132

Der Vinschgau im Altertum und im Frühmittelalter. Von Richard Heuberger. Unter den Tälern, denen die Ötztaler, Kurz vor dem Beginn unserer Zeitrechnung Stubaier und Iillertaler Hochalpen ihre trat das oberste Stück des Etschtals infolge Bäche zusenden, zieht besonders der Vinsch- des Vorrückens der Römer in die mittleren gau die Augen des Geschichtsfreundes auf sich. Alpen und in deren nördliches Vorland in Denn diese Talschaft, zu der man im Mittel- die eigentliche Geschichte ein. Damals saßen alter auch die Gegend zwischen dem Schnalser« im Vinschgau die Venostes. deren Name bis dach und der Passer rechnete, ging in ihrer zum heutigen Tag an der einst von ihnen be- geschichtlichen Entwicklung eigenartige Wege, wohnten Talschaft haften geblieben ist. Diese wie schon der Umstand erkennen läßt, daß sie Völkerschaft zählte zu jenen in den mittleren noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in kirch- Teilen des Alpengebirges hausenden Stäm- licher Beziehung zum Hochstift gehörte. men, die ohne Rücksicht auf ihre Herkunft von Es hat daher einen eigenen Reiz, in großen Griechen und Römern als Räter bezeichnet Zügen die Frühgeschichte des obersten Stückes wurden. In Sprache und Gesittung gehörte des alpinen Etschtals zu verfolgen ^). sie, wir ihr Name und die in ihrem Heimat- tal gemachten Funde beweisen, zu den Veneto- Der Mensch drang mit seinen Siedlungen Illyrern. Der Name der Finstermünz hat bereits in der jüngeren Steinzeit von Süden mit dem der Venosten gewiß nichts zu schaffen. her bis ins Mündungsgebiet der Passer vor. Wohl aber erinnert an diesen Stamm die Er dürfte schon damals auch das Reschen- Bezeichnung Vinestana silva, die noch im scheideck überschritten und damit jenen Ver- 12. Jahrhundert für einen bei Finstermünz kehrsweg entdeckt haben, der in der Folge die gelegenen Wald gebraucht wurde. Dieser Schicksale des obersten alpinen Etschtals Forst war zweifellos nur der letzte Rest eines wesentlich mitbestimmt hat. Während der mächtigen Waldes, der einst Höhe und Flan- Bronzezeit wurde der größte Teil dieser Tal- ken des Reschenscheidecks bedeckt und jeden- schaft in den Bereich des besiedelten Raumes falls die Landmart des urzeitlichen Venosten- einbezogen, innerhalb dessen sichdi e Zahl der gaues gegen das Gebiet der im Oberinntal Wohnplätze zusehends vermehrte. Der Fund ansässigen Veneto-Illyrer gebildet hatte. des Bruchstücks eines Götterbildes und eines Gegen das zu, in dem in vor- mit Einritzungen versehenen Marmorblockes geschichtlicher Zeit die vielleicht zu den nicht scheint darauf hinzudeuten, daß in diesem indogermanischen Ligurern gehörigen Ru- Zeitalter in der Algunder Gegend ein Heilig- dusken wohnten, begrenzte die Wildnis, die tum und eine Grabanlage bestanden. In der sich in der weiteren Umgebung des sicher schon hallstattzeit drangen dann die indogerma- seit der Bronzezeit begangenen Ofenpasses nischen Veneto-Illyrer von Osten her in die ausdehnte, den venostischen Stammesbereich. Alpen vor. Sie setzten sich nicht bloß im Ob dieser gegen Osten zu bis ins Mündungs- Eisacktal und im tirolischen Inntal, sondern gebiet der Passer oder nur bis an den oberen auch im Vinschgau fest, wie sie denn auch im Rand der Talstufe reichte, die im Westen des Flußgebiet des Alpenrheins Fuß faßten. Meraner Beckens aufsteigt, läßt sich nicht Damit war der Vinschgau, der bisher Siedler sagen. Es muß demnach dahingestellt bleiben, und kulturelle Anregungen von Süden her ob die Opferstätte auf dem Hoch- oder Segen- empfangen hatte, in engere Beziehungen zu büchel und die Wallburgen auf dem Sinnich- seinen östlichen und nördlichen Nachbartal- kopf und auf dem Grumserbüchel noch mit schaften gesetzt. den Venosten in Verbindung gebracht werden dürfen oder nicht. 1) Die nähere Begründung für die folgenden Ausführungen findet sich im 1. Nand meiner Gleich ihren Nachbarn hausten auch die „Rätischen Forschungen^ dei demnächst in den „Cchleinschriften" erscheinen wild. In diesem Venosten in wehrhaften Siedlungen. Eine Vuch ist auf das weitere einschlägige Schrifttum von diesen befand sich z. B. auf dem Tartscher« verwiesen. büchel. Im uizeitlichen Vinlcha.au betrieb 133 man, ebenso wie in anderen damaligen dem Boden der schwäbisch-bayerischen Hoch- Alpentälern, neben Jagd und Viehzucht ebene hausten. Dadurch sollte die Nordgrenze zweifellos auch Ackerbau. Der Handel brachte Italiens dauernd gesichert und die von dem die Venosten in Verbindung mit den Städten Kaiser geplante Eroberung des freien Ger- des Po-Tieflands, das längst zum römischen manien vorbereitet werden. Der erste Schlag Reich gehörte. Aber nicht bloß friedlicher traf die in der Val Camonica sitzenden Art waren die Beziehungen, die zwischen den Kamunner und die Venosten. Cammunni und Bewohnern der riitischen Alpen und denen Venostes erscheinen auf dem Tropaeum der oberitalienischen Ebene bestanden. Mit AIpium, dem in den Jahren 7/6 v. Chr. an einer gewissen Regelmäßigkeit unternahmen der ligurischen Küste bei La Turbia errich- die Aufgebote der kriegerischen Vergstiimme teten Siegesdenkmal, das die unter der Plünderungszüge in das reiche Kulturland, Regierung des unterjochten Alpen- das im Süden ihrer Heimat lag und ihre stämme aufzählt'), und Cassius Dio erzählt Raublust reizen mußte. An diesen einträg- in seinem Geschichtswerk (54, 2N), daß die lichen Heerfahrten haben sich gewiß auch die Cammunioi (d. h. die Kamunner) und die venostischen Krieger häufig beteiligt. Die Uennioi, unter denen die Venosten und Maßnahmen, die die Regierung des römischen nicht die im alpinen Rheintal ansässigen Freistaates traf, um die von diesen Brand- Vennoneten zu verstehen sind, im Jahre 16 schatzungen betroffene Provinz Gallia trans- v. Chr. zu den Waffen gegriffen hätten und padana, vor den Einfällen ihrer unruhigen von Publius Silius unterworfen morden Nachbarn zu schützen, waren durchaus unzu- seien. Dieser Feldzug der Römer wird sich reichend. Gelegentliche Strafunternehmungen in der Weise abgespielt haben, daß Publius römischer Heere gegen einzelne alpine Völker- Silius Nerva, der damals Prokonsul und schaften blieben ohne nachhaltigen Erfolg, Statthalter von Illyricum war, die eine hiefür ist unter anderm die Tatsache bezeich- Hälfte seiner Truppen von Brixia (Brescia) nend, daß die Räter einen im Jahre 95 aus in die Val Camonica vorrücken ließ, nach- v. Chr. ausgeführten Vorstoß des Konsuls dem sie vielleicht vorher die von den Trum- Lucius Licinius Crassus in die südlichen pilinern bewohnte Val Trompia besetzt Alpentiiler mit der Zerstörung von Comum hatten, und daß er seine übrigen Streitkräfte (Como) beantworten konnten. Auch die ver- von Tridentum aus, in dem wahrscheinlich mutlich schrittweise von den Römern bewerk- schon seit geraumer Zeit eine Legion lag, nach stelligte Unterwerfung der Stämme, die im dem Vinschgau zu in Marsch setzte. Die Vergell, im Veltlin, im Tarcatal, im Nons- niedergebrannten Wallburgen dieser Tal- berg, in der Vozner Gegend und in der Süd- schaft bezeugen noch heute, daß sich die Hälfte des alpinen Etschtales wohnten, ver- Venosten nicht widerstandslos den Römern mochte anscheinend nicht, die unbedingte Be- ergeben haben. friedung des Po-Tieflandes zu gewährleisten. Was durch den Vorstoß Nervas begonnen worden war, wurde im folgenden Jahre So konnten denn die Venosten gleich ihren (15 v. Chr.) durch den Feldzug der kaiserlichen inneralpinen Nachbarstämmen ihre Unab- Prinzen Nero Claudius Drusus und Tiberius hängigkeit bis zur Zeit des Augustus be- Claudius Nero vollendet, der zur Unter- wahren. Dieser Herrscher, dessen Großoheim, werfung aller rätisch-vindelilischen Stämme der Diktator Gaius Julius Caesar, den führte. Damit war der Vinschgau einem römischen Machtbereich bis an den Ärmel- römischen Verwaltungsgebiet eingefügt, das kanal und an den Rhein ausgedehnt hatte, in der Folge unter dem Namen als ging, nachdem er im Jahre 25 v. Chr. die Provinz eingerichtet wurde. Dieses Unter- im Aostatal ansässigen Salasser vernichtet tanenland, als dessen Hauptstadt am Lech und vermutlich die Bewohner des Wallis und Augusta Vindelicum () entstand, des alpinen Flußgebietes des Tessin zur An- erstreckte sich vom Gottharostock, vom West- erkennung der römischen Oberhoheit ge- ende des Bodensees und vom Quellgebiet der zwungen hatte, daran, die inneralpinen Donau bis an die Mühlbacher Klause, die Räter und deren nördliche Nachbarn, die keltischen Ninoeliker, zu unterwerfen, die auf 2> pliniu«, Niztoli» 3, 136—3». 134 zwischen dem Zillertal und dem Pinzgau auf- deutung für die römische Staats- und ragenden Verge und den Inn und von den Militärverwaltung von dem Brennerweg Campi Canini (bei Bellinzona), den Bünd- überflügelt und seit dieser Zeit nicht mehr ner- und Ortleralpen, der Meraner Gegend instandgehalten. Für den Handelsverkehr und dem Kuntersweg bis an die Donau, seit blieb sie aber auch weiterhin wichtig genug. Vespasian und Domitian sogar bis in den An ihr wurde nahe der rätisch-italischen Bereich der schwäbischen Alb und darüber Grenze ein Zollamt errichtet. Dies bezeugt hinaus. Unter Diokletian wurde dann diese die Inschrift des bekannten, im Jahre 217 Provinz, deren Nordgrenze um 26N n. Chr. oder 246 errichteten, im Zieltal zutage ge- infolge des Vorrückens der Alamannen auf kommenen Diana-Altars'), die als dessen die Linie Bodensee—Argen—Iller-Donau Stifter den kaiserlichen Freigelassenen Aete- zurückgenommen morden war, in die beiden tus, praepositus stationi Maiensi XXXX. Verwaltungssprengel Raetia prima und Galliaraum nennt. Die quadragesima Gal- Raetia secunda mit den Hauptstädten war die mit 2,5% bemessene Abgabe Cuiia (Chur) und Augusta Vindelicum ge- für alle nach dem gallischen Steuergebiet ein- teilt. Die Landmark zwischen diesen beiden geführten Waren. Die Inschrift, die das ein- Provinzen fiel vermutlich ungefähr mit der zige Zeugnis dafür darstellt, daß Rätien ein- heutigen Ostgrenze Vorarlbergs und der mal im 3. Jahrhundert vorübergehend dem Schweiz zusammen, so daß also das Venosten- gallischen Steuersprengel angeschlossen war, land allem Anschein nach der Raetia gibt über die genaue Lage der statio secunda zugeteilt war. Maiensis keinen Aufschluß. Sicher ist nur, daß sie im Bereich der Passerstadt, wo auch Im Rahmen des römischen Rätien bildete der Verkehr über den Iaufenweg überwacht der Vinschgau vermutlich einen eigenen Gau- werden konnte, und nicht etwa zu Maienfeld verband, der in zwei oder mehr Untergaue im Rheintal oder anderwärts gesucht werden zerfallen sein mag. Er besaß im Altertum muß. Vielleicht wurde das Zollamt, dem eine höhere Bedeutung als viele andere Täler Aetetus vorstand, gleich der statio Turicen- der mittleren Alpen. Denn durch ihn führte sis (Zürich) durch ein kleines Römerkastell von altersher ein Handelsweg vom Po-Tief- geschützt. Sollte dies der Fall gewesen fein, land nach der schwäbisch-bayerischen Hoch- so wäre anzunehmen, daß aus dieser Feste das ebene und dieser Pfad wurde nach der Aus- castrum Maiense erwachsen sei, daß nach sage zweier Meilensteine'), von denen der eine Bischof Arbeo von Freising ) im 8. Jahr- in der Rablander Gegend, der andere bei hundert bestand, hart am felsigen Steilabfall Feltre gefunden worden ist, bereits von des Passerufers lag, ein Tor, also auch eine Drusus verbessert und von dessen Sohn, dem Ummauerung besaß, um 710 von bayerischen, Kaiser Claudius, im Jahre 46/47 n. Chr. zur um 725 von langobardischen Kriegern besetzt via Claudia Augusta ausgebaut, die von und um 765 wieder im Besitz der Bayern war. Altinum (Altino) über Feltria (Feltre) und Der Venosten gedenkt, wenn man vom durch die Valsugana nach Tridentum und tropaeum AIpium des Augustus und vom von hier aus durch das Etschtal, über das Geschichtswerk des Cassius Dio absieht, leine Reschenscheideck, durch das Oberinntal, über Quelle des Altertums. Dies läßt vermuten, den Fernpaß und dem Lech entlang nach daß dieser Stamm, der schon in seinem Kampf Augusta Vindelicum und weiter bis zum gegen die Truppen Nervas stark gelitten Donaukastell Summuntorium (Burghöfe bei haben wird, zu jenen lätischen Völkerschaften Mertingen südlich von Donauwörth) führte. gehölte, die durch die von Cassius Dio 54, 22 Diese Straße wurde allerdings im zweiten bezeugte Abführung ihrer Jungmannschaft nachchristlichen Jahrhundert in ihrer Be-

3) Fr. Vollmer, Inzcriptionez L»iu»ri2o No 4) Vollmer, Inzeiiplion« Llliuariae m«ine (1915), Nr. 465, 469, 2. 143—45; ebenda Nr. 68. S. 23. Nr. 464, S. 142, über einen dritten, zwischen 5> Viw 5»ncU corbinwni 23, 30. 37—tO, 43 dem Eyrser und Laaser Dorf gefundenen Meilen- elum Lerin»ni<:»lum in «zum zoko stein, den man leider zu einem Grabstein vei- ex Xloiiumeitti8 Lerm»ni»e Historie!« aibeitete, ohne vorher seine Inschrift zu photo» p «Mi, 1920), 2. 214 f., 223, 226—28. Niaphieren odei abzuschreiben. 231. 135 aus ihrer Heimat so sehr mitgenommen wur- Vorarlbergs und der Ostschweiz, des alpinen den, daß sie zur Bedeutungslosigkeit herab- Flußgebiets der Etsch und des nordöstlichen sanken. Gänzlich ausgerottet sind die Venosten Stückes der oberitalienischen Ebene zu be- aber nicht worden. Blieb ihr Name doch auch mächtigen. Der Vorstoß dieser Germanen noch in der Folgezeit lebendig, wie der Um- nach Venetien erfolgte im Jahre 539. Den stand beweist, daß die Inschrift eines einst in Byzantinern, die nach der Vernichtung des Ehur vorhandenen Marmorgrabsteins') aus- Ostgotenreiches zu Herren der Apenninen- sagt, dieser sei durch Bischof Viktor III. von halbinsel geworden waren, gelang es nun Chur (f um 717) de Venostes bezogen zwar in den sechziger Jahren des 6. Jahr- worden, daß das rätische Reichsgutsurbar von hunderts, die Franken wieder aus Italien zu 831') Besitzungen in Venustis verzeichnet vertreiben. Aus dem Ninschgau vermochten und daß der Name Vinschgau, wie erwähnt, sie diese aber nicht zu verdrängen und auch noch heutigentags an die venostische Völker- die Langobarden, die seit 568 in Friaul, im schaft des Altertums erinnert. Ein im Ober- Potiefland und in anderen italienischen vinschgau gefundener Grabstein«), auf dem Landschaften um sich griffen, waren nicht in die Namen Rufina, Chrysogonus Mucianus, der Lage, den Austrasiern den Besitz des Rufinus und Chrysus erscheinen, darf wohl obersten Stückes des Etschtals streitig zu als Zeugnis dafür angesehen werden, daß sich machen. Im Gegenteil. Diese Germanen er- in der Römerzeit gelegentlich Leute im wiesen sich in den letzten Jahrzehnten des obersten Stück des Etschtals niederließen, die 6. Jahrhunderts als sehr unbequeme Nach- aus den Mittelmeerländern stammten. Durch barn des Langobardenherzogtums, das an die solche Zuwanderung und durch den Waffen- Stelle der spätrömischen regio Tridentina dienst, den die Bewohner des Vinschgaus getreten war. Um 575 stieß der fränkische gleich den übrigen rätischen Provinzialen bei Herzog Chramnichis mit einer Kriegerschar den römischen Auxiliartruppen und bei der bis in die Umgebung von Tridentum vor') rätischen Landwehr zu leisten hatten, mag die und während des großen, im Jahre 59N ge- Verbreitung der lateinischen Sprache und fühlten Krieges der Austrasier und Byzan- römischer Sitte bei den Venosten gefördert tiner gegen die Langobarden besetzte das worden sein. Wirklich romanisiert wurde fränkische Hauptheer, das von Chur aus den aber die Bevölkerung des Vinschgaus gleich Weg über den Iulier und das Reschenscheideck der der anderen rätischen Bergtäler zweifel- eingeschlagen hatte, das ganze Trienter los erst im Laufe des 4. bis 6. nachchristlichen Langobardenherzogtum sowie die Val- Jahrhunderts, und zwar dadurch, daß damals sugana "). Der Plünderungszug des Ehram- zahlreiche romanische Bewohner der schwäbisch- nichis endete allerdings mit der Vernichtung bayerischen Hochebene ihre von germanischen des von diesem Mann gefühlten Heerhaufens Scharen überschwemmte Heimat verließen bei Salurnis und die Franken vermochten das und in den Tälern der Alpen Zuflucht von ihnen im Jahre 590 eroberte Gebiet suchten. nicht zu behaupten. Zu einer Erweiterung des langobardischen Machtbereichs auf Kosten Mit dem Zusammenbruch des italischen der Austrasier kam es jedoch im alpinen Fluß- Ostgotenreiches löste sich dann die bis dahin gebiet der Etsch infolge dieser Vorgänge nicht. noch aufrecht erhaltene staatsrechtliche Ver- Der Vinschgau blieb also auch weiterhin beim bindung der rätischen Bergtalschaften mit der Merowingerreich, und zwar — genauer ge- Apenninenhalbinsel. Die austrasischen Fran- sagt — beim fränkischen Churrätien, das den ken benützten den Beginn des ostgotisch- Hauptteil der Ostschweiz und das Vorarl- byzantinischen Krieges (535) dazu, sich Süd- berger Oberland umfaßte. Das obere und mittlere Stück jener Talschaft verharrte auch 6) Vollmer, Inzeriptionez Ni. 71ll. S. 24. 7) Th. v. Mohr, c<,6ex 6lploml,tieii8, EllMM» 9) Zecunliu« cio I'ridento bei ?2ulu5 , luna der Uilunden zur Geschichte Nhuriätiens Nizlorin I>»nßot>l»r6c>rum 3, 9 sklnnuinent» Lor- und der Republik Graubiinden 1 (1848—52). maniae, 8ciip!ole8 reruin I^»nßob»rc!icÄium et Ni. 193. 2. 283—303. Iwlieai-um 8»ec. VI,—IX. 1878), «2. 97. 8) Vollmer, Inscliotione« Lkiunliao Noin»n»e, IN) 8«:unäu8 6e 1'lillentu bei pauluz vmcunuz, Nr. 69, «2. 23. Ul3tori» I^nßobÄläorum 3, 31, 2. 111. 136 während der Folgezeit dauernd im Verband reichte. Demnach hat die Neichsgewalt im der Raetia Curiensis. Bei der 805/06 vor- späteren 9. oder im beginnenden IN. Jahr- genommenen Einführung der Gauverfassung hundert das östlichste Stück des Ninschgaus in dieser Landschaft, die nachmals — im (im mittelalterlichen Sinn) wieder von der Jahre 916 — dem erneuerten Herzogtum Trienter Grafschaft losgelöst und aus ihm Alamannien - Schwaben eingefügt wurde, und den nächstgelegenen, vermutlich bisher dürfte jener churrätischeTei l des Vinschgaues zum Gau Oberiätien gehörigen inntalischen der Grafschaft Oberrätien zugeteilt worden Landstrichen jenen Verwaltungssprengel ge- sein. bildet, den man die Grafschaft Unterengadin- Vinschgau oder kurzweg die Grafschaft Ninsch« Wechselnde Schicksale erlebte dagegen das gau nannte. Damit hatte nun endlich die Burggrafenamt in der spätmerowingisch- politische Entwicklung der Talschaft, von der karolingischen Zeit. Hier setzten sich im Laufe auf diesen Blättern die Rede ist, einen vor- des 7. Jahrhunderts die Bayern fest, die in- läufigen Abschluß gefunden. Alles Land, das zwischen zu Herren des tirolischen Inntals, zwischen der Passer, der Enge von Finster- des Eisacktals, des Westpustertals und des münz und der „Hohen Brücke" (Punt Ota) Nozner Beckens geworden waren. Um 710 im Engadin liegt, war nunmehr zu einem war, wie bereits erwähnt, das castrum einheitlichen Verwaltungsgebiet zusammen- Maiense in ihrer Gewalt. In oder bald nach gefaßt, das sichi n der Folge vom Herzogtum dem Jahre 712 nahm ihnen aber der Lango- Schwaben lösen und zum Herzstück der hoch- bardenkönig Liutprand zahlreiche befestigte mittelalterlich-neuzeitlichen Graftschaft Tirol Plätze ab"), und unter diesen muß sich auch weiden sollte. jenes castrum befunden haben, da es, wie Überblickt man die hier kurz geschilderte oben bemerkt, um 725 in der Hand der Lango- Geschichte des frühmittelalterlichen Vinsch- barden war. Rund zwanzig Jahre später er- gaus, so ersieht man ohne weiteres, wie scheinen jedoch, wie ebenfalls schon angedeutet, eigenartig die Stellung war, die diese Tal- neuerdings die Bayern im Besitz dieser Feste, schaft vom 6. bis zum 12. Jahrhundert ein- also auch in dem des Burggrafenamtes. Ver- nahm. Während dieses Zeitraums war das mutlich hat der Langobardenkönig Desiderius oberste Stück des alpinen Etschtals ständig, diesen Landstrich gleich der Bozner Gegend das Mündungsgebiet der Passer aber meist vertragsmäßig seinem Schwiegersohn, dem mit der rätischen Schweiz aufs engste ver- Bayernherzog Tassilo III., abgetreten. Aber bunden, was unter anderm auch zur Folge auch diesem staatsrechtlichen Zustand war hatte, daß der ganze Vinschgau im mittel- keine Dauer beschieden. Das schon erwähnte alterlichen Sinne kirchlich dem Bischof von rätische Reichsgutsurbar von 831 rechnet die Chur unterstellt wurde und daß die rätischen Morterer Gegend zu Italien. Der Unter- Grafschaftsschreiber im ganzen Bereich dieses vinschgau muh folglich vor diesem Jahr vom Tales ihres Amtes walteten. Damit ist jedoch bayerischen Herzogtum getrennt und zur noch durchaus nicht alles gesagt. Die Raetia Trienter Grafschaft geschlagen worden sein. Curiensis war in der merowingischen und Auch dabei blieb es jedoch nicht. Denn frühkarolingischen Zeit eine Landschaft von Urkunden König Heinrichs I. von 930 und 931 ausgeprägter Eigenart. Sie führte damals und ein Diplom Kaiser Ottos I. von 967 ") unter fränkischer Oberhoheit als ein halb bezeugen, daß es damals eine dem Land selbständiges Gebiet, in dem das Geschlecht Ehurrätien und damit dem Herzogtum der Viktoriden alle weltliche und geistliche Schwaben eingefügte Grafschaft gab, die das Macht in seiner Hand vereinigte, in den vom Unterengadin sowie den Vinschgau — jeden- Altertum überkommenen Formen ein selt- falls mit Einschluß der Gegend von Nauders sames Sonderdasein. Erst Karl der Große, — umfaßte und ostwärts bis an die Passer der Gründer des Klosters Tuberis im Münstertal, führte die straffe Eingliederung Churrätiens in den fränkischen Staats- II) rum 6. 58, S. 187. verband durch, der, wie bereits erwähnt, im Jahre 916 die Einfügung dieser Landschaft 12) ülnnuinenta t>elm»nil»e, lliploinut» 1 in das schwäbische Herzogtum folgte. Aber < 1879—84). Nr. 22. 28. 343, 2. 5? f.. 83 f.. 489 f. 137 auch weiterhin hielt sich noch viel Altertüm- gau Anteil. Wenn diese Talschaft noch heute liches in der Raetia Curiensis, wie sich denn in mehr als einer Hinsicht ein eigenartiges auch in diesem inneralpinen Raum das Gepräge aufweist, so ist dies also sehr leicht zu Romanentum besonders zäh zu behaupten verstehen. Man hat es hier mit Erinnerungen vermochte, trotzdem es, wie oben bemerkt, in an die frühmittelalterliche Vergangenheit den rätischen Alpen erst an der Schwelle des jenes Gebietes zu tun, in der einst in der Ur- Mittelalters zu voller Entfaltung gekommen und Römerzeit die Völkerschaft der Venosten war. An all dem nahm nun auch der Vinsch- gesessen hatte.

Joseph Ladurner und seine Schriften. (Zu seinem hundertsten Todestage.) Am 10. April 1832 starb im Spital zu Par- wurde ihm das damals neu gestiftete Wiesen- cines der verdienstvolle Priester und Ge- egg-Venefizium in der letztgenannten Pfarre schichtsforscher Joseph Ladurner. Er befaßte verliehen, das er bis zu seinem Tode inne sich hauptsächlich mit der Geschichte seiner hatte. engeren Heimat und verfaßte auch mehrere Man mutz staunen über die rastlose Tätig- Abhandlungen theologischen und politischen keit dieses Mannes, der viele Jahre kränkelte, Inhalts. In seinen Mußestunden aber schrieb einfach und in Zurückgezogenheit nur dem er Erzählungen und Gedichte, die er „zur Be- Gebete, der Seelsorge und der Echriftstellerei lehrung und zum Vergnügen dem Völklein lebte. Das beste Vild seines Schaffens geben von Nabland" widmete. Die meisten seiner seine Werke, von denen hier Erwähnung ge- Werke sind ungedruckt geblieben und des- tan sei: wegen nur wenigen bekannt geworden. Desto wertvoller sind daher seine Manuskripte, die ^) Im Druck erschienene Schriften: im Laufe der Zeit von Geschichts- und 1. „Die Geschichte der Stadt Meran", im Heimatforschern gerne benützt wurden. Tiroler Nationalkalender vom Jahre 1824. Das Ferdinandeum in Innsbruck verwahrt 2. „Beschreibung der Umgebungen von in seiner reichhaltigen Schriftensammlung Meran". unter Dip. 1266 und Dip. 1269 eine umfang- 3. „Genealogische Nachrichten von dem Ge- reiche Lebensbeschreibung Ladurners, die von schlechte der Herren von Knillenberg" und Naron Andreas Dipauli auf Grund der ihm noch andere. von dem persönlichen Freunde Joseph Ladur- Diese sind im „Anhange zum Voten von ners, des Pater Casimir Schnitzer, Pfarrer und für Tirol und " erschienen. zu Maia, zur Verfügung gestellten, gesammel- Aber bei allen diesen Schriften ist sein Name ten Daten verfaßt wurde. Überdies findet nicht genannt. sich eine Lebensbeschreibung dieses würdigen Mannes in der „Zeitschrift des Ferdinan- L) Handschriften. deums, II, S. 9N ff., weshalb hier derselben 1. „Geschichte der Vistumsveränderungen nur kurz erwähnt sei. im Vinschgau". Stift Stams; Handschriften- Joseph Ladurner wurde am 13. März 1770 sammlung Nr. 161: vier Quartbände in Leder als Sohn des Peter Anton Ladurner, Pfarr- aus dem Jahre 1824. mesner und der Marianna Eggerin in Der I. Band „Versuchte Vistumverände- Merano geboren. Nach Vollendung der rungen" enthält: Eine Vorrede non32Seiten, Gymnasialstudien in seiner Vaterstadt wandte die Geschichte von 348 Seiten und den l^cxiex er sich in Innsbruck dem Studium der Theo- plubationum von 458 Seiten. logie zu und wurde bereits den 13. Okt. 1793 Der II. Band „Politische Vistumsverände- zum Priester geweiht. Er diente hierauf als rungen" enthält: Eine Vorrede von 362 S., Gesellpriester zuerst in Rifiano und dann in die Geschichte von 424 2. und den i „Niizn" und „Vahin" und „Klausn" 1815, Ni. 67. S. 22f.) unerwähnt geblieben, auf usw. Das ist nur an manchen Orten und bei dem die Namen Quintus Caecilius Eutropius manchen Namen gebräuchlich: aber ..Schule und Marcus Ulpius Plimigenius erscheinen. gehen" und „Kirchen gehen" ist wohl überall Ebenda ist auch S. 132. So. 2. Z. 18 f. von unten üblich in unseiem Lande. statt „Rudusten" „Rugusten". S. 133. Sp. 1, Eine eigenaltige Behandlung «fahlen die Z. 19 s. statt ,,ti-2N5p»t!onez Lkivariue Nomun»«. Nl. 68, S. 23 K»ll Staudachei. da» Nähere über die Fundangaben. des im ^ieltal gefundenen Viana-Altarz des Aetetus.

wiederholt wild, wie dies gelegentlich geschieht °). zu lesen'). Diese Ansicht trifft jedoch nicht zu. Ob das Denkmal von Ansang an im Zieltal auf- Denn in unserer Inschrift ist, wie auch deren gestellt war läßt sich nicht mit Bestimmtheit Abbildung auf der diesem Schlernheft bei- sagen. Es könnte möglicherweise auch ursprüng- gegebenen Tafel zeigt, in dem in Zeile 3 von lich an der den Vinschgau durchziehenden Römel- unten ganz rechts befindlichen >l mit voller Deut- strahe — etwa in de: Partschinser oder Maiser lichkeit der Querstrich zu erkennen, der das ^ des Gegend — gestanden haben und nach dem Sieg Wortes blXll^8ll> andeutet. Dadurch erscheint des Christentums von Anhängern des alten die Lesung ülaienzi als gesichelt. Die lümerzeit- Glaubens ins Gebirge verschleppt worden sein. liche Siedlung, zu der das von Aetetus geleitete Nach seiner Wiederentdeckung wurde es svor Zollamt gehörte, befand sich, wie die Funde er« U!96) nach dem Schloß Knillenbera und später kennen lassen, nicht auf dem Voden der Meraner (durch Roscbmann) nach Innsbruck gebracht, wo Altstadt, sondern im Bereich der Maiser Dorf- es sich noch gegenwärtig im Tiroler Landes- flur°). Die genaue Form des Namens, den museum Feidinandeum befindet. oieser Wohnplatz des Altertums führte, ist nicht überliefert. Die im heutigen Schrifttum ge- Die in den Altaisockel eingegrabene Inschrift, wöhnlich gebrauchte Namensfoim Kl»ia eischeint die nach einer Aufnahme meines Freundes und in leinei einzigen Quelle. Die inFrage kommende, Kollegen Professor Wilhelm Fischer ohne jede am Unterlauf der Passer gelegene Siedlung Retusche auf einer diesem Heft des Schiern bei- taucht im Mittelalter zum ersten Mal — in einer gegebenen Tafel abgebildet ist, lautet: In K Di dem Namen Kleie« auf, der sich bald zur Form cum Xeletu» bl»i« abschliff. ) lie^ie^vit) <> Richard Heubeigel. 8<> <> coz. Zu Deutsch: u Ehren des göttlichen Hauses hat der heiligen In „Furis und Foiis" Diana (dielen) Altar mit einem Standbild ge» weiht Aetetus, der Freigelassene unserer Kaiser (Vgl. Schiern XIII, S. 151). und Vorstand der Maienstschen Station des Ohne behaupten zu wollen, daß die von gallischen Vierzigeizolls am 13. August unter G. Tochterle beigebrachten Namen Phurres, dem Konsulat des Piaesens. Phurrens, Phurnes, Phurnis, Phurns und Mit der cwmuz clivin» ist nicht etwa ein Pmrns mit dem nachfolgenden hofnamen iden- Tempel, sondern das Kaiserhaus gemeint. Unter tisch seien, möchte ich doch auf einen Hof in der der Diana verbirgt sich jedenfalls eine rätische Steizinger Gegend hinweisen, dessen Name Göttin, die von den Römern jener Gottheit gleich- gleich oder ausfällig ähnlich klingt. In den gesetzt wurde. Denn in den Provinzen des Sterzinger Gerlchtsprotolollen des 16. Jahr- römischen Reiches deckte der italische Name Diana hunderts wird genannt: die Vaurecht des gewöhnlich einheimische Götteraestlllten, deren Pfuiien-Guts, Pfurrens-Guts, Vaurecht die Dienst mehr oder weniger römische Formen an- Pfurens, gelegen auf Ramings (Nr. 22, F. 131, nahm '). Von der n«i, sondern Kli Phnast beweisen das. E. Auckenthalei. 5) So von W. Cartellieri, Die römischen Alpen- strahen über den Brenner, Reschen-Lcheideck und Plöckenpah (Philologus, Supplementband 18, 8) F. Ctähelin, Die Schweiz in römisch« Zeit Heft 1. 1926). T. 73. (1927), S. 324, ebenda» (1931), S. 351. 6) G. Wissowa in Pauly - Wissowa. Real- 9) N. Mazegger, Die Römerfunde und die enzntlopädie der klassischen Altertumswissen- römische Station in Mais (1896) und zuletzt schaft 5 (1905). Sp. 337. Eartellieri. Alpenstrahen. S. 73 f. 7) Vgl. Mommsen, Oorpuz inzeiiptiunum lN> >lunumentll Leiiuaullle, Diplomat» 1 (1879- nurum b/1. Nl. 509N. L. 543. 1884), Nl. 28, E. 63.