Aufsatz Die Reorganisation Der Roten Armee Von

Aufsatz Die Reorganisation Der Roten Armee Von

Aufsatz Harald Moldenhauer Die Reorganisation der Roten Armee von der »Großen Säuberung« bis zum deutschen Angriff auf die UdSSR (1938-1941)1 Die Vorgeschichte des »Großen Vaterländischen Krieges« der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich (1941-1945) kann auch nach dem Ende der UdSSR nur unter Vorbehalten geschrieben werden, weil ein freier Zugang zu den Archiven der Russischen Föderation nicht gewährleistet ist2. Die militärpolitischen Intentionen der Stalinschen Führung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lassen sich deshalb oft nur anhaltsweise rekonstruieren, wohingegen die Planung des deutschen Rußlandfeldzuges nachweislich nicht präventiv angelegt war3. Die aktuelle »Präventivkriegsdiskussion« kreist deshalb vorrangig um die Problematik so- wjetischer Angriffsabsichten, die nach der Meinung einiger Historiker minde- stens parallel zu den deutschen Angriffsvorbereitungen betrieben worden seien4. Um so wichtiger erscheint die kritische Aufklärung der sowjetischen Militärpoli- tik anhand der heute verfügbaren Quellen. 1 Der vorliegende Aufsatz, die verbesserte Kurzfassung meiner im Juni 1994 an der Uni- versität Bonn eingereichten Magisterarbeit, ist meinem verstorbenen akademischen Lehrer, Prof. Dr. Alexander Fischer, in tiefer Dankbarkeit gewidmet. 2 Die maßgeblichen Dokumente der politischen Entscheidungsebene — Generalsekreta- riat, Politbüro des ZK der Vsesojuznaja Kommunis tiseskaja Partija (bol'sevikov), VKP(b) — lagern im Präsidenten-Archiv der Russischen Föderation und sind kaum zugänglich. So beschränken sich die Dokumenty vnesnej politiki [Dokumente der Außenpolitik], Bd 22: 1939 god, Moskva 1992 und Bd 23: 1940-22 ijunja 1941, Moskva 1995 auf die der sowjetischen Führungsspitze untergeordnete Ebene des Volkskom- missariats für Auswärtige Angelegenheiten (MID). 3 Zuletzt hat Rainer F. Schmidt, Eine verfehlte Strategie für alle Fälle, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 45 (1994), S. 368-379, auf diese Quellenproblematik hin- gewiesen. Siehe auch Der Angriff auf die Sowjetunion, von Horst Boog [u.a.] Frankfurt a.M. 1991 (= aktual. Ausg. von: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4), S. 27-68 und S. 246-269 sowie Jürgen Förster, Hitlers Wendung nach Osten. Die deut- sche Kriegspolitik 1940-1941, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum Unternehmen Barbarossa^ hrsg. von Bernd Wegner, München 1991, S. 113-132. 4 Zuletzt Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg, München 1995; Walter Post, Unternehmen Barbarossa, Hamburg, Berlin, Bonn 1995 und Werner Maser, Der Wort- bruch, München 1994. Die Präventivkriegsthese stellt eine Minderheitenposition in- nerhalb der Geschichtswissenschaft dar (Dieter Pohl, Rückblick auf das »Unterneh- men Barbarossa«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Η. 1 (1994), S. 81 f.). Vor allem Gabriel Gorodetsky hat die »Legende vom deutschen Präventivschlag« zurück- gewiesen, vgl. ders., Stalin und Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, in: Vierteljahrshef- te für Zeitgeschichte, 37 (1989), S. 645-672 sowie in: Zwei Wege (wie Anm. 3), S. 347-366. Seit 1992 beteiligen sich auch russische Historiker an dieser Auseinander- setzung. Vgl. den Bericht über die internationale Tagung zum Thema »Kriegsanfang und Sowjetunion, 1939-1941« vom 31.1. bis zum 3.2.1995 in St. Petersburg, in: Novaja i novesaja istorija [Neue und Neueste Geschichte, nachfolgend: Nini], Nr. 4 (1995), S. 100-104. Zur innerrussischen Kontroverse siehe Gotovil Ii Stalin nastupatel'nuju voj- nu protiv Gitlera? [Hat sich Stalin auf einen Angriffskrieg gegen Hitler vorbereitet?], unter der Red. von Genadij A. Bordjugov, Moskva 1995. Militärgeschichtliche Mitteilungen 55 (1996), S. 131-164 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 132 MGM 55 (1996) Harald Moldenhauer Die Reformpolitik Michail S. Gorbacevs hat immerhin unter dem Signum Glasnost die Veröffentlichung neuen Quellenmaterials ermöglicht: zunächst von Memoiren und Interviews hochrangiger Militärs5, dann auch von Archivalien der KPdSU6 und des Verteidigungsministeriums7. Die Archivalien sind jedoch in der tendenziösen Absicht ausgewählt worden, die militärische und politische Vorbereitung der UdSSR »auf die Abwehr eines Angriffs« zu untermauern8. Seit dem Ende der UdSSR hat eine parteiunabhängige russische Militärhistoriogra- phie weitere Dokumente aufgearbeitet und zugänglich gemacht9. Dazu gehört insbesondere die Rede Stalins vor den Absolventen der Militärakademien am 5. Mai 1941 im Kreml, wo der sowjetische Führer (vozd) die »Umgestaltung« (perestrojka) bzw. — im weiteren Sinne — die »Reorganisation« der Roten Ar- mee in den zurückliegenden drei bis vier Jahren als erfolgreich darstellte10. Im Ganzen dokumentiert dieses neue Quellenmaterial eine Vielfalt an Maßnahmen, mit denen die sowjetische Führung die Aufrüstung und Modernisierung ihrer Streitkräfte bis unmittelbar vor dem deutschen Angriff zu regulieren suchte. Es stellt sich daher die Frage, was die Führung der UdSSR im einzelnen bewogen hat, kontinuierlich Einfluß auf das sowjetische Militärwesen zu nehmen und wie sich diese Einflußnahme auf die Wehrkraft der kriegsentscheidenden Land- und Luftstreitkräfte11 bis zum 22. Juni 1941 auswirkte. 5 U.a. die Aufzeichnungen des sowjetischen Schriftstellers Simonov über Gespräche, die er in den 50er und 60er Jahren mit G-K. Zukov, I.S. Konev und A.M. Vasilevskij geführt hat: Konstantin Simonow, Aus der Sicht meiner Generation, Berlin 1990; die nach dem Manuskript des Autors ergänzten Memoiren G.K. Zukovs, Vospominanija i razmysle- nija [Gedanken und Erinnerungen], Bd 1, Moskva 1990; die in den 60er Jahren verfaß- ten Erinnerungen M.V. Zacharovs, General'nyj stab ν predvoennye gody [Der General- stab in den Vorkriegsjahren], Moskva 1989. 6 Vgl. die Quellenedition »Iz Istorii Velikoj Otecestvennoj Vojny« [Aus der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges] mit Dokumenten-Auszügen zum »Vorabend des Krieges« (1935 bis 1940), in: Izvestija CK KPSS [Mitteilungen des ZK der KPdSU], Nr. 1 (1990), S. 160-209 und die Fortsetzung der Edition für die Zeit bis zum deutschen An- griff am 22.6.1941 in: Izvestija CK KPSS, Nr. 2 (1990), S. 180-216; Nr. 3 (1990), S. 192-223 und Nr. 5 (1990), S. 180-206. 7 Vgl. die Dokumentation unter dem bezeichnenden Titel Gotovil Ii SSSR preventivnyj udar? [Hat sich die UdSSR auf einen Präventivschlag vorbereitet?], in: Voenno istoriceskij zurnal [Militärhistorische Zeitschrift, Viz], Nr. 1 (1992), S. 7-29. 8 Vgl. das editorische Vorwort der Izvestija CK KPSS, Nr. 1 (1990), S. 161 bzw. im Viz, Nr. 1 (1992), S. 7. 9 Vgl. den von Jurij A. Gor'kov kommentierten Bericht des Volkskommissars für Vertei- digung, K.E. Vorosilov, Uroki vojny s Finljandiej [Lehren des Krieges mit Finnland], in: Nini, Nr. 4 (1993), S. 100-122 und die Aufarbeitung der im Dezember 1940 in Moskau abgehaltenen Kommandeurtagung von P. N. Bobylev, Repeticja katastrofy [Wiederho- lung der Katastrophe], in: Viz, Nr. 6 (1993), S. 10-16; Nr. 7 (1993), S. 14-21 und Nr. 8 (1993), S. 28-35. 10 Die Rede Stalins am 5.5.1941, dokumentiert und interpretiert von Lew Besymenski, in: Osteuropa, 42 (1992), S. 242-264; verifiziert durch die russische Edition mit genauer Quellenangabe, unter dem Titel »Sovremennaja armija — armija nastupatel'naja« [Die heutige Armee ist eine Angriffsarmee], vorgestellt von A.A. Pecenkin, in: Istoriceskij archiv [Historisches Archiv], Nr. 2 (1995), S. 23-31. In beiden Fällen handelt es sich laut Pecenkin (S. 25) um eine Aufzeichnung (zapis) der Rede und der drei Trinksprüche Stalins durch einen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums (K. Semenov). 11 Zur Marine siehe J.N. Westwood, Russian Naval Construction, 1905-1945, Houndmills [u.a.] 1994. Aufschlußreich sind die Erinnerungen des Volkskommissars für die See- kriegsflotte (VMF), Nikolaj I. Kuznecov, Nakanune, Moskva 1969 (dt.: Am Vorabend, Berlin 1970); als Ergänzung und Korrektiv siehe Kuznecovs unveröffentlichte Auf- Die Reorganisation der Roten Armee 133 Am Anfang der Untersuchung steht die Frage nach der zentralen militärpo- litischen Führung der UdSSR, d.h. nach den Organen, die zur politischen und /oder militärischen Leitung der Roten Armee autorisiert waren. Die diktato- rische Führung Stalins und die politisch-ideologische Prägung der »Roten Arbei- ter- und Bauernarmee« (RKKA) rechtfertigen den Begriff militärpolitische Führung, insoweit das zentrale Leitungssystem der Roten Armee als Gesamtheit gemeint ist. Im zweiten Kapitel wird die Kaderpolitik dieser Führung analysiert. Als Kader werden im sowjetischen Militärwesen alle im regulären Wehrdienst stehenden Personen bezeichnet, wobei zwischen (politisch) leitenden und kom- mandierenden Kadern einerseits und den Mannschaften andererseits zu unter- scheiden ist. Der dritte Abschnitt behandelt die militärtechnischen Seiten der Ar- mee-Reorganisation: die Umstrukturierung und Umrüstung der Teilstreitkräfte. Im vierten Kapitel wird der Aufbau neuer grenznaher »Befestigter Räume« und die Erschließung des Hinterlandes im Anschluß an die sowjetische Westexpansi- on 1939/40 problematisiert. Abschließend soll der Reorganisationsprozeß in die operativ-strategische Planung der militärpolitischen Führung eingeordnet und im Hinblick auf die Frage bewertet werden, ob Stalin im Jahre 1941 einen An- griffskrieg gegen das Deutsche Reich führen wollte. Seit der Pionierarbeit John Ericksons vor über 30 Jahren12 unterblieb eine wei- tere das Thema umfassende Analyse. Beiderseits des »Eisernen Vorhangs« er- schienen Studien, die einzelne Aspekte der Armee-Reorganisation vertieften13. Dies gilt auch für die in jüngster Zeit veröffentlichten

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