Aufsatz

Harald Moldenhauer

Die Reorganisation der Roten Armee von der »Großen Säuberung« bis zum deutschen Angriff auf die UdSSR (1938-1941)1

Die Vorgeschichte des »Großen Vaterländischen Krieges« der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich (1941-1945) kann auch nach dem Ende der UdSSR nur unter Vorbehalten geschrieben werden, weil ein freier Zugang zu den Archiven der Russischen Föderation nicht gewährleistet ist2. Die militärpolitischen Intentionen der Stalinschen Führung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lassen sich deshalb oft nur anhaltsweise rekonstruieren, wohingegen die Planung des deutschen Rußlandfeldzuges nachweislich nicht präventiv angelegt war3. Die aktuelle »Präventivkriegsdiskussion« kreist deshalb vorrangig um die Problematik so- wjetischer Angriffsabsichten, die nach der Meinung einiger Historiker minde- stens parallel zu den deutschen Angriffsvorbereitungen betrieben worden seien4. Um so wichtiger erscheint die kritische Aufklärung der sowjetischen Militärpoli- tik anhand der heute verfügbaren Quellen.

1 Der vorliegende Aufsatz, die verbesserte Kurzfassung meiner im Juni 1994 an der Uni- versität Bonn eingereichten Magisterarbeit, ist meinem verstorbenen akademischen Lehrer, Prof. Dr. Alexander Fischer, in tiefer Dankbarkeit gewidmet. 2 Die maßgeblichen Dokumente der politischen Entscheidungsebene — Generalsekreta- riat, Politbüro des ZK der Vsesojuznaja Kommunis tiseskaja Partija (bol'sevikov), VKP(b) — lagern im Präsidenten-Archiv der Russischen Föderation und sind kaum zugänglich. So beschränken sich die Dokumenty vnesnej politiki [Dokumente der Außenpolitik], Bd 22: 1939 god, Moskva 1992 und Bd 23: 1940-22 ijunja 1941, Moskva 1995 auf die der sowjetischen Führungsspitze untergeordnete Ebene des Volkskom- missariats für Auswärtige Angelegenheiten (MID). 3 Zuletzt hat Rainer F. Schmidt, Eine verfehlte Strategie für alle Fälle, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 45 (1994), S. 368-379, auf diese Quellenproblematik hin- gewiesen. Siehe auch Der Angriff auf die Sowjetunion, von [u.a.] Frankfurt a.M. 1991 (= aktual. Ausg. von: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4), S. 27-68 und S. 246-269 sowie Jürgen Förster, Hitlers Wendung nach Osten. Die deut- sche Kriegspolitik 1940-1941, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum Unternehmen Barbarossa^ hrsg. von , München 1991, S. 113-132. 4 Zuletzt Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg, München 1995; Walter Post, Unternehmen Barbarossa, Hamburg, , Bonn 1995 und Werner Maser, Der Wort- bruch, München 1994. Die Präventivkriegsthese stellt eine Minderheitenposition in- nerhalb der Geschichtswissenschaft dar (Dieter Pohl, Rückblick auf das »Unterneh- men Barbarossa«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Η. 1 (1994), S. 81 f.). Vor allem Gabriel Gorodetsky hat die »Legende vom deutschen Präventivschlag« zurück- gewiesen, vgl. ders., Stalin und Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, in: Vierteljahrshef- te für Zeitgeschichte, 37 (1989), S. 645-672 sowie in: Zwei Wege (wie Anm. 3), S. 347-366. Seit 1992 beteiligen sich auch russische Historiker an dieser Auseinander- setzung. Vgl. den Bericht über die internationale Tagung zum Thema »Kriegsanfang und Sowjetunion, 1939-1941« vom 31.1. bis zum 3.2.1995 in St. Petersburg, in: Novaja i novesaja istorija [Neue und Neueste Geschichte, nachfolgend: Nini], Nr. 4 (1995), S. 100-104. Zur innerrussischen Kontroverse siehe Gotovil Ii Stalin nastupatel'nuju voj- nu protiv Gitlera? [Hat sich Stalin auf einen Angriffskrieg gegen Hitler vorbereitet?], unter der Red. von Genadij A. Bordjugov, Moskva 1995.

Militärgeschichtliche Mitteilungen 55 (1996), S. 131-164 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 132 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

Die Reformpolitik Michail S. Gorbacevs hat immerhin unter dem Signum Glasnost die Veröffentlichung neuen Quellenmaterials ermöglicht: zunächst von Memoiren und Interviews hochrangiger Militärs5, dann auch von Archivalien der KPdSU6 und des Verteidigungsministeriums7. Die Archivalien sind jedoch in der tendenziösen Absicht ausgewählt worden, die militärische und politische Vorbereitung der UdSSR »auf die Abwehr eines Angriffs« zu untermauern8. Seit dem Ende der UdSSR hat eine parteiunabhängige russische Militärhistoriogra- phie weitere Dokumente aufgearbeitet und zugänglich gemacht9. Dazu gehört insbesondere die Rede Stalins vor den Absolventen der Militärakademien am 5. Mai 1941 im Kreml, wo der sowjetische Führer (vozd) die »Umgestaltung« (perestrojka) bzw. — im weiteren Sinne — die »Reorganisation« der Roten Ar- mee in den zurückliegenden drei bis vier Jahren als erfolgreich darstellte10. Im Ganzen dokumentiert dieses neue Quellenmaterial eine Vielfalt an Maßnahmen, mit denen die sowjetische Führung die Aufrüstung und Modernisierung ihrer Streitkräfte bis unmittelbar vor dem deutschen Angriff zu regulieren suchte. Es stellt sich daher die Frage, was die Führung der UdSSR im einzelnen bewogen hat, kontinuierlich Einfluß auf das sowjetische Militärwesen zu nehmen und wie sich diese Einflußnahme auf die Wehrkraft der kriegsentscheidenden Land- und Luftstreitkräfte11 bis zum 22. Juni 1941 auswirkte.

5 U.a. die Aufzeichnungen des sowjetischen Schriftstellers Simonov über Gespräche, die er in den 50er und 60er Jahren mit G-K. Zukov, I.S. Konev und A.M. Vasilevskij geführt hat: Konstantin Simonow, Aus der Sicht meiner Generation, Berlin 1990; die nach dem Manuskript des Autors ergänzten Memoiren G.K. Zukovs, Vospominanija i razmysle- nija [Gedanken und Erinnerungen], Bd 1, Moskva 1990; die in den 60er Jahren verfaß- ten Erinnerungen M.V. Zacharovs, General'nyj stab ν predvoennye gody [Der General- stab in den Vorkriegsjahren], Moskva 1989. 6 Vgl. die Quellenedition »Iz Istorii Velikoj Otecestvennoj Vojny« [Aus der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges] mit Dokumenten-Auszügen zum »Vorabend des Krieges« (1935 bis 1940), in: Izvestija CK KPSS [Mitteilungen des ZK der KPdSU], Nr. 1 (1990), S. 160-209 und die Fortsetzung der Edition für die Zeit bis zum deutschen An- griff am 22.6.1941 in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 180-216; Nr. 3 (1990), S. 192-223 und Nr. 5 (1990), S. 180-206. 7 Vgl. die Dokumentation unter dem bezeichnenden Titel Gotovil Ii SSSR preventivnyj udar? [Hat sich die UdSSR auf einen Präventivschlag vorbereitet?], in: Voenno istoriceskij zurnal [Militärhistorische Zeitschrift, Viz], Nr. 1 (1992), S. 7-29. 8 Vgl. das editorische Vorwort der Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 161 bzw. im Viz, Nr. 1 (1992), S. 7. 9 Vgl. den von Jurij A. Gor'kov kommentierten Bericht des Volkskommissars für Vertei- digung, K.E. Vorosilov, Uroki vojny s Finljandiej [Lehren des Krieges mit Finnland], in: Nini, Nr. 4 (1993), S. 100-122 und die Aufarbeitung der im Dezember 1940 in Moskau abgehaltenen Kommandeurtagung von P. N. Bobylev, Repeticja katastrofy [Wiederho- lung der Katastrophe], in: Viz, Nr. 6 (1993), S. 10-16; Nr. 7 (1993), S. 14-21 und Nr. 8 (1993), S. 28-35. 10 Die Rede Stalins am 5.5.1941, dokumentiert und interpretiert von Lew Besymenski, in: Osteuropa, 42 (1992), S. 242-264; verifiziert durch die russische Edition mit genauer Quellenangabe, unter dem Titel »Sovremennaja armija — armija nastupatel'naja« [Die heutige Armee ist eine Angriffsarmee], vorgestellt von A.A. Pecenkin, in: Istoriceskij archiv [Historisches Archiv], Nr. 2 (1995), S. 23-31. In beiden Fällen handelt es sich laut Pecenkin (S. 25) um eine Aufzeichnung (zapis) der Rede und der drei Trinksprüche Stalins durch einen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums (K. Semenov). 11 Zur Marine siehe J.N. Westwood, Russian Naval Construction, 1905-1945, Houndmills [u.a.] 1994. Aufschlußreich sind die Erinnerungen des Volkskommissars für die See- kriegsflotte (VMF), Nikolaj I. Kuznecov, Nakanune, Moskva 1969 (dt.: Am Vorabend, Berlin 1970); als Ergänzung und Korrektiv siehe Kuznecovs unveröffentlichte Auf- Die Reorganisation der Roten Armee 133

Am Anfang der Untersuchung steht die Frage nach der zentralen militärpo- litischen Führung der UdSSR, d.h. nach den Organen, die zur politischen und /oder militärischen Leitung der Roten Armee autorisiert waren. Die diktato- rische Führung Stalins und die politisch-ideologische Prägung der »Roten Arbei- ter- und Bauernarmee« (RKKA) rechtfertigen den Begriff militärpolitische Führung, insoweit das zentrale Leitungssystem der Roten Armee als Gesamtheit gemeint ist. Im zweiten Kapitel wird die Kaderpolitik dieser Führung analysiert. Als Kader werden im sowjetischen Militärwesen alle im regulären Wehrdienst stehenden Personen bezeichnet, wobei zwischen (politisch) leitenden und kom- mandierenden Kadern einerseits und den Mannschaften andererseits zu unter- scheiden ist. Der dritte Abschnitt behandelt die militärtechnischen Seiten der Ar- mee-Reorganisation: die Umstrukturierung und Umrüstung der Teilstreitkräfte. Im vierten Kapitel wird der Aufbau neuer grenznaher »Befestigter Räume« und die Erschließung des Hinterlandes im Anschluß an die sowjetische Westexpansi- on 1939/40 problematisiert. Abschließend soll der Reorganisationsprozeß in die operativ-strategische Planung der militärpolitischen Führung eingeordnet und im Hinblick auf die Frage bewertet werden, ob Stalin im Jahre 1941 einen An- griffskrieg gegen das Deutsche Reich führen wollte. Seit der Pionierarbeit John Ericksons vor über 30 Jahren12 unterblieb eine wei- tere das Thema umfassende Analyse. Beiderseits des »Eisernen Vorhangs« er- schienen Studien, die einzelne Aspekte der Armee-Reorganisation vertieften13. Dies gilt auch für die in jüngster Zeit veröffentlichten Arbeiten, die auf zusätzli- che sowjetische Quellen zurückgreifen konnten14.

I. Die Reorganisation der militärpolitischen Führungsorgane der UdSSR

Das Volkskommissariat für Verteidigung (NKO) vereinigte die administrative und operativ-strategische Führung aller Teilstreitkräfte, bis die Seekriegsflotte

Zeichnungen: »Krutye povoroty« [Schroffe Wendungen], in: Viz, Nr. 12 (1992), S. 38-45, Nr. 1 (1993), S. 40-49, Nr. 2, S. 23-32, Nr. 3, S. 52-61, Nr. 4, S. 44-52, Nr. 6, S. 72-80 und Nr. 7 (1993), S. 47-54. 12 John Erickson, The Soviet High Command, London 1962; ders., The Road to Stalin- grad, London 1975, S. 13-81. 13 Zum Parteiaufbau in den sowjetischen Streitkräften siehe Timothy J. Colton, Commis- sars, Commanders, and Civilian Authority, Cambridge, Mass., London 1979; zur tech- nischen Entwicklung der Waffengattungen Mikhail Tsypkin, The Origins of Soviet Mil- itary Research and Development System (1917-1941), Diss. Ann Arbor 1986; zur Grenzsicherung: A. Char'kov, Ukreprajony nakanune vojny [Die Befestigten Gebiete am Vorabend des Krieges], in: Viz, Nr. 5 (1976), S. 88-92. 14 Roger Reese, Α Social and Organizational History of the Red Army, 1925-1941, Diss. Austin 1990; Valerij D. Danilov, Sovetskoe Glavnoe Komandovanie ν preddverii Veli- koj Otecestvennoj Vojny [Das sowjetische Oberkommando an der Schwelle des Gro- ßen Vaterländischen Krieges], in: Nini, Nr. 6 (1988), S. 3-20; Jurij A. Gor'kov, Gotovil Ii Stalin uprezdajuscij udar protiv Gitlera ν 1941 g. [Hat Stalin im Jahre 1941 einen Über- raschungsangriff gegen Hitler vorbereitet ?], in: Nini, Nr. 3 (1993), S. 29-39; Oleg F. Su- venirov, Narkomat Oborony i NKVD ν predvoennye gody [Das Verteidigungskom- 134 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer am 30. Dezember 1937 dem neu geschaffenen Volkskommissariat der Marine un- terstellt wurde15. Seit 1925 übte Kliment E. Vorosilov das Amt des Verteidigungs- kommissars als Mitglied des Politbüros und treuer Gefolgsmann Stalins aus16. Der Volkskommissar hat an der »Großen Säuberung« der sowjetischen Gesell- schaft in den Jahren 1937/38, insoweit diese das Militär betraf, aktiv teilgenom- men17, allerdings wohl mehr aus Furcht vor dem Exekutionsorgan der »Säuberun- gen«, dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) unter Niko- laj I. Ezov18. Vorosilovs am 28. November 1938 vor dem Hauptmilitärrat gezoge- ne Bilanz fiel zwar positiv aus: »[...] wir haben mehr als 40 000 Personen gesäubert [...] wir können jetzt aus Uberzeugung sagen, daß unsere Reihen stark sind [,..]«19. In persönlichen Notizen hielt Vorosilov dagegen schon im Juni 1937 fest, daß »das ganze System der Armeeleitung und meine Arbeit als Volkskom- missar einen niederschmetternden Zusammenbruch erlitten haben«20. Die politi- sche Kontrolle ging im Zuge der massenhaften Uberprüfung und Verhaftung von Militärpersonen aller Dienstgrade faktisch vom NKO auf das NKVD über, bis schließlich am 13. Januar 1939 ein gemeinsamer Befehl der beiden Volkskom- missariate die willkürliche Einmischung der militärischen Staatsicherheitsabtei- lungen in Personalfragen beendete21. Zu Beginn des europäischen Krieges (Oktober 1939) wurden die Leitungs- funktionen des NKO in der neu eingerichteten »Hauptverwaltung der RKKA« konzentriert22. Diese Zentralbehörde wurde schon ein halbes Jahr später infolge des Debakels der Roten Armee im sowjetisch-finnischen »Winterkrieg« 1939/40 aufgelöst. Vorosilov, dem Stalin offenkundig die Schuld daran zuschob23, mußte die Leitung des Verteidigungskommissariats an Semen K. Timosenko abgeben. Dieser hatte die kriegsentscheidende Schlußoffensive gegen Finnland befehligt24. Bei der Ernennung Timosenkos am 7. Mai 194025 rügte der interne Revisionsbe- richt, der »Übernahmeakt«, die Verwaltungsstruktur des Volkskommissariats als unzweckmäßig26. Das NKO habe die Aufrüstung und Modernisierung der Roten

missariat und der NKVD in den Vorkriegsjahren], in: Voprosy istorii [Fragen der Ge- schichte, VI], Nr. 6 (1991), S. 26-35. is Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 369 f. und S. 475; V.A. Cikulin, Istorija gosudarstvennych ucrezdenij SSSR [Geschichte der staatlichen Institutionen der UdSSR] 1936-1965 gg., Moskva 1966, S. 196 f. 16 Roj A. Medvedev, Oni okruzali Stalina [Sie umgaben Stalin], Moskva 1990, S. 234-252; Dmitri Wolkogonow, Stalin, 2. Aufl., Düsseldorf 1990, S. 353-355. 17 Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 355-358 mit Quellenauszügen. 18 Suvenirov, Narkomat Oborony (wie Anm. 14), S. 28 f.,das Zitat auf S. 29. 19 »Delo ο tak nazyvaemoj >antisovetskoj trockistskoj voennoj organizacii<« [Der Fall der sogenannten »antisowjetischen trockistischen Militärorganisation«], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 4 (1989), S. 59. 20 Suvenirov, Narkomat Oborony (wie Anm. 14), S. 29. 21 Ebd., S. 33 f. 22 Danilov, Sovetskoe Glavnoe Komandovanie (wie Anm. 14), S. 12. 23 Aus dem Vortrag Vorosilovs am 28.3.1940 vor dem ZK der VKP(b) geht hervor, daß Stalin den Feldzug persönlich leitete; Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 490-492. 24 Peter Gosztony, Die Rote Armee, Wien 1980, S. 182-185. 25 »Pravda« vom 8.5.1940, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 196; 26 »Akt ο prieme Narkomata Oborony Sojuza SSR tov. Timosenko S.K. ot Vorosilova K.E.« [Akt der Übernahme des Verteidigungskommissariates der UdSSR durch den Gen. S.K. Timosenko von K.E. Vorosilov], in: Viz, Nr. 1 (1992), S. 7 f.; vgl. dagegen die parteiinterne Version der Quelle mit z.T. wesentlichen Kürzungen in: Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 193 f. Die Reorganisation der Roten Armee 135

Armee in den letzten Jahren nicht zu regulieren verstanden27. Die »34 selbständi- gen Verwaltungen und Abteilungen« der Waffengattungen und Dienste des Ver- teidigungskommissariates sollten deshalb in neuen Hauptverwaltungen unter jeweils zentraler Leitung zusammengefaßt werden28. Die Führung sämtlicher NKO-Verwaltungen wurde nochmals im März 1941 auf den Volkskommissar für Verteidigung und dessen sieben Stellvertreter umverteilt29. Während dieser kon- tinuierliche Reorganisationsprozeß die Leistungsfähigkeit des NKO »am Vor- abend« des deutsch-sowjetischen Krieges in Frage stellte, blieb die formale Stel- lung des Verteidigungskommissars als Oberkommandierender der Roten Armee solange unverändert , bis Stalin am 10. Juli 1941 in höchster Not das Oberkom- mando übernahm31. Daß auch das Hauptquartier des Oberkommandos (stavka) erst einen Tag nach Kriegsausbruch eingerichtet wurde, läßt die Kampfbereit- schaft der sowjetischen Führung, insbesondere Stalins, am 22. Juni 1941 als eher gering erscheinen32. Neben dem NKO etablierte sich im März 1938 der Hauptmilitärrat der Roten Armee33, nachdem der Militärrat beim Volkskommissar für Verteidigung, dem die höchsten und bedeutendsten Militärs angehörten, durch die »Säuberung« dezi- miert worden war34. Dem neuen Gremium gehörten laut dem geheimen Beschluß des ZK der VKP(b) und des Rates der Volkskommissare vom 24. Juli 1940 an35: der Verteidigungskommissar Timosenko (Vorsitzender), die ZK-Sekretäre Andrej. A. Zdanov und Georgij. M. Malenkov, der Leiter der Artillerie-Hauptverwaltung im NKO, Grigorij. I. Kulik, der Generalstabschef, Boris M. Saposnikov, die Militärbe- zirkskommandeure Semen M. Budennyj (Moskau), Kirill A. Mereckov (Lenin- grad), Georgij K. Zukov (Kiev) und Dmitrij G. Pavlov (West), der Chef der Politi- schen Verwaltung der RKKA, Lev Ζ. Mechlis, und der Oberkommandierende der Luftstreitkräfte, Jakov I. Smuskevic. Die Teilnahme Stalins ist vielfach belegt36. Die operativ-strategische Leitung des Finnlandfeldzuges lag bezeichnender- weise bei der stavka des Hauptmilitärrates, der anschließend (April 1940) auch die Erfahrungen des mißglückten Feldzuges auswertete37. Dieses Beispiel wider-

27 Vgl. »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 8-16 bzw. S. 193-209. 28 Auf Befehl des NKO vom 26.7.1940; »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 8 (Zitat); L.G. Ivasov, Oborona strany i zakon [Landesverteidigung und Gesetz], in: Viz, Nr. 8 (1992), S. 12 f. 29 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 320 f. 3° Albert Seaton, Stalin as Warlord, London 1976, S. 100-107. 31 Nach Angaben des damaligen Generalstabschefs, G.K. Zukov im Gespräch mit Simo- now, Aus der Sicht (wie Anm. 5), S. 358 f. 32 Klaus Segbers, Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, München 1987, S. 49-56. 33 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 476 f. 34 Von 85 regulären Mitgliedern wurden 68 erschossen und 8 weitere verhaftet; »Sostav Voennogo Soveta pri Narkome Oborony SSSR (fevral' 1936)« [Bestand des Militärrates bei dem Verteidigungskommissar der UdSSR (Februar 1936)], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 4 (1989), S. 74-80. 35 »O sostave Glavnogo Voennogo Soveta, postanovlenie CK VKP(b) i SNK SSSR, 24 ijulja 1940 g.« [Über den Bestand des Hauptmilitärrates, Beschluß des ZK der VKP(b) und des SNK der UdSSR vom 24. Juli 1940], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 183. 36 Sovetskaja Voennaja Enciklopedija [Sowjetische Militärenzyklopädie], Bd 2, Moskva 1976, S. 566 f.; Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 320; Simonow, Aus der Sicht (wie Anm. 5), S. 427. 37 Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 490-492; Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 182-186. 136 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer spricht der Ansicht, daß der Hauptmilitärrat an der strategischen Führung der Roten Armee nicht beteiligt gewesen sei38. Vielmehr unterstreicht der Aufgaben- bereich des Rates, insbesondere »die Prüfung grundlegender Fragen des Auf- baus und der Organisation der Land- und Luftstreitkräfte«39, seine herausragen- de Bedeutung als militärpolitisches Führungsorgan neben dem NKO. Die Gründung des Verteidigungskomitees beim Rat der Volkskommissare der UdSSR am 27. April 1937 auf Beschluß des ZK der VKP(b)40 stand wahr- scheinlich im Zusammenhang mit der Auflösung des Rates für Arbeit und Ver- teidigung, der bis zur »Großen Säuberung« die Industrialisierung und Aufrü- stung der Sowjetunion gelenkt hatte41. Die Funktion, Organisation und der Mit- gliederbestand des neuen Komitees wurden anscheinend erst unter dem Ein- druck der zunehmenden Gefahr eines Krieges mit Deutschland durch den Partei- und Regierungsbeschluß vom 9. April 1941 verbindlich festgelegt42. Die Mitglieder des Komitees waren demnach Vorosilov (Vorsitzender)i Stalin, der Vorsitzende des Hauptmilitärrates der Seekriegsflotte, Andrej A. Zdanov, der Volkskommissar für die Marine, Nikolaj G. Kuznecov, und der Verteidigungs- kommissar Timosenko. Zum Aufgabenbereich des Verteidigungskomitees gehörten: »a) die Aufnahme neuer Kriegstechnik in die Bewaffnung [...], b) die Prüfung militärischer Aufträge und c) die Ausarbeitung von Mobilisierungs- plänen«. Es handelt sich hierbei also um ein militärpolitisches Führungsgremi- um, das in erster Linie über den kriegstechnischen Bedarf der Streitkräfte ent- schieden und auch die übergeordnete Mobilisierungsplanung wahrgenommen hat. Der im September 1935 als Generalstab aufgewertete Stab der Roten Armee war ein »richtungsweisendes Verwaltungs- und Führungsorgan der Streitkräf- te«43, das unter dem Befehl des Verteidigungskommissars stand44. Der Aufga- benbereich des Generalstabes umfaßte die zentrale Planung und Organisation der Armee im weitesten Sinne45. Eine im Jahre 1936 ausgearbeitete Dienstord- nung46 fiel wahrscheinlich der »Großen Säuberung« zum Opfer. Dem General- stabschef, Aleksandr I. Egorov, kostete im Dezember 1937 eine Denunziation sei- nes Kollegen, des stellvertretenden Verteidigungskommissars Efim A. Scadenko, das Leben47. Erst im Jahre 1939 erhielt die Arbeit des Generalstabes ein stärkeres

38 Danilov, Sovetskoe Glavnoe Komandovanie (wie Anm. 14), S. 9 f. 39 Ebd., S. 10; Sovetskaja Voennaja Enciklopedija (wie Anm. 36), Bd 2, S. 567. 40 Sovetskaja Voennaja Enciklopedija (wie Anm. 36), Bd 4 (1977), S. 266. 41 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 305 f. 42 »O Komitete Oborony, postanovlenie CK VKP(b) i SNK SSSR , 9 aprelja 1941g.« [Über das Verteidigungskomitee, Beschluß des ZK der VKP(b) und des SNK der UdSSR vom 9. April 1941], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 203. 43 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 124. 44 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 369-372. 45 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 118. 46 Die >Säuberung< selbst verschweigt Zacharov, ebd., S. 117-120. 47 »Spravka ο proverke obvinenij predjavlennych ν 1937 godu sudebnymi i partijnymi organami tt. Tuchacevskomu, Jakiru, Uborevicu i drugim voennym dejateljam ν izme- ne Rodine, terrore i voennom zagovore« [Untersuchungsbericht zu der Uberprüfung von Anklagen des Vaterlandsverrates, Terrors und einer Militärverschwörung, die von Gerichts- und Parteiorganen 1937 gegen die Gen. Tuchacevskij, Jakir, Uborevic und andere Militärs erhoben wurden], in: Viz, Nr. 3 (1993), S. 25 f. Die Reorganisation der Roten Armee 137

Gewicht und Profil. Nach einem Grundsatzbeschluß des Hauptmilitärrates vom Juni 1939 wurde im Oktober die Operative Abteilung des Generalstabes zu einer Verwaltung und mithin die operative Planung generell aufgewertet48. Unter dem Eindruck des »Winterkrieges« gegen Finnland im besonderen und der sowjeti- schen Expansion nach Westen im allgemeinen 1939/40 mußte das Verteidi- gungskommissariat die Aufgaben der aufgelösten Hauptverwaltung der RKKA und die Verwaltung für die militärische Aufklärung an den Generalstab abge- ben. Stalin ließ am 19. August 1940 den Generalstabschef Saposnikov durch des- sen Stellvertreter Mereckov ablösen und dem ersteren die Inspektion über den Neuaufbau des militärischen Hinterlandes im Westen der UdSSR übertragen49. Damit erreichte der Generalstab seine »weiteste Entwicklung von Struktur und Funktionen« vor dem deutsch-sowjetischen Krieg, hatte aber wieder ein hohes Maß an Leitungsfunktionen und einen Führungswechsel zu verkraften50. Des weiteren ersetzte Stalin bereits am 1. Februar 1941 den gerade amtierenden Ge- neralstabschef Mereckov durch Zukov, weil dieser sich bei Stabsübungen, die ei- nen westlichen Angriff auf die Sowjetunion simulierten, profiliert hatte51. Die Politische Verwaltung der Roten Armee (PURIGCA), die seit Mitte der 20er Jahre das Parteiorgan für die politische Kontrolle und Erziehung in der Ro- ten Armee war, leitete die Arbeit der Militärräte, Kommissare und Politruks52. Mit Beginn der »Großen Säuberung« traten diese Politoffiziere wie in der Bür- gerkriegszeit als gleichberechtigte politische Kommandeure an die Seite der Mi- litärs53. Zur gleichen Zeit lief eine radikale »Säuberung« von der Führungsspitze her an. Der langjährige PURRKA-Chef, Jan B. Gamarnik, kam seiner Verhaftung durch Selbstmord am 31. Mai 1937 zuvor54. Am 30. Dezember 1937 übernahm schließlich Mechlis, bis zu der Zeit der persönliche Sekretär Stalins, die Amts- führung55. Stalin und das ZK stellten diesem die Aufgabe, »den parteipolitischen Apparat und die ganze Rote Armee zu bolschewisieren«56, was praktisch bedeu- tete, den politischen Kampf der Bürgerkriegszeit gegen »Spione, Saboteure und Schädlinge« wiederaufzunehmen57. Mechlis reiste durch die UdSSR, um seinen Auftrag mit zynischer und maßloser Konsequenz zu erfüllen58.

48 Danilov, Sovetskoe Glavnoe Komandovanie (wie Anm. 14), S. 11 f. « Simonow, Aus der Sicht (wie Anm. 5), S. 453 f.; Seaton, Stalin (wie Anm. 30), S. 92. 50 Danilov, Sovetskoe Glavnoe Komandovanie (wie Anm. 14), S. 12 f., das Zitat auf S. 13. 51 Simonow, Aus der Sicht (wie Anm. 5), S. 350 f. und S. 454. 52 Colton, Commissars (wie Anm. 13) S. 9-14,23 f., 27 f. und 30 f. 53 Ebd., S. 478 f.; siehe die Verordnungen, in: Die Sowjetunion, Bd 1, hrsg. von Helmut Altrichter, München 1986, S. 305-308. 54 »Delo ο tak nazyvaemoj« (wie Anm. 19), S. 52. 55 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 472; »Kto vozglavljal politorgany vooruzennych sil« [Wer die Politorgane der Streitkräfte führte], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 8 (1991), S. 149. 56 Diese Aufgabe vermerkt Mechlis in seinem Rechenschaftsbericht an den ZK-Sekretär A.A. Zdanov »O rabote Politiceskogo Upravlenja Krasnoj Armii« [Uber die Arbeit der Politischen Verwaltung der Roten Armee] vom 23. Mai 1940, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 3 (1990), S. 192 f. Stalin hatte auf dem ZK-Plenum im Januar 1938 eine gleichlau- tende Forderung erhoben; Roman Kolkowicz, The Soviet Military and the Communist Party, Princeton, N.J. 1967, S. 58 f. 57 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 479. 58 Ju. V. Rubcov, »Unictozat' kak besenych sobak« [Wie tollwütige Hunde totschlagen], in: Viz, Nr. 4 (1994), S. 76-80; Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 424. 138 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

Die Wiederherstellung des einheitlichen Kommandos auf taktischer Ebene59 war eine der Lehren, die der Hauptmilitärrat aus dem Versagen der sowjetischen Kriegführung gegen Finnland zog. Der PURKKA wurde im Mai 1940 vorgewor- fen, die militärpolitische Arbeit »nicht organisch mit den Aufgaben der Ge- fechtsausbildung, der Stärkung der Disziplin in der Armee und der Hebung der Autorität des kommandierenden Bestandes verbunden« zu haben60. Aus der Kri- tik resultierte im Juli die Reorganisation der PURKKA unter der neuen Amtsbe- zeichnung »Hauptverwaltung für politische Propaganda der RKKA«, infolge- dessen sich ihre Aufgabenstellung schwerpunktmäßig von der politischen Führung auf die Unterweisimg des Militärs rück verlagerte61. Mechlis wurde im September 1940 von dem ZK-Mitglied Aleksandr I. Zaporozec abgelöst62. Am Ende des Jahres 1940 mußte der neue Verteidigungskommissar Timosenko je- doch einräumen, daß es unter den Parteiorganisationen in der Roten Armee noch »viel Formalismus«, Unverständnis und sogar Widerstand gegen die Umstellung ihrer Arbeit gäbe63. Der neue Arbeitsschwerpunkt der Politischen Hauptver- waltung wies zudem einen grundsätzlichen Mangel auf, den Zaporozec in sei- nem Memorandum an den ZK-Sekretär Zdanov vom Januar 1941 als »friedlichen Ton« ansprach64. In der Bevölkerung und in den Streitkräften herrschten »pazifi- stische Stimmungen«, welche die Einkreisung der UdSSR durch kapitalistische Staaten und die Unvermeidlichkeit »grausamer« Kriege gegen diese ignorier- ten65. Zudem beklagte Zaporozec den von der Propaganda gepflegten »Hurra- Patriotismus«, der eine realistische Bewertung des Potentials der Roten Armee behindere66. Die PURKKA und der Generalstab sowie das Volkskommissariat für Vertei- digung sind also überwiegend als Reaktion auf äußere Ereignisse in den Jahren 1939/40 reorganisiert worden: den Beginn des Zweiten Weltkrieges in Europa, die sowjetische Westexpansion und vor allem den Finnlandkrieg. Der Hauptmi- litärrat und das Verteidigungskomitee gingen dagegen als zentrale Entschei- dungsgremien aus der »Großen Säuberung« (1937/38) hervor. Die Ablösung des langjährigen Verteidigungskommissars Vörosilov im Mai sowie die Umwandlung der PURKKA zur »Politischen Hauptverwaltung für Propaganda« in Juli 1940 signalisierten eine Wende zu einer stärkeren Berück-

59 Die kollegialen Militärräte blieben erhalten; Kolkowicz, Soviet Military (wie Anm. 56), S. 63. 60 »Akt ο prieme«, in: Izvestija CK KPSS (wie Anm. 26), S. 205 f. 61 O.F. Suvenirov, Esli b ne ta Vakhanalija [Wenn nicht dieses Bachanal gewesen wäre], in: Viz, Nr. 2 (1989), S. 59. 62 »Kto vozglavljal politorgany« (wie Anm. 55), S. 149. 63 »Zakljucitel'naja rec narodnogo komissara oborony Sojuza SSR geroja i marsala Sojuza Semen K. Timosenko na voennom sovescanii 31 dekabrja 1940 g.« [Abschlußrede des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR, des Helden und Marschalls der Sowjet- union, S.K. Timosenko, auf der Militärberatung am 31. Dezember 1941], in: Viz, Nr. 1 (1992), S. 23. 64 »O sostojanii voennoj propagandy sredi naselenija, iz dokladnoj zapiski Glavnogo Upravlenija Politiceskoj Propagandy Krasnoj Armii Central'nomu Komitetu VKP(b), Janvar' 1941 g.«[Über den Zustand der militärischen Propaganda in der Bevölkerung, aus dem schriftlichen Vortrag der Hauptverwaltung für Politische Propaganda an das Zentralkomitee der VKP(b), Januar 1941], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 5 (1990), S. 191 65 »O sostojanii voennoj propagandy« (wie Anm.64), S. 191 f. Ebd., S. 192. Die Reorganisation der Roten Armee 139

sichtigung militärischer Erfordernisse gegenüber ideologischen Prinzipien. Es bleibt aber ungewiß, ob die sowjetische Führung diese Wende bis zum 22. Juni 1941 in einer sie zufriedenstellenden Weise vollziehen konnte.

II. Die »Säuberung«, Wiederherstellung und Erweiterung der Armeekader

Nach dem Sieg der Roten Armee im russischen Bürgerkrieg (1918-1921) wurden die demobilisierten Streitkräfte zu weniger als einem Drittel in vollständig orga- nisierte aktive Verbände, die sogenannten Kadertruppen, und zu mehr als zwei Drittel in territoriale Milizverbände aufgeteilt67. Die Abschaffung dieses »ge- mischten Territorial-Kader-Systems«68 zugunsten einer reinen Kaderarmee zwi- schen 1935 und 1939 fiel in die Hochzeit der Stalinschen »Säuberungen«69. Die oben angeführte positive »Säuberungs«-Bilanz des Verteidigungskommissars Vorosilov ist undifferenziert und von Zweckoptimismus geprägt. Die genaueren Zahlenangaben bei Dmitrij A. Volkogonov70 und Robert Conquest71 beziehen sich auf eine interne Statistik der NKO-Verwaltung des leitenden Personalbe- standes der RKKA. Dieser Statistik zufolge72 wurden von den insgesamt 36 761 entlassenen leitenden Dienstgraden 10 868 Personen, etwa ein Zehntel des ge- samten Bestandes, verhaftet. Die differenzierteren Statistiken im Arbeitsbericht des Chefs der NKO-Verwaltung, Ε. A. Scadenko, für das Jahr 1939 weisen jedoch die Mehrzahl dieser Entlassungen als politisch begründet aus: vor allem wegen einer »Verbindung mit Verschwörern« . Auch die von Ukolov und Ivkin ausge- werteten Gerichtsstatistiken erlauben keine Reduzierung der »Säuberungs«-Op- fer, weil das Gros aller wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« angeklagten Kader in der UdSSR, schätzungsweise zwei Drittel, von »außergerichtlichen Or- ganen« verurteilt wurde74. Die Gerichtsstatistiken belegen vielmehr, daß die Ar- mee-»Säuberung« auch die Mannschaften in größerem Ausmaß betraf75. Die

67 Diese Kompromißlösung trug der innenpolitisch und wirtschaftlich ungefestigten La- ge in der UdSSR Rechnung; vgl., Reese, Social and Organizational History (wie Anm. 14), S. 15-41. 68 Sovetskie vooruzennye sily [Die sowjetischen Streitkräfte], Moskva 1978, S. 194. 69 Vgl. Robert Conquest, Der Große Terror, München 1992. 70 Dmitrij A. Volkogonov, Triumf i tragedija, t. II, kn. 1, Moskva 1989 [= russ. Orig. der gekürzten deutschen Fassung (vgl. Anm. 16)], S. 51. 71 Conquest, Terror (wie Anm. 69), S. 510. 72 A.T. Ukolov, V.l. Ivkin, Ο masstabach repressij ν Krasnoj Armii ν predvoennye gody [Uber die Ausmaße der Repression in der Roten Armee in den Vorkriegsjahren], in: Viz, Nr. 1 (1993), S. 56. 73 »O rabote za 1939 god, iz otceta nacal'nika upravlenija po nacal'stvujuscemu sostavu RKKA Narkomata Oborony SSSR, E.A. Scadenko, 5 maja 1940 g.« [Über die Arbeit im Jahr 1939, aus dem Bericht des Verwaltungschefs für den leitenden Bestand der RKKA des Verteidigungskommissariats der UdSSR], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 188. 74 Ukolov/Ivkin, Ο masstabach (wie Anm. 72), S. 58. Gemeint sind vom NKVD geführte Tribunale (»trojkas«), die kraft administrativer Vollmacht mutmaßliche »Volksfeinde« zu hohen Haftstrafen verurteilten. 75 Das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR sowie die Militärtribunale ver- 140 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

»Säuberung« der leitenden Kader kann aufgrund der Angaben der zuständigen NKO-Verwaltung genauer auf rund 35 000 Offiziere und Unteroffiziere bezif- fert76 und mithin die Schätzung Ericksons77 in ihrer Tendenz bestätigt werden. Der sowjetischen Führung muß im Laufe des Jahres 1938 bewußt geworden sein, daß die uneingeschränkte Fortsetzung der staatlichen Verfolgung angebli- cher »Volksfeinde« in solchen Ausmaßen auf die Zerstörung jeder leitenden Ka- derorganisation in der UdSSR hinauslief. Davon zeugt die im Sommer eingelei- tete »Säuberung« des NKVD, insbesondere die Ablösung Ezovsi durch Lavrentij P. Berija sowie die Zurechtweisung der Strafverfolgungsorgane Ende November 193878. Obgleich die PURKKA bis zum Beginn des Jahres 1938 etwa ein Drittel ihrer Mitglieder (Kader) ausgeschlossen hatte79, setzte deren Leiter, Mechlis, die »Säu- berung« noch in verstärktem Maße fort80. Sein Handeln entsprach aber der im April 1938 erhobenen Forderung Stalins nach »Liquidierung der letzten Schäd- lingstätigkeit«, einschließlich der »schweigenden und politisch prinzipienlosen Personen«81. Anfang 1939 war diese Aufgabe offensichtlich beendet82. Bei der Re- urteilten 1937/38 wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« insgesamt 7211 Armeeka- der, von denen 4554 Personen dem Mannschaftsstand angehörten; Ukolov/Ivkin, Ο

masstabach (wie Anm.v72), S. 57. 76 Diese Zahl führt E.A. Scadenko in einem weiteren auf den 20.3.1940 datierten Bericht über das Entwicklungsniveau der leitenden Armeekader an, »Ö nakoplenii nacal'stvu- juscego sostava i popolnenii im Raboce-Krest'janskoj Krasnoj Armii [Über die Rekru- tierung des leitenden Bestandes und deren Aufnahme in die Rote Arbeiter- und Bauern- armee], iz spravki-dokläda nacal'nika upravlenija po nacal'stvujuscmu sostavu RKKA Narkomata Oborony SSSR«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 179. Aus der »Säu- berungs«-Statistik seines Arbeitsberichtes für das Vorjahr, die nur die Landstreitkräfte berücksichtigt, läßt sich unter Beachtung der Entlassungsgründe eine Gesamtzahl von 28 328 Personen addieren; »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 188. 77 Erickson, Soviet High Command (wie Anm. 12), S. 506 hatte 1962 den Verlust des Offi- zierkorps der Roten Armee und Flotte auf 20 bis 25 000 Personen geschätzt. Die von Roger Reese, The Impact of the Great Purge on the Red Army, in: Soviet and Post Sovi- et Review, Nr. 1-3 (1992), S. 72-75, aufgrund der neuen sowjetischen Quellen erhobene Kritik an den älteren Schätzwerten von Erickson und Conquest überzeugt nicht, da diese nur den unstreitig hohen Offiziersanteil der »Säuberungs«-Opfer (25-50 % von 70-80 000 Pers.) am Gesamtbestand der Roten Armee, nicht aber den jetzt bekannten relativ niedrigen Anteil des umfangreichen leitenden Bestandes — d.h. Offiziere und Unteroffiziere — der Roten Armee (5-10 % von 150-300 000 Pers.) ausdrücken. 78 Oleg V. Chlevnjuk, 1937-j god: Stalin, NKVD i sovetskoe obscestvo, Moskva 1992, S. 217-223. 79 Laut dem Rechenschaftsbericht von L. Mechlis an den ZK-Sekretär A. Zdanov: »O ra- bote Politiceskogo Upravlenija Krasnoj Armii« [Uber die Arbeit der Politischen Ver- waltung der Roten Armee] vom 23.5.1940, fehlten 29,8 % der etatmäßigen Kader (10 525 Pers.); Izvestija CK KPSS, Nr. 3 (1990), S. 193. Conquest, Terror (wie Anm. 69), S. 240, hat diesen Zahlenwert (»etwa 10 000«) den »noch im Amt befindlichen« politi- schen Armeekadern zugeordnet, und daraus den Fehlschluß gezogen, »daß minde- stens 20 000 Politkommissare umgekommen« wären. 80 Im Jahr 1937 wurden 2194, im Folgejahr 3282 Pers. entlassen; »O rabote Politiceskogo Upravlenija« (wie Anm. 79), S. 193. 81 Jurij P. Petrov, Partijnoe stroitel'stvo ν sovetskoj armii i flöte [Parteiaufbau in der so- wjetischen Armee und Flotte], Moskva 1964, S. 301. 82 Lediglich 477 Politleiter wurden dem Bericht von Mechlis zufolge verurteilt, wobei nicht mehr politische Vergehen im Vordergrund standen; »O rabote Politiceskogo Upravlenija« (wie Anm. 79), S. 193 und 195; die »Säuberungs«-Statistik Scadenkos, »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 188, stimmt damit überein. Die Reorganisation der Roten Armee 141

habilitierung ihrer Kader hielt sich die PURKKA auffällig zurück. Bis zum Früh- jahr 1940 stellte sie lediglich 386 Politleiter wieder ein83. Im Vergleich dazu waren die »Säuberungs«-Verluste der militärischen Kader bereits im Jahr 1938 rückläu- fig84; sie wurden durch die Arbeit der im August eingesetzten Rehabilitierungs- kommission für leitende Kader beträchtlich verringert: Von den 1937/38 aus po- litischen Gründen entlassenen rund 35 000 Offizieren und Unteroffizieren stellte das NKO in den Jahren 1938/39 über ein Drittel (Landstreitkräfte) bzw. annä- hernd ein Sechstel (Luftstreitkräfte) wieder ein85. Die heute bezifferbaren Rehabi- litierungen86 konnten also auch bei den militärischen Führungskadern die Ent- lassungen nicht ausgleichen. Die angesprochene »Säuberung« der militärpolitischen Führungsorgane reichte soweit, daß die meisten Militärs der höchsten und hohen Dienstgrade li- quidiert wurden: Von den fünf ersten Marschällen der Sowjetunion überlebten nur Vorosilov und Budennyj; von den fünf Kommandeuren 1. Ranges blieb nur Saposnikov verschont; die zehn Kommandeure 2. Ranges sowie die 16 Armee- kommissare beider Ränge wurden erschossen oder zum Selbstmord getrieben87. Unter den Opfern befanden sich gerade die Führungskader mittleren Lebens- alters, die maßgeblich den Aufbau und die Modernisierung der Roten Armee geleitet hatten: die Marschälle Vasilij K. Bljucher (1890-1938), Oberkommandie- render der Fernostarmee88, und Michail N. Tuchacevskij (1893-1937), erster stell- vertretender Verteidigungskommissar89, die Militärbezirkskommandierenden Ieronim P. Uborevic90 und Iona E. Jakir91 (beide 1896-1937), der erste Oberbe- fehlshaber der Roten Luftflotte, Jakov I. Alksnis (1897-1938)92, der Leiter der

83 »O rabote Politiceskogo Upravlenija« (wie Anm. 79), S. 193. 84 Für die leitenden Kader: »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 188; zu den Mann- schaften anhaltsweise: Ukolov/Ivkin, Ο masstabach (wie Anm. 72), S. 57 (Tab. 1). 85 Zu den Landstreitkräften: »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 188 f.: Die dort an- gegebenen jahresbezogenen Anteile der politischen Kader an den Gesamtziffem des leitenden Bestandes sind von den nach Entlassungsgründen unterteilten Rehabilitie- rungszahlen abzuziehen, was aber nur für die Jahre 1938 und 1939 mit den entspre- chenden Daten der PURKKA (»O rabote Politiceskogo Upravlenija« — wie Anm. 79, S. 193) möglich ist. Für die Luftstreitkräfte liegen die jahresbezogenen Angaben über die Entlassungen und Rehabilitierungen der »Offiziere«, die Unteroffiziere wahr- scheinlich Inbegriffen, ohne eine Unterscheidung nach Entlassungsgründen vor; F. B. Komal, Voennye kadry nakanune vojny [Militärkader am Vorabend des Krieges], in: Viz, Nr. 2 (1990), S. 24, Tab. 5. In seiner Tab. 4 verwechselt Komal an gleicher Stelle die Zahlen der Parteiausschlüsse von »Offizieren« der Landstreitkräfte mit den Werten, die den Anteil der Wiedereinstellungen derselben »Offiziere« in die Armee anzeigen, vgl. die »Säuberungs«-Statistik Scadenkos »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 188. 86 Siehe auch Reese, Impact (wie Anm. 77), S. 75 f. 87 Suvenirov, Narkomat Oborony (wie Anm. 14), S. 30; ders., Pogibli ν gody bezzakonija [In den Jahren der Gesetzlosigkeit kamen um], in: Viz, Nr. 2 (1993), S. 81-83 (Aufli- stung der Opfer nach Dienstrang). 88 Gosztony, Rote Armee (wie Anm. 24), S. 162-165; »Spravka ο proverke obvinenij« (wie Anm. 47), in: Viz, Nr. 2 (1993), S. 73-75. 89 Vladimir O. Dajnes, Michail Nikolaevic Tuchacevskij, in: Viz, Nr. 10 (1989), S. 38-60. 90 Borys Levytsky, The Stalinist Terror in the Thirties, Documentation from the Soviet Press, Stanford, Calif. 1974, S. 79-83. « Ebd., S. 66-75. 92 Ebd., S. 84-87.; »Spravka ο proverke obvinenij« (wie Anm. 47), in: Viz, Nr. 2 (1993), S. 76. 142 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

Frunze-Militärakademie, Avgust I. Kork (1887-1937)93, und der Panzertruppen- leiter im NKO, Innokentij A. Chalepski (1893-1938)94. Von den 733 höchsten Kommandeuren und Militärkommissaren, vom Bri- gadekommandeur bis zum Marschall, wurden, nach den Ermittlungen des den GUlag überlebenden Korpskommandeurs Α. I. Todorskij, 579 Offiziere (79 %) »Repressionen unterzogen«95, die in den meisten Fällen tödlich endeten: Nahezu alle Korpskommandeure und Korpskommissare wurden exekutiert (59 von 67 bzw. 24 von 28)96. Auf den untergeordneten Kommandoebenen überlebten weni- ger als die Hälfte, 85 von 199 Divisionskommandeuren und 28 von 97 Divisions- kommissaren, das Jahr 193897; bei den Brigadeführern waren die Verluste ähnlich hoch98. Inwieweit die mittlere und untere Kommandoebene »gesäubert« wurde, kann bislang nur geschätzt werden: Ungefähr die Hälfte aller Regimentskom- mandeure und ein Drittel der gleichrangigen Kommissare sei »Repressionen ausgesetzt« worden99. Die unmittelbare Folge dieser großen Verluste an Führungskadern war ein »stürmischer Prozeß der Beförderung junger Kommandeure«100. Die Zahl der Be- förderungen von Kommandeuren der mittleren, höheren und hohen »Gruppe« nahm im Jahr 1938 im Vergleich zum Vorjahr um das drei- bis vierfache, von ins- gesamt 34 556 auf 143 223, zu; sie stieg auch 1939 weiter auf 198 450 Personen an101. Der seit 1938 »chronische Mangel« der Roten Armee an leitenden Kadern betrug Anfang 1940 immer noch etwa 60 000 Personen102. Stalin kümmerte sich spätestens ab 1938 persönlich um die Beförderung jün- gerer Offiziere, z.B. um Ivan S. Konev, Dmitrij G. Pavlov oder Zukov103. Die drei- malige Auswechselung des Oberbefehlshabers der sowjetischen Luftstreitkräfte zwischen 1938 und 1941 (Aleksandr D. Loktionov, Smuskevic, Pavel V. Rycagov) und deren Verhaftung Anfang Juni 1941104 verdeutlichen sozusagen das Berufsri- siko für Stalins neue Generäle. Mißerfolge in der Arbeit oder kritische Äußerun- gen waren lebensgefährlich105.

93 Levytsky, Stalinist Terror (wie Anm. 90), S. 73-75. 94 N. Psurcev, Komandarm 2 ranga I. A. Chalepskij, in: Viz, Nr. 7 (1973), S. 125-127. 95 V. Kulis, Κ voprosu ob urokach k pravde istorii, in: Nauka i zizn', Nr. 12 (1987), S. 8. 96 Suvenirov, Pogibli (wie Anm. 87) in: Viz, Nr. 3 (1993), S. 33 f.; Nr. 5 (1993), S. 66 f.; Nr. 6 (1993), S. 81 f.; Nr. 7 (1993), S. 45 f. und Nr. 8 (1993), S. 69 f.; ders., Vsearmejskaja trage- dija [Tragödie der gesamten Armee], in: Viz, Nr. 3 (1989), S. 41 (Daten Todorskijs). 97 Suvenirov, Pogibli (wie Anm. 87), in: Viz, Nr. 8 (1993), S. 69 f.; Nr. 9 (1993), S. 47-50; Nr. 10 (1993), S. 87-90; Nr. 11 (1993), S. 91-94; Nr. 12 (1993), S. 84-86; Vladimir Karpov, Marsal Zukov, Moskva 1992, S. 73 (Daten Todorskijs). 98 B.V. Sokolov, Cena pobedy [Preis des Sieges], Moskva 1991, S. 82 f. und 186, Anm. 17 99 Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, Bd 6, Berlin 1968, S. 150. 100 Suvenirov, Vsearmejskaja tragedija (wie Anm. 96), S. 44 f. 101 »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73, Scadenkos Arbeitsbericht vom 5.5.1940), S. 186; Komal, Voennye kadry (siehe Anm. 85), S. 23-25, unterschätzt die »Säuberungen« als Ursache der Beförderungen, weil er deren Ausmaße irrtümlich oder absichtlich klein- gerechnet hat. 102 »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 187. 103 Simonow, Aus der Sicht (wie Anm. 5), S. 402 f. (Gespräch mit I. Konev); Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 402 f. 104 Suvenirov, Vsearmejskaja tragedija (wie Anm. 96), S. 42; ders., Pogibli (wie Anm. 87), in: Viz, Nr. 2 (1993), S. 82 und Nr. 6 (1993), S. 82.; »Spravka ο proverke obvinenij« (wie Anm. 47), in: Viz, Nr. 5 (1993), S. 62. 105 Der Generalmajor Sil M. Miscenko, Dozent an der Frunze-Militärakademie, wurde Die Reorganisation der Roten Armee 143

Das Nachlassen der »Säuberungen« um die Jahreswende 1938/39 bewirkte hinsichtlich der Truppenführung keine grundsätzliche Wende, weil die be- drückende Atmosphäre sowie das doppelte Kommando erhalten blieben. Letzte- res bedeutete in der Praxis die Gängelung der tief verunsicherten Militärs durch die Kommissare oder Politruks. So bewerteten die politischen Leiter »in der Mehrheit der Fälle« die fachlichen Qualitäten der Kommandeure106 und behiel- ten sich sogar deren Ernennung vor107. Die völlig unzureichende militärische Qualifikation der politischen Kader für die Lösung ihrer Aufgaben im Bereich der Führung und Ausbildung der Roten Armee wurde der obersten militärpoli- tischen Führung offensichtlich erst bei der notgedrungen kritischen Auswertung des Finnlandfeldzuges bewußt108. Die Wiederherstellung des »gesäuberten« Kaderbestandes verband sich in zunehmendem Maße mit dem Problem, die für die sowjetische Aufrüstung benötigten Kader aufzubieten. Die Abkehr Stalins von der Außenpolitik der kol- lektiven Sicherheit zog die Forcierung der sowjetischen Aufrüstung nach sich, wie auf dem XVIII. Parteikongreß der VKP(b) im März 1939 deutlich wurde109. Während die sowjetische Führung somit allgemein mit größeren militärischen Auseinandersetzungen rechnete, verfolgte sie nach dem Abschluß des Hitler- Stalin-Paktes, gleichsam im Windschatten des westeuropäischen Krieges, die Einnahme ihrer »Interessensphäre« in Ostmitteleuropa110. Diesen Erwartungen entsprach die gesetzliche Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der UdSSR am 1. September 1939111. Das Gesetz markierte zu- gleich den Abschluß des Ubergangs zur reinen Kaderarmee112. Der gesamte akti- ve Personalbestand der Roten Armee hatte infolge der sowjetischen Aufrüstung von 1 300 000 im Jahr 1936113 auf 1 900 000 Personen im Februar 1939 zugenom- men114. Die allgemeine Wehrpflicht verdoppelte die Personalstärke der RKKA bis zum Mai 1940 auf nahezu vier Millionen Soldaten115. Proportional dazu wuchs der Bedarf an leitenden Kadern, deren »chronischer Mangel« deshalb ab 1939 weniger auf die »Große Säuberung« als vielmehr auf die personelle Seite der sowjetischen Aufrüstung zurückzuführen ist116. Die erforderliche Vergröße-

z.B. wegen einer privaten Unmutsäußerung über die sowjetische Regierung im Januar 1941 bei der Sonderabteilung des NKVD denunziert und schließlich im September zum Tode verurteilt; Viz, Nr. 8 (1993), S. 71. 106 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 9 f.; Zitat auf S. 10, Sp. 1; in der Partei-Version der Quelle (Izvestija CK KPSS, S. 199) wird diese Aussage abgeschwächt. 107 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10. 108 »o rabote Politiceskogo Upravlenija« (wie Anm. 79), S. 194. 109 Robert Tucker, Stalin in Power, New York, London 1990, S. 586 f.; Andreas Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, Königstein / Ts., Düsseldorf 1979, S. 7 f. 110 Vgl. Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik (wie Anm. 109), S. 33-43. 111 Documents on Soviet Military Law and Administration, ed. by Harold J. Berman and Miroslav Kerner, Cambridge, London 1955, S. 21 und 23. 112 Reese, History (wie Anm. 14), S. 277-289; ders., Impact (wie Anm. 77), S. 76 f. 113 Roger Reese, A Note on a Consequence of the Expansion of the Red Army on the Eve of World War II, in: Soviet Studies, Nr. 1 (1989), S. 135. 114 Vsesojuznaja perepis' naselenija 1939 goda, osnovnye itogi [Allunionsvolkszählung 1939, wesentliche Resultate], Moskva 1992, S. 243 f. 115 Laut Verordnung des Verteidigungskomitees vom 22.5.1940 betrug der »Personalbe- stand der Roten Armee [...] am 1. Mai 1940 3 990 993 Personen«; Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 180. 116 Reese, Impact (wie Anm. 77), S. 76-79. Auch vor der »Großen Säuberung« gab es we- 144 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

rung des leitenden Kaderbestandes um 117 188 Personen — ein Mehrbedarf von 40,8 % seit Anfang 1939 — überstieg die damaligen Ausbildungskapazitäten. Denn die Jahrgänge 1938 und 1939 der Militärakademien, Offizierschulen und Unteroffizierkurse deckten kaum mehr als ein Viertel (26,2 %) des gesamten Per- sonalbedarfs im März 1940 (357 000 Personen) ab; weitere 31,2 % der Führungs- positionen konnten durch Beförderungen, 13,4 % durch Versetzungen sowie 4,9 % durch Rehabilitierte und Reservisten besetzt werden, so daß insgesamt gut drei Viertel (75,7 %) des etatmäßigen Stellenplans erfüllt wurde117. Das Defizit an politischen Kadern konnte im gleichen Zeitraum durch die Einstellung stellver- tretender Politruks und die Einberufung von Reservisten schneller abgebaut werden118. Die Entwicklung des Militärausbildungswesens in der UdSSR von 1937 bis 1941 weist bei den Ausbildungsstätten und den Absolventenzahlen hohe Zu- wachsraten auf119. Allerdings verlief diese Entwicklung weder kontinuierlich noch bei den Waffengattungen einheitlich: Das Ausbildungswesen der Land- streitkräfte unterlag einem der Modernisierung folgenden Differenzierungspro- zeß, der hauptsächlich die technischen Waffengattungen Artillerie und Panzer- truppen betraf. Die Kapazität der Militärfachschulen wurde im Jahre 1938 erwei- tert, stagnierte im nächsten Jahr und expandierte 1940 wieder, bei der Infanterie sogar sprunghaft120. Im Jahr 1939 war der Anstieg der Absolventenzahlen am größten, 1940 dann minimal121. Diese Entwicklung resultierte zum einen aus der Kapazitätserweiterung der 1938/39 vorhandenen Schulen122 sowie aus der im März 1938 beschlossenen Verkürzung der Ausbildungszeit von drei auf zwei Jahre123, und zum anderen, bezüglich 1940, aus der Revision des militärischen Ausbildungssystems nach dem Finnlandfeldzug 1939/40. Im Unterschied dazu wurde das Ausbildungswesen der Luftstreitkräfte kontinuierlicher erweitert124. Die PURKKA eröffnete dagegen erst im November 1939 fünf neue militärpoliti- sche Lehranstalten mit einem Etat für 1000 »Kursanten«, die eine zweijährige Ausbildung zu absolvieren hatten125. Aus der unübersehbaren taktischen Unterlegenheit der sowjetischen Truppen während des dreimonatigen »Winterkrieges« gegen Finnland1 zog die militär- politische Führung der UdSSR die Konsequenz, »in allen Militärbezirken« Aus- gen der kontinuierlichen Aufrüstung seit Anfang der 30er Jahre einen größeren Man- gel an Kommandeuren und eine hohe Fluktuation; ebd., S. 83-86. 117 »O rabote za 1939 god« (wie Anm. 73), S. 186 f. 118 Den Angaben des PURKKA-Leiters Mechlis zufolge wurde ein Personaldefizit von 29,8 % (10 525 Pers.) vom Anfang des Jahres 1938 bis zum 1. Mai 1940 auf 5,9 % (3850 Pers.) reduziert; »O rabote Politiceskogo Upravlenija« (wie Anm. 79), S. 193 f. 119 Komal, Voennye kadry (wie Anm. 85), S. 25; A. Ceremnych, Razvitie voennoucebnych zavedenij ν predvoennyj period (1937-1941 gg.) [Entwicklung der militärischen Lehr- anstalten in der Vorkriegsperiode], in: Viz, Nr. 8 (1982), S. 76. 120 Komal, Voennye kadry (wie Anm. 85), S. 22 (Statistik zur Entwicklung der Militärfach- schulen der Landstreitkräfte von 1937 bis 1940). ™ Ebd., S. 23 (Tabelle 2). 122 Ebd., S. 22. 123 Ceremnych, Razvitie (wie Anm. 119), S. 76, Sp. 1. 124 Komal, Voennye kadry (wie Anm. 85), S. 21, Sp. 2 und S. 25, Sp. 2.; Ceremnych, Razvitie (wie Anm. 119), S. 76. 125 Ceremnych, Razvitie (wie Anm. 119), S. 76, Sp. 2. 126 Vorosilov, Uroki (wie Anm. 9 — Vortrag des Verteidigungskommissars am 28.3.1940 vor dem ZK-Plenum, mit den Korrekturen Stalins), S. 107-117. Die Reorganisation der Roten Armee 145

bildungsbedingungen zu schaffen, »in denen sich die Truppen an der Front be- finden werden«127. In dem »Ubernahmeakt« vom Mai 1940 wurde das ungenü- gende taktische Können aller Waffengattungen, vor allem der Infanterie, auf eine irreale Gefechtsausbildung, den Mangel an Standhaftigkeit und unbedingtem Gehorsam zurückgeführt1 ·. Dem »Auskunftsbericht« Scadenkos über die leiten- den Armeekader vom 20. März 1940 zufolge ging ein Drittel der zweijährigen Ausbildungszeit in den Offizierschulen durch Desorganisation und lange Frei- zeiten verloren. »Taktische Übungen wurden hauptsächlich in der Klasse im Sandkasten und Pionierübungen [...] an der Tafel durchgeführt129.« Neben dem Volkskommissariat für Verteidigung wurde besonders die Politische Hauptver- waltung (PURKKA) für die Leistungsschwäche der Kader verantwortlich ge- macht. Dies erscheint gerechtfertigt, wenn man aus dem »Akt« erfährt, daß 73 % des aktiven politisch-leitenden Bestandes der Roten Armee und 77 % der Reser- ve über keine militärische Ausbildung verfügte und diese selbst in keiner Weise geregelt war. Der Vorwurf gegen die PURKKA, die fachliche Bewertung ihrer Kader seit 1938 durch das »Sammeln« von Zeugnissen über deren politische Zu- verlässigkeit ersetzt zu haben, läßt deutlich den destruktiven Einfluß der Stalin- schen »Säuberungen« erkennen130. Eine Konsequenz dieser umfassenden Revision war der am 16. Mai 1940 er- lassene Befehl des neuen Verteidigungskommissars »Uber die Gefechts- und po- litische Ausbildung der Streitkräfte für die Sommerperiode« mit der zentralen Forderung nach einer gefechtsnahen und disziplinbetonten Truppenführung131. Der Volkskommissar befahl insbesondere die Ausbildung militärisch versierter, selbstbewußter und politisch loyaler Zugführer132. Diesem Befehl lag wahr- scheinlich die Erkenntnis zugrunde, angesichts des fortbestehenden Mangels an Offizieren nicht länger auf einen qualifizierten Unteroffizierstamm als Rückgrat der Truppe verzichten zu können . Während im Kriegsbericht Vorosilovs vor dem ZK-Plenum der Autoritätsverlust der Kommandeure noch verharmlost wurde134, kritisierte der nachfolgend zusammengestellte »Ubernahmeakt«, daß in der Truppe »zum Teil ein falscher Demokratismus und die Untergrabung der Autorität des Kommandeurs, besonders auf unterer Ebene [der Unteroffiziere, H.M.] zugelassen wird«135. Der neue Verteidigungskommissar und die Politische Hauptverwaltung ordneten daher im Sommer 1940 eine Reihe disziplinarischer Maßnahmen an: u.a. die Direktive der PURKKA vom 11. Juli 1940 an die Partei- organisationen in der Armee, die »dienstliche Tätigkeit« der Unteroffiziere nicht länger zu kritisieren, die Wiedereinführung von Strafbataillonen (13. Juli) und die Verpflichtung aller Militärangehörigen zu einer tadellosen äußeren Erschei- nung (August). Diese Maßnahmen führten einerseits zu dem Erlaß des Obersten

Ebd., S. 119 f. im »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10. 129 »O nakoplenii nacal'stvujuscego sostava« (wie Anm. 76), S. 177. 130 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 15. 131 Vgl. die Quellenauszüge in den Erinnerungen des damaligen Panzerkommandeurs im Finnlandkrieg, Anatoli I. Gribkow, Im Dienste der Sowjetunion, Berlin 1992, S. 67-70. ι32 Ceremnych, Razvitie (wie Anm. 119), S. 78 f. 133 Ein höherer Offizieranteil in der russischen bzw. sowjetischen Armee als in den westli- chen Streitkräften sollte ein bis dahin fehlendes Unteroffizierskorps aufwiegen; Reese, Note (wie Anm. 113), S. 136 f. 134 Vorosilov, Uroki (wie Anm. 9), S. 111. 135 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10. 146 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

Sowjets »Über die Festigung der einheitlichen Befehlsgewalt« am 12. August 1940 und andererseits zu dem am 12. Oktober eingeführten neuen Disziplinar- statut der Roten Armee136. Der Erlaß stellte nicht nur die einheitliche Befehlsge- walt des Kommandeurs im militärischen Bereich wieder her, sondern übertrug ihm auch die »volle Verantwortung« für die politische Arbeit in der Truppe13 . Das Disziplinarstatut ermächtigte den Kommandeur dazu, »alle Zwangsmaß- nahmen« zur Durchsetzung von Disziplin in der Truppe zu ergreifen138. Den da- bei unverkennbaren Rückgriff auf die militärische Tradition zeigt auch die Kom- plettierung der militärischen Hierarchie bis zum Jahresende139. Die Ausbildungsresultate im Herbst 1940 besagten jedoch, »daß die Truppen nicht vollständig umgestaltet wurden«. In allen Militärdistrikten waren »die al- ten und mangelhaften Arbeitsmethoden noch lebendig«. So lautet das Fazit, das der Verteidigungskommissar Timosenko am 31. Dezember zum Abschluß der achttägigen Beratungen des hohen kommandierenden und leitenden Armeebe- standes in Moskau zog140. Den Hauptgrund für die Unbeweglichkeit der Ausbil- dungspraxis sah die Armeeführung in der »fachlichen Unwissenheit« (negra- motnost') der meisten Kommandeure141. Der große Mangel an qualifizierten Führungskadern konnte bis zum Ende des Jahres 1940 nicht beseitigt werden, wie die Klagen der hohen Militärs über massenhaft und mitunter mehrmals im Jahr vorgenommene Versetzungen und schnelle Beförderungen von Komman- deuren bekunden142. Folglich rechneten die Generäle damit, daß die Truppenver- bände, vom Regiment an aufwärts, nicht vor dem Jahresbeginn 1942 voll ge- fechtsfähig organisiert und ausgebildet sein würden143. Die von Timosenko anschließend dargelegte allgemeine Aufgabenstellung für die Gefechtsausbil- dung im Jahr 1941 enthielt die Anforderungen des Vorjahres144. Unter der Vor- aussetzung, daß der leitende Bestand »durch eine hohe Qualität der Führung und Organisation« die bekannten Aufgaben im neuen Lehrjahr erfüllen würde, äußerte der Verteidigungskommissar in seinem Befehl vom 21. Januar 1941 die Erwartung, »im Herbst 1941 [...] vollwertige Resultate« zu erhalten145. Die von ihm dabei implizit vorausgesetzte Ausstattung der 1939/40 erweiterten oder neu eröffneten Militärschulen mit Personal und Unterrichtsmaterialien war aber nicht gewährleistet. So fehlten den Lehranstalten der Luftstreitkräfte um die Jah- reswende 1940/41 mehr als die Hälfte der etatmäßigen Lehrer sowie Flugzeuge und Treibstoff146. Die ungelöste Problematik der militärischen Ausbildung wollte

136 O.F. Suvenirov, »Prikaz otmenjat' ne budet« [Der Befehl darf nicht aufgehoben wer- den], in: Viz, Nr. 4 (1989), S. 32-35; Ivasov, Oborona strany (wie Anm. 28), S. 15 f. 137 Die Sowjetunion (wie Anm. 53), S. 313 f.; Petrov, Partijnoe stroitel'stvo (wie Anm. 81), S. 326 f. iss Suvenirov, »Prikaz« (wie Anm. 136), S. 37. 139 Am 7.5.1940 wurden die bisherigen Korps- und Armeekommandeure in Generalleut- nants bzw. Armeegeneräle umbenannt, Documents on Soviet Military Law (wie Anm. Ill), S. 43 f., und am 2.11. schließlich die Unteroffizierränge Sergeant und »starsina« (Oberfeldwebel) sowie die Mannschaftsdienstgrade Rotarmist und Gefreiter eingeführt; Ivasov, Oborona strany (wie Anm. 28), S. 15 f. 140 »Zakljucitel'naja rec« (wie Anm. 63), S. 22, das Zitat in Sp. 2. 141 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), S. 10 und 13. i« Ebd., S. 13 f. 143 Ebd., S. 14. 144 »Zakljucitel'naja rec« (wie Anm. 63), S. 22 f. 145 Ivasov, Oborona strany (wie Anm. 28), S. 17 f.; die Zitate auf S. 18, Sp. 1. 146 Komal, Voennye kadry (wie Anm. 85), S. 26, Sp. 1. Die Reorganisation der Roten Armee 147

selbst Stalin in seiner Rede vor Absolventen der sowjetischen Militärakademien am 5. Mai 1941 nicht beschönigen, indem er nachdrücklich kritisierte, daß die Lehranstalten »hinter dem Wachstum der Roten Armee« zurückblieben147. Der Personalbestand der Roten Armee ist folglich nach der »Großen Säube- rung« 1937/38, die vor allem das Offizierkorps dezimierte, bis 1940 weitgehend wiederhergestellt und seit Kriegsausbruch im September 1939 massiv erweitert worden. Das Militärschulwesen der UdSSR wurde im Anschluß daran zuneh- mend ausgebaut, so daß die Ausbildung der militärischen und politischen Kader formal gesichert erschien. Erst im »Winterkrieg« gegen Finnland 1939/40 wirkte sich die Erblast der »Säuberungen« unübersehbar negativ für die sowjetische Führung aus. Im Gefecht zeigte sich, daß es vielen Offizieren, Politleitern und Soldaten an dem für eine moderne Kriegführung notwendigen professionellen Können fehlte. Die militärpolitische Führung reagierte darauf mit einer »Umge- staltung« des sowjetischen Ausbildungssystems und der Truppenführung. Unter dem neuen Verteidigungskommissar Timosenko wurden im Sommer 1940 die Ausbildungsanforderungen unverzüglich denen des realen und modernen Krie- ges angepaßt. Die Truppenführung wurde wie vor 1937 auf die einheitliche Be- fehlsgewalt und Autorität der Kommandeure gegründet, wobei man die tradi- tionellen militärischen Umgangsformen nachdrücklich wiederbelebte. Die Bera- tungen der sowjetischen Generalität im Dezember 1940 und Timosenkos ab- schließend gezogene Bilanz sowie Stalins Rede am 5. Mai lassen jedoch erkennen, daß die militärpolitische Führung nicht vor Ablauf des Jahres 1941 mit der vollen Einsatzfähigkeit der sowjetischen Truppenverbände rechnete.

III. Die Reorganisation und Umrüstung der Teilstreitkräfte

Die sowjetische Militärdoktrin basierte bekanntlich auf der von Lenin und Micha- il V. Frunze geprägten These, daß sich die »sozialistische« Sowjetunion auf ei- nen langwierigen Bewegungskrieg gegen eine Koalition »kapitalistischer« Staa- ten einstellen müsse148. Im Vertrauen auf die Unterstützung der »Arbeiterklasse« in den »kapitalistischen« Staaten begründeten Frunze und Tuchacevskij den strategischen Leitgedanken, daß der Feind auf seinem eigenen Territorium durch den Einsatz massierter Angriffsmittel zu besiegen sei149. Tuchacevskij, Vladimir K. Triandafillov u.a. entwickelten auf dieser Grundlage die Theorie von der »tie- fen Angriffsoperation«, die den taktischen »Durchbruch« zum operativen Erfolg erweitern sollte150. Die Verteidigung des eigenen Territoriums auf operativ-stra- tegischer Ebene wurde dabei vernachlässigt; sie diente vielmehr der Vorberei-

147 Die Rede Stalins am 5. Mai 1941 (wie Anm. 10), S. 250/255 und 259. 148 Militär-Strategie, hrsg. von W. D. Sokolowski, Köln 1965, S. 200; R.A. Savuskin, Za- rozdenie i razvitie sovetskoj voennoj doktriny [Begründung und Entwickung der so- wjetischen Militärdoktrin], in: Viz, Nr. 2 (1988), S. 21-24. 149 Militär-Strategie (wie Anm. 148), S. 200 f. 150 Frederick Turners Einführung zu: John Erickson, Lynn Hansen, William Schneider, So- viet Ground Forces, Boulder, Col. 1986, S. XV f. 148 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer tung zum Angriff151. Diese offensive Prägung der Militärstrategie ist in die seit 1936 mehrfach revidierte Felddienstordnung der RKKA als Grundprinzip aufge- nommen und bis 1941 mehrfach bestätigt worden152. Die Schützenverbände der Roten Armee, die traditionelle Hauptmacht der so- wjetrussischen Landstreitkräfte, vereinigten das Gros der Infanterie- und Artillerie- einheiten (Truppenartillerie)153. Eine Schützendivision umfaßte nach dem Statut des Verteidigungskommissariats vom Dezember 1935 drei Schützenregimenter, je ein Panzer-, Aufklärungs- und Femmeldebataillon und eine Flak-Division154. Die Personalstärke betrug rund 13 000 Soldaten (Kriegsstärke)155. Bis Anfang 1939 nahm die Schlagkraft der sowjetischen Infanterie dem Statut nach mehr personell als an Bewaffnung zu; gleichzeitig wurden fast drei Viertel der 1935 integrierten Panzer an die Reserve des Oberkommandos überstellt156, was die Verselbständi- gung der Panzertruppen anzeigt. Zu Beginn des europäischen Krieges im Septem- ber 1939 erhöhte die sowjetische Führung den etatmäßigen Personalbestand der Schützendivision um mehr als 1000 Kader auf rund 18 000 (Kriegsstärke)157. Die sehr hohen Verluste dieser Schützenverbände während des Krieges mit Finnland158 zeigten jedoch, daß derart große Verbände unter schwierigen äußeren Bedingun- gen kaum gefechtsfähig waren159. Deren Schlagkraft wurde vor der kriegsentschei- denden zweiten Phase des Finnlandfeldzuges im Februar 1940 angeblich »radikal«, faktisch eher notdürftig angehoben. Während in den nördlich des Ladogasees ope- rierenden Schützendivisionen beweglichere Maschinengewehrbataillone an die Stelle von Artillerieeinheiten traten, sollte die Produktion von Maschinenpistolen in einer verbesserten Version des Typs Degtjarev unverzüglich wiederaufgenom- men sowie die Granatwerfer- und Minenherstellung gesteigert werden160. Die im März 1940 formulierte Maßgabe Vorosilovs, die Schützendivision zu verkleinern161, wurde zunächst nicht umgesetzt, wie aus seinem letzten Bericht

151 Voennotechniceskij progress i vooruzennye sily SSSR [Der militärtechnische Fort- schritt und die Streitkräfte der UdSSR], Moskva 1982, S. 118 f. 152 Vgl. die Auszüge aus den Felddienstordnungen von 1936, abgedruckt in: Erickson, So- viet High Command (wie Anm. 12), S. 800-803, und von 1939, in: Militär-Strategie (wie Anm. 148), S. 200 f. 153 Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, Bd 1, Berlin (Ost) 1962 (russ. Ausg. 1960), S. 532 f. 154 Sovetskie vooruzennye sily (wie Anm. 68), S. 197. 155 50 let vooruzennych sil SSSR [50 Jahre Streitkräfte der UdSSR], Moskva 1968, S. 200. 156 Istorija vtoroj mirovoj vojny [Geschichte des Zweiten Weltkrieges] 1939-1945, Bd 2, Moskva 1974, S. 200. 157 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3, S. 418; Voennotechniceskij progress (wie Anm. 151), S. 134 f. 158 Der Anteil der Schützenverbände am Gesamtverlust der gegen Finnland eingesetzten sowjetischen Streitkräfte, 333 084 Tote und Verwundete, beträgt bei den Mannschaften über 90 % und bei den Kommandeuren über 60 %; Grif sekretnosti snjat: poteri vooruzennych sil SSSR ν vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach [Der Ge- heimhaltungszwang ist beseitigt: die Verluste der Streitkräfte der UdSSR in Kriegen, Kampfhandlungen und militärischen Konflikten], von V.M. Andronikov [u.a.] verfaßt, Moskva 1993, S. 97-102. Auch wenn den Angaben dieses offiziellen Datenwerkes nur mit Vorbehalt zu begegnen ist, so dürften sie doch hinsichtlich Genauigkeit und Diffe- renzierung einen wesentlichen Fortschritt gegenüber allen früheren Zahlenangaben aus sowjetischer Zeit darstellen. Vorosilov, Uroki (wie Anm. 9), S. 109 f. N» Ebd., S. Ulf. Ebd., S. 120. Die Reorganisation der Roten Armee 149 als Verteidigungskommissar vom 9. Mai 1940 an das Politbüro (Stalin) und den Rat der Volkskommissare (Molotov) hervorgeht. Von den bestehenden 161 Schützendivisionen sollte zwar der Großteil eine Personalstärke von 12 000 Ka- der nicht überschreiten162. Am 1. Mai befanden sich trotzdem noch »686 329 überzählige Personen« im Dienst der Roten Armee163. Ein neues Statut für die Schützendivision wurde anscheinend erst im April 1941 erlassen. Es reduzierte den Kaderbestand um rund 3500 Mann, allerdings bei einer gleichzeitigen Er- höhung seiner Feuerkraft, die durch 558 Maschinengewehre, 1204 Maschinenpi- stolen und 210 Geschütze und Granatwerfer (Mörser) erreicht werden sollte164. Diese einjährige Verzögerung erklärt sich aus dem Vorhaben, die seit 1939 in kurzer Zeit neu aufgestellten Schützenverbände mit modernen Waffen auszurü- sten. Im »Übernahmeakt« vom Mai 1940 kommt die Tragweite des Problems la- pidar zum Ausdruck: »Die Infanterie bleibt hinsichtlich ihrer Bewaffnung hinter den zeitgemäßen Gefechtsanforderungen zurück und ist nicht mit Granatwer- fern und automatischen Waffen ausgestattet165.« Den Erinnerungen des Volks- kommissars für die Verteidigungsindustrie, Boris L. Vannikov, und Zukovs zu- folge war es aber Stalin selbst, der auf den Rat des Leiters der Artilleriehaupt- verwaltung, Kulik, die Entwicklung von Automatikgewehren und Mörsern blockiert hatte166. Zwar verfügte die Rote Armee bis zum Juni 1941 über eine mehr als ausreichende Menge an Gewehren167. Es bleibt jedoch fraglich, ob die zahlreichen Schützenverbände bis dahin ausreichend mit modernen Selbstladern und automatischen Waffen versorgt waren. Die Serienproduktion der Schützen- bewaffnung wurde offenbar erst 1940 in großem Umfang auf moderne Waffenty- pen umgestellt168. Indizien dafür sind die in diesem Jahr rückläufige Produktion der Schützenbewaffnung169, vor allem von Gewehren, und der am 7. Februar 1941 verabschiedete Bedarfsplan, der für 1941 den Schwerpunkt bei der Produk- tion maschineller Waffen setzte170. Den Panzertruppen kam Mitte der 30er Jahre im Rahmen des Konzepts der tiefen Angriffsoperationen aufgrund ihrer Durchschlagskraft und Mobilität eine kampfvorentscheidende Bedeutung zu171. Über den Nutzen der vier operativ

162 »Poslednij doklad Narkoma Oborony SSSR K.E. Vorosilova« [Der letzte Vortrag des Verteidigungskommissars der UdSSR, K.E. Vorosilov], in: Viz, Nr. 3 (1992), S. 5 f. Ebd., S. 8. 164 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3, S. 418 f.; Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 322. 165 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10, Sp. 2. 166 Zu Kulik: Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 326; zur GAU siehe Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 100 f.; Stalin ließ Ende der 30er Jahre keine Automatikgewehre zu, da er Munitionsverschwendung befürchtete; B.L. Vaninikov, Vospominanija, in: Viz, Nr. 10 (1968), S. 121; die Mörser wurden bis zum Finnlandkrieg als Waffen »zweiter Klasse« verkannt; Stalin and his Generals. Soviet Military Memoirs of World War II, ed. by Seweryn Bialer, Boulder, London 1984 (Reprint von 1969), S. 157 f. 167 Reese, History (wie Anm. 14), S. 526 f. 168 Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges (wie Anm. 153), Bd 1, S. 528. 169 L.G. Ivasov, V poslednie predvoennye [In den letzten Vorkriegsjahren], in: Viz, Nr. 11 (1989), S. 13. 170 »O plane voennych zakazov na 1941 god po vooruzeniju [Uber den Plan militärischer Bestellungen in bezug auf die Bewaffnung für das Jahr 1941], iz postanovlenia SNK SSSR i CK VKP(b), 7 fevralja 1941«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 201. 171 Michael Wüllenweber, Die Rote Armee am Vorabend des »Großen Vaterländischen Krieges« (1938-1941), Magisterarbeit, Bonn [1988], S. 86-90. 150 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer einsetzbaren mechanisierten Korps, die 1932 und 1934 in der UdSSR aufgestellt wurden, stritten aber die führenden sowjetischen Militärs von Anfang an, weil deren Manövrierfähigkeit technisch noch nicht ausgereift war172. Die Liquidierung der militärischen Führer der Panzertruppen (Chalepskij, M. I. Germanovic, G. G. Bokis) und der Befürworter ihres operativen Einsatzes in der militärpolitischen Führungsspitze (Tuchacevskij) während der »Großen Säube- rung« 1937/38 stärkte die Position der Traditionalisten (Vorosilov, Budennij)173 und stellte die Weichen in Richtung auf den Einsatz von Panzern als reiner Un- terstützungswaffe zurück. Für diese Rückwendung stand der neue Leiter der Panzertruppen im Verteidigungskommissariat (ABTU), Pavlov174. Er zog aus sei- nen Erfahrungen als Brigadekommandeur im Spanischen Bürgerkrieg175 den Schluß, daß Panzerformationen feindliche Stellungen nur mit starker Infanterie- und Artillerieunterstützung durchbrechen könnten176. Zwar wurden die beste- henden vier Panzerkorps nicht, wie Pavlov forderte, aufgelöst, von der allgemei- nen Aufrüstung jedoch ausgenommen177. Erst am Vorabend des Zweiten Weltkrieges verständigte sich eine Kommissi- on führender Militärs darauf, die Korps zu erhalten, aber nicht länger für selb- ständige Vorstöße zu verwenden178. Als dieser Kompromiß in Moskau am 20. August geschlossen wurde, begann in der äußeren Mongolei am Chalchin- gol die Abschlußoffensive der von Zukov kommandierten 1. sowjetischen Ar- meegruppe gegen die japanische Kwantung-Armee. Zukovs erfolgreiches Um- fassungsmanöver, an dem Panzerverbände zur Unterstützung der Infantrie im Zentrum und zu Vorstößen an den Flanken teilnahmen179, bewirkte die Aufnah- me der operativen Variante in die erweiterte Felddienstordnung von 1939180. Im Verlauf des sowjetischen Einmarsches in Ostpolen ab dem 17. September 1939 blieben die in mobilen Armeegruppen eingesetzten Panzerkorps jedoch in- folge stockenden Nachschubs und mangelhafter Nachrichtenverbindungen hin- ter den sich »aus dem Land« versorgenden Kavalleriekorps zurück181. Unter die- sem Eindruck beschloß der Hauptmilitärrat am 21. November 1939, alle vier me- chanisierten Korps aufzulösen und deren Einheiten als Unterstützungsverbände

172 A. Ryzakov, Κ voprosu ο stroitel'stve bronetankovych vojsk ν Krasnoj Armii ν 30-e go- dy [Zur Frage des Aufbaus von Panzertruppen in der Roten Armee in den 30iger Jah- ren], in: Viz, Nr. 8 (1968), S. 107 f. 173 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 93-99. 174 Nach dem autobiographischen Bericht vom 31. Januar 1938: »Pavlov, Dmitrij Grigor'evic«, in: Viz, Nr. 2 (1990), S. 53-55. 175 Pavlov wurde von Oktober 1936 bis Juni 1937 auf »besondere Dienstreise« nach Spani- en geschickt, »Pavlov«, ebd., S. 55, wo er russische Panzereinheiten während der Kämpfe um Madrid und bei Guadalajara kommandierte; Hugh Thomas, Der Spani- sche Bürgerkrieg, Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1962, S. 239, 247-249, 269-273, 296-302 und 469. 176 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 102-104. 177 Ebd., S. 105-108; Ryzakov, Κ voprosu (wie Anm. 172), S. 108 f. 178 Ryzakov, Κ voprosu (wie Anm. 172), S. 109; Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 116-118. 179 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 268-271 und S. 284. 180 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 112 f. 181 Ebd., S. 125-131. Siehe auch John Erickson, The Red Army's March into Poland, in: The Soviet Takeover of the Polish Eastern Provinces, 1939-41, ed. by Keith Sword, Ba- singstoke, London 1991, S. 12-20. Die Reorganisation der Roten Armee 151 der Infanterie und Kavallerie zu reorganisieren182. Im »Winterkrieg« vermochten sich auf den zerklüfteten finnischen Kriegsschauplätzen nur die neuen Modelle KV und T-34 auszuzeichnen183. Der deutsche Westfeldzug rief dagegen eine Kehrtwendung der sowjetischen Führung hervor, da die kriegsentscheidenden schnellen und tiefen Vorstöße der deutschen Panzerkorps18 das Pavlovsche Konzept widerlegten. Stalin entzog Pavlov daher die zentrale Leitung der Pan- zertruppen und befahl schon am 6. Juni 1940 die Wiederaufstellung sowjetischer Panzerkorps mit verdoppelter Schlagkraft; vorgesehen waren zunächst neun mechanisierte Korps, die jeweils aus zwei Panzerdivisionen und einer motori- sierten Schützendivision (nach deutschem Vorbild) mit insgesamt 1108 Panzern und 37 200 Soldaten bestehen sollten185. Zudem war geplant, diese Panzerdivi- sionen in der Mehrzahl mit den modernen Typen T-34 und KV auszustatten186. Von den 600 T-34, die im Jahr 1940 produziert werden sollten187, sind aber der quellengestützten Angabe des Militärhistorikers A. Chor'kov zufolge nur 115 Panzer ausgeliefert worden188, was Zukov auf eine noch nicht ausgereifte Serien- produktion zurückführt189. Für das Jahr 1941 gab die sowjetische Führung die Produktion von 1200 KV und 2800 T-34 vor190. Nach einschlägigen sowjetischen Angaben verfügte die Rote Armee »am Vorabend« des deutschen Angriffs über 1861 KV und T-34191. Diese Zahl hätte für ein gutes Drittel der neun Panzerkorps ausgereicht; der Wert erscheint indes angesichts der bescheidenen Gesamtstück- zahl des Jahres 1940 (358) und der Produktionsplanung bis Ende Juni 1941 (395 KV und 1085 T-34) als etwas zu hoch192. Stalins Anweisung im März 1941, 20 weitere mechanisierte Korps aufzubau- en193, machte kurzfristige Einsatzmöglichkeiten der Panzertruppen weitgehend zunichte und zog die Schützenverbände in Mitleidenschaft, da ein Großteil ihrer Panzerbataillone für den Aufbau der neuen Korps verwendet wurden194. Zukov

182 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 117-119. 183 Ebd., S. 36-138; Gribkow, Im Dienste (wie Anm. 131), S. 37 und 49 f. 184 Anschaulich bei dem Panzerspezialisten und Zeitzeugen Basil Henry Liddell Hart, Ge- schichte des Zweiten Weltkrieges, Wiesbaden 1970, S. 59-118. 185 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 140-143. 186 Die Panzerdivision sollte aus 105 KV, 210 T-34, 26 BT-7, 18 T-26, 54 Flammenwerfer- panzern, 91 Panzerkampfwagen, 51 Geschützen und 11 343 Soldaten bestehen; ebd., S. 142 f. !87 »O proizvodstve tankov T-34 ν 1940 godu [Über die Produktion der Panzer T-34 im Jahr 1940], iz postanovlenija SNK SSR i CK VKP(b), 5 ijunja 1940 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 181 f. 188 An KV wurden in der gleichen Zeit 243 Stück produziert; A.G. Chor'kov, Techniceskoe perevooruzenie sovetskoj armii nakanune Velikoj Otecestvennoj Vojny [Die technische Umrüstung der sowjetischen Armee am Vorabend des Großen Vaterländischen Krie- ges], in: Viz, Nr. 6 (1987), S. 20. 189 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 324. 190 »O proizvodstve tankov >KV< na 1941 god [Über die Produktion der Panzer »KV«], iz postanovlenija SNK SSSR i CK VKP(b), 15 marta 1941 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 202 f. und »O proizvodstve tankov T-34 ν 1941 godu [Über die Produktion der Panzer T-34 im Jahr 1941], iz postanovlenija SNK SSSR i CK VKP(b), 5 maja 1941 g.«, in: ebd., S. 204. 191 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3, S. 421. 192 »O proizvodstve tankov >KV< na 1941 god« (wie Anm. 190), S. 202 f. und »O proiz- vodstve tankov T-34 ν 1941 godu« (wie Anm. 190), S. 204 f. 193 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 324 f. 194 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 157 f. 152 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

bemerkt, Stalin sei in der Frage, ob zusätzliche Panzerkorps gebraucht würden, »viel zu lange unschlüssig« gewesen195, was allerdings durch die Uneinigkeit der militärpolitischen Führung über den Einsatz mechanisierter Großverbände be- gründet war196. Die Kommandeurtagung im Dezember 1940 und die sich an- schließenden zwei Kriegsspiele auf Stabsebene ergaben schließlich einen Konsens, nach dem Stalin die Grundsatzentscheidung, 20 neue mechanisierte Korps auf- zustellen, am 13. Januar 1941 traf197. Der Konsens spiegelt sich in der »wichtigsten Schlußfolgerung« wider, die der Verteidigungskommissar zum Abschluß der Kommandeurtagung aus den letz- ten sowjetischen und europäischen Kriegserfahrungen zog198. Von der These aus- gehend, daß der Erfolg militärischer Operationen von einer hohen Geschwindig- keit abhänge, Schloß Timosenko auf die Notwendigkeit, für die Offensive mecha- nisierte Truppen und Fliegerverbände in massierter Form bereitzustellen199. Die mechanisierten Verbände sollten dabei aus einer tiefgestaffelten aktiven Verteidi- gung heraus in Schlagformationen die feindlichen Linien an verschiedenen Front- abschnitten durchbrechen und umfassen, so daß die Hauptmacht nachrückender Armeen die gegnerischen Truppen endgültig zerschlagen könnte200. Triandafillovs und Tuchacevskijs Konzept »tiefer« Angriffsoperationen war damit in der Sache rehabilitiert und in operativer Hinsicht weiter ausgearbeitet worden. Im Rahmen dieser modifizierten Militärdoktrin kam den Panzerkorps die Hauptrolle zu. Dies geht aus dem dokumentierten Verlauf der zwei Stabsübungen, die sich vom 6. bis zum 11. Januar 1941 an die Kommandeurtagung anschlossen, deutlich hervor201. Die militärpolitische Führung verfolgte mit dieser Kriegssimulation ausdrücklich das Lehrziel, ihre Armeekommandeure mit zeitgemäßen Angriffsoperationen im Zusammenhang einer strategischen Auseinandersetzung zwischen »westlichen« und »östlichen« Heeresgruppen vertraut zu machen202. Der deutsche Angriff am 22. Juni 1941 traf im Westen der UdSSR auf ledig- lich sechs annähernd gefechtsfähige Panzerkorps und sechs weitere Korps, die mit 295 Panzern Brigadestärke erreichten203. Die zu dem Zeitpunkt andauernde Reorganisation der Panzertruppen bedingte, daß weder die selbständigen Korps noch die Schützenverbände über genügend Panzer verfügten, obwohl allein in den westlichen Militärdistrikten 10 540 gefechtsfähige Panzertypen aller Art zur Verfügung standen204. Wenn diese Panzer auch überwiegend älterer Bauart wa- ren, hätten sie doch bei einer guten Organisation und Führung ein gewaltiges Militärpotential dargestellt205.

195 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 325. 196 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), S. 12. 197 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 151-155; Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), S. 14. 198 »Zakljucitel'naja rec« (wie Anm. 63), S. 16-18; Zitat auf S. 18, Sp. 1. 199 Ebd., S. 18, Sp. 1. 2°o Ebd., S. 18-21. 201 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), in: Viz, Nr. 7 (1993), S. 15 f. und Nr. 9 (1993), S. 33. 202 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), in: Viz, Nr. 7 (1993), S. 14 f. und Nr. 8 (1993), S. 28 f. 203 Wüllenweber, Rote Armee (wie Anm. 171), S. 164 f. 204 ν ρ Zolotov, S.I. Isaev, »Boegotovy byli...« [Kampfbereit waren ...], in: Viz, Nr. 11 (1993), S. 76 f. 205 Zum Vergleich: Das Oberkommando der Wehrmacht verfügte am 20.6.1941 über ins- Die Reorganisation der Roten Armee 153

»Den Luftstreitkräften galt die besondere Sorge der sowjetischen Partei- und Staatsführung«206, namentlich Stalins207. Die stürmische Entwicklung der sowjeti- schen Luftfahrt in den dreißiger Jahren nutzte sowohl dem Herrschaftsprestige als auch der Offensivstrategie 8. Der Aufbau der Roten Luftflotte hielt Stalin al- lerdings nicht davon ab, sämtliche führenden Flugzeugkonstrukteure in den GULag zu verbannen209, weil die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der repu- blikanischen Regierung eingesetzten sowjetischen Jäger und Bomber den neue- sten deutschen Kampfflugzeugen, die seit dem Frühjahr 1937 in der »Legion Condor« für General Franco kämpften, unterlegen waren210. Dieser umfangreiche211 und weitgehend selbständige Einsatz in Spanien von 1936 bis 1939 bedingte nicht nur die Umrüstung der sowjetischen Luftstreitkräf- te, sondern auch die Entscheidung, die Luftflotte wieder vorrangig als Unter- stützungswaffe der Bodentruppen einzusetzen212. Infolgedessen rückte die Ent- wicklung neuer Kampfflugzeuggenerationen in den Vordergrund: zum einen von zweimotorigen Bombern, der Tupolevs (Tu-2) und Petljakovs (Pe-2), und zum anderen von Jagdflugzeugen Jakovlevs (Jak-1), Lavockins (LaGG-3) und Mikojans (MiG-3)213. Die Weiterentwicklung schwerer und weitreichender Bom- ber beschränkte sich dagegen auf den Pe-8, den stark modifizierten Nachfol- getyp von Tupolevs TB . Diese Modernisierung verlief bis 1939 ohne genaue Zielvorgaben . Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich endlich die Entschlossenheit der militärpolischen Führung ab, die Prototypen möglichst rasch in Serie gehen zu lassen. So machte das Verteidigungskomitee im Septem- ber 1939 dem neu geschaffenen Volkskommissariat für Luftfahrtindustrie (NKAP) die Auflage, den Aufbau und die »Rekonstruktion« von insgesamt 18 Flugzeug- fabriken bis zum Dezember 1941 abzuschließen216. Nachdem der Finnlandfeldzug auch für die Rote Luftflotte unrühmlich zu Ende gegangen war217, warf Stalin deren Leitung im NKO vor, die Entwicklung

gesamt 3350 Panzer, die für den Angriff auf die Sowjetunion bestimmt waren; Der An- griff (wie Anm. 3), S. 320 f. 206 Gosztony, Rote Armee (wie Anm. 24), S. 171. 207 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 333. 208 Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 166 f. Siehe dazu den Rückblick des Flugzeugkon- strukteurs A.S. Jakovlev, in: Stalin and his Generals (wie Anm. 166), S. 166. 209 Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 107 f. 210 Die sowjetische Führung hatte laut A.S. Jakovlev im Rausch der Anfangserfolge der I- 15 und 1-16 Jäger über die deutschen Me-109 Bs in Spanien versäumt, die eigenen Jagdflugzeuge rasch zu modernisieren; Stalin and his Generals (wie Anm. 166), S. 167-169. 211 Von September 1936 bis März 1938 verschiffte die Sowjetunion allein über Odessa und das Mittelmeer 242 Kampfflugzeuge nach Spanien; D.C. Watt, Soviet Military Aid to the Spanish Republic in the Civil War 1936-1938, in: Slavonic and East European Re- view, Vol. 38 (1959/60), S. 536-541. 212 Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 147-150; John J. Baker, The Longerange Bomber in Soviet Military Planning, in: Soviet Air Forces, ed. by Paul J. Murphy, Jefferson, N.C., S. 178. 213 Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 154 f. (zu den Bombern) und S. 156-160 (Jäger). 214 Ebd., S. 155 f. 215 Ebd., S. 161-165. 216 Chor'kov, Techniceskoe perevooruzenie (wie Anm. 188), S. 18 f.; Wolkogonow, Stalin (wie Anm. 16), S. 504 f. 217 Vorosilov, Uroki (wie Anm. 9), S. 106 f. und 114 f. Zu den Verlusten siehe Grif sekretno- sti snjat (wie Anm. 158), S. 100 f., Anm. 2. 154 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

moderner Flugzeugtypen versäumt zu haben218. Wenn auch dieser Vorwurf zu- treffen mag, ignorierte er doch das durch die »Säuberungen« geschaffene inno- vationsfeindliche Klima, das z.B. die mehrfache Nachrüstung statt einer Weiter- entwicklung von Polikarpovs 1-16 Jäger (»Ratte«) begünstigte219. Die sowjetische Führung begriff anscheinend erst im Frühjahr 1940 die Notwendigkeit, zeit- gemäße Flugzeugtypen rasch einzuführen, die Versorgung am Boden mit Flug- plätzen und technischen Diensten zu verbessern, die Vielzahl an Fliegereinheiten in größeren Verbänden (Divisionen) zusammenzufassen, sowie nicht zuletzt das Flug- und Bodenpersonal besser auszubilden und zu führen, um »Havarien und Katastrophen« in Zukunft zu vermeiden220. Im Unterschied zu den gravierenden Problemen der Ausbildung und Füh- rung war die Umstrukturierung der Luftstreitkräfte relativ unproblematisch. Der Beschluß des Rates der Volkskommissare vom 25. Juli 1940 sah vor, die vorhan- denen 163 Luftregimenter bis zum 1. September in 26 »gemischte« Divisionen, denen jeweils zwei bis drei Bomber- und Jägerregimenter angehörten, sieben Langstreckenbomber- und fünf Jägerdivisionen zusammenzufassen. Das Überge- wicht und die Aufgabenstellung der »gemischten« Divisionen lassen unschwer erkennen, daß die Hauptmacht der Luftstreitkräfte weiterhin zur Unterstützung der Bodentruppen eingesetzt werden sollte221. Diese Umstrukturierung ging mit der fortgesetzten Aufstellung neuer Lufteinheiten222 und der 1939 eingeleiteten Umrüstung der Luftstreitkräfte einher. Die Auf- und Umrüstung verlief aus der Sicht der sowjetischen Führung zu langsam. Deshalb wies das Politbüro am 16. November 1940 alle Fabrikdirekto- ren, die das Militär mit Flugmaschinen belieferten, an, das ZK und das NKAP »täglich« über ihre ausgelieferten Produktionsmengen zu unterrichten223. Am 7. Dezember schrieb die Stalinsche Führung sogar der Luftfahrtindustrie die Pro- duktion der neuen Kampfflugzeuge und verbesserter Flugmotoren in jeweils quartalsweise heraufgesetzten Stückzahlen für das Jahr 1941 vor224. Daran an- schließend soll am 25. Februar 1941 ein weiterer Plan über die zusätzliche Aufstel- lung von 106 Luftregimentern mit modernen Kampfflugzeugen bis zum Beginn des Jahres 1942 verabschiedet worden sein225. Diese neuen Regimenter waren

218 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10, Sp. 2. 219 Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 163 f. 220 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 10 f. 221 »Ob organizacionnoj strukture voennych vozdusnych sil Krasnoj Armii [Über die Or- ganisationsstruktur der Luftstreitkräfte der Roten Armee], iz postanovlenija SNK SSSR, 25 ijulja 1940 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 184 f. 222 Bis zum 1.1.1941 sollten zu den 36 Luftdivisionen weitere 12 (mindestens 3000 Kampf- flugzeuge) der Reserve aufgestellt werden; »Ob organizacionnoj strukture« (wie Anm. 221), S. 185. 223 »O ezednevnoj informacii po vypusku motorov i samoletov [Uber die tägliche Infor- mation bezüglich der Auslieferung von Motoren und Flugzeugen], postanovlenie Po- litbüro CK VKP(b), 16 nojabrja 1940 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 194 f. 224 Von der neuen Jägergeneration (MiG-3, LaGG-3, Jak-1/3) sollten bis Ende Juni 1941 2925 und bis Jahresende sogar 8510 Stück, an modernen Kampfbombern (Pe-2, Jak-4, Su-2 u.a.) 2475 bzw. 6070 Stück sowie von dem neuen Sturzkampfflugzeug II-2 460 bzw. 1750 Stück produziert werden; »O programme vypuska samoletov i aviamotorov ν 1941 godu [Über das Auslieferungsprogramm für Flugzeuge und Flugmotoren im Jahr 1941], iz postanovlenija SNK i CK VKP(b), 7 dekabrja 1940 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 195 f. 225 John T. Greenwood, Von Hardesty, Soviet Air Forces in World War II, in: Soviet Air Forces (wie Anm. 212) S. 40 f. und 323. Die Reorganisation der Roten Armee 155

wohl dafür prädestiniert, im Kriegsfall die Lufthoheit zu erringen und bei den tiefen Angriffsoperationen an vorderster Front mitzuwirken. Dafür sprechen die Hervorhebung dieser operativen Aufgaben durch den Verteidigungskommissar zum Abschluß der Kommandeurtagung226 und die nochmals forcierte Aufrü- stung der Landstreitkräfte im Frühjahr 1941. Die Ausrüstung eines größeren Teils der bestehenden und aufzustellenden Einheiten mit modernen Flugzeugen war jedoch bis zum 22. Juni 1941 unmöglich. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Rote Luftflotte den einschlägigen Angaben der Sowjethistoriographie zufolge aus 79 Divisionen und fünf Brigaden, von de- nen allerdings 25 Divisionen noch nicht vollständig aufgestellt227 oder, anders betrachtet, erst 19 Regimenter vollständig umgerüstet228 waren. Diese offiziellen Zahlenwerte liegen im Trend der genannten Reorganisationsbeschlüsse. Die 25 unvollständigen Luftdivisionen stimmen ungefähr mit den Ende Februar 1941 geplanten 106 neuen Regimentern überein. Die oft zitierte sowjetische Angabe, daß 1940 und im ersten Halbjahr 1941 lediglich 2739 Kampfflugzeuge der Typen MiG-3, Jak-1, LaGG-3, Pe-2 und 11-2 an die Armee ausgeliefert wurden229, liegt zwar deutlich unter den Quartalswerten des Produktionsplans für 1941 (3910 Stück)230, erscheint aber glaubwürdig, weil die Serienproduktion der neuen Jä- gertypen noch im Mai 1941 nachgebessert werden mußte231. Die Luftabwehr der Roten Armee bestand seit Mitte der zwanziger Jahre aus den Einheiten der Flugabwehrartillerie, den Stationen der »Luftbeobachtung, Be- nachrichtigung und Verbindung« (VNOS) und den Jagdfliegereinheiten der Luftstreitkräfte232. Die sowjetischen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg, in dem sowjetische Militärs die Luftverteidigung Madrids und anderer Städte orga- nisiert hatten233, führten zu ähnlichen Vorsorgemaßnahmen in der UdSSR. Für die Hauptstädte Moskau und Leningrad sowie für das Olzentrum Baku wurden im Jahre 1937 Luftverteidigungskorps aufgestellt234. Indessen war zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht einmal der Luftschutz Moskaus vollständig aufge- baut. Ein deutliches Indiz dafür ist die Anordnung der Partei- und Staats- führung vom 20. August 1939, die Moskauer Metro für den Luftschutz der Be- völkerung einzurichten235. Zur gleichen Zeit wurde die Flugabwehrartillerie auf moderne Typen mit großer Reichweite, z.B. die 76,2-mm-Flak von 1938, und auf

226 »Zakljucitel'naja rec« (wie Anm. 63), S. 21. 227 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3 (1974), S. 424. 228 Istorija Velikoj Otecestvennoj Vojny, Bd 1 (1960), S. 458 (vgl. Anm. 153). 229 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3 (1974), S. 425. 230 »o programme vypuska samoletov« (wie Anm. 224), S. 195. 231 Die Konstruktion der Modelle MiG-3 und LaGG-3 war noch unausgewogen und schwerfällig, ihre Lenkbarkeit beeinträchtigt; vgl. die Nachbesserungs-Beschlüsse des Sovnarkom und des ZK der VKP(b): »O samolete MiG-3, 28 maja 1941 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 204 f. und »O samolete LaGG-3, 31 maja 1941 g.«, ebd., S. 205 f. Die Typen Jak-1 und LaGG-3 wurden trotz unbefriedigender Tests im Jahre 1940 für die Serienproduktion freigegeben; Tsypkin, Origins (wie Anm. 13), S. 144 f. 232 50 let Vooruzennych Sil SSSR (wie Anm. 155), S. 183. 233 Robert Kilmarx, A History of Soviet Air Power, London 1962, S. 146. 234 Gosztony, Rote Armee (wie Anm. 24), S. 170 f.; Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 2 (1974) S. 201. 235 »O stroite'stve special'nych sooruzenij PVO na linijach 2-ij oceredi Moskovskogo me- tropolitena imeni L.M. Kaganovica [Uber den Aufbau spezieller PVO-Vorrichtungen für die Strecken des zweiten Bauabschnitts der Moskauer Untergrundbahn »L.M. Ka- gannovic«], 20 avgusta 1939 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 173 f. 156 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

die dritte Version des Feuerleitsystems (PUAZO-3) von 1939 umgerüstet236. Für die Luftaufklärung standen erst Prototypen einer sowjetischen Funkpeilung zur Verfügung237. Ungeachtet dieser Modernisierungsansätze und des guten Ab- schneidens von »annähernd 150 Flugabwehrkanonen und Fla-Mgs« der Roten Armee während des Konflikts am Chalchin-gol238 wurde nach dem Finnland- krieg festgestellt, daß »bei der existierenden Lage der Führung und Organisation der PVO der nötige Schutz vor einem Luftangriff nicht gewährleistet ist«239. Die Ausrüstung der Luftabwehr sei »veraltet«, die Ausbildung der Kader »ungenü- gend«; für den Objektschutz fehlten Scheinwerfer, und der VNOS-Dienst sichere »nicht die rechtzeitige Entdeckung und Meldung feindlicher Flugzeuge«240. Für eine landeseinheitliche und flächendeckende Organisation der Luftab- wehr sorgte schließlich die Regierungsverordnung vom 25. Januar 1941, indem sie das von Luftangriffen bedrohte Hinterland der sowjetischen Staatsgrenze bis zu einer Tiefe von 1200 km in Zonen, Regionen und Punkte der Luftverteidi- gung aufteilte241. Für den Luftschutz der Städte waren drei Korps (für Moskau, Leningrad, Baku), zwei Divisionen (Kiev, Lemberg), neun Brigaden und 23 Re- gimenter vorgesehen. Zudem sollten 60 einzelne PVO-Divisionen und 42 MG- Flugabwehrkompanien wichtige Industrieanlagen und Verkehrsknotenpunkte schützen242. Eine rasche Umsetzung dieser umfangreichen Verordnung bis zum deutschen Angriff ist jedoch mindestens in bezug auf die Ausrüstung unwahr- scheinlich. Zum Beispiel verfügte der Besondere Kiever Militärbezirk im Mai 1941 insgesamt über 1225 Flugabwehrkanonen243. In der genannten Verordnung werden allein für den Luftschutz der Großstädte Kiev und Lemberg jeweils 120 Flak mittleren Kalibers und 84 kleinkalibrige Flak veranschlagt244. Außerdem sollten die wichtigsten Städte der UdSSR mit der weitreichenden 85-mm-Flak des Baujahrs 1939, deren Produktion erst für 1941 in größerer Menge geplant war245, ausgerüstet werden246. Die militärpolitische Führung hat ihre Land- und Luftstreitkräfte in den Jah- ren 1938 bis 1941 mehrfach umorganisiert und seit 1939/40 auch in zunehmen- dem Maße umgerüstet, während sie die Luftabwehrverteidigung nicht vor Ende Januar 1941 flächendeckend und einheitlich reorganisierte. An dieser ungleich-

236 K. Lavrenfev, Zenitnaja artillerija ν sisteme PVO vojsk nakanune Velikoj Otecestven- noj vojny [Luftabwehrartillerie im System der PVO am Vorabend des Großen Vaterlän- dischen Krieges], in: Viz, Nr. 10 (1971) S. 28 f. 237 John Erickson, Radio-location and the Air Defence Problem, in: Science Studies, Nr. 2 (1972), S. 260 f. 238 J.A. Andersen, A.I. Droschin, P.M. Losik, Die Luftabwehr der Landstreitkräfte, Berlin 1981, S. 31-33, das Zitat auf S. 32. 239 »Akt ο prieme« (wie Anm. 26), S. 13, Sp. 1. 2« Ebd., S. 12 f. 241 »Ob organizacii protivovozdusnoj oborony [Uber die Organisation der Luftabwehr- verteidigung], iz postanovlenija SNK SSSR, 25 janvarja 1941 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 198. 242 Ebd., S. 199 f. 243 Ivasov, V poslednie (wie Anm. 169), S. 14, Tab. 2. 244 »Ob organizacii protivovozdusnoj oborony« (wie Anm. 241), S. 199. 245 4000 Stück; »O plane voennych zakazov na 1941« [Uber den Plan der militärischen Be- stellungen für 1941], in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 201. 246 »Ob organizacii protivovozdusnoj oborony« (wie Anm. 241), S. 200; zu den Gefechtsei- genschaften der 85-mm-Flak siehe Andersen/Droschin/Losik, Luftabwehr (wie Anm. 238), S. 25 f. Die Reorganisation der Roten Armee 157

gewichtigen Entwicklung zeigt sich der Einfluß der bis zum deutschen Angriff unverändert gültigen Offensivstrategie. Das bis zur Kommandeurtagung um die Jahreswende 1940/41 nicht eindeu- tig geklärte Zusammenwirken der Teilstreitkräfte läßt einen großen Mangel an konzeptioneller Führung infolge der »Säuberungen« erkennen. Die Komman- deurtagung führte offenkundig zu einer Rückbesinnung auf die »tiefen Angriffs- operationen«. Die Einsatzfähigkeit der Schützendivisionen am 22. Juni ist mindestens durch deren mangelhafte Ausrüstung mit automatischen Waffen eingeschränkt gewe- sen. Die Panzerkorps waren seit den sowjetischen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg als operative Waffe umstritten und wurden erst nach dem deut- schen »Blitzkrieg« in Westeuropa für unverzichtbar gehalten. Die seit Juni 1940 in Aufstellung befindlichen neun mechanisierten Korps konnten bis zum deut- schen Angriff — bedingt durch die seit Januar 1941 geplanten 20 weiteren Korps — nur teilweise in einen gefechtsfähigen Zustand versetzt werden. Die Luftstreitkräfte wurden nach dem Finnlandkrieg umstrukturiert sowie zunehmend mit der wesentlich verbesserten Flugzeuggeneration von Kampf- bombern (Tu-2, Pe-2) und Jägern (Jak-1, MiG-3) ausgerüstet. Ein Abschluß der seit Beginn des europäischen Krieges forcierten Um- und Aufrüstung der Luft- flotte war im Frühsommer 1941 nicht geplant. Die landesweiten Ausmaße der späten Reorganisation des Luftschutzes ließen bis zum 22. Juni 1941 nur Teilab- schlüsse zu.

IV. Die Befestigung und Erschließung der westlichen Grenzräume 1940/41

Die Expansion der UdSSR vom Herbst 1939 bis zum Sommer 1940 infolge des deutsch-sowjetischen »Nichtangriffsvertrages«247 um 100 bis 300 km nach We- sten schien die strategische Lage der UdSSR wesentlich verbessert zu haben. Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet waren die neuen Grenzgebiete je- doch weder ausreichend befestigt und armiert noch mit einem genügend er- schlossenen Hinterland versehen248. Im Anschluß an den Finnlandkrieg und die nachfolgenden sowjetischen Ge- bietsgewinne wurde im Jahr 1940 mit dem Aufbau von elf neuen »Befestigten Räumen« (Ukreplennye Rajony, UR) entlang der vorgeschobenen Staatsgrenze begonnen249. Diese UR waren tiefgestaffelte und zusammenhängende Verteidi-

247 Vgl. Helmut König, Das deutsch-sowjetische Vertragswerk von 1939 und seine Gehei- men Zusatzprotokolle, eine Dokumentation, in: Osteuropa, Nr. 5 (1989), S. 413-458; Dokumenty (wie Anm. 2), Bd 22, Teilbd. 1, S. 632 und Teilbd. 2, S. 590-592 mit kriti- schen Anmerkungen zur Publikationsgeschichte. 248 Erickson, Red Army's March (wie Anm. 181), S. 21-23. 249 Char'kov, Ukreprajony (wie Anm. 13), S. 88 f. Bei der Ubergabe des Verteidigungs- kommissariats am 7. Mai 1940 war weder über den Aufbau der neuen noch über die Nutzung der alten Grenzbefestigungen entschieden worden; »Akt ο prieme«, in: Izve- stija CK KPSS (wie Anm. 26), S. 8, Sp. 2. 158 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer gungszonen im nahen Hinterland der sowjetischen Staatsgrenze250. Ihre Funk- tion bestand darin, einerseits feindliche Angriffe aufzufangen und andererseits Angriffshandlungen der eigenen Streitkräfte als Ausgangsbasis zu dienen251. Die neuen UR sollten jeweils aus zwei mit MGs und leichter Artillerie bestückten Verteidigungsabschnitten mit einer Gesamttiefe von 15-20 km und einem Vor- feld bestehen252. Im Frühjahr 1941 versuchte die sowjetische Führung offensichtlich, den Auf- bau der Befestigten Räume zu beschleunigen; zudem sollten in diesem Jahr neun weitere UR im Westen errichtet werden253. Indessen verzögerte sich der UR-Auf- bau infolge des Mangels an Baumaterial (z.B. Stahlbeton für Stützpunkte und Panzersperren) an Bewaffnung für die Stützpunkte und an technischen Hilfsmit- teln, z.B. Transportfahrzeugen254. Ein weiterer Grund liegt vermutlich in der Ent- scheidung Stalins, unter dem Eindruck der »Mannerheim-Linie« des Finnland- krieges Stahlbeton-Anlagen gegenüber Befestigungen aus Holz und Erde den Vorrang einzuräumen255. Der sowjetischen Führung gelang es deshalb wahrscheinlich nicht einmal, den Bau der ersten Befestigungsabschnitte rechtzeitig zu beenden256. Nach der Aussage des Generalstabschefs Zukov gab es im Juni 1941 entlang der westli- chen Staatsgrenze noch unbefestigte »Zwischenräume, die sich bis zu 50-60 km an der Front erstreckten«257. Der damalige Kommandeur des 9. mechanisierten Korps, Konstantin K. Rokossovskij, bestätigt diese Aussage für den Besonderen Kiever Militärbezirk: Weder die neuen noch die alten Befestigten Räume seien dort in operativer Hinsicht einsatzfähig gewesen258. Die Einsatzfähigkeit aller westlichen UR wurde vom Verteidigungskommissariat für den Herbst 1941 an- visiert. Einem Politbüro-Beschluß vom 4. Juni zufolge war »die Aufstellung der Einheiten für die neu aufzubauenden Befestigten Räume [...] bis zum 1. Oktober des Jahres 1941 abzuschließen [...]«259. Im Anschluß an den UR-Aufbau verlief im gleichen Zeitraum die militärische Erschließung der okkupierten Territorien. So betrachtete die militärpolitische Führung der UdSSR das von Polen annektierte Territorium Anfang Mai 1940 als »Schauplatz militärischer Handlungen«, dessen »Vorbereitung zum Krieg in je- der Beziehung äußerst schwach« sei, da u.a. Eisenbahnkapazitäten, Flugplätze und Treibstofflager fehlten260. Zu Beginn der Erschließung des westlichen Hinterlandes wurde das sowjeti- sche Militärbezirkssystem bis Ende Juli 1940 reorganisiert. Der Verteidigungs- kommissar ordnete an, den größten Teil der neuen Grenzgebiete den bestehen-

250 Sovetskaja Voennaja Enciklopedija (wie Anm. 36), Bd 8 (1980), S. 185, Sp. 1. 251 Char'kov, Ukreprajony (wie Anm. 13), S. 88. 252 Ebd., S. 89; Angaben über die benötigten, aber defizitären Waffentypen im »Akt ο prie- me«, in: Viz (wie Anm. 26), S. 8 f. 253 Char'kov, Ukreprajony (wie Anm. 13), S. 89, Sp. 1. 254 Ebd., S. 91. 255 Ju. A. Kirsin, Ν. M. Ramanicev, Nakanune [Am Vorabend des] 22 ijunja 1941 g., in: Nini, Nr. 3 (1991), S. 9 f. 256 Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges (wie Anm. 153), Bd 1, S. 560. 257 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 349. 258 K.K. Rokossovskij, Soldatski) dolg [Soldatenpflicht], in: Viz, Nr. 4 (1989), S. 53. 259 »Ob ukreprajonach [Über die Befestigten Gebiete], postanovlenie Politbjuro CK VKP(b), 4 ijunja 1941 g.«, in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 207. 260 »Akt ο prieme«, in: Viz (wie Anm. 26), S. 8. Die Reorganisation der Roten Armee 159

den Militärbezirken anzuschließen, Litauen und Lettland hingegen zusammen als »Baltischen Militärbezirk« von Riga aus zu verwalten261. Am 17. August 1940 wurde der Baltische Militärbezirk um Estland erweitert und zum »Besonderen-« Militärbezirk erklärt262. Genauso wie in Weißrußland und der Ukraine stellte nun der Baltische Militärbezirk nicht nur eine administrative Organisation, son- dern auch eine »operationeile Gruppierung« dar, die im Kriegsfall sofort zu ei- ner »Front« wurde . Zu jeder »Front« gehörte ein militärisches Hinterland, das bei einer Tiefe von 150 km an die Versorgungsdienste der zugehörigen Armeen anschloß und bis 300 km reichte264. Angesichts dieser Reichweite und der Anforderungen einer mobilen Kriegführung kam besonders dem Eisenbahntransport »höchste Bedeu- tung« zu265. Die Annexion der ostmitteleuropäischen Territorien von Karelien bis Bessara- bien stellte das Volkskommissariat für Verkehrswesen vor die Aufgabe, die »westeuropäisch« (d.h. enger) gespurten Schienenwege dieser Gebiete an das so- wjetische Netz anzuschließen und es im Hinblick auf operativ-strategische Erfor- dernisse auszubauen266. Der Ausbau der Verkehrsverbindungen litt — wie der UR-Aufbau — an dem Mangel an Baumaterialien und Arbeitskräften, was aus dem Memorandum des Oberkommandierenden des Besonderen Westlichen Militärbezirks, Pavlov, an Stalin, Molotov und Timosenko vom 18. Februar 1941 deutlich hervorgeht267. Der Bericht des Leiters der Fernmeldetruppen, N.I. Gapic, an den Generalstabschef von Anfang März 1941 unterrichtete die sowjetische Führung zudem über den »schlechten Zustand« der Nachrichtenmittel und das Fehlen jeglicher Reserven268. Die militärpolitische Führung plante sogar, im Kriegsfall Personal und Transportmittel aus dem Landesinnem für die Mobilisie- rung der Streitkräfte in den grenznahen Militärbezirken in großem Umfang zu verwenden269. Die sowjetische Führung sicherte sich auf der Grundlage des Hitler-Stalin- Pakts vom 23. August 1939 und durch den Einsatz der Roten Armee ein strategi- sches Vorfeld in Ostmitteleuropa. Im Anschluß an die Annexionen in den Jahren 1939/40 wurde mit dem Aufbau von Befestigten Räumen im nahen Hinterland der neuen Westgrenze begonnen, ein Abschluß der Bauarbeiten sowie der Aus-

261 Zur gleichen Zeit wurde der Besondere Weißrussische in Besonderer Westlicher Mi- litärbezirk umbenannt, vgl. den Befehl des Volkskommissars für Verteidigung vom 11.7.1940, abgedruckt bei Ivasov, V poslednie (wie Anm. 169), S. 18; Bessarabien und die Nordbukowina sind etwa zeitgleich in den erst am 11. Oktober 1939 gegründeten Odessaer Militärbezirk eingegliedert worden; Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 190. 262 Pribaltijskij voennyj okrug: k istorii sozdanija [Der Baltische Militärbezirk: zur Grün- dungsgeschichte], in: Viz, Nr. 6 (1989), S. 16-21. 263 Erickson, Road to Stalingrad (wie Anm. 12), S. 69. 264 Istorija vtoroj (wie Anm. 156), Bd 3 (1974) S. 428 f. 265 Vorosilov, Uroki (wie Anm. 9), S. 121. 266 G.A. Kumanev, Na sluzbe fronta i tyla [Im Dienste der Front und des Hinterlandes], Moskva 1976, S. 34-54. 267 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 328 f. mit Auszügen des Memorandums. 268 N. Gapic, Nekotorye mysli po voprosam upravlenija i svjazi [Einige Gedanken zu Fra- gen der Leitung und Verbindung], in: Viz, Nr. 7 (1965), S. 46-55; Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 330 f. 269 Kirsin, Ramanicev (wie Anm. 255), S. 9. 160 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer rüstung der UR infolge knapper Ressourcen aber wahrscheinlich bis zum deut- schen Angriff nicht erreicht. Dasselbe gilt für die Erschließung des neuen mi- litärischen Hinterlandes in den Besonderen Militärbezirken, die im Kriegsfall zu »Fronten« werden sollten.

V. Armee-Reorganisation und operativ-strategische Planung

Die sowjetische Militärdoktrin und die Expansion nach Westen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges führen zu der Schlußfolgerung, daß die militärische Reor- ganisation hauptsächlich dem Zweck diente, die Rote Armee auf weitaus größe- re Konflikte mit der »kapitalistischen« Welt vorzubereiten. Die strategisch-opera- tive Richtung dieser Vorbereitung bestimmte die sowjetische Führung mit Hilfe des Generalstabs in dem jeweiligen »operativen Kriegsplan«, auf den alle ande- ren Aufbau- und Mobilisierungspläne für die Rote Armee und Flotte abge- stimmt wurden270. Ein wesentlicher Bestandteil des Plans war der westliche »Kriegsschauplatz«, mit dem sich Aleksandr M. Vasilevskij als stellvertretender Leiter der Operativen Generalstabs-Verwaltung im Sommer 1940 zu befassen hatte271. Der letzte vor dem deutsch-sowjetischen Krieg offiziell bestätigte »ope- rative Kriegsplan« stammt aus dem Jahr 1938. In den Jahren 1940/41 wurden mehrfach revidierte »Überlegungen« zu einem solchen Plan ausgearbeitet272. Be- reits die grundsätzliche Zustimmung Stalins verlieh den provisorischen Plänen für den Kriegsfall Geltung, wie Vasilevskij betont273. Damit hing auch die tat- sächliche Inkraftsetzung vom Votum des Diktators ab. Der am 13. November 1938 vom Hauptmilitärrat der RKKA gebilligte »ope- rative Kriegsplan« basierte auf der These, daß der Sowjetunion ein Zweifronten- krieg gegen einen »faschistischen Block« im Westen und gegen Japan im Osten drohe . Der sowjetische Generalstab schätzte zu der Zeit nach Aussage Matvej V. Zacharovs, des damaligen Assistenten von Saposnikov, die Gefahr eines An- griffs vom Westen her aufgrund des verfügbaren Militärpotentials als vier- bis sechsmal größer als im Fernen Osten ein275. An der westlichen Staatsgrenze wur- de der feindliche Hauptschlag nördlich oder südlich der Pripjet-Sümpfe (Polesi- ens) erwartet. In der Richtung des Hauptschlages sollte der sowjetische Gegen- angriff geführt, in der anderen Richtung eine »aktive Verteidigung« der Staats- grenze geleistet werden276. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die sowjetische Westexpansion er- forderten eine Revision des »operativen Kriegsplans«277. Als wahrscheinlichster

270 Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 30. 271 Neopublikovannoe inter'vju Marsala Sovetskogo Sojuza A.M. Vasilevskogo, nakanune 22 ijunija 1941 [Unveröffentliches Interview des Marschalls der Sowjetunion, A.M. Va- silievskij, am Vorabend des 22. Juni 1941], in: Nini, Nr. 6 (1992), S. 6 und 8 f. 272 Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 30 f. 273 Neopublikovannoe inter'vju (wie Anm. 271), S. 8. 274 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 125. 275 Ebd., S. 126 f. 27<* Ebd., S. 127-133. 277 Neopublikovannoe interv'ju (wie Anm. 271), S. 7. Die Reorganisation der Roten Armee 161

und stärkster Kriegsgegner rückte im Juli 1940 trotz des Hitler-Stalin-Paktes das Mittel- und Westeuropa beherrschende Deutsche Reich in den Vordergrund278. Generalstabschef Saposnikov nahm an, daß die Hauptkräfte der deutschen Wehrmacht von Ostpreußen aus über das Baltikum nach Minsk angreifen wür- den, weil sie auf diesem Weg günstige politische Bedingungen vorfänden. Folg- lich wären die stärksten Kräfte der Roten Armee an der »Nordwestfront«, d.h. im Besonderen Westlichen und Baltischen Militärbezirk, zu mobilisieren gewe- sen279. Saposnikov traf jedoch innerhalb der militärpolitischen Führung auf Wi- derspruch, der wahrscheinlich zu seiner Ablösung als Generalstabschef durch Mereckov am 18. August 1940 führte280. Mereckov und der Volkskommissar Timosenko legten den führenden Mit- gliedern des ZK der VKP(b), Stalin und Molotov, am 18. September die revidier- te Fassung des operativen Plans vor281. In diesen »Erwägungen«282 wurde die Konzentration sowjetischer Truppen im Kriegsfall an der »Südwestfront«, d.h. im Kiever Militärbezirk, zur »Hauptvariante« aufgewertet283, obgleich auch der neue Plan Ostpreußen als Aufmarschgebiet für den Hauptangriff der deutschen Wehrmacht favorisierte284. Stalin war laut Zukov für diese Korrektur verantwortlich. Seine Überzeu- gung, Hitler würde sich zuerst die Ukraine als Rohstoffbasis für einen »langwie- rigen und großen Krieg« sichern wollen, sei für die operative Planung maßgeb- lich gewesen285. Zacharov unterstellt zudem den Einfluß der »Spezialisten für die Südwestliche Richtung«, d.h. der Generalstabsoffiziere um den Volkskom- missar Timosenko, die nach dem Finnlandkrieg aus Kiev nach Moskau berufen wurden286. Im Septemberplan wird die Korrektur damit begründet, daß ein so- wjetischer Gegenangriff in Richtung auf Krakau und die Oder aussichtsreicher als gegen das gut befestigte Ostpreußen verlaufen würde287. Demnach war die Präferenz der sowjetischen Führung für die Südvariante nicht allein »subjek- tiv«288, sondern auch von der offensiven Militärdoktrin gespeist. Schließlich gab das Machtwort Stalins den Ausschlag, und dieses fiel laut Zacharov sogar zu- gunsten einer Verstärkung der Südvariante aus, so daß der nochmals korrigierte Plan erst am 14. Oktober 1940 bestätigt wurde289.

276 »Soobrazenija ob osnovach strategiceskogo razvertyvanija vooruzennych sil Sovetsko- go Sojuza na zapade i na vostoke na 1940 i na 1941 gody« [Erwägungen zu den Grundlagen des strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der UdSSR im Westen und im Osten für die Jahre 1940 und 1941], in: Viz Nr. 12 (1991), S. 17-20. Dieser nicht da- tierte Entwurf wurde vom Verteidigungskommissariat (Timosenko, Saposnikov) an das ZK der VKP(b), namentlich an Stalin und Molotov, zur »Uberprüfung« (rassmotre- nie) eingereicht. 279 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 214-217. 280 Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 31 f.; Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 220 f. 281 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 217. 282 »Soobrazenija ob osnovach strategiceskogo razvertyvanija vooruzennych sil Sovetsko- go Sojuza na zapade i na vostoke na 1940 i na 1941 gody« (wie Anm. 278), in: Viz, Nr. 1 (1992), S. 24-29. 283 Ebd., S. 27. Ebd., S. 25 f. 285 Zukov, Vospominanija (wie Anm. 5), S. 348 f. 286 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 221. 287 »Soobrazenija« (wie Anm. 282), S. 27, Sp. 2. 288 Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 34. 289 Zacharov, General'nyj stab (wie Anm. 5), S. 219. 162 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer

Anschließend versammelten sich die Militärratsmitglieder und Stabsleiter der westlichen Militärbezirke im Moskauer Generalstab, »wo sie in der Operati- ven Verwaltung ganze Wochen hindurch auf der Basis des operativen General- stabsplans an ihren Bezirksplänen arbeiteten«290. Der so entstandene Operations- plan des Besonderen Kiever Militärbezirks sah vor, einen feindlichen Angriff im befestigten Grenzgebiet aufzufangen und »am Morgen des 30. Tages der Mobili- sierung« den Gegenangriff mit einer Tiefe von zunächst 120 bis 130 km zu begin- nen291. Für die Streitkräfte der benachbarten westlichen Militärbezirke galt hin- gegen der Befehl, die sowjetische Staatsgrenze »nur auf besondere Anweisung des Volkskommissariates für Verteidigung« zu überschreiten292. Demnach plante die militärpolitische Führung der UdSSR zum Ende des Jahres 1940 die »aktive Verteidigung« ihres westlichen Territoriums und einen auf Zentralpolen be- schränkten Gegenangriff, was auf eine primär defensive Haltung des höchsten Entscheidungsträgers Stalin dem Deutschen Reich gegenüber schließen läßt. In den Anfang Januar in Moskau durchgeführten operativen Kriegsspielen wurden zwar vor allem Angriffsoperationen einzelner »Fronten« (Heeresgrup- pen) geübt, aber unter der Voraussetzung eines Großangriffs »westlicher« Streit- kräfte auf die UdSSR im Zeitraum Juli/August 1941293. Die unbefriedigenden Er- gebnisse dieser Stabsübungen bewirkten wahrscheinlich die erneute Revision des operativ-strategischen Leitplans. Der am 1. Februar zum Generalstabschef ernannte Zukov hatte zuvor die Möglichkeit eines erfolgreichen deutschen An- griffs von Ostpreußen aus demonstriert294. Im zweiten Kriegsspiel leitete Zukov als Oberbefehlshaber der Südwestfront den sowjetischen Hauptschlag tiefer An- griffsoperationen einerseits über Lublin nach Krakau und andererseits über die Karpato-Ukraine in Richtving auf Budapest295. Der sowjetische Generalstab rea- gierte auf den Ausgang der Stabsübungen insoweit, als er einen direkten sowje- tischen Gegenschlag nicht länger erwog und dessen operative Ziele in südwest- licher »Front«-Richtung über das Krakauer Gebiet hinaus erweiterte296. Die Of- fensivstrategie war also kaum beeinträchtigt worden. Der Notwendigkeit weiträumiger Grenzverteidigungsoperationen konnten sich die sowjetischen Mi- litärs aber nicht entziehen, was die Reorganisation der Luftverteidigung und der beschleunigte Ausbau der Befestigten Räume in den westlichen Militärbezirken zu Beginn des Jahres 1941 verdeutlichen. Als sich der deutsche Aufmarsch an der Westgrenze der UdSSR abzeichnete, verfaßte der sowjetische Generalstab neue »Überlegungen zum strategischen Aufmarschplan für die Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten«; der Verteidigungskommissar Timosenko übergab diese von ihm und Zukov unterzeichneten »Überlegungen« am 15. Mai zur »Überprüfung« an Stalin297. In dem Dokument wird die nochma-

290 Neopublikovannoe interv'ju (wie Anm. 271), S. 9. Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 33 f.; das Zitat auf S. 33. 292 Ebd.; aus dem Operationsplan des Besonderen Westlichen Militärbezirks. 293 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), in: Viz, Nr. 7 (1993), S. 14-16 und Nr. 8 (1993), S. 28-30. 294 Bobylev, Repeticja katastrofy (wie Anm. 9), in: Viz, Nr. 7 (1993), S. 17-20 und Nr. 8, S. 35 (Karte) 29s Ebd., Nr. 8 (1993), S. 30-33. 29<· Gor'kov (vgl. Anm. 9), S. 34 f. 297 Vgl. »Soobrazenija po planu strategiceskogo razvertyvanija sil Sovetskogo Sojuza na Die Reorganisation der Roten Armee 163

lige Revision des operativen Leitplans mit der akuten Gefahr eines deutschen Überraschungsangriffs begründet: Deutschland habe bereits nach dem Stand vom 15. April 1941 an der sowjetischen Westgrenze bis zu 120 Divisionen zu- sammengezogen und könne mit einem doppelt so großen Gesamtpotential, »uns beim Aufmarsch zuvorkommen«, weil es »seine Armee gegenwärtig voll mobili- siert und mit einem entfalteten Hinterland unterhält«298. Der Verteidigungskom- missar und der Generalstabschef rieten daher Stalin nachdrücklich dazu, die deutschen Truppen »im Aufmarschstadium« anzugreifen. Ihre Präventivschlag- empfehlung blieb indessen auf die Südwestfront fixiert299. Zugleich mußten Zukov und Timosenko einräumen, daß sich noch 115 Luftregimenter »im Auf- stellungsstadium« befänden sowie »der Aufbau und die Bewaffnung der Befe- stigten Räume allseitig zu beschleunigen« und sogar im Jahr 1942 fortzusetzen sei Die Reaktion Stalins auf diese eindringlichen »Überlegungen« ist unbekannt, obgleich nicht selten das Gegenteil behauptet wird301. Der zögerliche Aufmarsch der Roten Armee in den Monaten Mai und Juni im Westen ohne Übergang zur Gefechtsbereitschaft302 weist eher darauf hin, daß Stalin den Entwurf seiner Mi- litärs ablehnte. Auch wenn man die sowjetische Unterschätzung des deutschen »Blitzkrieges« in Rechnung stellt303, kann für das Jahr 1941 eine Angriffsabsicht Stalins nicht nachgewiesen werden304. Die offensive Dislozierung der Roten Ar-

slucaj vojny s Germaniej i ee sojuznikami«, in: Nini, Nr. 3 (1993), S. 40-45; Karpov, Marsal Zukov (wie Anm. 97), S. 216 f. In deutscher Übersetzung bei Walerij Danilow, Hat der Generalstab der Roten Armee einen Präventivschlag gegen Deutschland vor- bereitet?, in: Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), Nr. 1 (1993), S. 49-51, al- lerdings ohne die Korrekturen und Ergänzungen des stellvertretenden Generalstabs- chefs, N.F. Vatutin. Abdruck des russischen Orginals bei Maser, Wortbruch (wie Anm. 4) im Anhang. MS »Soobrazenija po planu« (wie Anm. 297), S. 40 f.; das Zitat auf S. 41. 299 Ebd., S. 41. 300 Ebd., S. 42 u. 44. 301 Post, Unternehmen Barbarossa (wie Anm. 4), S. 285, folgt einer fragwürdigen Behaup- tung von Danilow, der sich dabei auf ein Interview mit Vasilevskij bezieht. Aus dem publizierten Interwiew geht weder hervor, daß Vasilevskij »Mitte Mai 1941« im Kreml vorstellig geworden wäre, noch daß »Stalin die wichtigsten Thesen der >Erwägungen< vollends gebilligt«, hätte; Danilow, Generalstab (wie Anm. 297), S. 43; vgl. Neopubli- kovannoe interv'ju (wie Anm. 271), S. 8. 302 Louis Rotundo, Stalin and the Outbreak of War in 1941, in: Journal of Contemporary History, Vol. 24 (1989), S. 283, 287 und 291. 303 Die militärpolitische Führung rechnete mit etwa zweiwöchigen leichten Grenzgefech- ten vor dem Eingreifen der Hauptstreitkräfte; siehe Cynthia Α. Roberts, Planning for War: The Red Army and the Catastrophe of 1941, in: Europe-Asia Studies, Nr. 8 (1995), S. 1293-1326. 304 Danilows gegenteilige Argumentation (wie Anm. 297, S. 43) ist nicht stichhaltig: Die »Überlegungen« waren zwar an Vorgaben der politischen Führung gebunden, konn- ten aber, wie die von Saposnikov favorisierte Nordvariante des operativen Kriegs- plans von 1940, zurückgewiesen werden. Des weiteren mußte der sowjetische Auf- marsch nicht zwangsläufig zu einem Präventivschlag führen (Danilow, wie Anm. 297, S. 44-46), sondern war eher eine Reaktion auf den vorausgehenden deutschen Auf- marsch. Ferner bleibt weiterhin unklar, ob Stalin in seiner Rede am 5.5.1941 im Kreml konkrete Angriffsabsichten äußerte; vgl. Bernd Bonwetsch, Nochmals zu Stalins Rede am 5.5.1941, in: Osteuropa, Nr. 6 (1992), S. 536-542. Weder Stalins Äußerungen vor den Absolventen der Militärakademien, noch die Aussagen kriegsgefangener sowjetischer Offiziere reichen für einen Nachweis aus, den Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg (wie Anm. 4), S. 18-61 auf solche Art und Weise zu führen versucht. 164 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer mee läßt sich nicht bestreiten305; sie entsprach aber der sowjetischen Offensiv- strategie, die nach der »Großen Säuberung« 1937/38 zum Dogma für Angriffs- und Verteidigungshandlungen erhoben wurde306. Den Erinnerungen sowjetischer Militärs und Politiker zufolge sah Stalin die zahlreichen Berichte über deutsche Angriffsvorbereitungen als »Provokationen« an, um die UdSSR in den Krieg der Westmächte gegen das Deutsche Reich hineinzuziehen307. Ein weiterer Grund für seine Zurückhaltung war sicherlich die noch nicht abgeschlossene Reorganisa- tion der Roten Armee. Die operativ-strategische Planung der militärpolitischen Führung der UdSSR hat sicherlich die Reorganisation der Roten Armee in den Jahren 1938 bis 1941 maßgeblich bestimmt, weil sie die Kriegskonstellation aufzeigte, auf welche die sowjetischen Streitkräfte vorbereitet werden sollten. Zu dieser Konstellation gehörten sowohl die anvisierten Kriegsgegner als auch die »Kriegsschauplätze«. Folglich richteten sich die Reorganisationsmaßnahmen vor allem nach dem mi- litärischen Leistungsvermögen der westeuropäischen Staaten im allgemeinen und des Deutschen Reiches im besonderen. Umgekehrt hing die Durchführung des »operativen Kriegsplans« zu einem wesentlichen Teil vom Stand der Armee- Reorganisation ab. Die bis zum Juni 1941 innerhalb der militärpolitischen Führung ausgearbeiteten und in großen Stabsübungen überprüften Mobilisie- rungs- und Operationsabläufe wurden durch den laufenden Reorganisationspro- zeß der Land- und Luftstreitkräfte in Frage gestellt. Stalin ist sich dieser Proble- matik als faktischer Oberkommandierender sicherlich bewußt gewesen. Ob er deshalb im Jahr 1941 einen Krieg mit Hitler unbedingt vermeiden wollte, was plausibel erscheint, oder ob Stalin die trotz allem gewaltige Militärmaschinerie der UdSSR, die der Wehrmacht nominell weit überlegen war, in defensiver oder offensiver Absicht gegen das Deutsche Reich in Gang bringen wollte, kann nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand nicht einwandfrei beantwortet werden.

305 Heinz Magenheimer, Die Sowjetunion und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in: ÖMZ, Nr. 5 (1989), S. 392-395. 306 So standen die Thesen des Volkskommissars Timosenko zu Verteidigungsfragen, die er zum Abschluß der Kommandeurtagung vortrug, unter dem stereotypen Vorbehalt, daß alle Abwehrhandlungen zum Angriff überleiten müßten; »Zakljucitel'naja rec« (wie Anm. 63), S. 19. 307 Vgl. Rotundo, Stalin (wie Anm. 302), S. 289-293.