78 Feuilleton

Fundstück XXXVI: Zwei Briefe an

Das Archiv in Dornach bewahrt den größten Teil des literarischen und künstlerischen Nachlasses von Rudolf Steiner auf. An dieser Stelle werden seit einigen Jahren von Archivmitarbei- tenden ausgewählte Fundstücke vorgestellt. Die Archivalien stehen Interessierten und Forschenden im Lesesaal des Archivs zur Verfügung.

In der Sakristei der Christengemeinschaft in die einzige weibliche Parlamentskandidatin in (Großbritannien) hingen jahrelang zwei Wales. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Phi- Briefe Rudolf Steiners, die dem Archiv bisher losophen John Stuart Mackenzie (1860–1935), unbekannt waren. Ein umzugsbedingter Orts- Professor für Logik und Philosophie, begab sie wechsel hat sie nun wieder in das Bewusstsein sich 1915 in den Vorruhestand, um sich voll- ihrer Besitzer gebracht. Der Geistesgegenwart ständig dem Reisen und Forschen in Bezug auf und dem Engagement eines Besuchers der neu- das Erziehungs- und Schulwesen zu widmen. en Räumlichkeiten, dem emeritierten Priester Im Zuge ihrer Europareisen nahmen beide – der Christengemeinschaft John Baum, verdankt wohl auf Empfehlung ihrer langjährigen Freun- nun das Archiv den Neuzugang dieser Briefe. din, der Bildhauerin , die zu die- Gerichtet sind sie an Millicent Mackenzie, eine ser Zeit bereits mit Rudolf Steiner zusammen- der wichtigsten Initiatorinnen der Steinerschen arbeitete – im August 1921 am ›Summer Art Pädagogik im Vereinigten­ Königreich. Course‹ am Goetheanum in Dornach teil. Hier lernten sie Rudolf Steiner und die Waldorfpäda- gogik kennen und schätzen. Millicent Mackenzie und Rudolf Steiner Millicent Mackenzie war vom Sommerkurs so Hester Millicent Hughes Mackenzie (1863–1942) begeistert, dass sie, gemeinsam mit Edith Mar­ war Professorin für Erziehung am ›University yon, für Weihnachten 1921 den Vortragszyklus College of South Wales and Monmouthshire‹ ›Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physi- in und in vieler Hinsicht eine Pionierin: schen als Grundlage der freien Entfaltung des Sie war die erste Frau mit einer Professur in Seelisch-Geistigen‹1 am Goetheanum initiierte Wales und die erste Frau überhaupt, die an eine und die Teilnahme einer Abordnung englischer staatlich anerkannte Universität im Vereinigten Lehrerinnen und Lehrer organisierte. Königreich berufen wurde. Außerdem war sie Wieder zurück in Großbritannien, sorgte sie politisch aktiv: Sie engagierte sich in der Suf- mittels verschiedenster Einrichtungen und fragettenbewegung, wurde 1909 als erste Frau der Initiierung weiterer Veranstaltungen für in den Senat von Cardiff gewählt und war 1918 die Verbreitung des Steinerschen Erziehungs-

die Drei 5/2019

www.diedrei.org Feuilleton 79 Foto: Rudolf Steiner Archiv

Rudolf Steiners Brief an Millicent Mackenzie vom 28. April 1924 gedankens in der englischsprachigen Welt der nahme Steiners an der im August 1922 in den Pädagogik. So wurde Steiner auf ihr Betreiben Räumlichkeiten des College in Ox- hin unter anderem 1922 zur Shakespeare-Fei- ford veranstalteten pädagogischen Konferenz er nach Stratford eingeladen, wo er über ›Das ›Spiritual Values in Education and Social Life‹, Drama und seine Beziehung zur Erziehung und um einen 13 Vorträge umfassenden Kurs zu hal- Shakespeare und die neuen Ideale‹2 sprach. ten.3 Diese in der damaligen Presse vielbeachte- Ebenso veranlasste Mrs. Mackenzie die Teil- te Konferenz war der Beginn der Waldorfpäda- die Drei 5/2019

www.diedrei.org 80 Feuilleton gogik in Großbritannien und die Grundlage für initiiert und war wesentlich an der Entstehung deren spätere internationale Verbreitung.4 der Holzskulptur ›Der Menschheitsrepräsentant zwischen Luzifer und Ahriman‹ beteiligt. Im zweiten, kürzeren der beiden Briefe, datiert Die Briefe »Dornach, Goetheanum, 28. April 1924«, wird Bei allen englischen Vortragsreisen Steiners Mackenzie über die schwere Krankheit ihrer war Edith Maryon immer in irgendeiner Weise, Freundin informiert. Maryon war bereits zehn sei es als sprachkundige Begleiterin oder als Jahre zuvor an Tuberkulose erkrankt gewe- Organisatorin im Vorfeld, involviert. So lief sen, die sie nun seit dem Sommer 1923 wieder auch die diesbezügliche englische Korrespon- heimsuchte. »Sie kann die liebe Karte, […] in denz über sie, die dann ihrerseits brieflich zu- der Sie die uns so sehr befriedigende Ankunft sammenfassend Steiner informierte. Der erste, für 1. Mai festsetzen augenblicklich nicht selbst längere der neu entdeckten Briefe bildet hier beantworten«, teilt Steiner mit. Er selbst sei eine Ausnahme. Datiert mit »Dornach, 23. »wohl am 2. od. 3. Mai wieder zurück, um Sie Februar 1922«, stammt er aus dem Jahr der hier am Goetheanum zu begrüssen.« Ob und Oxford-Konferenz und bezieht sich auf einen wie Mackenzies Besuch stattgefunden hat, ist vorhergehenden, unbekannten Brief («Hier- nicht bekannt. Kurz nach Steiners Brief jedoch durch möchte ich mir erlauben, die Angele- wurde, »in der Nacht vom 1. zum 2. Mai« 1924, genheit der Eurythmie noch zu meinem Briefe Edith Maryon »an der Seite der befreundeten, hinzuzufügen»). Er behandelt eine mögliche sie treu pflegenden Ärztin Dr. Ita Wegman in Eurythmie-Vorführung während der »Shakes- der vollsten Gedankenklarheit durch die Pforte peare-Woche«, die hierfür erforderliche Anreise des Todes in die geistige Welt geführt«6. Die von fünf Eurythmistinnen sowie das poten- Wahrscheinlichkeit, dass die Freundinnen sich zielle Programm: »Mit diesen Damen würde noch lebend gesehen haben, ist verschwindend sich aufführen lassen: Sonette und Lyrika aus gering. Es muss davon ausgegangen werden, Shakespeare, Szenen aus meinen Mysterien (in dass es sich bei diesem Brief Rudolf Steiners der engl. Übersetzung) und die Sorge-Szene um die letzte Nachricht von Edith Maryon an aus Goethes Faust und Musikalisches.« Stei- Millicent Mackenzie handelt. ner bittet sich »bis etwa den 14. März« eine Monika Philippi (Herausgeberin) Entscheidung Mackenzies bzw. des »New-Ide- al-Komitees« aus, »ob Sie es für gut halten, dass eine solche Aufführung stattfinde«. Im Übrigen 1 Vgl. Rudolf Steiner: ›Die gesunde Entwicklung des erklärt er sich mit allem bisher Organisierten Menschenwesens‹ (GA 303), Dornach 1978. bezüglich »Thema und Zeit meiner Vorträge 2 Vgl. ders.: ›Erziehungs- und Unterrichtsmethoden […] selbstverständlich einverstanden«. Mrs. auf anthroposophischer Grundlage‹ (GA 304), Dor- Mackenzie muss zugestimmt haben, denn eine nach 1979. 3 Vgl. ders.: ›Die geistig-seelischen Grundkrafte der eurythmische Vorführung mit Szenen aus den Erziehungskunst‹ (GA 305), Dornach 1991. Mysteriendramen fand, von Rudolf Steiner ein- 4 Vgl. John Paull: ›Rudolf Steiner and the Oxford geleitet,5 am 18. August 1922 in Oxford statt. Conference: The Birth of in Brit- Am Ende des Briefes ist noch hinzugefügt: ain‹, in: ›European Journal of Educational Studies‹ »Miss Maryon lässt bestens grüßen«. Vol. 3/1 (2011). Ein Jahr später wurde Edith Maryon – krank- 5 Die Ansprache ist abgedruckt in Rudolf Steiner: heitshalber abwesend – zur Leiterin der Sektion ›Eurythmie – Die Offenbarung der sprechenden See- für bildende Künste berufen. Sie hatte die ersten le‹ (GA 277), Dornach 1999, S. 285-291 und in GA 305, S. 245-250. bemalten Eurythmieformen aus Holz sowie den 6 Vgl. Rudolf Steiners Nachruf in ders.: ›Die Konsti- Bau der damals als »Engländerhäuser« – heute tution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesell- als »Eurythmiehäuser« – bekannten Mitarbei- schaft und der Freien Hochschule fur Geisteswissen- terwohnungen im Südosten des Goetheanums schaft‹ (GA 260a), Dornach 1987, S. 231.

die Drei 5/2019

www.diedrei.org