachste Seite des Problems ist und der Wandel, der die in den Entwicklungslän- daß seine wahren Schwierigkeiten im mensch- dern typische „statische Gesellschaft" aufweicht lichen Bereich liegen. und erst die Voraussetzung für eine allseitige Entwicklung schafft. Der Prozeß der Akkul- Kurz bevor Professor Richard F. Behrendt turation „trifft ganz allgemein auf den in den einem Ruf von Bern an die Freie Universität heutigen Entwicklungsländern vor sich gehen- folgte, legte er dem Publikum einen den Kulturwandel zu. Es handelt sich hierbei umfangreichen Band vor, in dem er seine viel- um ein Zusammentreffen zwischen verschiede- jährigen Erfahrungen als Theoretiker und nen und verschiedenartigen Kulturen und ins- Praktiker der Entwicklungssöziologie zusam- besondere Gesellschaftssystemen .. . wobei das menfaßt. Er setzt damit einen längst fälligen entwickeltere (und deshalb aktivere) System neuen Akzent, indem er die soziologische Seite das weniger entwickelte (und daher zunächst des Entwicklungsprozesses zum Forschungsge- passive und schwächere) System seinem Ein- genstand erhebt. fluß öffnet und es zu durchdringen und zu Man hat in Deutschland lange gebraucht, um verändern beginnt". Diese Öffnung kann ge- zu begreifen, daß Entwicklung zugleich Ände- waltsam erfolgen, wie im Falle imperialistisch- rung bedeutet, häufig einen radikalen Bruch kolonialer Aktionen, oder aber auch freiwillig, mit dem Alten, Übernahme neuer Wertskalen friedlich, ja unbewußt. „Diese freiwillige und Verhaltungsweisen, und daß wir mit noch Akkulturation ist — wenigstens in bezug auf so hochachtungsvollen Verbeugungen vor den technische Verfahrensweisen und zahlreiche „alten Kulturen" nicht an der Tatsache vorbei- wirtschaftliche und soziale Leitideen — im ge- kommen, daß wir in den Entwicklungsländern genwärtigen Stadium der Entwicklungsländer einen neuen Menschentyp schaffen helfen müs- die Regel". (S. 117.) sen, wenn der ganze inzwischen eingeleitete Hier setzen also die von außen kommenden Prozeß zu einem erfolgreichen Ende führen Entwicklungsbeiträge ein, hier müssen sie ein- soll. Hier gibt es in der Entwicklungshilfe der setzen und zu einem „gelenkten Kulturwan- alten Industrieländer manchen Mangel zu ent- del" führen. hüllen, denn kaum jemals wurden Einzelpro- Behrendts Arbeit ist außerordentlich viel- jekte in das Große und Ganze eingefügt, und schichtig und überrascht immer wieder durch wenn doch, dann höchstens technisch und kei- interessante Fakten und das reiche Quellen- nesfalls sozial. Hier ist ein Umdenken drin- material. Allein das Kapitel über die Träger gend erforderlich: „Wirksame Entwicklungs- des Entwicklungsprozesses in den überseeischen förderung muß als gelenkter Kulturwandel, Ländern — über jene Kräfte also, mit denen als umfassender Umbau vorgegebener, jedoch der Entwicklungshelfer es unmittelbar zu tun unzureichender sozialer und wirtschaftlicher hat — bringt eine Fülle interessanter Detail- Ordnungen verstanden und betrieben werden, fragen: die Ablösung alter durch neue Eliten, anstatt — wie bisher vorwiegend — als eine die neue Unternehmerschaft, Jugend und Anzahl von punktuellen, nicht aufeinander ab- Frauen, die Armee mit ihrer zwielichtigen gestimmten oder miteinander verbundenen Ein- Rolle und schließlich die junge Arbeiterschaft zelmaßnahmen, die ohne Berücksichtigung ihrer mit ihren gewerkschaftlichen Organisationen. ordnungspolitischen Funktionen getroffen wer- Der Verfasser setzt sich sehr kritisch mit den den" (S. 94), sagt Behrendt treffend. Gefahren einer zu zentralistisch gesteuerten Methodisch führt uns diese Erkenntnis dazu, Entwicklungspolitik, komme sie nun von außen anzuerkennen, daß uns nur interdisziplinäre oder von innen, auseinander und befürwortet Forschung und Zusammenarbeit weiterbringen Maßnahmen, die „von unten her" schrittweise können. Schließlich muß es Gründe geben, eine neue Gesellschaft mit einer neuen Wirt- warum große Teile der Welt zu den „Rand- schaft aufbauen, um in höchstmöglichem Maße ländern der Dynamik" gehören. So gehört die Dritte Welt zu demokratisieren. Es fehlt

310 BUCHBESPRECHUNGEN nicht an Beispielen, die die. Schwierigkeit dieses Das ist auch der Nachteil der sonst vorzüg- Prozesses illustrieren. lichen „Kulturgeschichte Chinas" von Werner Behrendt bietet ein Buch an, dessen sorg- Eichhorn. Das Werk soll dem interessierten fältiges Studium gerade dem politisch Interes- Nichtfachmann wie dem studierenden Anfän- sierten eine Fülle von Informationsmaterial an ger einen Überblick über die wichtigsten die Hand gibt. Noch wichtiger ist aber, daß Grundzüge und die Linienführung der chine- dieses Material in ein System eingefügt und zu sischen Kultur im historischen Ablauf geben. einem soziologischen Gedankengebäude ver- Das ist auch gelungen. Eichhorn beginnt seinen dichtet wird. So gestattet das Buch dem auf- Abriß bei den Vorstufen der chinesischen Kul- merksamen Leser, das bei uns, wenn über- tur und beendet ihn mit Ausführungen über haupt, dann mit halbem Herzen diskutierte die Antwort der chinesischen Intelligenz auf Entwicklungsproblem neu und fruchtbar zu den Einbruch Europas. Das Büchlein ist ver- durchdenken. Dr. Wolf Donner ständlich geschrieben und vermag Interesse für die überlieferungsreiche chinesische Kultur zu erwecken. Wichtig scheint mir Eichhorns Hin- WERNER EICHHORN weis auf das Fehlen einer umfassenden Arbeit KULTURGESCHICHTE CHINAS über den Zusammenstoß der chinesischen und europäischen Kultur. Schon eine annähernd Eine Einführung. Urban-Bücher Nr. 76. Verlag W. Kohl- vollständige Bibliographie der europäischen hammer, 1964. 2S8 S., kart. 4,80 DM. und amerikanischen Werke, die etwa seit dem siebzehnten Jahrhundert ins Chinesische über- G I L B E R T ETIENNE setzt wurden, könnte darüber Auskunft geben, CHINAS WEG ZUM KOMMUNISMUS „was man dem Chinesen als europäische Kul- Europa Yerlag, Wien - Köln - Stuttgart - Zürich 1963. tur vorgesetzt hat und was von ihnen als 285 S., kart. 15,80 DM. Quintessenz dieser betrachtet wurde". Eichhorn meint: „Wir würden dann vielleicht verstehen, OTTO JANECEK warum die Chinesen, weit davon entfernt, sich von der westlichen Kultur imponieren zu las- DIE MITTE IST LINKS sen, ganz im Gegenteil in ihrem alten Kultur- China und die kommunistische Weitbewegung. Europa stolz und traditionellem Kulturüberlegenheits- Verlag, Wien - Köln - Stuttgart - Zürich 1964. 147 S., gefühl eine neue Stärkung erfuhren" (S. 266). kart. 9,80 DM. In die Gegenwartsproblematik Chinas führt F R I T Z SCHATTEN das Buch „Chinas Weg zum Kommunismus". DER KONFLIKT MOSKAU — PEKING Nüchtern und vorurteilsfrei stellt Etienne vor allem die sozialökonomischen Strukturverän- Dokumente und Analyse des roten Schismas. Verlag R. Piper & Co., München 1963. 212 S. Paperback derungen in Ostasien dar. Folgende Grund- 7,80 DM. prinzipien des chinesischen Wirtschaftsaufbaus führt er an: „1. Mobilisierung der Massen, um HANS HENLE dem Kapitalmangel durch investiertes Men- schenmaterial abzuhelfen; 2. ,Gehen auf zwei CHINAS SCHATTEN Beinen', das heißt: harmonische Abstimmung ÜBER SÜDOST-ASIEN zwischen Landwirtschaft und Industrie; Verlag Holsten, Hamburg 1964. 300 S., Ln. 17,80 DM. 3. gleichzeitige Entwicklung von Groß- und Kleinindustrie, Anwendung moderner techni- China ist seit Ende des zweiten Weltkrieges scher und landesüblicher Methoden; 4. Dezen- mehr und mehr in den Horizont unseres In- tralisation der Industrie, Errichtung von Werk- teresses getreten. Die Selbstbefreiung der Chi- stätten und kleinen Fabriken in den länd- nesen von imperialistischer Bevormundung hat lichen Bezirken" (S. 213). einerseits alte Vorurteile über die „gelbe Ge- fahr" reaktiviert, andererseits bei aufgeschlos- Seiner Ansicht nach erweisen sich diese Prin- senen Menschen auch skeptische Sympathie zipien im kommunistischen China und zumin- hervorgerufen. Wer sachliche Orientierung über dest in einem Teil der Dritten Welt als taug- die Vorgänge in Ost- und Südostasien sucht, lich. „Die verantwortlichen chinesischen Führer hat es nicht leicht. Der interessierte Laie ist haben eine richtige wirtschaftliche Diagnose ge- vorwiegend auf Arbeiten publizistischen Cha- stellt. Am Ende ihres ersten Fünfjahresplans rakters angewiesen. Die wissenschaftliche Chi- haben sie begriffen, daß sich das sowjetische naforschung gehört noch zu den unterent- Muster, selbst wenn es auf chinesische Verhält- wickelten Gebieten der Sozialforschung. Dabei nisse zugeschnitten worden wäre, nicht bewäh- hat die auf die chinesische Sprache und Litera- ren würde. Der Augenblick, war gekommen, da tur angewandte Philologie in Deutschland sie ein eigenes Wirtschaftskonzept einsetzen durchaus beachtliche Leistungen hervorgebracht. mußten" (a.a.O.). Im ganzen beurteilt Etienne Nur ist vom Standort des Philologen aus we- die Entwicklung in China positiv. Seiner Auf- nig über die sozialen und politischen Verhält- fassung nach endete der große Sprung nach ei- nisse des neuen China zu sagen. ner heftig betriebenen Kollektivierung mit ei-

311 nem Rückzug auf mehrere „kleine persönliche nesische Politik determinieren, werden von Freiheiten". Schatten dagegen kaum angedeutet. Ähnlich bewertet übrigens auch Zimmer- Einen ausgezeichneten Überblick über die man in „Arme und reiche Länder" (Bund-Ver- politischen Positionen in Südost-Asien vermit- lag) die chinesische Wirtschaftspolitik. In einem telt Hans Henle in: „Chinas Schatten über Land mit versteckter oder offener Arbeitslosig- Südost-Asien". Die Eigenheiten des asiatischen keit sei immer anzuraten, „Menschen, die über Marxismus, das Versagen der westlichen Ko- eine Arbeitsproduktivität verfügen, die annä- lonialpolitik, ihre tragischen Folgen, der Weg hernd Null beträgt, in arbeitsintensiven Pro- von Jalta nach Dienbienphu, die Versuche, jekten zu beschäftigen — jedenfalls solange der durch die Konferenzen in Genf, Manila, Ban- aus dieser Mehrbeschäftigung resultierende zu- dung neue Ordnungsgefüge zu schaffen, die sätzliche Verbrauch die Mehrproduktion nicht Probleme der jungen Nationalismen, die Hy- übersteigt. Gerade im kommunistischen China pothek der Unterentwicklung, die neutrale scheint man die Richtigkeit dieser These voll Politik Laos', die Bauernrevolution in Viet- begriffen zu haben" (S. 115). Als Beispiel führt nam, das Konfligieren von Neutralismus und Zimmerman Bewässerungsprojekte und die Großmachtpolitik werden kenntnisreich erör- hierzulande oft leichtfertig verspotteten Volks- tert. Nachdenklich legt der Leser das Buch aus hochöfen an. der Hand, und angesichts dessen, was er über den Krieg in Vietnam erfährt, mag mancher Eine lebendig geschriebene Darstellung der Leser fragen, warum heißt das Buch nicht: Politik Chinas findet man in dem Buch „Die „Amerikas Schatten über Südost-Asien"? Mitte ist links". Auf etwa hundert Seiten be- antwortet Janecek u. a. die Fragen, ob die Dr. Wilfried Gottschalch Organisationsform der Kommunen bereits mit dem Kommunismus gleichzusetzen ist, warum die Kommunistische Partei Chinas Stalin ver- OTTO STAMMER u. a. teidigt, wie es zu den Grenzstreitigkeiten mit VERBÄNDE UND GESETZGEBUNG Indien kam, und was einfache Menschen in Die Einflußnahme der Verbände auf die Gestaltung China unter Sozialismus verstehen. Die Ant- des Personalvertretungsgesetzes. Westdeutscher Verlag, wort eines Dorfältesten auf die letzte Frage Köln und Opladen 1965. 316 S., Ln. 29 DM. sei wiedergegeben: „Sozialismus ist, wenn es allen immer besser geht. Nicht nur zwei oder Seit mehr als 10 Jahren, im Grunde seit dem drei Leuten, sondern allen". (S. 100.) Erscheinen der ersten Schriften von Eschenburg zum Thema „Herrschaft der Verbände?", ist Im Anhang werden Auszüge aus dem „Vor- es auch in der Bundesrepublik Mode gewor- schlag zur Generallinie der kommunistischen den, über die Einflußnahme der Verbände auf Bewegung", das ist der berühmte Brief des ZK die Staatsgewalt, insbesondere auch auf die der KPCh vom 14. Juni 1963 an die Kommu- Gesetzgebung, zu reden und zu schreiben. In nisten der Sowjetunion, der am 14. Juli 1963 relativ kurzer Zeit ist eine nur noch mit Mühe in der sowjetischen Presse veröffentlicht wurde, übersehbare Literatur zu diesem Fragenkom- wiedergegeben. plex entstanden, die sich an Umfang fast mit Wer diese Dokumente vollständig nachlesen dem wesentlich weiter zurückreichenden Schrift- will, findet sie in: „Der Konflikt Moskau — tum vor allem der angelsächsischen Staaten Peking", von Fritz Schatten herausgegeben und zum gleichen Problem messen kann. kommentiert. Das Buch enthält 18 Dokumente Das Interessante aber ist, daß alle Erörte- über die Auseinandersetzung zwischen der KP- rungen und klugen Analysen über den Ein- dSU und der KPCh aus dem Jahre 1963. Bei fluß der Verbände gerade auf das Entstehen sorgfältiger Lektüre kam ich zu dem Resultat, der Gesetze mangels empirischer Untersuchun- daß die chinesischen Kommunisten vermutlich gen bisher mehr oder minder ohne zuverlässi- konsequentere Marxisten sind als die sowjeti- gen Unterbau und daher sozusagen im luft- schen, wenn mir auch ihr Verdammungsurteil leeren Raum, allein aufgrund der Beobachtun- über den Titoismus überflüssig und ihre Äuße- gen der Tagespolitik, zustande kamen. Darauf rungen über den Atomkrieg leichtfertig er- beruht es sicher, daß in der Öffentlichkeit — scheinen. möglicherweise genährt durch einige bekannt- gewordene massive, zum Teil erfolgreiche Be- Die Analyse von Fritz Schatten hat mich einflussungsversuche großer Verbände — zu- allerdings nicht überzeugt. Er unterstellt den nehmend der Eindruck entstanden ist, die Ge- Chinesen „vorwiegend nationale Motive" und setzgebung in der Bundesrepublik sei das „nur mühsam bezähmte Machtgier". „Moskau" Spiegelbild der widerstreitenden Verbands- würde die Welt wirklichkeitsgetreuer sehen als interessen und die Gesetze sozusagen der Kom- „Peking" (S. 37). Auch bei dem den Chinesen promiß, der sich nach allem außerparlamen- vorgeworfenen „Rassismus" handelt es sich tarischen Druck und Gegendruck schließlich wohl mehr um die Projektion eigener unbe- herauskristallisiere. Von der auch heute noch wußter Vorurteile als um die Kennzeichnung spürbaren Unabhängigkeit der Legislative und der Wirklichkeit. Die Sachzwänge, die die chi- vor allem vom Einfluß der Verwaltung, der

312 BUCHBESPRECHUNGEN

Ministerialbürokratie etwa, den die Verbands- Mit diesem Gesetz haben die Verfasser, wie vertreter aufgrund vielfacher Erfahrungen sich aus der vorliegenden Untersuchung sofort nicht hoch genug einschätzen können, merkt ergibt, ein äußerst dankbares Forschungsobjekt man bei diesem Bild wenig. gefunden. Dies hat seinen Grund darin, daß es sich hier um ein Gesetz handelt, bei dem Insbesondere aber bestand bisher weit- grundsätzliche gesellschaftspolitische Entschei- gehende Unklarheit über den Zeitpunkt, die dungen zu fällen waren und bei dem die be- Stationen, die Adressaten und die verschie- teiligten Verbände ihre unterschiedlichen Ziele denen Methoden des Verbandseinflusses auf mit besonderer Entschiedenheit verfochten. die Gesetzgebung im einzelnen. Teilweise nahm Hinzu kommt, daß sich nach der Verabschie- man bisher an, daß die Verbände bei ihren dung des Betriebsverfassungsgesetzes „vor Versuchen, das Zustandekommen eines Gesetzes allem in Regierungskreisen ein Wandel der erfolgreich zu beeinflussen, im wesentlichen Auffassungen über die Gestaltung dieser ihre teilweise institutionalisierten Beziehungen Rechtsmaterie und zugleich eine wesentliche zur Verwaltung, also zur Ministerialbürokratie, Veränderung der politischen Machtkonstella- einsetzen und damit in erster Linie im Vor- tion ergeben hatte. Die Veränderung der innen- bereitungsstadium der Gesetzgebung tätig politischen Szene hatte ohne Zweifel auch die werden. Diese Beobachtung ist bis zu einem Machtverteilung unter den Interessenverbän- gewissen Grade gerechtfertigt, aber in der den, die als Akteure in die Auseinander- Praxis zeigt sich, daß eine erfolgversprechende setzungen um die Personalvertretungsgesetze Beeinflussung eigentlich in jedem Stadium des eintraten, beeinflußt. Die innenpolitische Situa- Gesetzgebungsverfahrens möglich ist und an- tion der Jahre 1953—1955 ließ erwarten, daß gewandt wird, ja oft bis zur dritten Lesung alle Interventionen und Druckmaßnahmen zu und darüber hinaus bis zur Anrufung des Kompromissen führen würden, bei denen es Vermittlungsausschusses erforderlich ist. den Beteiligten darauf ankommen mußte, ihre Alle diese Zweifelsfragen und Unklarheiten, Ziele und ihre Argumente in den Entschei- die das Bild des Verbandseinflusses auf die dungen möglichst weitgehend anerkannt zu Gesetzgebung in den Augen der Öffentlichkeit sehen und in den für sie wichtigsten Fragen kennzeichnen, machen deutlich, wie unumgäng- gut abzuschneiden" (S. 28). lich gerade auf diesem Gebiet genaue empiri- Als besonders günstig hat sich die Behand- sche Untersuchungen sind, um eine exakte lung des Personalvertretungsgesetzes auch des- Antwort auf die Frage nach Möglichkeiten halb erwiesen, weil gerade für die Entstehung und Grenzen der Beeinflussung des Gesetz- dieses Gesetzes zahlreiche Quellen und Infor- gebers und ihrer Problematik zu erhalten. Die mationen erreichbar waren. Die ursprüngliche hier im Schrifttum bestehende Lücke scheint Besorgnis der Verfasser, daß die Beteiligten nunmehr erkannt und geschlossen zu werden. Zu ihre Unterlagen nur in Auswahl zur Verfü- der Studie von Viola von Bethusy-Huc gung stellen würden, war unbegründet. Alle (Demokratie und Interessenpolitik, in Betracht kommenden Institutionen und 1962), in der vergleichend das Zustande- Gruppen machten dem Institut ihr vollständi- kommen des Landwirtschaftsgesetzes, des Kar- ges Material zur wissenschaftlichen Auswer- tellgesetzes und des Bundesbankgesetzes unter- tung zugänglich. Außerdem konnten von sucht wurde, ist jetzt eine Gemeinschaftsarbeit zahlreichen Persönlichkeiten, die innerhalb und des Instituts für politische Wissenschaft Berlin außerhalb des Parlamentes maßgebenden Ein- unter Führung von Professor Dr. Otto Stam- fluß auf die Gestaltung des Gesetzes genom- mer über „Die Einflußnahme der Verbände men hatten, Informationen gewonnen werden, auf die Gestaltung des Personalvertretungs- die zusammen mit dem verarbeiteten Quellen- gesetzes" getreten; neben Stammer zeichnen als material ein umfassendes Bild der Gesetzes- Autoren: Wolfgang Hirsch-Weber, Niels Die- entstehung und der verschiedenen Stationen, derich, Annemarie Gerschmann, Wilfried Methoden und Erfolge der Einflußnahme Gottschalch, Gerhard Grohs und Hans Gu- ergaben. stävel. Eine weitere Arbeit des gleichen Ver- Nach einem Einführungskapitel über „Inter- fasserteams über die Entstehung des Laden- essenverbände und Gesetzgebung", in dem die schlußgesetzes soll folgen. bisherigen Auffassungen, die Literatur und der Ausgangspunkt der Verfasser geschildert Die Beschränkung auf diese beiden Gesetze werden, folgt zunächst eine kurze Zusammen- beruht auf realistischer Einsicht, da sich der fassung der Vorgeschichte des Personalvertre- ursprünglich von der Forschergruppe vorge- tungsgesetzes. Daran schließt sich in drei sehene Plan einer generellen empirischen Un- Kapiteln (von insgesamt 80 Seiten) eine um- tersuchung über den Einfluß der Verbände auf fassende Darstellung der Auseinandersetzun- die Gesetzgebung des Deutschen Bundestages gen um das Personalvertretungsgesetz vom als nicht durchführbar erwies. Um so begrü- Referentenentwurf bis zum Kompromiß des ßenswerter ist es, daß statt dessen, als eines Vermittlungsausschusses an. Dabei zeigt sich der Beispiele für eine Darstellung der politi- die außerordentliche Bedeutung, die die Vor- schen Einflußnahme der Verbände, das Perso- bereitungsphase, also die Einflußnahme im nalvertretungsgesetz ausgewählt wurde. vorparlamentarischen Raum und damit das

313 Zusammenspiel zwischen Ministerialbürokratie In einem Abschlußkapitel über „Chancen und Verbandsvertretungen, hat (beim Per- und Grenzen interessenpolitischer Einfluß- sonalvertretungsgesetz lag hier die Initiative nahme" wird schließlich das Fazit gezogen, zunächst eindeutig beim Deutschen Beamten- und hier zeigt sich — trotz aller Besonder- bund und der Ministerialbürokratie). Gleich- heiten der Materie — die generelle Bedeutung zeitig aber zeigt sich, daß „geplante und einer derartigen Untersuchung. Das für viele bewußte Interessenvertretung im politischen vielleicht erstaunliche Ergebnis ist, daß die Raum einen Gesetzgebungsprozeß mit recht Möglichkeiten der Verbände für eine erfolg- unterschiedlichen Mitteln auf allen Stationen reiche Einflußnahme offenbar geringer sind, als beobachten und beeinflussen muß, wenn sie gemeinhin angenommen wird. Die Analyse des ihr Ziel erreichen will" (S. 22). Diese Einfluß- Gesetzgebungsprozesses läßt erkennen, wie nahme erfolgt „von der Ausarbeitung der schwierig es für die Verbände war, „ihre Auf- Referenten- und Regierungsentwürfe über die fassungen zur Geltung zu bringen, welche verschiedenen Plenar- und Ausschußberatun- Hindernisse sich ihren politischen Interventio- gen im Bundesrat und vor allem im Bundestag, nen entgegenstellten und wie knapp bemessen gegebenenfalls bis zu den Kompromißver- die Erfolge waren, die sie schließlich in den handlungen im Vermittlungsausschuß". Außer- Auseinandersetzungen der Akteure zu er- dem sind „die nicht in der Verfassung vor- zielen vermochten. Die Grenzen, die der Ein- gesehenen außerparlamentarischen Stationen wirkung von Verbänden auf die Gesetzgebung (Beratungen, Ausarbeitung eigener Gesetz- in der Bundesrepublik gesetzt sind, treten entwürfe der Verbände bzw. der Parteien, jedenfalls in der Untersuchung deutlich zutage. Beeinflussung der Öffentlichkeit durch beson- In dieser Einzelfallstudie wird bestätigt: von dere Werbekampagnen) zu berücksichtigen" einer Herrschaft der Verbände, einer unaus- (S. 21/22). weichlichen Beeinträchtigung der Prärogative Beim Personalvertretungsgesetz „waren die des Parlaments, einer Verminderung der Verhandlungen des Unterausschusses Personal- Aktionsfähigkeit und einer Ausschaltung der vertretung des Bundestages für die Interessen- politisch interessierten Öffentlichkeit kann — politik in der Bundesrepublik besonders be- zumindest im politischen Prozeß der Gesetz- deutsam, da hier die unterschiedliche Aktivität gebung — nicht die Rede sein" (S. 226). der Verbands- und der Parteienvertreter, aber Ein Anhang mit den drei maßgebenden gelegentlich auch die stille Kooperation zwi- Entwürfen (Referentenentwurf, Regierungs- schen Vertretern der Bundesregierung, des entwurf und Entwurf des Unterausschusses Bundesrates, Verbandsexperten und Abgeord- Personalvertretung) sowie dem Text des Per- neten zum Ausdruck kam" (S. 24). Während sonalvertretungsgesetzes, ein umfangreiches im Rahmen dieser „Ausschußphase" der Literaturverzeichnis und sorgfältig bearbeitete Akzent auf der sachlichen Beeinflussung lag Register schließen das Werk ab, das in vor- (besonders bedeutsam war hier die Arbeit der bildlicher Weise eine entscheidende Lücke im „kleinen Kommission", der Vorläuferin des politologischen Schrifttum schließt und der heutigen Ausschusses Personalvertretungs- Verbändeforschung auch in der Bundesrepu- wesen des DGB), war der Höhepunkt der blik den erforderlichen „Unterbau" verschafft. Einflußnahme, eingeleitet durch eine Presse- Am Rande sei schließlich vermerkt, daß ein kampagne, die sogenannte „Kompromißphase", solches Werk als „Abfallsprodukt" auch wert- also die Auseinandersetzung im Plenum selbst volle Erkenntnisse für andere sachliche Fragen, mit der entscheidenden Wendung während der etwa für die „Mitbestimmungspraxis im öffent- zweiten Lesung des Gesetzes. In einem weiteren lichen Dienst" bringen kann, wie sich aus Kapitel wird schließlich zusammenschauend einem Vortrag des Mitverfassers Nils Diederich eingehend untersucht, „welche Forderungen vor der Hans-Böckler-Gesellschaft (Mitbestim- welcher Akteure sich in welchem Stadium der mungsgespräch 1965, S. 127 ff.) über dieses Gesetzgebung durchsetzten". Thema ergibt. Dr. Manfred Hässler Insgesamt ergibt sich so ein faszinierendes Bild der Entstehung eines Gesetzes, das keines- wegs nur eine Aneinanderreihung von Daten, HANS JOACHIM ORTH sondern in sorgfältiger Verarbeitung des um- fangreichen Materials eine präzise Darstellung POLEN, PARTNER VON MORGEN und genaue Analyse der „Beeinflussungsvor- Verlag Gerhard Stalling, Oldenburg (Oldb.) und Hamburg gänge und der sichtbar werdenden Kreuzwege 1965. 255 S., Ln. 19,80 DM. der politischen Willensbildung" bringt. Als im Jahre 1962 das Buch von H. J. Orth Nicht minder bedeutsam sind die beiden „Diesseits und jenseits der Weichsel" (Pro-gress- folgenden Kapitel, in denen die Verfasser die Verlag, ) erschien, zählte die in Entstehung der Personalvertretungsgesetze der Bellnhausen vom Institut für Geosoziologie und Länder, und zwar am Beispiel des größten Politik herausgebrachte Zeitschrift „Geo-politik" deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen dieses Werk „zu den wichtigsten Ereignissen und des Stadtstaates Berlin mit ihrer unter- auf dem Gebiet einer Vorbereitung neuer und schiedlichen Struktur, eingehend darstellen. besserer Außenpolitik". Mit dem

314 BUCHBESPRECHUNGEN vorliegenden Band „Polen, Partner von mor- berücksichtigen. Eine Darstellung von Dr. gen" setzt der Autor seine Bemühungen fort, Friedrich Adlers (1879—1960) bewegtem Le- ein objektives Bild von dem gegenwärtigen ben wurde bisher nicht geschrieben. Braunthal, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustand der ursprünglich nur letzteres behandeln dieses Landes zu zeichnen. Wiederum haben wollte, hat sein Thema erweitert, als er er- ihm ausgedehnte Reisen durch das gesamte kannte, daß Friedrichs Lebensgeschichte außer- Staatsgebiet Polens neue Einblicke und Ein- halb der seines Vaters ein Torso bleiben sichten verschafft, die durch zahlreiche Fotos müßte, weil die ersten vierzig seiner achtzig veranschaulicht werden. Wieder ist es die un- Lebensjahre eng mit Leben und Schicksal des geschminkte, wahrheitsgetreue Darstellung der Vaters verwoben waren. In einer Biographie positiven und negativen Fakten, die die Lek- Bebeis, meint Braunthal, würde der Hinweis türe fesselnd macht und den nachdenklichen genügen, daß der Vater ein Korporal und der Leser überzeugt. Stiefvater ein Gefängnisaufseher war; sie ha- Orth vermeidet bewußt jede Polemik. Aber ben keinen nachweisbaren Einfluß auf August mit den Untertiteln seiner 28 Kapitelüber- Bebel geübt, während Friedrich Adlers Persön- schriften legt er uns die Zusammenhänge lichkeit auch dort von der des Vaters stark be- gleichsam in die Hand: „Polens neue Städte — einflußt war, wo er ihm — wie im ersten Welt- ein Experimentierfeld für Architekten; Jeder krieg — opponierte. vierte Pole besucht eine Schule; Fachleute leiten So ist ein Werk von ganz eigenartigem Reiz Polens Fabriken; Eine neue Schiffbaunation entstanden, dessen Lektüre einen hohen Genuß macht von sich reden; Qualitätsnormen sollen bildet. In Braunthals mit liebevoller Anteil- den Export steigern; Liberalisierungstendenzen nahme geschriebenen Schilderung ersteht ein le- in Handel und Handwerk" — das sind nur einige bendiges Bild des großen Menschen und Men- von vielen aufschlußreichen Gesichtspunkten. schenfreundes Victor Adler, des Arztes, dem Immer wieder wird auch darauf hingewiesen, die Not der arbeitenden Menschen so ans Herz welchen Anteil die polnischen Gewerkschaften bei greift, daß er sein ganzes Leben, seine unbän- dem ungewöhnlich schnellen Übergang vom dige Arbeitskraft, sein ganzes Vermögen restlos Agrar- zum sehr modernen Industriestaat der Arbeiterbewegung opfert, um ganz in ihr gehabt haben und noch haben. Die scheinbar so aufzugehen. In ihrem Dienst hat er sich so sehr nebenbei erwähnten Details der wirtschafts-, vorzeitig verbraucht, daß er am Vorabend der sozial- und kulturpolitischen Entwicklung sind formellen Ausrufung der Republik in Wien als besonders für den westdeutschen Leser gezielte ihr erster Außenminister stirbt. Im alten Öster- Argumente für . die erfolgreichen reich, in dem die Sozialdemokraten eine von Startmöglichkeiten einer Sozialstruktur, in der den Herrschenden nach Möglichkeit ignorierte nicht nur gesellschaftlich produziert, sondern auch Oppositionsgruppe ohne direkten Einfluß wa- beweiskräftig gesellschaftlich angeeignet wird. ren, hatte es der Jude und Sozialdemokrat Ad- Orth hat mit diesem Buch seinen Titel als ler fertiggebracht, sich Hochachtung auch beim „anerkannter Polenexperte" bestätigt. Für die Gegner und in der ganzen Öffentlichkeit zu sachliche Diskussion der Ost-West-Problema- erkämpfen. tik bietet es mannigfache, geeignete Ansatz- Die von Braunthal veröffentlichten Briefstel- punkte und besonders auch den, daß mit dem len (vielfach aus den ungedruckten Beständen internationalen Güteraustausch internationale des Wiener Adler-Archivs) zeigen, wie viel en- Koexistenzfragen zukunftsträchtige Aspekte ger damals der Zusammenhalt führender Men- haben. Hermann Lücke schen auch über Grenzpfähle hinweg war: Vic- tor Adler hat mit Bebel und dem damals in JULIUS BRAUNTHAL Deutschland wirkenden Karl Kautsky ständig VICTOR UND FRIEDRICH ADLER seine politischen, aber auch seine privaten Sor- Zwei Generationen der Arbeiterbewegung, Verlag der gen besprochen. Neben vielen anderen inter- Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1965. 342 S., Ln. essanten Ausgrabungen Braunthals hat vor al- 178 öS. lem die in einem ungedruckten Brief Adlers 1916 ausgesprochene Warnung vor dem von Den Lebensweg zweier bei allen Gemein- Pernerstorfer empfohlenen „sozialistischen Na- samkeiten doch sehr verschiedenen Persönlich- tionalismus" heute auch aktuelle Bedeutung: keiten (Vater und Sohn) in einem Buch schil- dern zu wollen, ist ein kühnes Unterfangen, „Ist erstens im allgemeinen heute ein Bedürf- das Julius Braunthal über alle Erwartungen nis, das ,Nationale' so zu betonen und pathe- geglückt ist. Eine 1932 erschienene Biographie tisch herauszuschreien? Haben wir etwa in des Schöpfers der österreichischen Sozialdemo- Deutschland oder hier oder sonstwo gerade kratie (soweit das das Werk eines einzelnen jetzt Mangel an nationaler Begeisterung? Ist sein kann) Dr. Victor Adler (1852—1918) ist nicht im Gegenteil die Gefahr einer Übertrei- verschollen, es konnte überdies damals noch bung näherliegend, jetzt das ,Nationale' ganz unbekannte oder unzugängliche Quellen nicht hemmungslos zum Um und Auf zu machen? Und zweitens im besonderen bei uns hier, wel- chen Sinn hat es, das Wort ,national' so her-

315 auszustreichen, was doch ein ganz bestimmter fürwortet. In Wirklichkeit hat sich Adler, der Terminus ist und eigentlich so aufgefaßt wird, die Anschlußfrage als erledigt ansah, nur da- daß die Partei eine ,nationale' Sozialdemo- gegen gewendet, daß seine österreichischen Par- kratie werden soll: Solchen, im Wesen nichts- teigenossen durch das Betonen ihres österrei- sagenden, wohl aber die Köpfe von vielen chertums den Anschein erweckten, als würden verwirrenden Schlagwörtern möchte ich schon sie dem „anderen Deutschland", den ersten sehr kräftig entgegentreten." Opfern Hitlers, die Solidarität versagen. Zum Unterschied von der SPD blieb der Nach Braunthals Otto-Bauer-Biographie deutschen Sozialdemokratie Österreichs im und seiner monumentalen zweibändigen „Ge- ersten Weltkrieg die Spaltung zwischen mehr schichte der Internationale" ist seine Biogra- oder weniger entschiedenen Bejahern und er- phie von Adler Vater und Sohn eine Meister- bitterten Gegnern des Krieges erspart. Was sie leistung, zu der man ihn beglückwünschen sich nicht ersparen konnte, war der Konflikt kann. Die zahlreichen Bilder, faksimilierten um die Stellung zum Krieg, der durch die Schriftstücke und in den Text eingestreuten ganze Partei ging und zu der menschlichen Zitate aus heute schwer zugänglichen oder Tragik führte, daß Vater und Sohn einander überhaupt ungedruckten Quellen erhöhen den entgegenstanden. Victor Adler hatte den Krieg Wert des Buches, das den Leser von der ersten beklagt, aber ihn mit den Worten „Österreich bis zur letzten Seite gefesselt hält. ist ja schlimm, aber gegen ein definitives (zari- stisches) Rußland wollen wir es nicht austau- Dr. J. W. Brügel schen", akzeptiert. Sein Sohn Friedrich, in Be- wunderung des Vaters und dessen Lebenswer- kes aufgewachsen, seinem Interesse für die Physik, der er sich erst widmen wollte, und A C H I M VON LOE SCH dann seiner Arbeit an der Schweizer Partei- DIE GRENZEN EINER BREITEREN presse entsagend und sich ganz in die öster- VERMÖGENSBILDUNG reichische Parteiarbeit stürzend, hatte schon das Zur Problematik der Eigentumspolitik. Sammlung „res passive Hinnehmen des Kriegsgeschehens als novae", Veröffentlichungen zu Politik, Wirtschaft, So- brennende Schmach empfunden. Sein Wider- ziologie und Geschichte, Band 40. Europäische Verlags- stand gegen den Habsburgerstaat und damit anstalt, Frankfurt a. M. 1965. 156 S., kart. 7,80 DM. auch gegen die eigene Partei, die ihn jetzt tole- rierte, drückte ihm schließlich den Revolver in Achim von Loesch gehört seit Jahren zu den die Hand, mit dem er den österreichischen geistreichsten Gegnern der vielen „Pläne" einer Ministerpräsidenten Stürgkh niederstreckte. breiteren Vermögensbildung. Dienten seine früheren Veröffentlichungen vor allem der Be- Es war in der langen Geschichte des demo- gründung der These, daß sich die Ziele dieser kratischen Sozialismus wohl der einzige Akt „Pläne" — nämlich größere Sicherheit gegen des individuellen Terrors, aber Friedrich Adler, Lebensrisiken und gewisse Mitgestaltungs- vom Ausnahmegericht zum Tode verurteilt und rechte aus dem Eigentum — viel besser durch dann zu 18 Jahren Kerker begnachgt, konnte den Ausbau des Systems der sozialen Siche- in einer vielstündigen, anklägerisch-aufwühlen- rung einerseits und den Ausbau der betrieb- den Verteidigungsrede seine Tat den Arbei- lichen und überbetrieblichen Mitbestimmung tern begreiflich machen und für seine Kriegs- andererseits verwirklichen ließen, so trägt er gegnerschaft weit über die Reihen der Arbei- seinen Angriff in den letzten Kapiteln der vor- terschaft hinaus Verständnis erwecken. Nichts liegenden Veröffentlichung nunmehr von einer in Braunthals Darstellung der Atmosphäre, in anderen Seite vor: Von Loeschs kulturge- der der Entschluß zum Attentat reifte, des schichtliche Attacke gegen die Sparsamkeit als Attentats selbst und des ihm folgenden Pro- „Tugend", seine Ästhetisches, Philosophisches, zesses ist so erschütternd wie die Schilderung Politisches und Soziologisches umgreifende der Zeugenaussage Victor Adlers vor Gericht, Polemik gegen die Konsumfeindlichkeit, seine die sich schützend sowohl vor den angeklagten Apologie des „rechten Konsums" als „Lebens- Sohn als auch vor die von ihm heftig kriti- kunst", mögen die Argumente und Erkennt- sierte Partei stellte. nisse im einzelnen auch nicht neu sein, eröff- In den späteren Jahren, da Fritz Adler 1918 nen in Hinsicht auf die vermögenspolitische im Triumph aus dem Gefängnis nach Wien Diskussion — aber auch in Hinsicht auf die heimkehrte und dann in seiner Funktion als lohnpolitischen und konjunkturpolitischen Er- Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Interna- örterungen — neue Perspektiven von politi- tionale (1923—1940), war Braunthal vielfach scher Relevanz. ein engerer Weggenosse Adlers und berichtet Äußerst fruchtbar ist auch der bereits in der daher aus eigenem Erleben. Er korrigiert die Einleitung (S. 6) gebotene Hinweis auf den verbreitete Annahme, Adler habe die Wieder- bisher wenig beachteten oder als selbstverständ- aufrichtung Österreichs 1945 nicht begrüßt und lich hingenommenen Umstand, daß sich die ein Verbleiben Österreichs in einem vom Na- vermögenspolitischen Maßnahmen mit einer tionalsozialismus gereinigten Deutschland be- Fülle politisch gegensätzlichster Ziele kombi-

316 BUCHBESPRECHUNGEN nieren lassen: Vermögenspolitische Maßnah- Geldschöpfung als eigene dynamische Kraft" men können einerseits mit Sozialisierungsmaß- (S. 76) könnte zu Fehlschüssen verleiten: Ge- nahmen, andererseits aber auch mit Privatisie- rade Nell-Breuning hat die vermögenspolitische rungsaktionen kombiniert werden. Sie können Wirkung zusätzlichen Arbeitnehmersparens im der Durchkreuzung der gewerkschaftlichen Falle der Geldschöpfung untersucht. Lohnpolitik dienen, aber auch eine grundsätz- Verdienstvoll ist, daß von Loesch noch ein- lich andere Originärverteilung des Sozialpro- mal die These Littmanns von der „Zwangs- duktes bewirken. Hieraus erklärt sich auch die läufigkeit der einseitigen Vermögensbildung zu- grundsätzliche Einigkeit fast aller politisch re- gunsten der Unternehmer in der Marktwirt- levanten Gruppen, daß man vermögenspoli- schaft" skizziert. Die These ist zwar häufig zi- tisch wirksam werden müsse, aber auch die tiert, aber — vielleicht weil sie unbequem ist tiefgreifenden Differenzen in der Auffassung — kaum je einer ernsthaften Kritik unter- über den „richtigen" Weg dieser Vermögens- zogen worden, die leider auch von Loesch nicht politik. Mit Recht zieht von Loesch aus diesem bietet. Umstand die Konsequenz, daß die Rede, es komme nur darauf an, daß überhaupt etwas Wie immer dem sei: Schon diese wenigen getan werde, grundsätzlich unhaltbar sei: poli- Hinweise machen deutlich, wie fruchtbar die tisch entscheidend sei das „Wie". Auseinandersetzung mit dieser neuen Ver- Daß von Loesch in seiner Gegnerschaft ge- öffentlichung von Loeschs ist. In jedem Fall gen alle Pläne auch einige unhaltbare Argu- ragt sie, was das Niveau der Auseinanderset- mente reaktionärer Publizisten zitiert, scheint zung und die wissenschaftliche Absicherung an- überflüssig zu sein, zumal von dieser Seite — betrifft, weil über die Fülle der vermögens- auch der Absicht nach — kaum ernsthafte Ar- politischen Literatur hinaus. gumente vorgetragen werden können. Auch die Dr. Theo Thiemeyer seitenlange Wiedergabe der von Arndt und Schiller auf dem Dortmunder Tag der SPD 1963 vorgetragenen Referate — in Hinsicht auf die Bundestagswahlen wohl überwiegend JAN BODO S P E R L I N G um Konformität mit dem neoliberalen Gedan- kengut bemüht — erweist sich als wenig DIE ROURKELA-DEUTSCHEN fruchtbar: Thesen wie die, daß „eine hohe Mit einem Vorwort von Klaus Mehnert. Deutsche Ver- Selbstfinanzierung — ein notwendiges Mittel lags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1965. 246 S.,Ln. 14,80 DM. zu einem hohen Wachstum — zugleich ein Am Ende des vorliegenden Buches stellt der Mittel zur Angleichung der Einkommen" sei Autor die nur allzu berechtigte Frage, ob es (S. 84), lassen sich in der nüchternen Atmo- in Zukunft wohl gelingen werde, den Verant- sphäre nach der SPD-Wahlniederlage wohl wortlichen der Wirtschaft und des Staates die kaum mehr ernsthaft verteidigen. politische Bedeutung großer deutscher Entwick- In seiner Auseinandersetzung mit den ver- lungsvorhaben bewußt werden zu lassen, um schiedenen „Plänen" bringt von Loesch eine dadurch die nur zu oft irreparablen Schädi- Fülle wesentlicher Argumente. Seine Kritik an gungen des deutschen Ansehens in der Welt den Investivlohnplänen, den Prämiensparsy- zu vermeiden. Die Antwort hängt unter an- stemen, seine Einwände gegen das betriebliche derem davon ab, wieweit diese nützliche Un- Miteigentum und den Leber plan , der nichts tersuchung verbreitet und beachtet wird. Denn anderes als „Sozialpolitik auf überbetrieblicher Sperlings Bericht über die menschlichen Pro- Ebene" sei (S. 59), sind überzeugend. Dagegen bleme deutscher Monteure, Techniker und Ent- stellt er den Gleitze plan wohl zu knapp und wicklungshelfer bei der Errichtung eines Stahl- nicht genau genug dar. Loesch bezeichnet den werkes am Rande des indischen Dschungels, Gleitzeplan als eine Art „Steuer", was er ge- in dem noch Primitivstämme leben, ist bis heute rade nicht ist und nicht sein soll. Auch seine einzig in seiner Art. Kritik an Nell-Breunings These vom „Sparen Der Autor hat vier Jahre lang das „German ohne Konsumverzicht" (S. 67 ff.) trifft nicht Social Center" der Großbaustelle geleitet, sich den Kern der Sache. Wenn den Arbeitnehmern nach seiner Rückkehr intensiv mit der ein- zum Zwecke der Vermögensbildung über den schlägigen Literatur vertraut gemacht, bis hin — evtl. wachsenden — Konsumlohn hinaus zu unveröffentlichten Umfrageergebnissen. nicht konsumierbare Einkommensteile zum Man respektiert die Bescheidenheit des Autors, Zweck der Vermögensbildung zufließen, wird nicht einfach subjektive Erfahrungen in einem den Gewerkschaften nicht mehr Verantwortung spannenden Bericht zusammengeschrieben zu für die Währungsstabilität auferlegt wie bei haben, sondern Bestätigung, Erweiterung, Er- der traditionellen Lohnpolitik auch. Aufklä- klärung durch fremde Quellen gesucht zu rung der Mitglieder über volkswirtschaftliche haben. Die Arbeit wäre allerdings bedeutend Zusammenhänge der Kapitalbildung ist aller- lesbarer geworden, wenn sich der Verfasser die dings — auch unabhängig von den „Plänen" — Freiheit souveräner eigener Darstellung ge- unerläßlich. Auch der Hinweis, „Nell-Breu- nommen hätte, statt streckenweise zu viele nings Modell (sei) eine Wirtschaft ohne die Zitate aneinanderzureihen.

317 Daß Sperling ausgerechnet eine 1939 er- bewältigen. Sperling lehrt, daß bei künftigen schienene Auflage des bereits 1911 veröffent- Projekten genauere Vorabsprachen getroffen lichten und nach 1945 erneut verlegten Werkes werden, günstigere Arbeits- und Lebensbedin- „Geopsyche" von Willy Hellpach mehrmals als gungen geschaffen werden sollten. Die Aus- wissenschaftliche Quelle heranzieht, muß jeden wahl der Bewerber sollte mehr nach charak- politisch bewußten Leser erstaunen. Wer, von terlichen Qualitäten erfolgen. Besonders wich- Sperling angeregt, den Zusammenhang seiner tig sind sachkundige Vorbereitungslehrgänge, Hellpach-Zitate nachliest, findet Sätze, die uns die auch einige Sprachkenntnisse vermitteln. heute recht fragwürdig erscheinen, z. B.: Verständnis für das fremde Land sollte ge- „ . .. für die nordische Rasse (ist) das Trocken- weckt und damit auch größere Toleranz den klima artfremd." Oder „ ... je im Nordraum anderen Menschen und Sitten gegenüber. Erst eines Volkes sind die Wesenszüge der Nüchtern- das „Knowledge of cultural detail" ermöglicht heit, Gelassenheit, Herbheit, der Verstandes- gute menschliche Beziehungen. Der Autor und der konsequenten Willenseinstellung, der macht Vorschläge zur Freizeitgestaltung, Ein- Zähigkeit, Geduld und Strenge überwiegend, je richtung gemeinsamer Schulen mit den ein- im Südraum dagegen die Wesenszüge der Leb- heimischen Kindern, zur Mitnahme der Ehe- haftigkeit, Erregbarkeit, Leidenschaft, der Ge- frauen und zur besseren sozialen Betreuung. fühls- und Phantasiesphäre, des Triebhaften Das Buch steckt voller wissenswerter Details, und Gemütlichen". In einem Falle beschönigt die seine Grundkonzeption vielfach unter- der Autor durch auslassende Zitierweise eine mauern. Möge es ein Anstoß zu einem neuen heute nicht mehr vertretbare Kolonialtheorie Durchdenken unserer Entwicklungspolitik sein. (S. 184). Barbara Skriver Dennoch ist es ein mutiges Buch. Sperling bringt eine genaue, detaillierte und oft auch sprachlich plastische Analyse der soziologi- schen und psychischen Verhältnisse sowohl der FERDINAND Deutschen als auch der Inder, die auf engstem PRINZ VON DER LEYEN Raum zusammenarbeiten. Einige Themen seien genannt: Motive einer Anstellung im Aus- RÜCKBLICK ZUM MAUERWALD land wie Fluchtgründe, Abenteuerlust, finan- Vier Kriegsjahre im OKH. Verlag Biederstein, München zieller Anreiz; die enormen sozialen Unter- 1965. 184 S., Ln. 11,80 DM. schiede der Inder im Werk; die stereotypen Vorurteile der Deutschen, die durch unzuläng- Ferdinand Prinz von der Leyen war vom liche Information aus den Boulevardblättern Schicksal bestimmt, als Reserveoffizier vier entstanden sind; mangelnde Vorbereitung auf Jahre lang, von 1941 bis 1944, im Stabe des die neuen Gegebenheiten; die schwierige, meist Generalquartiermeisters Wagner — einem der nicht erfolgte Anpassung an das tropische Opfer des 20. Juli — also im OKH und in Klima und an indische Elendsverhältnisse; die mittelbarer Nähe Hitlers Dienst tun zu müs- in vielerlei Hinsicht ungewohnten Lebens- sen. Hitler selber hat er in diesen Jahren nur bedingungen am Ort; die Gründe für die Ab- ein einziges Mal kurz gesehen. Um so inten- sonderung im „Deutschen Klub" und für die siver aber hat er das Dritte Reich zu Gesicht Herausbildung eines Gruppenbewußtseins; bekommen. Daß er, der Freund Stauffenbergs, schließlich die Beziehungen zwischen Frustra- den 20. Juli trotz eines ganz persönlich gegen tions- und Aggressionsgefühlen. „Entwick- ihn gerichteten Haftbefehls Kaltenbrunners lungshilfe ist kein Liebeschenst" — die Rour- überstanden hat, verdankt er der helfenden kela-Deutschen sahen sich einer Mauer von Hand eines Freundes, der seine Akten „einem Feindseligkeiten gegenüber, deren Hinter- Bombenangriff zum Opfer fallen" ließ. gründe sie nicht verstanden. Sperling führt Die eigentliche Bedeutung der Erinnerungen z. B. den Begriff des Nationalismus sozial- an den „Mauerwald" (dies der Name des Rie- psychologisch breit aus; ich vermißte jedoch senkomplexes des OKH in Ostpreußen, rings eine eingehendere ökonomisch-historische Deu- um Hitlers sogenannte „Wolfsschanze") liegt tung, die im Falle Indien besonders naheliegt. darin, daß der Verfasser seine Beobachtungen Am meisten hervorzuheben aber ist der aus Deutschland, Frankreich, Rußland, Jugo- Versuch des Verfassers, praktikable Folgerun- slawien, Polen, Ungarn und Italien nicht nie- gen zu ziehen aus dem bewußten, offenen Er- derschreibt, um anschließend die heutige mili- leben dieses in solchem Umfange ersten west- tärische Entwicklung der Bundesrepublik etwa deutschen Gemeinschaftsprojekts mit einem lebhaft zu begrüßen. Ganz im Gegenteil. Entwicklungsland. Gewaltige technische und In seiner Einleitung schreibt der Verfasser,, wissenschaftliche Leistungen allein genügen er sei, trotz der akzentuiert antinazistischen heute nicht mehr, unüberlegt investierte Mil- Einstellung seines Hauses, 1935 Reserveoffizier liardenbeträge müssen sich in der Zukunft geworden in der Meinung, die er mit vielen nicht immer vorteilhaft auswirken. Die dabei teilte, man könne damit „dem Deutschland auftauchenden kulturellen und gesellschaft- dienen, das man liebte. Und doch unterlagen lichen Probleme sind vielleicht schwieriger zu Menschen wie ich damals einem grundlegen-

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den Irrtum: wir überschätzten das geistige und Arroganz der damaligen Zeit" losbricht, zu charakterliche Kapital des Berufssoldaten". So Erfolg gelangen. Und dann? Am Beispiel vermochte kaum einer das ganze Ausmaß der Dönitz und der „grotesken Irrealität seines vollständigen Kapitulation vor Hitler zu ah- politischen Weltbildes" demonstriert er seine nen, sowenig wie den sich in unbekanntem Alltagserfahrung. Maße entfesselnden Karriereehrgeiz des von Hitler für den geplanten Krieg dressierten Es ist viel Neues aus diesen Erinnerungen Offizierkorps. Von der Ausnahme der Offi- zu erschließen, z. B. über die Tragödie von ziersgruppen, die den 20. Juli mit dem Leben Stalingrad (während die SS den gesicherten bezahlt haben, und die etwas anderes als Kar- Transport ihrer Bordelle verlangte!) aus der riere und Stillschweigen kannten, schreibt der Sicht der Psychologie von Zeitzier, Manstein Verfasser: „Das Thema wird, besonders in und Paulus. „Stalingrad ist das Musterbeispiel soldatischen Kreisen, noch immer mit Scheu be- für die Fragwürdigkeit absoluten militärischen handelt", es stößt, wie „die Prozesse, aus de- Gehorsams geworden." Der Verfasser knüpft nen das Grauen der ,Endlösung' sichtbar wird, daran Betrachtungen über die Relativität des auf Teilnahmslosigkeit oder innere Abwehr." Fahneneides, die wir bis heute in der Litera- Der Verfasser sieht, als die drohende Folge tur noch nicht gefunden haben — und der ka- von Schuld und Indifferenz, neue Schuld und tholische Fürst bekennt das folgenreiche Ver- neue Indifferenz. Er will seine Erinnerungen sagen und Schweigen der Kirche in dieser genau in diesem Sinne verstanden wissen: als Frage. die Erinnerungen eines „Menschen, der Hitler Stets sind die Argumentationen des Verfas- haßte, aber ein guter Deutscher sein wollte — sers das Ergebnis persönlicher Erfahrung, sei es, ein fast unlösbares Problem". um nur wenige Beispiele zu nennen, mit dem „Die Ahnungslosigkeit auf politischem Ge- Rommel- Mörder General Burgdorf, mit Ge- biet, insbesondere was die Entwicklung in Hit- stalten des 20. Juli, mit dem Ribbentrop -Bot- lers Deutschland betraf, war erschreckend." schafter Abetz in Paris, mit General Reinecke, Dies ist die erste und wichtigste Einsicht des jener üblen Figur, die ihn verhört hat und die Verfassers, als er im OKH anfängt. Und da- auf jedem Prozeßbild des Volkgsgerichts ne- mit sind auch für ihn die ebenso erschrecken- ben Freisler zu sehen ist. den „geistigen Grenzen der Zivilcourage" beim Die Vernichtung der Akten Kaltenbrunners Gros der gold-rot-betreßten Gefolgschaft Hit- und Himmlers abstruser sogenannter Prinzen- lers im OKH gegeben, die er scharf beob- Erlaß, der alle Angehörigen des Hochadels achtet und analysiert. Er scheut keineswegs ge- „unehrenhaft" aus dem Heer ausstieß (Himm- zielte Gespräche und nimmt das persönliche ler plante für später einen Gesamtmord am Risiko solchen Unterfangens bewußt auf sich; Hochadel), haben es gefügt, daß Prinz von der er überliefert die Antworten der „gerade bei Leyen ganz kurz vor der Kapitulation nach höheren Militärs weitverbreiteten politischen Hause gehen konnte. Seine letzte Forderung: Naivität". Das Ergebnis ist die Feststellung, „Die Gespenster sind verstummt. Wir aber, die sich in einer termitengleichen Funktionärs- wir ihre Stimmen kennen, dürfen nicht ver- hierarchie zu befinden, die nicht nur denkfaul stummen, weil wir einmal zu lange geschwie- ist, sondern für die Denken ein dienstliches gen haben." Dr. Hans Kühner Vergehen bedeutet. Geradezu fürchterlich wird dies dem Ver- fasser deutlich, als er in Polen auf einer sei- ner Versorgungsfahrten zum ersten Male mit den mordenden SS-Horden in Berührung kommt und die stillschweigenden Generäle und Feldmarschälle beobachtet. Nur mit Stauffen- berg und dem später gehenkten Obersten i. G. Finkh hat er die „Sicherheit des freien Wor- tes". Er ist kein Politiker, hat aber einen von Haus aus klaren Blick für die politischen Kon- sequenzen, die aus der inneren Konstitution des ihn umgebenden OKH resultieren muß- ten. Er will im Grunde nicht für sich schrei- ben, sondern Gesetze der Logik aufzeigen; er unternimmt den — aussichtslosen? — Versuch, das heutige Deutschland aus den entsprechen- den Ergebnissen menschliche, nicht noch ein- mal militärische Konsequenzen ziehen zu las- sen. Er sieht als Folge einer nicht überwun- denen Grundeinstellung, wie „Politiker, in de- nen heute wieder die geistige Frechheit und

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