Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

2008

Churrätien im frühen Mittelalter

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini. - 2 -

2008 Churrätien im frühen Mittelalter Reinhold Kaiser Kaiser Reinhold: Churrätien im frühen Mittelalter. Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert. Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden, , in Verbindung mit dem Südtiroler Kulturinstitut, Bozen 2., überarbeitete und ergänzte Auflage Schwabe Verlag Basel 2008

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S. 229: Nachwort zur 2., überarbeiteten und ergänzten Auflage

Was rechtfertigt es, ein Buch über «Churrätien im frühen Mittelalter» in einer verbesserten, zweiten Auflage herauszugeben und mit einem umfangreichen Nachwort zu versehen? Drei Gründe sprechen dafür:

1. Die erste Auflage von 1998 ist schon nach sechs Jahren vergriffen gewesen. Die seit 2004 andauernde stetige Nachfrage sowie die zahlreichen Rezensionen bestätigen die positive Aufnahme des Buches. Die Neuauflage erlaubt es, kleinere störende Fehler im Text und in den Legenden zu den Abbildungen und Karten zu verbessern, einige Karten neu zu gestalten und im Nachwort dem Forschungsfortschritt der letzten zehn Jahre Rechnung zu tragen.

2. Die Forschungen zum frühen Mittelalter - nicht nur die allgemein- historischen, sondern auch die regionalgeschichtlich orientierten - sind in den letzten Jahren zunehmend in den grösseren interdisziplinären Verbund der Forschungen zum Übergang von der Antike zum Mittelalter integriert. Als globales Phänomen des Kulturwandels stehen die Verwandlung der Mittelmeerwelt und die Herausbildung der drei mittelalterlichen Kulturkreise, des arabisch-islamischen, des griechisch-byzantinischen und des lateinisch okzidentalen, im Mittelpunkt des althistorischen, des mediävistischen und des universalhistorischen Interesses. Zeugen dafür sind die stattlichen Bände, die im Rahmen des wissenschaftlichen Grossprojektes der «European Science Foundation» in der Reihe «Transformation of the Roman World» seit 1997 veröffentlicht worden sind Grundlegende Fragen der Kulturkontinuität und des Kulturbruches, der historischen Periodenbildung, des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie, der Rolle der «neuen» Völker, der Ethnogenese, der «Regionalisierung der Volkstümer» oder der Identitätsbildung werden darin mit neuem methodischem Instrumentarium an gegangen. Das ist der forschungsgeschichtliche Hintergrund für

3. die paradigmatische Bedeutung der frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens. Als alpines Randgebiet des Imperium Romanum, des merowingischen und karolingischen Frankenreiches und des ostfränkisch- - 4 -

deutschen Reiches liegt Rätien in einer politischen, kulturellen, sprachlich- ethnischen und wirtschaftlichen Interferenzzone. Diese Rand- und Zwischenlage

S. 230: erklärt das Wechselspiel von Eigenständigkeit und Beeinflussung, die verschiedenen Grade von Autonomie und Integration mit ihren Zwischenstufen, sie erklärt auch die lange Dauer des Wandlungsprozesses zwischen Antike und Mittelalter, eines Prozesses der Umorientierung, in welchem die Kontinuitäten lange verfolgbar sind, teilweise bis ins Hochmittelalter.

Der Prozess der langen Dauer vollzieht sich in dem überschaubaren Rahmen einer provincia mittlerer Ausdehnung. Von nach sind es in der Luftlinie 130 km, von Disentis bis Müstair 120 km bzw. bis Meran 175 km. Das «regional begrenzte Versuchsfeld» der Ia, von dem J. Werner 1979 in der Einleitung zum Sammelband «Von der Spätantike zum frühen Mittelalter» gesprochen hatte, ist ein überschaubares Untersuchungsfeld, so überschaubar, dass man eine Synthese wagen kann. Über schaubar ist auch die Quellenlage. Sie ist relativ gut und bietet eine Reihe von Inschriften aus dem frühen Mittelalter - nur wenige dagegen aus antiker Zeit - sowie Rechtstexte, Urkunden und hagiographische Werke - historiographische im engeren Sinne fehlen demgegenüber -‚ ferner liturgische Texte. Der hohe Grad der frühmittelalterlichen Schriftlichkeit hat zur Ausbildung einer eigenen Schriftprovinz, jener der rätischen Minuskel, geführt. Ständig erweitert wird die Quellenbasis der zentralen Nachbarwissenschaften, der Archäologie und Sprachwissenschaft, durch neue Bodenfunde und durch Sichtung und Sammlung der Orts-, Flur- und Personennamen.

Die neuen Fragen und Methoden, die neuen Perspektiven und die Ergebnisse der archäologisch-baugeschichtlichen Forschung berühren die drei in den Grosskapiteln des Buches behandelten Themen in gleicher Weise, weshalb die neuen Forschungsbeiträge dem Aufbau des Textes folgend vorgestellt und kommentiert werden sollen. So lässt sich am ehesten der Gang der Forschung auf den Gebieten der politischen Organisationsformen (1), von Kult und Kirche, Kunst und Kultur (II) und der Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsstruktur (III) nachvollziehen. Die Seitenverweise erleichtern das - 5 -

Auffinden im Text der 1. Auflage (S. 15-228). Der Überblick über den Forschungsstand wird durch eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ihre Einordnung in den grösseren Rahmen der Frühmittelalterforschung abgeschlossen. Diese Conclusio soll das Fehlen einer Zusammenfassung in der ersten Ausgabe des Buches, die mit Recht in manchen Rezensionen moniert worden ist, wettmachen.

S. 231: 1. Das frühmittelalterliche Churrätien im Spiegel der allgemeinhistorischen Literatur Die Eigenheiten der Geschichte Churrätiens im frühen Mittelalter, die besondere Weise des Übergangs von der Spätantike zum Mittelalter, die sich in Rätien beobachten lässt, finden in den universalhistorischen Werken, in den Darstellungen zur europäischen Geschichte und in den National- und Landesgeschichten je unterschiedliche Berücksichtigung. In den schon erwähnten Bänden der «Transformation of the Roman World» und dem ersten Band der «Cambridge Medieval History» von 2005, der sich wie ein Handbuch dazu liest, wird die frühmittelalterliche Geschichte Churrätiens gar nicht thematisiert, Rätien allenfalls als Teil des römischen, ostgotischen oder fränkischen Reiches erwähnt Ähnliches gilt für die «Cambridge Ancient History» oder für das «Handbuch der Geschichte Europas»

Mehr Beachtung findet Rätien in den «deutschen Geschichten». In der Neubearbeitung des «Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte»

S. 232: behandelt Friedrich Prinz im ersten Band die «Europäischen Grundlagen deutscher Geschichte (4.-8. Jahrhundert)» und greift dazu weit aus auf die Vor- und Frühgeschichte Mitteleuropas und die Römerzeit. Rätien wird in das Panorama einbezogen und die Eroberung zur Zeit des , die Erhebung Churs zur Hauptstadt der Raetia Prima unter Diokletian, die vertragliche Abtretung der Provinz an die Franken durch den Ostgotenherrscher Witigis (536-540) und die Abgrenzung der Bistümer Chur und Konstanz unter König Dagobert 1. (623/29-639) erwähnt. Nach Prinz lassen sich «im deutschen Südwesten durch die politische Existenz Churrätiens bis ins 8. Jahrhundert hinein Rätoromanen und Alamannen relativ deutlich gegeneinander abgrenzen» im Gegensatz zur frühen Integration der Romanen in Bayern Als Signum der frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens betrachtet er die - 6 -

kirchliche Umorientierung Churs von Mailand nach Mainz, die weltlich- kirchliche Doppelherrschaft der Victoriden und wertet «die Sonderentwicklung Churrätiens» als «ein Ergebnis der starken - archäologisch nachweisbaren - Siedlungskontinuität, deren Pendant die weitgehende Bewahrung der kirchlichen Substanz und Organisation gewesen ist» Im Hinblick auf die als Palimpseste in Churrätien überlieferten antiken Texte spricht Prinz von «ein(em) relativ intakt gebliebene(n) Rückzugsgebiet der Romania» Für die Merowingerzeit spricht Rudolf Schieffer im zweiten Band der Neubearbeitung des «Gebhardt» ähnlich von einem «romanischen Reliktgebiet in Churrätien, das unter der Herrschaft einheimischer Präsiden stand», er erwähnt die doppelte «politische Führungsrolle der Viktoriden als Präsiden» und als Bischöfe, die «spezielle Modifizierung spätrömischen Vulgarrechts als Lex Romana Curiensis» um die Mitte des 8. Jahrhunderts, die Unterstellung unter den Schutz Karls des Grossen gegen ein Treueversprechen des rätischen Volkes um 773, schliesslich die divisio inter episcopatum et comitatum von ca. 806 und die Eingliederung in die Mainzer Kirchenprovinz spätestens 843. Wesentliche Etappen der Integration Churrätiens in das Frankenreich sind damit in diesen beiden Bänden der «deutschen Geschichte» wenigstens angedeutet.

In seiner zusammenfassenden, in 4., ergänzter Auflage 2001 erschienenen Darstellung «Die Merowinger und das Frankenreich» misst Eugen Ewig

S. 233: Churrätien, das als romanisches Land im 6. Jahrhundert kulturell noch mit Italien verbunden ist, als Passlandschaft eine wichtige Rolle für Theudeberts I. Italienpolitik zu. Die Randlage, in die es «nach 570, spätestens nach 590» geraten sei, habe «eine autonome Entwicklung begünstigt». Für die Mission in Alemannien um 600 verweist Ewig auch auf Kräfte aus Churrätien und Norditalien, für die Grenzziehung zwischen den Bistümern Konstanz und Chur auf König Dagobert 1. und die Zeit «bald nach 623». Schliesslich zählt er Churrätien neben Elsass, Alemannien, Bayern, Mainthüringen und Thüringen zu den Ländern ausserhalb der , die als erbliche Herzogtümer «seit der Mitte des 7. Jahrhunderts eine autonome Entwicklung genommen hatten», ohne eigens die typisch geistlich-weltliche Formation der Victoridenherrschaft zu erwähnen, einen Herrschaftstyp, für den er selber einst die bahnbrechende Untersuchung zu den Bistums- bzw. Civitasrepubliken geliefert hatte (1954). - 7 -

Dass diese spätmerowingischen Bischofsherrschaften, von denen Chur die langlebigste gewesen ist (bis ca. 806), in den grösseren Zusammenhang der Verselbständigung der Randgebiete des merowingischen Frankenreichs, mithin in Parallele etwa zu Mainfranken und Thüringen oder Alemannien und Bayern, zu setzen sind, betont R. Kaiser in der 3., überarbeiteten und erweiterten Auflage des Merowingerbandes der Enzyklopädie Deutsche Geschichte.

In der «Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (378-907)» von Herwig Wolfram nimmt Chur mitsamt dem Vintschgau eine weit prominentere Rolle ein als in den «deutschen Geschichten», zweifellos eine Folge der alpenländischen Perspektive, aber auch des Interesses des Autors für die politische und ethnische Struktur des zur Ostgotenherrschaft gehörenden Gebiets der Raetia Ia und IIa, dessen militärische Organisation unter einem Raetiarum die Ostgoten von den Römern übernommen hatten. Mehrere Kapitel und Unterabschnitte sind dem frühmittelalterlichen Churrätien nach der Ostgotenzeit gewidmet. Behandelt werden insbesondere «Der Churraetische Kirchenstaat und der Mailänder Metropolitanverband», «Churraetien bis zur Immunitätsverleihung von 831» mit den signifikanten Unterabsätzen «Angliederung und Gleichschaltung», «Einführung der Grafschaftsverfassung» und «Müstair und der Vinschgau», ferner - im Kapitel über Klöster und Bistümer - das Bistum «Chur» mit Darstellung der Umorientierung von

S. 234: Mailand auf Mainz unter Wahrung der politischen Identität trotz Wandel von ducatus zu comitatus bzw. pagus. Schliesslich wird im Kapitel «Die Churraeter und Venosten» die politisch-rechtliche Einheit, die sich in dem rätischen «Kirchenstaat» wie auch in der Lex Romana Curiensis und in der noch spätantik geprägten Sozialstruktur widerspiegelt, sowie das Bewusstsein der Eigenständigkeit der Romanitas thematisiert.

Dass das frühmittelalterliche Rätien in den «Geschichten der Schweiz» gebührend beachtet wird, erklärt sich aus der politischen Zugehörigkeit des grössten Teils der ehemaligen römischen Provinz Raetia Ia zur heutigen Schweiz. Eine ausgewogene Berücksichtigung der vier Sprachregionen und zugleich eine Erklärung für ihre Entstehung seit dem frühen Mittelalter strebt die von Archäologen verfasste Sammelpublikation «Die Schweiz zwischen Antike und Mittelalter. Archäologie und Geschichte des 4. bis 9. Jahrhunderts» an Die Funde und Befunde aus dem churrätischen Raum sind darin stark - 8 -

repräsentiert, weil sie besser als in anderen Regionen dem Zahn der Zeit getrotzt haben, das gilt v. a. für die vielen spätantik-frühmittelalterlichen Kirchenbauten, von denen insbesondere St. Stephan in Chur neben dem antiken castrum, die Gemeinde- (bzw. «Talkirche») mit Baptisterium (?) in Zillis neben der erst im 6. Jahrhundert zerstörten heidnischen Kulthöhle, St. Martin in Cazis, die Klosterkirchen (und -anlagen) von Mistail, Disentis und natürlich Müstair besprochen werden, aber auch Profanbauten wie jene von Schiedberg/Sagogn, die dank des Tellotestaments von 765 auch in den Schriftquellen zu fassen sind, oder der repräsentative Vorgängerbau von St. Peter in Domat/Ems, dessen Funktion unklar ist, oder die Holzbauten von Castiel/Carschlingg. In einem eigenen Kapitel wird «Rätien an der Schwelle zum Mittelalter» vorgestellt, vor allem Chur als zentraler Ort. Es werden die Siedlungs- und Verkehrsachsen behandelt und schliesslich das grosse Gräberfeld von Bonaduz und das fränkische Grab in Tamins siedlungs- und bevölkerungsgeschichtlich eingeordnet.

Die von der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte initiierte Gemeinschaftsarbeit von Archäologen, Historikern und Sprachwissenschaftlern, erschienen unter dem Titel «Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter», berührt in den beiden letzten Bänden zur Römerzeit (2002) und zum Frühmittelalter (2005) sämtliche Aspekte, die in

S. 235: unserer Darstellung behandelt werden, und vieles darüber hinaus, das wie Klima und Umwelt, Alltagsleben, Demographie, Anthropologie, Archäologie und Archäobotanik nur aus Kenntnis der Spezialwissenschaften und mit naturwissenschaftlichen Methoden erarbeitet werden kann In den beiden Bänden findet sich jeweils eine Liste mit Kurzbeschreibungen der hauptsächlichen Funde, auf welche sich die Darstellungen stützen, angeordnet nach den Fundorten und versehen mit den Ausgrabungsdaten, Angaben zur Datierung, Beschreibung des Befundes und kurzer Bibliographie. Ein Vergleich der beiden Listen ist aufschlussreich. Im Band zur Römerzeit sind 122 Fundorte erfasst. Davon entfallen fünf auf den Raum des heutigen Kantons Graubünden, nimmt man die zur ehemaligen Provinz Raetia Ia bzw. zum frühmittelalterlichen Churrätien gehörenden Orte hinzu, sind es neun, d.h. ca. 4% bzw. etwas mehr als 7%. Im Frühmittelalterband sind insgesamt 108 Orte - 9 -

verzeichnet. Davon gehören 15 zu Graubünden bzw. 17 zu Churrätien, das ergibt ca. 12 bzw. 15%. Das Fazit lautet: In Rätien wird das Römische zur Bezeichnung der Sprache, des Rätoromanischen, verwendet, und ist die starke römische Kontinuität so etwas wie eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit, präsenter, sichtbarer, handgreiflicher dagegen ist das frühe Mittelalter. Anders ausgedrückt: der Römerband wird beherrscht von Genf, Nyon, Avenches, Windisch, Kaiseraugst, Orbe, Neftenbach oder Dietikon, im Frühmittelalterband begegnen dagegen auf Schritt und Tritt Mistail, Cazis, Disentis, Chur, Müstair, Hohenrätien, Tumegl/Tomils oder Bonaduz u. a.

Wird im Römerband lediglich die Eroberung Rätiens 15 v. Chr. ausführlich erörtert, Chur als Bischofssitz erwähnt, die römischen Strassenstationen in Rätien dargestellt, die Römersiedlung in Chur/Welschdörfli mit dem Versammlungshaus der Kaufleute (Merkurdarstellung) und die Kulthöhle in Zillis gewürdigt, wobei gegen die Annahme eines Mithraskultes Bedenken erhoben werden, so ist im Nachfolgeband das rätische Frühmittelalter konsequent und kontinuierlich in die Darstellung eingeflossen, so in den historisch-ereignisgeschichtlichen Überblick (H. Steiner), in die sprachgeschichtliche Darstellung (S. Sonderegger) und in die Vorstellung der städtischen und ländlichen Siedlungen sowie der befestigten Höhensiedlungen (R. Marti, R. Feilner). Ein eigener Abschnitt ist der Kirchenarchäologie in Graubünden (Churrätien) gewidmet (C. Jäggi) mit Betrachtungen zur Kathedrale,

S. 236: zu den Baptisterien in Schaan und Hohenrätien, zu den Memorialbauten wie in Mels und in Chur (St. Stephan, St. Luzius), zur Frage der Kleinkirchen als «Eigenkirchen» sowie zu den Klöstern. Vieles davon wird wieder aufgegriffen im Kapitel über «Kult und Glaube» (C. Jäggi, J. Bujard, H.-R. Meier), in dem u. a. die Bautypen der rätischen Kirchen, die Ausstattung mit Stuck, Wandmalereien, Mosaiken, Schranken und Priesterbänken, mit liturgischen Geräten und Reliquiaren weitgehend nach rätischen Funden und Befunden dargestellt werden. In einem eigenen Abschnitt wird ein konziser Überblick über die Siedlungsgeschichte Rätiens gegeben (U. Clavadetscher). Für viele Aspekte der Gräberarchäologie und für die sozialen, ethnischen, wirtschaftlichen Strukturen wird immer wieder auf das Gräberfeld von - 10 -

Bonaduz einerseits, das Tellotestament von 765 andererseits zurückgegriffen. Die Ausgrabungen in Tumegl/Tomils und Müstair sind eigens Gegenstand archäozoologischer und archäobotanischer Untersuchungen (H. Hüster Plogmann, A. Rehazek, C. Brombacher, M. Kühn). In allen Beiträgen werden die rätischen Befunde und Verhältnisse vergleichend in den grösseren Zusammen hang der historisch-archäologischen Forschung der Gesamtschweiz gestellt, was eine ganz wesentliche Erweiterung des Blickfeldes ermöglicht.

Zusammenfassende Darstellungen zur frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens bzw. Graubündens sind in den letzten Jahren in verschiedener Form erschienen. An erster Stelle ist hier Band 1 des «Handbuchs der Bündner Geschichte», erschienen im Jahre 2000, zu erwähnen. In knappster Form wird hier eine reich mit Karten, Plänen und Abbildungen illustrierte Darstellung geboten, die den gegenwärtigen Forschungsstand widerspiegelt und «sich in wissenschaftlicher Grundhaltung an interessierte Laien» wendet und zugleich den «Fachleuten als erster Einstieg dienen soll». «Graubünden in römischer Zeit» wird darin von Stefanie Martin-Kilcher und Andrea Schaer, das «Frühmittelalter (Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert)» von Reinhold Kaiser und «Das Hochmittelalter (10. bis Mitte 14. Jahrhundert)» von Werner Meyer behandelt. Entsprechend der Gesamtkonzeption des Handbuchs wird in den drei Beiträgen jeweils ein historisch-politischer Überblick über die behandelten Epochen geboten, dann werden die siedlungs-, sprach-, sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen dargestellt.

S. 237: Ähnlich gestaltet ist die Übersicht «Churrätien im Frühmittelalter aus historischer Sicht (4.-8. Jahrhundert)» von Sebastian Grüninger Sie dient dazu, den Befund der Siedlungsgrabungen von Wartau/Ochsenberg (SG) in den grösseren Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung Churrätiens im Übergang von der Antike zum Mittelalter einzuordnen und stützt sich insbesondere für die Darstellung der Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsstrukturen auf die Lex Romana Curiensis, das Tellotestament, die Capitula Remedii, das Reichsgutsurbar und die rätischen Urkunden. Doch werden auch die kirchlichen und sprachlich-ethnischen Verhältnisse erörtert. Das so entstandene Gesamtbild ist sehr differenziert, gewonnen aus einer geschickten Gegenüberstellung von Quellenbefund und forschungs- geschichtlich verschiedenen Deutungsmodellen. - 11 -

Weitaus knapper als diese beiden Gesamtdarstellungen sind dagegen, wie könnte es anders sein, die Beiträge zum frühmittelalterlichen Churrätien bzw. zu Graubünden oder zu den Rätern und Rätien in den Lexika, so der Artikel «Graubünden» im Historischen Lexikon der Schweiz (2006) oder die Artikel «Raeter», «Raetien» im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (2003). Sie bieten den Vorteil, dass sie zeitlich übergreifend Antike und Frühmittelalter umfassen und die Hauptquellen und die neuere Literatur nachweisen. Eine letzte Publikation allgemeinen Charakters zum frühmittelalterlichen Churrätien ist noch zu erwähnen, die zwar nicht den neuesten Forschungsstand wiedergibt, aber gleichwohl von mehr als nur forschungsgeschichtlichem Interesse ist. Es ist die Aufsatzsammlung von P. Iso Müller, Frühes Mittelalter in Graubünden und der Schweiz (2001), in der eine ganze Reihe von Beiträgen insbesondere zur churrätischen Hagiographie, zur Kirchengeschichte und zu den frühen rätischen Texten wie dem Tellotestament wiederabgedruckt sind, d. h. nach Meinung der Herausgeber die «wesentlichen Beiträge Müllers …..‚ von denen keiner veraltet ist» Diese

S. 238: begründete Einschätzung mag es rechtfertigen, den Sammelband hier zum Abschluss der Übersicht über die allgemeinen Werke zur frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens aufzuführen.

2. Beiträge zu Einzelproblemen

a) Politische Organisationsformen Die Darstellung der politischen Entwicklung und Organisation Rätiens in römischer, ostgotischer und fränkischer Zeit beruht auf einem zahlenmässig beschränkten Corpus von Schriftquellen, auf die sich die Forschung seit Jahrzehnten stützt, um die verschiedenen Etappen des Wandels der römischen Provinz Raetia Ia zum ducatus, zur provincia, zum comitatus, pagus oder pagellus Raetiae Curiensis des Frankenreiches zu klären. Die Zahl der Schrift quellen ist auch im letzten Jahrzehnt durch keinen spektakulären Neufund erweitert worden. Trotzdem erscheinen viele neuralgische Punkte der politischen Entwicklung des frühmittelalterlichen Rätiens in einem anderen Licht. Neue Ansätze der Quellenkritik, neue Deutungen und neue Fragestellungen führen zu Modifizierungen unserer Vorstellungen vom dux bzw. ducatus im römisch-ostgotisch-fränkischen Verband, von Rätien als - 12 -

umstrittener Grenzregion zwischen Franken, Goten, Byzantinern, Langobarden und Bayern, da mit von der Ausdehnung und politischen Zugehörigkeit der Provinz, schliesslich von der Form der Eingliederung in das Frankenreich bzw. den Grad von Autonomie und Integration.

Dass eine andere geographische Perspektive ebenfalls zu neuen Deutungen führen kann, erweist die Dissertation von Irmtraut Heitmeier, Das Inntal (2005). Diese historisch-archäologische Untersuchung des Churrätien benachbarten inneralpinen Raumes, der ungefähr mit dem heutigen Nordtirol umschrieben werden kann, ist eine siedlungsgeschichtliche und raumpolitische Studie des Gebietes der Breonen, deren Geschichte von ihrer ersten Nennung in der Zeit des Augustus bis zu ihrer letzten Erwähnung

S. 239: im 8. Jahrhundert der Leitfaden der Darstellung ist. Es geht dabei um ihre politische und soziale Verfasstheit, ihre sprachliche und kulturelle Zugehörigkeit sowie ihre Eigenschaft als vorgeschichtliche, die Raumordnung der Römer überdauernde gens. Parallelen und Berührungspunkte mit der antiken und frühmittelalterlichen Geschichte (Chur-)Rätiens gibt es viele, so bei der Erörterung von Funktionen, Amtsbezirk und -sitz des in der Notitia dignitatum um 400 genannten dux beider Rätien (s. oben S. 15,20). Diesem unterstanden bei den Grenztruppen der beiden Provinzen ein für den Nachschub der Legion in Regensburg verantwortlicher praefectus und ein tribunus gentis per Raetias deputatae, beide mit Sitz in Teriolis/Zirl- Martinsbühel, also dort, wo die Brennerroute den Inn überquerte, zum Seefelder Sattel und von dort weiter nach führte Der Name der gens, welche der tribunus befehligt, wird nicht genannt. Die Anbindung an das castrum Teriolis lässt I. Heitmeier vermuten, dass es sich hier nicht um eine barbarische gens, sondern um eine mit militärischen Funktionen betraute «altansässige Gruppe der Inntalbevölkerung», mithin um die Breonen gehandelt hat Diese hatten nach I. Heitmeier als kaiserliche Kolonengemeinschaft peregrinen Rechts in der als grosser kaiserlicher Domänenbezirk und nicht als civitas organisierten Passfusslandschaft des Inntals in der frühen und mittleren Kaiserzeit ihre gentile Bindung beibehalten. Sie hatten sich nach der (kurzen) Phase einer territorialen Neuordnung (Gliederung in pagi) «regentilisiert», weshalb sie um 400 als gens per Raetias deputata bezeichnet werden konnten - 13 -

Als gens mit militärischen Aufgaben unterstanden die Breonen um 400 einem tribunus. Hundert Jahre später befehligte der dux Raetia rum Servatus im ostgotischen Dienst die milites im inneralpinen Grenzgürtel (den munimina Italiae et claustra provinciae) sowie die Breonen, von denen es ausdrücklich heisst, dass sie kriegsgeübt und bewaffnet seien (militaribus officiis assueti... armati) (s. oben S. 24-27). Laut I. Heitmeier sind die Breones armati mit der gens per Raetias deputata gleichzusetzen und sie schliesst daraus: «Danach hatten die Breonen im Rahmen der Militärorganisation des rätischen Dukats einen festen militärischen Auftrag an der Brennerstrasse, der zu Beginn des 5. Jahrhunderts teilweise in der Produktion, vor allem aber in der technischen Abwicklung und Sicherung des Nachschubs für die Truppen an der Reichsgrenze bestand». Sie waren von den milites unterschieden, waren auch keine regulären Grenztruppen (limitanei) oder römische Milizen, sondern,

S. 240: wie I. Heitmeier in Analogie zu den Salzburger exercitales vermutet, «Kolonen auf kaiserlichem Domänenland bzw. Pächter auf militärischem Nutzland», die neben ihrer Pacht auch die munera, zu denen militärische Pflichten zählten, zu leisten hatten Es entspricht der Bedeutung des Kastellhügels von Teriolis /Zirl-Martinsbühel in ostgotischer Zeit, wenn hier von I. Heitmeier auch die von dem Geographen von Ravenna genannte Thedoricopolis lokalisiert wird (s. oben S. 2Sf.). Als Sitz des dux Raetiarum kommt das spätantike castrum auf dem Martinsbühel eher in Betracht als Chur, denn «im Schutz der nördlichen Gebirgskette bildeten das Inntal und seine Fortsetzung über den Arlberg bis ins Alpenrheintal eine west-östliche Operationsbasis, von der aus man einerseits das Voralpenland kontrollieren, andererseits die Passstrassen nach Süden sperren konnte. Es bildete zusammen mit dem die natürliche inneralpine Verbindung zwischen der Raetia I und der Raetia II, die einem gemeinsamen Oberbefehl unterstanden»

Was geschah mit dem ducatus beider Rätien, der zur Präfektur Italien gehörte, in fränkischer Zeit? Nachdem 536/37 die Ostgoten den Franken die Provence und die Herrschaft über die Alemannen und angrenzende Gebiete - worunter Rätien verstanden wird - abgetreten hatten, und zwar in durch aus vertraglicher Form, wurde der ducatus vermutlich von den Franken unter Beibehaltung der militärischen und administrativen Organisation weitergeführt (s. oben S. 30f.) Umkämpft von Franken, Byzantinern, Langobarden und Bayern, scheint der - 14 -

inneralpine Gürtel der beiden Rätien, wenn auch mit Schwankungen, aufs Ganze gesehen doch fest in fränkischer Hand geblieben zu sein. Das ergibt sich aus den beiden Reisen des Venantius Fortunatus von Venetien ins Frankenreich und zurück: 565 aufgrund des byzantinischen Drucks über den schnellsten Weg in den fränkischen Herrschaftsraum, durch das Drau- und Pustertal, durch das Eisacktal über den Brenner

S. 241: zu den Breonen am Inn, dann durch bayerisches Gebiet nach Augsburg, um 575 auf der Rückreise unter Umgehung des bayerischen Gebietes und des langobardischen im Süden über die westliche Route des Reschenpasses und des Vintschgaus, die beide in fränkischer Hand waren. Dass beide Reisewege durch die jeweiligen politischen Konstellationen vorgegeben waren, hat I. Heitmeier zeigen können Um 565 hatte die fränkisch-byzantinische Spannung Venantius, der wie Bischof Vitalis von Altinum zur antibyzantinischen Opposition gehörte, veranlasst, schnellstmöglich fränkisches Gebiet zu erreichen. Um 575 hatte sich die Situation, nach der Einwanderung der Langobarden in Italien (568), grundlegend gewandelt. Die Franken und Byzantiner hatten ein Zweckbündnis gegen die langobardisch-bayerische Verbindung geschlossen. In diesem grösseren politischen Zusammenhang gesehen ist die Aktion des fränkischen dux Chramnichis im Val di Non und im Trentino nicht ein lokales Ereignis gewesen (vgl. oben S. 32, nach H. Büttner), sondern eine Reaktion auf die Hochzeit des langobardischen dux Evin mit der Tochter des bayerischen dux Garibald, mit welcher das langobardisch- bayerische Bündnis beginnt. Die Ermordung des austrasischen Königs Sigibert I. (575) hat an scheinend dem bayerischen dux den Anlass geboten, nach Süden auszugreifen. So gehören die Kämpfe um 575 wie jene von 584/85, 588 und vor allem jener Heereszug des dux Chedinus von 590 alle zu der durch die fränkisch-langobardischen Spannungen bestimmten Grosswetterlage Ende des 6./An fang des 7. Jahrhunderts, wie Jörg Jarnut schon 1985 gezeigt hat und wie es die neuere Forschung bestätigen konnte.

Die Neubewertung der Ereignisse von 575 bis 590 veranlasst, zwei Fragen neu zu überdenken: 1. Welche Stellung hatten die fränkischen duces Chramnichis und Chedinus? 2. Wie weit reichte die fränkische Herrschaft im Osten der Raetia Ia, mithin: Ab wann gehörte der Vintschgau zur Raetia Ia, und zählten gegebenenfalls noch weitere Gebiete zu Churrätien? - 15 -

Oben (S. 40) ist die Vermutung ausgesprochen, dass bis ins 7. Jahrhundert das Amt des spätantik-ostgotischen dux weitergeführt worden sei, dementsprechend der 575 im Vintschgau und Trentino bezeugte dux Francorum Chramnichis «dux des merowingischen Dukats Rätien gewesen sein» kann.

S. 242: Dies lässt sich nun, wie I. Heitmeier im Anschluss an D. Claude ausgeführt hat, auch für Chedinus mit guten Gründen annehmen. Beide duces waren wohl von den Merowingern als duces Raetiarum eingesetzte Franken. Dem widerspricht die Aussage von Herwig Wolfram: «Spätestens mit dem Ende der Ostgotenzeit erlosch das Amt des raetischen Dux und wurde nicht mehr nachbesetzt». Der westfränkische Name des dux Chedinus lebt nach I. Heitmeier in dem Ortsnamen Hötting (Erstbeleg 1122-35: in villa Heteningen, heute nordwestlicher Stadtteil von Innsbruck) fort. Der Name und die strategisch günstige Lage des Ortes «am hochgelegenen Nordufer des Inn gegenüber Wilten» lassen vermuten, «dass der Namengeber dieser fränkische dux war», mithin dass auch das Inntal mit der Brennerroute dem dux Raetiarum als dux beider Rätien (Raetia I und II wie dem spätantik- ostgotischen dux Servatus unterstand. Das führt zur zweiten Frage, der nach der Ausdehnung der fränkischen Herrschaft, der Grenze zwischen der Raetia I und II und der Zugehörigkeit des Vintschgaus zur Raetia I.

Neue Quellenfunde, etwa Inschriften, die auf die römischen Provinzgrenzen Bezug nehmen würden, gibt es zu diesem Fragenkomplex nicht. Deswegen gründen alle alten und neuen hypothetischen Rekonstruktionen auf der Interpretation der mittelalterlichen Zeugnisse, auf Analogieschlüssen und auf der Annahme, dass die mittelalterlichen Bistumsgrenzen im grossen und ganzen mit den römischen Provinzgrenzen übereinstimmen, so auch das oben entwickelte Modell der Grenze zwischen Raetia I und II entlang der Linie Bregenz-Arlberg-Münstertaler Alpen-Stilfserjoch (s. oben S. 16-18) und der Zugehörigkeit des Vintschgaus zum Churer Bistum erst seit der Expansion der Franken im Alpengebiet unter Theudebert 1. (533-547) und seinen Nachfolgern (s. oben S. 30-32, 34f.). Diese These und die Gegenthese, wonach der Vintschgau schon in römischer Zeit zur Raetia I gehörte, sind erneut von R. Kaiser (1999) erörtert worden. - 16 -

Aufgrund der Beobachtungen zum ducatus Raetiarum und zum Breonenland als unter direkter fränkischer Herrschaft stehendem Puffer zwischen

S. 243: Bayern und Langobarden kommt Irmtraut Heitmeier zu einer neuen Hypothese, wonach der Vintschgau schon Teil der römischen Raetia I war und 536/37 mit dieser per Vertrag an die Franken kam. Aber auch das Gebiet des oberen Inntals westlich von Imst mitsamt den Seitentälern Stanzertal (Arlberg- Route), Paznaun und Samnaun haben danach zur Raetia I gehört. Erst nachdem um 916 der Raum zwischen Imst und Finstermünz als Immunität aus dem Herrschaftsgebiet der Luitpoldinger herausgelöst worden war, habe die Neuorientierung, d.h. die Nordorientierung eingesetzt, die dann zur Modifikation der Bistumsgrenze geführt habe Das Inntal östlich von Imst (wo der charakteristische Flurname Finais = finis auf die ehemalige römische Provinzgrenze hinzuweisen scheint), ursprünglich zur Raetia II, d. h. zum Bistum Säben, gehörig, ist laut I. Heitmeier nach 591 von den Franken von Säben gelöst und kirchlich Chur angeschlossen worden, entsprechend dem militärischen Amtsbezirk des dux Raetiarum. Bis nach 739 gehörte das Inntal bis zur Einmündung des Zillers, d.h. der pagus Vallensium, demnach zum Churer Sprengel. Erst nach der Übernahme durch den Bayernherzog Tassilo III. (757) wurde es wieder mit Sähen verbunden und 798 Teil der Kirchenprovinz Salzburg

Die postulierte starke fränkische und Churer Präsenz im Osten der Raetia I, bzw. des Bistums Chur hat, wie die Vita Corbiniani zeigt, bayerische Amtsträger nicht gehindert, zeitweise im Bozener und Meraner Raum zu wirken. Die Herrschaftsverhältnisse in diesem neuralgischen Gebiet, in welchem fränkische, bayerische und langobardische Interessen zusammenstossen, sind komplex und wechselnd gewesen, wie sich auch aus der Dissertation von Lothar Vogel ergibt, dessen Thesen zur Herkunft und zum Wirken des heiligen Corbinian, den Vogel «als einen aus Mölten (in einem linken Nebental

S. 244: des Etsch zwischen Meran und Bozen gelegen, R. K.) stammenden Alpenromanen ansieht», auf starken Widerspruch gestossen sind Die Dauerhaftigkeit der von den merowingischen Franken übernommenen und weitergeführten römisch-ostgotischen militärisch-politischen Raumorganisation der inneralpinen Gebiete der Raetia I und II und den erst - 17 -

späten bayerischen Zugriff darauf der in der Form einer Schaffung von Herrschaftsmittelpunkten und nicht in der Form einer Landnahme erfolgte, hat I. Heitmeier, ihre Thesen zusammenfassend, auch für den Raum südlich des Brenners, insbesondere das Eisack- und das Pustertal, neuerdings betont.

Wenn die merowingischen Frankenkönige ein so starkes Interesse am Erhalt und am Funktionieren des inneralpinen Grenzgürtels des ducatus bei der Rätien sowie an der direkten Herrschaft über diese Gebiete hatten, wie für den östlichen Raum nach den neueren Forschungen erwiesen, dann gewinnt das späte Zeugnis der Barbarossa-Urkunde von 1155, welche die Grenzfestlegung zwischen den Bistümern Chur und Konstanz und die Demarkation zwischen Burgund und Churrätien zur Zeit König Dagoberts (623/29-639) beschreibt, an Glaubwürdigkeit, wie oben (S. 38f.) bereits aus geführt. In der späten Tradition lassen sich die Spuren eines fränkischen Engagements und einer fränkisch bestimmten grösseren politisch-kirchlichen Raumordnung fassen, die sich nicht nur in solchen punktuellen Einzelmass nahmen erschöpft haben wird, wie sie in der Stauferurkunde für die Nordwestgrenze der Rhetia Curiensis bezeugt ist. In den Forschungen zum Bistum Konstanz und zum ducatus Alamanniae wird die Barbarossa-Urkunde neuerdings ebenfalls positiver gesehen, ohne dass der Zusammenhang mit der inneralpinen Raumgliederung beachtet würde, so von Helmut Maurer, der für die Fixierung der Bistumsgrenzen einen zeitlich gestaffelten Vorgang, der

S. 245: zudem stark durch die kirchlichen und königlichen Grundbesitzverhältnisse geprägt ist, annimmt, wobei nicht die Zeit Dagoberts, sondern «das 8. Jahrhundert als die entscheidende Zeit für die Festlegung des Grenzzuges zwischen Konstanz und Chur anzusehen sein» dürfte Hagen Keller datiert die «Abmarkung Alemanniens, des Bistums Konstanz, des Amtssprengels der Herzöge im Bodenseeraum?» - auf die Spätzeit Dagoberts und möchte einen Zusammenhang mit «der 634/35 von den Grossen erzwungenen Reichsteilung» zwischen den Söhnen Dagoberts, Sigibert III. und Chlodwig II., sehen Die Neufestlegung der Grenze, gleichgültig, ob unter Dagobert oder einem späteren Merowinger erfolgt, reduziert zwar den Umfang der Raetia I im Raum des Alpenrheintals, geht aber, wenn Burgundia und Curiensis Rhetia voneinander abgegrenzt werden, vom Weiterbestand des ducatus oder der provincia aus. - 18 -

Spätestens seit dem 7. Jahrhundert wird die rätische provincia von der wohl auf einen fränkischen Amtsträger namens Zacco zurückgehenden Familie der Zacconen/Victoriden beherrscht (s. oben S. 46-50). Entgegen den Versuchen Iso Müllers, den Namen des Spitzenahns als vorrömisch zu erweisen (s. oben S. 48), betrachten ihn Stefan Sonderegger und Wulf Müller offenbar als germanisch, weshalb an der oben gegebenen Deutung festgehalten werden kann. Die 1972 wieder aufgefundene Inschrift auf Vintschgauer (Laaser) Marmor, die der Victor in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts schreiben liess, der sogenannte Victoridenstein, ist wie auch die Inschrift des Churer Bischofs Valentian (gest. 548) (vgl. oben S. 97f.) neu ediert und kommentiert von Marina Bernasconi Reusser.

Die Herrschaft der Zacconen/Victoriden ist eine typische Form familialer Samtherrschaft, die sich im 8. Jahrhundert zur Bischofsherrschaft steigert (s. oben S. 45, 50). Sie gehört, verfassungsstrukturell gesehen, zu jenen spätantik- frühmittelalterlichen, geistlich-weltlichen Formationen, über deren Entstehung und Verbreitung in den letzten Jahren viel gestritten worden ist. Da Chur die letzte dieser Bischofsherrschaften, «Bischofsstaaten», «Bischofsprinzipate»

S. 246: o. ä. gewesen ist, die erst um 806 durch Karl den Grossen aufgelöst wurde, wird Chur als klassisches Beispiel eines solchen Prinzipats und einer divisio inter episcopatum et comitatum immer wieder behandelt, zuletzt von Hans Hubert Anton, der die verschiedenen Thesen dazu referiert, die verschiedenen Phasen und Typen dieser Bischofsherrschaften, ihre Ausgestaltung und das Verhältnis der Bischöfe zu den Königen bzw. Hausmeiern untersucht.

Das zwischen Autonomie und Integration schwankende Verhältnis zwischen dem rätischen rector/episcopus einerseits, den merowingischen und karolingischen Königen andererseits ist Abbild der Spannung zwischen Peripherie und Zentrum, die überall in den Randgebieten des Frankenreiches zu beobachten ist. Sie spiegelt sich in Karls des Grossen Schutzprivileg von ca. 773, wie R. Kaiser gezeigt hat Die Beziehungen Rätiens zum Frankenreich sind danach vertraglich abgesichert gewesen, wohl spätestens seitdem Childerich II. 673 das partikulare Recht (lex ac consuetudo) der einzelnen patriae und so auch der patria bzw. des territorium Raetiarum hat anerkennen müssen, vielleicht aber sogar schon seit dem ostgotisch-fränkischen Vertrag von 536/37. Als Rectorat ist Raetien mit der unter einem rector/patricius - 19 -

stehenden Provence bzw. den Aussendukaten wie Alemannien oder Bayern vergleichbar, staatsrechtlich ein Teil des Frankenreiches. Dies konnte mit einer weitgehenden Autonomie für die Binnenstruktur durchaus vereinbar sein. Die in der Karlsurkunde angedeutete komplizierte Einsetzung des rector/episcopus durch Wahl und durch Bestellung durch den König könnte wie in Istrien noch Anfang des 9. Jahrhunderts auf ein Gesetz des frühbyzantinischen Kaisers Justinus II. von 569 zur Wahl der Provinzgouverneure zurückgehen und von der merowingisch-karolingischen Praxis der Bischofsbestellung beeinflusst sein, die eine Verschränkung von Wahlprinzip und Herrschereinsetzung kennt. Das Schutzprivileg steht im Kontext der Langobarden- und Bayernpolitik Karls des Grossen, in dem wohl auch die Gründung des Klosters Müstair zu sehen ist (siehe unten S. 269-271). Dass sich der fränkische Einfluss in Churrätien in der Zeit Karls des Grossen verstärkt hat, ist unübersehbar.

S. 247: Eine Schlüsselrolle in den rätisch-fränkischen Beziehungen um die Wende des 8. zum 9. Jahrhundert hat zweifellos Bischof Remedius gespielt (s.o. S. 52-56). Ob er als eine landfremde Kreatur Karls des Grossen oder als Einheimischer anzusehen sei, ist strittig (s. oben S. 52), wie sich aus den gegensätzlichen Positionen von I. Heitmeier (Westfranke) und R. Kaiser (Einheimischer) ergibt, die sich beide u. a. auf namenkundliche Argumente stützen. Dass die nach ihm benannten Capitula Remedii von ihm verfasst und von ihm als Novelle zur Lex Romana Curiensis erlassen worden seien, ist angesichts des Wirkens des westfränkischen missus und (seit 803) Bischofs von Reims Wulfar in Rätien und der durch ihn vermittelten Übereinstimmungen mit dem von Aachen ausgehenden Kodifizierungsschub von 802/803 unwahrscheinlich, wie R. Kaiser gezeigt hat Die Capitula Remedii sind danach nicht Ausfluss der «dux-ähnlichen Stellung» des rector/episcopus Remedius (vgl. oben S. 53), sondern «ein durch den missus aufgrund des kaiserlichen Gebotes veranlasstes Capitulare legi additum»

Dass die berühmte divisio inter episcopatum et comitatum in Chur nicht mit dem mutmasslichen Tod des Bischofs Remedius (806) und einer an schliessenden Sedisvakanz zu erklären ist, sondern eher, wie oben (S. 55f.) angedeutet, mit Karls des Grossen Reichsteilungsplan (divisio regnorum) von 806, ergibt sich aus der gleichzeitigen Auflösung der benachbarten, seit der Spätantike mit militärischen und wirtschaftlichen Funktionen betrauten - 20 -

Breonengemeinschaft des Inntals In dem im Rückgriff auf die ehemalige Präfektur Italien geplanten regnum Italiae sind Sonderbildungen wie die churrätische Bischofsherrschaft oder die Breonengemeinschaft ein Fremdkörper. Das Ergebnis der geplanten restauratio ist für beide Gebiete das gleiche, nämlich das Paradox, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht die Wiederherstellung der italischen Raumeinheit das Ende der Antike für die beiden inneralpinen Regionen bedeutet.

Die im Laufe des 9. Jahrhunderts häufig wechselnde Zugehörigkeit Churrätiens zu dem einen oder dem anderen karolingischen Reichsteil bzw. Teilreich wird schlaglichtartig durch die Auswertung von Münzfunden erhellt. Ein Hortfund mit Münzen Lothars 1. (840-855), davon 15 aus Mailand, 2 aus Pavia, der in Lauterach bei Bregenz gefunden worden ist, könnte durchaus

S. 248: mit dessen Bemühungen in Zusammenhang stehen, die ihm 839 bei der Reichsteilung mit Karl dem Kahlen (s. oben S. 63) zugefallenen Dukate Elsass, Alemannien und Churrätien mit dem Süden zu verbinden, ein Bemühen, das spätestens mit der Reichsteilung von Verdun (843) gescheitert ist (s. oben S. 64). Jedenfalls bezeugt der Hortfund von Lauterach die münzpolitisch südliche Anbindung des Raumes in den kritischen Jahren des karolingischen Bruderzwistes.

Die seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts sich herausbildenden engen Beziehungen zwischen Rätien und dem schwäbischen Herzogtum (s. oben S. 65-67) sind im grösseren Zusammenhang der Geschichte Südwestdeutschlands bzw. des Herzogtums Schwaben von Thomas Zotz und Alfons Zettler dargestellt worden Die komplizierten Rechts- und Besitzverhältnisse, die nach dem Tode Herzog Burchards II. (926) zur Aufteilung Rätiens in verschiedene Grafschaften (s. oben S. 67) und namentlich zur Ausbildung der Grafschaft Vintschgau mit Einschluss des Unterengadins und des Münstertales geführt haben, versuchen Rainer Loose und Irmtraut Heitmeier zu klären

b) Kult und Kirche, Kunst und Kultur Die Geschichte des Frühmittelalters ist zu einem guten Teil Kirchengeschichte, verstanden in dem allgemeinen Sinne einer im wesentlichen durch die Kirche geprägten Geschichte. Das gilt im allgemeinen wie im besonderen für - 21 -

Churrätien, nicht nur weil hier wie in anderen Gebieten die aller meisten Schriftquellen von Klerikern verfasst, geschrieben und überliefert sind, weil die kirchlichen Institutionen und die kirchliche Organisation als solche ein besonderes Beharrungsvermögen haben, mithin besonders starke Kontinuitätsträger sind, sondern weil im rätischen Raum die materiellen Überreste des Frühmittelalters in ganz besonderer Qualität und kaum

S. 249: anderwärts anzutreffender Quantität in den noch aufrecht stehenden oder ergrabenen Kirchenbauten und in der Sakralkunst zu fassen sind. Diese Besonderheit erklärt, wie oben gezeigt, die herausragende Position Graubündens in der archäologisch-historischen Forschung zur frühmittelalterlichen Schweiz Sie erklärt weiterhin, warum zu vielen Einzelaspekten, zu Heidentum und frühem Christentum, zu den Kultbauten, zur Stellung des Bischofs zu den Klöstern, zu Kult, Kultur und Kunst, schliesslich zur Frage der Pfarrorganisation und der Eigenkirche, zahlreiche neue Forschungsergebnisse vorliegen.

Zusammenfassende Darstellungen sind demgegenüber selten. Den historischen Hintergrund für die archäologisch orientierten Untersuchungen zu den «Frühen Kirchen im östlichen Alpengebiet» skizzieren knapp und präzise Josef Ackermann und Sebastian Grüninger in ihrem Beitrag «Christentum und Kirche im Ostalpenraum im ersten Jahrtausend. Neben den bei den zur Präfektur Italien gehörenden Provinzen Raetia I. und II. behandeln sie auch die zur Praefektur Illyrien zählenden östlichen Nachbarprovinzen Ufernorikum an der Donau und Binnennorikum an der Drau. Den Leitfaden in dieser vergleichenden Betrachtung bildet die Geschichte der Raetia I, weil hier allein eine ungebrochene Kontinuität der Verhältnisse anzutreffen ist und gleichwohl die Einflüsse aus Italien, dem Balkanraum und Gallien zu greifen sind. Das gilt für die Phase der Christianisierung und Ausbreitung des Christentums wie für die Kirchenorganisation, die merowingisch-karolingischen Neuordnungen durch Gründung des Bischofssitzes Konstanz oder der bayerischen Bistümer oder für die Umorientierung von Mailand nach Mainz (für Chur) wie von Aquileja nach Salzburg (für Säben). Das gilt aber auch für das Klosterwesen, für welches die beiden Autoren das fränkische (königliche) Einwirken stärker gewichten als die gängige Forschung. Diese betont eher die kirchenpolitische Autonomie in den Herzogtümern Alemannien und Bayern sowie im Churer - 22 -

«Bischofsstaat». Die neue Gewichtung hat Konsequenzen für die Gründungen von Pfäfers (Reichenau) und Müstair. Die zumal in Churrätien nachweisbaren zahlreichen Landkirchen werfen die Frage der Pfarrorganisation, der Eigenkirchen und der Stiftergräber auf, für welche die beiden Autoren einen signifikanten Unterschied zu den östlichen Provinzen des Alpenraumes feststellen.

S. 250: An ein grösseres Publikum wenden sich die Hefte «Geschichte der Kirche im Bistum Chur». Das erste, verfasst von Michael Durst, behandelt die Zeit «Von den Anfängen bis zum Vertrag von Verdun (843)» Das Heft ist reich mit Abbildungen, Plänen und Karten versehen, von denen viele auch schon in diesem Buch zu finden sind, ohne dass dies erkennbar vermerkt wäre. Nach einem kurzen Rückblick auf die Romanisierung und Christianisierung der Schweiz werden in chronologischen Schritten die Anfänge des Bistums Chur, die bauliche Gestaltung von St. Stephan, St. Andreas und der Kathedrale, das Gräberfeld von Bonaduz, die Friedhofskirche in Schiers, die Kirchen mit Baptisterien in Schaan und Zillis, die Kirche in Sagogn/Sagens, die Zeugnisse der Sakralkunst (St. Lorenz in Paspels), ferner das Wirken der Bischöfe von Asinio (451) bis Verendar (836-843), der Glaubensboten Luzius, Columban und Gallus, Fridolin und Gaudentius sowie Florinus dargestellt, ferner die Klostergründungen von Cazis, Mistail, Disentis, Pfäfers, Müstair sowie Schänis untersucht und abschliessend eine Übersicht über eine Reihe von archäologisch und durch die Schriftquellen bezeugten Kirchen geboten, die eine Vorstellung von der Dichte des Pfarrnetzes in den einzelnen Siedlungskammern vermitteln soll, aber - verständlicherweise - nicht mit der Fülle des Materials der Kataloge in «Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet» konkurrieren kann.

In den grösseren Zusammenhang der Christianisierung des Gebiets der heutigen Schweiz stellt Michael Durst «Die Anfänge der Kirche im Bistum Chur» In Analogie zu den Bistümern Oberitaliens und der Westschweiz und aufgrund des Zeugnisses zum Bischof Asinio (451), dem ersterwähnten Bischof von Chur (s. oben S. 96f.), vermutet er mit der gängigen Forschung, dass das Bistum Chur und die Anfänge der Christianisierung der Raetia I. auf die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert zurückgehen. Dafür sprechen die frühen Baubefunde unter der Kathedrale, bei St. Stephan und St. Andreas! St. Luzi, - 23 -

die ausführlich besprochen werden, und dazu die christlichen Zeugnisse der spätantik-frühmittelalterlichen Gräberfelder von Bonaduz und Schiers sowie die Kirchenbauten in Schaan (FL), Zillis, Sagogn und auf Hohenrätien (Hochrialt), denen jeweils kurze Abschnitte gewidmet sind.

Einzelforschungen zur Geschichte von Kult und Kirche, Kunst und Kultur liegen in grosser Zahl vor. Sehr kühn ist der Versuch von Randon Jerris, eine Brücke zwischen den durch Megalithen nachgewiesenen Kultstätten der

S. 251: vorhistorischen Zeit und den Kirchenbauten des frühen Mittelalters zu schlagen. Insbesondere sollen die Kirchengründungen des 8.-10. Jahrhunderts auf den Sonnenterrassen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorchristlichen Sonnenkalender und den bäuerlichen Kultbräuchen stehen. Gestützt auf die Arbeiten von Ulrich und Greti Büchi, Ignaz Cathomen, Josef Styger u.a. wird diese These am Beispiel von Falera und Disentis illustriert, beweisen lässt sie sich nicht, auch nicht durch den Hinweis auf die Präsenz des Heidentums in den Viten der heiligen Gaudentius, Lucius und Florinus sowie in der Lex Romana Curiensis und den Capitula Remedii, dafür sind die Anspielungen darin jeweils zu vage.

Unmittelbar in die Zeit vor der Christianisierung führt der Überblick über Kult und Glaube, heilige Orte, Tod und Jenseitsvorstellungen in der Antike von Stefanie Martin-Kilcher und Andrea Schaer im Handbuch der Bündner Geschichte. Behandelt werden insbesondere die Heiligtümer auf dem Julier und auf der Passhöhe der St. Luzisteig und dazu die generelle Aussage gewagt: «Bei allen Strassenstationen und Rasthäusern stand ein Heiligtum oder wenigstens eine Kapelle (Aedicula)», wofür die kleinen Lavezaltäre des Mercurius Cissonius aus Bondo-Muraia und vielleicht die vier Lavezaltäre aus Sils-Baselgia zeugen, die dem Handelsgott Merkur und den Vegetations- und Hirtengottheiten Diana, Silvanus und Pastores geweiht waren (s. oben S. 70).

Die Kulthöhle von Zillis ist in den letzten Jahren mehrfach von Jürg Rageth und Alfred Liver untersucht und dargestellt worden (s. oben S. 80-82). Das dort gefundene Kultgefäss (Schlangenvase) weist starke Parallelen zu einem ähnlichen «in einem möglichen Mithraeum in Bornheim-Sechtem bei Bonn ... im Frühjahr 1999» entdeckten auf was zusammen mit den Tierknochenfunden, die auf Opfertiere und Kultmähler verweisen, die These stärkt, dass in Zillis, wie S. Martin-Kilcher und A. Schaer sehr vorsichtig formulieren, «eine - 24 -

Gottheit verehrt wurde, die dem in einer Höhle geborenen persischen Lichtgott Mithras zumindest nahesteht. Für ein eigentliches Mithräum fehlen allerdings sowohl die Inneneinrichtungen, nämlich Liegeflächen

S. 252: für das kultische Mahl, als auch Hinweise auf ein Kultbild oder Inschriften. Die westlich unterhalb der Höhle gefundenen Gräber, in Nord-Süd-Richtung, stammen nach den C14-Analysen aus dem Frühmittelalter (8./9. Jahrhundert). J. Rageth und A. Liver neigen dazu, in den dort Bestatteten Anhänger des heidnischen Kultes zu sehen, das wirft die Frage «nach dem verzögerten Christianisierungsprozess im Raum Zillis» bzw. nach dem Rückfall der Landbevölkerung «in alte heidnische Bräuche und Traditionen» auf.

Frühe Zeugnisse einer durchgreifenden Christianisierung weist dagegen das grosse Gräberfeld von Bonaduz auf (s. oben S. 71f.), wie Renata Windler unter Hinweis auf die beiden als Memorien gedeuteten Grabbauten betont. Gegen eine inflationäre Verwendung des Begriffs «Memoria» wendet sich H. R. Sennhauser in seiner höchst instruktiven Übersicht: «Frühchristliche und frühmittelalterliche kirchliche Bauten in der Diözese Chur und in den nördlich und südlich angrenzenden Landschaften». Bauten ohne Heiligengrab oder Reliquien sollten nicht als Memorien, sondern neutral als Grabbauten, Grabkammern oder -häuser bezeichnet werden Die Grabbauten in Schiers (s. oben S. 72-74) nennt Sennhauser Friedhofskirchen, jene von Tiefencastel/Cumpogna (s. oben S. 74), die Annexe im Norden der Kirche von Bregl da Haida (Sagogn) oder südöstlich der Apsis der Marienkirche in Sagogn oder den kleinen Grabbau südlich der Südkirche von Mistail (s. oben S. 132) Grabkammern. Schwierig ist nach Sennhauser auch der Nachweis von Taufkirchen (Baptisterien) (s. oben S. 75). Neben dem Baptisterium von St. Peter innerhalb des castrum Schaan (FL) aus dem 5. Jahrhundert ist eine Taufanlage in der Marienkirche von Disentis (8. Jahrhundert) (s. oben S. 134f.) bezeugt und eine solche für Zillis anzunehmen, und zwar nach Parallelen aus Dalmatien, während das Kathedralbaptisterium archäologisch offenbar noch nicht nachgewiesen ist Sensationell ist daher geradezu das seit den Grabungen ab 2001 bekannt gewordene, an einem älteren (Kirchen-)Bau angelehnte Baptisterium mit achteckigem Taufbecken (5. /6. Jahrhundert) auf Hohenraetien/Sils im Domleschg, errichtet - 25 -

S. 253: bei einer Kirche in befestigter Höhenlage, wie man vorsichtigerweise die früher «Kastellkirchen» genannten Bauten nennen muss. Ihre zentrale Lage im spätantik-frühmittelalterlichen Wegenetz wird von dem Ausgräber M. Janosa unterstrichen.

Die archäologischen und bauhistorischen Befunde der beiden ausserhalb des castrum von Chur am Hang des Mittenberges gelegenen Grabkirchen St. Stephan und St. Andreas/St. Luzi (s. oben S. 75-78) haben inzwischen neue Deutungen erfahren. Die vor Mitte des 5. Jahrhunderts, spätestens um 500 erbaute gewölbte Grabkammer (Hypogaeum), um die herum ca. 500 oder in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts die Friedhofskirche St. Stephan errichtet worden ist, zeigt an der Ostwand eine figürliche Ausmalung, die nach H. R. Sennhauser als «Reste der Vorzeichnung von zweimal vier die Nische rahmenden Figuren, als kranztragende, einem Christussymbol huldigende Apostel gedeutet» werden, dazu sind «am Fuss der Nische Streifen eines nachträglich eingearbeiteten Mosaiks, wohl als Vierstromberg mit Bild oder Symbol Christi zu ergänzen». Erwogen wird neuerdings auch, dass es sich um je sechs Apostelfiguren handelt.

Weitreichende Konsequenzen hat die Neudeutung der Befunde von St. Andreas/St. Luzi (s. oben S. 75f., 108) durch H. R. Sennhauser. Er vermutet, dass zwischen den beiden Grabkammern im Norden und im Osten (Emeritakammer), die als Grablege der ersten Bischöfe von Chur seit dem späten 4. Jahrhundert betrachtet werden können, noch vor 400 eine Andreasmemorie errichtet worden ist (Bau 1). Im 6. Jahrhundert wurde sie durch eine Saalkirche mit nicht eingezogener Apsis ersetzt. Aufgrund des Grabsteins für Bischof Valentian (gest. 548, vgl. oben S. 69, 97f.) und einer Notiz im Proprium Curiense von 1646 über eine Zelle bzw. ein Oratorium des hl. Luzius, errichtet von Valentian, sowie der Präsenz der Victoridensteine in St. Luzi (vgl. oben S.46, Abb. 2,S.42) nimmt H. R. Sennhauser an, «dass der karolingischen Kirche (= Bau III) eine durch Bischof Valentian um 540 erbaute Kirche voranging».

S. 254: Sie diente als Grabkirche des Erbauers und der seit seiner Zeit in Chur dominierenden (vielleicht mit ihm verwandten) Familie der Zacconen/Victoriden. In der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts ist diese Kirche durch den komplizierten Bau einer Saalkirche mit halbrund ummauertem - 26 -

Dreiapsidenschluss über einer Ringkrypta als Grabkirche des Bekenners Luzius (und des Erbauers Valentian) ersetzt worden. In der Westkrypta, einer Wandelgangkrypta, wäre das Grab des Gründerbischofs Valentian, im Osten in der Ringkrypta das des hl. Luzius und in der daran anschliessenden Grabkammer das der (erst im 11./12. Jahrhundert fassbaren) Emerita gewesen. Der darüber befindliche Chorraum mit den drei hufeisenförmigen, gestelzten Apsiden und den Altarstipites ist wegen seiner Grösse (das niedrigere Laienschiff misst keine zehn Meter) und wegen seiner Raumanordnung - der Priester scheint hinter dem Altar mit Blick auf die Gemeinde/Gemeinschaft zelebriert zu haben - nach der Vermutung von H. R. Sennhauser als Mönchs- oder Kanonikerchor zu deuten. Damit wäre mindestens für den Bau III des 8. Jahrhunderts «ein Konvent als Hüter der Heiligengräber, Mönche oder Chorherren, die für das Seelenheil der hier beigesetzten Stifter und Gönner beten, ... anzunehmen» Zur Stütze dieser These verweist Sennhauser auf die in der Vita Lucii genannten fratres reverendissimi, auf die Vermutung A. Bruckners, in St. Luzi habe sich das Churer Scriptorium befunden, sowie auf eine Fälschung P. Karl Widmers von 1656 - zehn Jahre nach dem Proprium Curiense! - Beweisstücke, die nicht unbedingt tragfähig sind. Die Annahme eines vorkarolingischen Klosters in St. Luzi ist von beträchtlicher Brisanz, weil dadurch St. Luzi statt Müstair zu den drei Männerklöstern gehören könnte, die bei der divisio von 806 dem Bischof entzogen worden waren (vgl. oben S. 128, 147). Müstair wäre demnach nicht als bischöfliches Kloster anzusehen, sondern als Reichskloster, gegründet von Karl dem Grossen (s. dazu unten S. 269-271).

Durch eine erneute Interpretation des Grabungsbefundes und in kritischer Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten von Urs Clavadetscher so wie aufgrund allgemeiner patroziniengeschichtlicher Beobachtungen wie der Untersuchungen zu Marien- und Petruspatrozinien in spätantik- frühmittelalterlichen

S. 255: Bischofsstädten bemüht sich Hans Rudolf Sennhauser darum, das Gebäude mit der Bogenmauer im antiken vicus von Welschdörfli (Markthallenplatz) (s. oben S. 78) als profanes Vereinshaus (schola) zu er weisen, das durch den Bau einer Binnenapsis in der Spätantike (im späten 4. Jahrhundert oder um 400) zur Kirche umfunktioniert worden sei, und er lokalisiert hier eine Peterskirche, die - 27 -

bei einer Bischofsstadt wie Chur analog zu anderen nicht fehlen dürfe. Von seiner früheren Interpretation als Friedhofskirche rückt er ab und sieht in der Bogenmauer auch nicht mehr eine Priesterbank, sondern eine Binnenapsis, ähnlich wie in Zillis, wo bei fast deckungsgleichem Grundriss der Gebäude eine ähnliche Abfolge von profanem und christianisiertem Bau vorgelegen haben könnte. Die Analogien und Parallelen können keine Beweise ersetzen, wie H. R. Sennhauser zugibt:

«Beweise lassen sich nicht beibringen» Dass eine Kirche mit einem so wichtigen Patrozinium wie Petrus im Stadtgebiet von Chur abgehen konnte, sei es in karolingischer oder schon in vorkarolingischer Zeit, ist erstaunlich, weil alle anderen Churer Kirchen und auch Zillis mindestens einmal erneuert worden sind, die Kirche im Welschdörfli aber nicht. Das spricht nicht unbedingt für einen Kirchenbau. Aber ein solches «Gegenargument» beruht seinerseits wiederum nur auf Analogie (vgl. oben S. 78, Anm. 225).

In seiner übergreifenden, sehr instruktiven Zusammenfassung zu «Typen, Formen und Tendenzen im frühen Kirchenbau des östlichen Alpengebietes: Versuch einer Übersicht» behandelt H. R. Sennhauser auch die «liturgische Ausstattung» mit Altären, Klerusbänken, Schränken, Fusswaschbänken (vielleicht im Annexbau der St. Mauritiuskirche des endenden 6. Jahrhunderts von Nenzing, ) und vor allem die Zeugnisse frühchristlicher Kleinkunst in Rätien (s. oben S. 79), die sich in den Reliquienkammern, - krypten und -schreinen erhalten haben Sie haben erneut das Interesse der Forschung auf sich gezogen, weil bei den Ausgrabungen (seit 1992) auf dem Schlosshügel von Tirol in der auf Vorgängerbauten errichteten Apsiskirche des 8. Jahrhunderts (?) ein Reliquiengrab «mit einem Reliquiensarkophag aus Marmor, in dem eine die Reliquien enthaltende Silberpyxis verwahrt wurde», entdeckt worden ist. Solche zeitlich ins 5./6. Jahrhundert weisenden einfachen capsellae argenteae sind in Italien, auf dem Balkan, in Afrika und im Orient verbreitet gewesen. Auch das aufwendiger gestaltete Silberkästchen

S. 256: von Paspels (St. Lorenz) gehört zu diesem Typ. Es wird von H. Buschhausen wie von W. F. Volbach auf Anfang 5. Jahrhundert datiert und soll aus dem Orient kommen. Buschhausen vermutete einen Zusammenhang mit einer Vorgängerkirche von St. Lorenz, die selbst aus dem 11. Jahrhundert stammt. - 28 -

Neuerdings wird dagegen mit beachtenswerten Argumenten auf eine mögliche Übertragung aus der im 16. Jahrhundert abgegangenen Mauritiuskirche in Tumegl/Tomils (Bau I: 6. Jahrhundert, Bau II: 9. Jahrhundert), wohl der frühen Talkirche des Domleschg, hingewiesen (s. unten S. 267).

Dem Tiroler Reliquienbehälter in Sarkophagform ähnelt der kleine Marmorsarkophag des Hochaltars der Churer Kathedrale (s. oben S. 79). Er stammt ziemlich sicher aus dem Vintschgau und steht ebenfalls in östlicher Tradition. Neben dem merowingisch-karolingischen Bursenreliquiar und der Aeskulapschachtel hat er nach Buschmann ein Gipsmedaillon (Abguss einer frühchristlichen Gemme?), eine nachmerowingische Elfenbeinpyxis so wie ein Urkundensiegel von 1272 enthalten. Das kleine hausförmige Reliquiar mit vergoldeten Blechen, Flechtbandmustern und Edelsteinen ist jetzt dendrochronologisch auf «um einiges später als 740» datiert, was die kunstgeschichtliche Datierung auf «um 800» bestätigt (s. oben S. 79 irrtümlich 5. Jahrhundert). Von Luzi Dosch wird es als karolingisches Eucharistiekästchen und nicht als Reliquiar betrachtet und beschrieben.

Das Wirken der durch ihre späten mittelalterlichen Legenden bekannten lokalen Glaubensboten Gaudentius, Lucius und Florinus ist oben (S. 82-84) nicht mit der Einführung des Christentums in Churrätien in Verbindung gebracht worden, sondern gemäss der gegenwärtigen Forschung allenfalls mit der frühmittelalterlichen Christianisierungsphase. Gegen die dementsprechende Interpretation der Luziusvita, die im wesentlichen auf den Arbeiten von Iso Müller beruht, wendet sich vehement Bruno Hübscher. Ausgehend von der um 800 nachweisbaren Legende, den verschiedenen liturgischen Texten aus Chur, Essen-Werden, England und Augsburg sowie der wissenschaftlichen Literatur bis zu I. Müller kehrt er zur Deutung der älteren Literatur (vor 1938) zurück und versetzt das Wirken des Luzius wieder in die Anfangsphase des Christentums in Rätien, vor der Gründung des Bistums um 380.

S. 257: Luzius stammt nach Hübscher nicht aus Britannien, auch nicht aus dem Prättigau (so I. Müller, vgl. oben S. 83, Anm. 232), sondern wahrscheinlich aus Italien und war nicht ein später Einsiedler, sondern vielleicht sogar ein früher oder der frühe Bischof. Hübschers Legenden- und Forschungsgeschichte ist lehrreich, sie bringt aber abgesehen von der Überzeugung, dass Bischof - 29 -

Victors III. Nennung des Luzius als confessor und ersten (?) rätischen Glaubensboten in seiner Klageschrift von 823 eine «wahrhafte Aussage» sei, kein wirklich stichhaltiges Argument für seine neue (alte) Deutung. Man wird das «historische» Wirken des Heiligen doch eher in der Merowingerzeit anzusetzen haben.

Zweifellos nicht zu den frühen Glaubensboten hat der in Ramosch im Unterengadin bestattete confessor/presbiter Florinus gehört (s. oben S. 83f.), weil er schon in einem fest gefügten kirchlichen Rahmen steht, der auf Verhältnisse des 7. Jahrhunderts hinweist, wie sie auch in Arbon oder Grabs zu finden sind. Nach erneuter Untersuchung des Florinus-Dossiers bin ich zu dem Ergebnis gelangt, dass der titulus S. Florini confessoris, der Otmar vor der Übernahme der Abtswürde in St. Gallen 719 übertragen worden ist, doch eher in Ramosch bei der Grabkirche des Heiligen als in Chur zu suchen ist (vgl. oben S. 106). Unter Otmar scheint erstmals versucht worden zu sein, bei der Einsiedelei (Heraemusciae - Ramosch) des confessor eine Mönchs- oder Klerikergemeinschaft einzurichten, doch hatte diese wie der Erneuerungsversuch unter dem abbas Hartbert im 10. Jahrhundert keinen Bestand, worauf später zurückzukommen sein wird

Aus den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Legenden sind für den heiligen Gaudentius von Casaccia (s. oben S. 82f.) keinerlei Anhaltspunkte für sein Wirken, das mit dem des Bischofs Gaudentius von Novara (gest. um 418) verwechselt wird, zu gewinnen. Das ergibt sich eindeutig aus der Studie über «Das Kephalophoren-Wunder in churrätischen Viten», die Regula Di Natale dem Motiv des seinen Kopf tragenden Heiligen gewidmet hat Seit dem 8. Jahrhundert in Nordgallien fassbar, von dem Königskloster Saint-Denis propagiert, über Zürich (Felix und Regula) nach Rätien vermittelt, wird das Kephalophoren-Motiv um 1200 in die Passio s. Placidi (Disentis)

S. 258: aufgenommen und dient hier wie im Falle von Gaudentius von Casaccia, Victor von Tomils und Eusebius vom Viktorsberg in der spätmittelalterlich neuzeitlichen Ausprägung der Legende dazu, die Doppelung der Verehrungsstätte, hier Martyriumsstätte, da Grabstätte, zu erklären - für Gaudentius: die Todesstätte in Vicosoprano, das Grab bei Casaccia. Das Motiv gehört nicht zu einer frühmittelalterlichen Kultschicht, sondern ist ein literarischer Kunstgriff, die komplizierten besitzgeschichtlichen, - 30 -

kultgeschichtlichen, kirchenpolitischen und konfessionellen Verhältnisse des späten Mittelalters und der Neuzeit über den Umweg einer «gelehrten» Tradition zu deuten.

Dem Wirken von Columban und Gallus in der alemannischen heidnischen Siedlung Tuggen und im zweisprachigen romanisch-alemannischen Mischgebiet von Konstanz, Arbon und Bregenz lässt sich eine gewisse Historizität nicht absprechen (s. oben S. 84-87). Das ergibt sich nicht so sehr aus dem Forschungsbericht und Literaturreferat von Christian Rohr, «Columban-Vita versus Gallus-Vita ?» als aus den gründlichen, unter sprach- und religions wissenschaftlicher Perspektive geführten Untersuchungen von Gerold Hilty der die hagiographischen Quellen (Vita vetustissima, Gallus- Viten von Wetti und Walafrid Strabo, Vita Columbani) mit ihren Aussagen zur Herkunft und zur Sprache des Heiligen, zu den Formen der heidnischen oder synkretistischen Praktiken mit den Befunden der Onomastik und der

S. 259: Archäologie konfrontiert und zu einem Ergebnis kommt, das im wesentlichen mit der oben gegebenen Darstellung übereinstimmt, die sprachlichen Gegebenheiten in den bilingualen Zonen aber bei weitem klarer akzentuiert.

Die Zahlenangabe über den Bestand der Kirchen in seinem Bistum Chur, die Bischof Victor III. in seiner Klageschrift von 823 macht (s. oben S. 87f.), erweist sich mit fortschreitender archäologischer und bauhistorischer Erforschung zunehmend als verlässlich. Zu den sechs dort genannten Baptisterien lässt sich sicherlich das erst kürzlich auf Hohenraetien entdeckte zählen neben den schon länger bekannten von Schaan, Disentis und Zillis (s. oben S. 252f. mit Anm. 64, 65). Vergleicht man die oben (S. 88-91) versuchte statistische Auswertung der archäologischen Literatur mit dem neuesten, von H. R. Sennhauser verfassten «Katalog der frühchristlichen und frühmittelalterlichen kirchlichen Bauten in der Diözese Chur und in den nördlich und südlich angrenzenden Landschaften» und beschränkt man sich auf den engeren Raum der frühmittelalterlichen Diözese, so ergibt sich allenfalls ein geringer Zuwachs von fünf Kirchen, darunter die Dreiapsidenkirche aus dem 9. Jahrhundert in Tumegl/Tomils, errichtet auf einem Vorgängerbau circa des 6. Jahrhunderts. Die chronologische Verteilung und das Ungleichgewicht zwischen den Zeugnissen der Schriftquellen und des archäologischen Befundes verändern sich im wesentlichen nicht. Nach wie vor - 31 -

ist das Engadin sehr schlecht dokumentiert (s. oben S. 91f.), auch wenn man die von H.R. Sennhauser hypothetisch rekonstruierte Sebastiankirche von Zuoz (10./11. Jahr hundert), die vielleicht zwei Vorgängerbauten gehabt hat, zu den Kirchen von Silvaplana und Ramosch/Remüs hinzuzählt.

Anders sieht es dagegen im Vintschgau aus, der wie das benachbarte Engadin zu dem im Reichsgutsurbar aufgeführten ministerium Remedii gehört hat, für welches allerdings die descriptio nicht überliefert ist (vgl. oben S. 92). Die Übersicht über «Frühchristliche und frühmittelalterliche Kirchenbauten in Südtirol», die Hans Nothdurfter vorgelegt hat, ergibt, dass genau ein Drittel (10 von 30) der archäologisch und bauhistorisch untersuchten Kirchen dieses Raumes zum Vintschgau bzw. zum Bistum Chur gehört haben. Chronologisch, weniger funktional zählen dazu die beiden einzigen als frühchristlich

S. 260: anzusehenden Kirchen des Vintschgaus, nämlich die seit 1992 ergrabene, schon erwähnte Kirche unmittelbar südlich von Schloss Tirol und die eine Viertelstunde davon entfernte Kirche St. Peter in Gratsch, beide mit aufwendigen Reliquienkammern, aber ohne Priesterbank. Sie scheinen noch aus dem 5./6. Jahrhundert zu stammen, aber wohl nicht mehr zum Typ der (grossen) Kirchen in zivilen und militärischen Zentralorten zu gehören wie die Kirchen in Bozen, St. Lorenz (Pustertal) oder Säben, sondern standen eher im Zusammenhang mit der Grenzverwaltung und der Verbindung des Weges aus dem Vintschgau über das castrum Maiense ins Passeiertal. H. Nothdurfter erwägt auch, wegen der Reliquiengräber an Wallfahrtskirchen zu denken. Funktional gehören sie jedenfalls schon zur Gruppe der frühmittelalterlichen Kirchen, die sich durch Grablegen bei der Kirche so wie die Kleinheit der mehrheitlich rechteckigen Bauten auszeichnen und nun fernab von Siedlungen auch in Tallage vor allem aber an wichtigen Wegverbindungen angelegt werden, Zeichen der merowingisch-karolingischen Raumorganisation.

Zu dieser Gruppe der frühmittelalterlichen Kirchen gehören im oberen Vintschgau gleich drei Kirchen im Raume von Mals: St. Stephan in Burgeis, eine Kirche, die zeitgleich mit Tirol und Gratsch datiert wird, St. Jakob in Söles/Glurns, für welche trotz des Patroziniums und trotz namenkundlicher Argumente, die für das 9. Jahrhundert sprechen, das 7. Jahrhundert in Vorschlag gebracht wird (wegen der Kleinheit der Kirche und des noch im 12. Jahrhundert nachweisbaren Begräbnisrechtes), und schliesslich die dank ihrer - 32 -

Ausstattung mit Stuck, gemalten Figuren, Chorschranken aus Marmor bestens bekannte Kirche St. Benedikt von Mals (vgl. unten S. 279). Die drei Kirchen liegen an «Zugängen zum S-charl-Joch bzw. zum Wormser Joch /Umbrailpass, von wo aus man in das Veltlin und Mailändische einerseits, in das Engadin und den Bregenzer Raum andererseits gelangt». In den Zusammenhang mit der karolingischen Wegorganisation nach der Unterwerfung des Langobardenreiches stellt H. Nothdurfter die beiden Kirchen St. Karpophorus und St. Medardus in Tarsch/Latsch, «aufgereiht am Zugang zum Verbindungsweg über das Tarscher Joch (2281 m) und die hohe Marchegg (2552) in das Ultental, von wo man leicht weiter in den Nonsberg kommt» Die wegen ihrer Grabbauten und des aus dem Boden gemeisselten Reliquienloculus auffällige kleine Kirche St. Georg liegt 200 m oberhalb von Kortsch auf einem steilen Felsen an einem Weg, der als Abkürzungsweg von der Via Claudia Augusta ins Ötztal und damit in das Inntal führt.

S. 261: Unweit der Via Claudia war auch die Kirche St. Prokulus bei Naturns gelegen, auf einem hochwasserfreien Murgenkegel, ca. 5 km westlich der antiken Zollstation an der Grenze zwischen den Provinzen Raetia und Venetia et Histria. H. Nothdurfter betrachtet diese Friedhofskirche wegen beigabenführender Gräber des 7. Jahrhunderts «als Gründung eines Verantwortungsträgers der neuen Herrschaft» d.h. nach seiner Deutung: der Bayern. Allgemeine historische Erwägungen zur politischen Zugehörigkeit dieses Raumes und patrozinienkundliche Argumente sind allerdings letztlich nicht stichhaltig. Der einfache Rechtecksaal der Grabkirche hat im 10./11. Jahrhundert durch Einbau eines trapezförmigen Chores mit Triumphbogen im wesentlichen die heutige Form erhalten. Da erst dann die berühmten Wandmalereien angebracht worden sein können, müssen diese später datiert werden (als oben S. 159, 163, 241). Doch, so H. Nothdurfter: «Der Fall St. Prokulus ist weiterhin ungelöst»

Die frühen Kirchen des Vintschgaus, deren Patrozinien auf südlichen und westlichen Einfluss hinweisen (s. oben S. 166f.), entsprechen den Haupttypen ländlicher Saalkirchen des Bündner Raumes, die H.R. Sennhauser unterschieden hat. Es sind in der Regel Saalkirchen mit oder ohne Chor bzw. Apsis, in St. Peter in Gratsch im 7. Jahrhundert durch eine kreuzförmige Kirche und unterhalb Schloss Tirol wohl in karolingischer Zeit durch eine - 33 -

Dreiapsidenkirche ersetzt. Aus dem 11. Jahrhundert stammt die Saalkirche mit trikonchalem Ostschluss St. Vigilius in Morter (Latsch). Die Verbreitung und chronologische Abfolge der frühmittelalterlichen Bautypen (s. oben S. 93-95) sind durch die neueste Übersicht von H.R. Sennhauser, die das ganze Gebiet zwischen Bodensee und Tessin erfasst, nun deutlicher in ihrer Eigenheit zu greifen Auf den von Sennhauser erstellten Einzelkarten zu den verschiedenen Bautypen beruht die oben (S. 94) gebotene neu gezeichnete Karte (Nr. 10) zur Verbreitung der Bautypen der rätischen Kirchen.

S. 262: Den in der älteren Forschung als typisch rätische Erscheinung bezeichneten «Kirchenkastellen» (s. oben S. 95f.) widmet H.R. Sennhauser eine kurze Forschungsgeschichte und entschärft die Diskussion um «Volksburgen», «Fluchtburgen», «Fliehburgen» durch die zutreffende und neutrale Beschreibung als «Kirchen in befestigten Höhenanlagen» Die beiden durch Schriftquellen bezeugten Georgskirchen von Jörgenberg in Waltensburg/Vuorz und Rhäzüns gehören zweifellos dazu, ebenso die archäologisch nach gewiesenen in Trun-Grepault und auf Hohenraetien, wo das erwähnte Baptisterium auf eine Funktion als Tal- oder Mutterkirche hinweist Sehr verbreitet sind sie im östlichen Alpengebiet gewesen, in Slowenien, ferner in Nord- und Südtirol und in der gesamten Schweiz. Eine rätische Besonderheit waren sie jedenfalls nicht.

Die nur durch wenige Schriftquellen erhellte Geschichte des Bistums und des Bischofs von Chur in der Spätantike und im frühen Mittelalter ist in den oben erwähnten Darstellungen von M. Durst sowie von J. Ackermann und S. Grüninger grosso modo in der gleichen Weise, wenn auch in unterschiedlicher Breite bzw. Kürze, dargestellt wie oben (S. 96-103) Neue Quellen gibt es dazu nicht. Hinzuweisen ist jedoch auf die Neuedition der Inschrift für Bischof Valentian (gest. 548) (s. oben S. 97), die wie auch die Victoriden Inschriften von Marina Bernasconi Reusser vorgelegt worden ist Wenn im Zusammenhang mit dem Schwanken der Provinzzugehörigkeit (zu Mailand bzw. Mainz) zur Zeit des Investiturstreites von der «Doppelwahl von 1078» gesprochen wird (s. oben S. 102), dann ist das jetzt aufgrund der Lizentiatsarbeit von Fabian Renz zu korrigieren: die «Doppelwahl» ist nichts anderes als ein Faktoid der neuzeitlichen Geschichtsschreibung. - 34 -

Dass Chur um 400 Bischofssitz und ziviler Verwaltungssitz gewesen ist, lässt sich auch den «Archäologischen Untersuchungen zur spätrömischen Zeit in Curia/Chur GR» von Sebastian Gairhos entnehmen. Die archäologischen Befunde erweisen eine Siedlungskontinuität im Bereich des Welschdörfli («bis mindestens an die Wende des 6. Jahrhunderts») und auf dem Hof,

S. 263: wo nach einer Brandkatastrophe um 400 mit grösseren Baumassnahmen (Bischofskirche) zu rechnen ist und nach einer zweiten Brandkatastrophe im 8. Jahrhundert mit umfangreichen Neubauten. Die am Fuss der Mauer des Hofes, hinter Hotel Marsöl gefundenen Grubenhäuser (Wohnhäuser, Werkstätten) des 4./5. Jahrhunderts weisen auf die «vielen kleinen Siedlungen im näheren und weiteren Umkreis» des spätrömischen castrum hin (s. oben S. 105), über die wir bisher nur sehr wenig wissen.

An der Stelle der heutigen Kathedrale (s. oben S.106) vermutet H. R. Sennhauser drei Vorgängerbauten: 1. eine Saalkirche der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts mit halbkreisförmiger Apsis und querschiffartigen Ausbauten, 2. einen vollständigen Neubau des dritten Viertels des 8. Jahrhunderts, eine Saalkirche («Tellobau») mit hufeisenförmiger Apsis mit nördlichen Neben- räumen (Korridor, Kreuzgang?), zu der die Ausstattung mit Schranken- platten, Reste eines Altares und figürliche Stuckreste mit Farbspuren gehören, und 3. schliesslich - weniger deutlich fassbar - eine Saalkirche mit rechteckigem Altarhaus, die dann seit dem 12. Jahrhundert zur heutigen Kathedrale erweitert wurde. Diese Rekonstruktionen werden von Sennhauser ausdrücklich als Hypothesen bezeichnet. Sie haben sich durch die archäologischen und bauhistorischen Beobachtungen anlässlich der Restaurierungsarbeiten zwischen 2001 und 2007 meines Wissens nicht bestätigen lassen

Von der unterhalb des Hofes gelegenen karolingischen Kirche St. Martin (s. oben S. 109f.) hat sich die Südseite mit Blendengliederung gut erhalten. Der Dreiapsidensaal wird in Analogie zu Müstair und nach den Schrankenresten auf die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts datiert. Aus etwas späterer Zeit (9. Jahrhundert) stammt die «Untere Kirche», St. Regula, eine Saalkirche mit gerade hintermauerter Apsis, mit Vorhalle und Seitenannex. - 35 -

Spätestens seit dem 10. Jahrhundert lässt sich das Domkapitel historisch fassen (s. oben S. 112f.). Vorstufen dürfte es im 9. Jahrhundert gegeben haben. Über die Raumgestalt von claustrum mit refectorium, dormitorium, Kirche und munitio der Kanonikergemeinschaft, die gemäss den Reformen von Chrodegang von Metz und Ludwig dem Frommen vorauszusetzen sind, wie Josef Semmler gezeigt hat, ist bisher nichts bekannt. Das allgemeine

S. 264: Bauprogramm von Stiftsgebäuden ist jedenfalls zu beachten, wenn es gilt, die bei der Domrestaurierung gemachten Beobachtungen zu interpretieren.

Die Herrschaft des Churer Bischofs über die Stadt, das Stadtumland und die Diözese (s. oben S. 113-427) ist im Vergleich zu anderen Bistümern durch eine aussergewöhnlich dichte urkundliche Überlieferung dokumentiert. Diese ist allerdings selektiv und bezieht sich zum einen in der Form von Restitutionsurkunden, Besitzübertragungen und -bestätigungen auf den Fernbesitz des Bistums im Elsass bzw. auf den Königshof Zizers, zum anderen in Form von Übertragungen von Hoheits- und Herrschaftsrechten auf Stadt und Umland. Beide Urkundengruppen sind von Sebastian Grüninger im Rahmen seiner Dissertation über die «Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien» ausführlichst quellenkritisch untersucht, die komplizier ten Abhängigkeiten der Diplome in zwei instruktiven Schaubildern sichtbar gemacht und der Charakter dieser Urkunden in dem weiten Spektrum zwischen einer Verwaltungsschriftlichkeit einerseits und einer situativen Anspruchsschriftlichkeit andererseits bestimmt worden Das Ergebnis ist, dass die Aussagen der Diplome über die effektiven Besitzverhältnisse stärker zu relativieren sind, als dies aus unserer Darstellung hervorgeht. Das gilt vor allem für die elsässischen Besitzungen, für welche schon Hanna Vollrath auf die Bedeutung einer Ergänzung durch ortsansässige, landeskundige Zeugen, mithin des kollektiven Gedächtnisses, hingewiesen hatte und für den Königshof Zizers. Die dort kürzlich gemachten Ausgrabungen von Fibeln und Keramik (Terra sigillata) weisen auf eine römische Siedlung (Gutshof?). Frühmittelalterliche Gebäudereste sowie Skelette (8-10. Jahrhundert) gehören wahrscheinlich zu dem karolingischen Hof° Der Charakter der Stadt- und Stadtumlandherrschaft des Bischofs, ob besitzrechtlich oder herrschafts- und hoheitsrechtlich fundiert, wird von S. Grüninger eher im letzteren Sinne - 36 -

gesehen. Dem entspricht die auch für viele andere Bischofsstädte Galliens nachweisbare Entstehung eines Stadtumlandbezirkes,

S. 265: der als bischöflich dominierter Rechtsbezirk erkenntlich ist, sei er nun suburbium, quinta oder centena u.ä. genannt, wie Karin Fuchs gezeigt hat.

Ein Maximum an Privilegien erhielt die Bischofskirche von Chur von Otto 1. Der Begünstigte war Bischof Hartbert 1. (ca. 949-970) (s. oben S. 120-126). In der ihm gewidmeten Lizentiatsarbeit lässt es Vinzenz Muraro in der Schwebe, ob Hartbert mit dem gleichnamigen Zürcher Kanoniker, der 929 im Zusammenhang mit einem Hörigentausch und zwischen 926 und 930 anlässlich der Translation von Felix- und Regula-Reliquien nach Einsiedeln genannt wird, zu identifizieren ist oder nicht. Die Verbindungen Hartberts zum Herzogshof und zum Königshof, die Sorge um die Verbreitung der Florinus- Reliquien in Parallele zu Felix und Regula und der Versuch, in Ramosch eine Klerikergemeinschaft einzurichten, sprechen m. E. eher für eine Identität. Hartbert dürfte der Erbauer des nach 957/58 wohl als Reaktion auf die Sarazeneneinfälle errichteten Flucht- und Wohnturms des Klosters Müstair, des sogenannten Plantaturms, gewesen sein. Möglicherweise ist der an einem 6. Januar 971 oder 972 gestorbene Bischof im Kreuzgang des Klosters bestattet worden

Die frühen Klöster, fassbar in Rätien seit dem 8. Jahrhundert, gehören nicht zur Phase der Einführung des Christentums in der Alpenregion, sondern stehen in einem anderen, späteren, politisch-kulturellen Kontext (s. oben S. 128-153), zu dem auch die politische und verkehrsgeographische Erschliessung und Sicherung des Raumes gehört. Das erklärt, warum die rätischen Klöster wie jene des Inntales im engen Zusammenhang mit der römischen und frühmittelalterlichen Strassenführung zu sehen sind Die Übersicht über die frühen Frauenklöster und die Klerikergemeinschaften von R. Kaiser ergibt, dass es unmöglich ist, die kirchenrechtliche Stellung der

S. 266: Frauengemeinschaften der Frühzeit genauer zu fassen, dass in der Regel ein Wandel von «anfänglich unsicheren Regeltraditionen zu einem Kanonissenstift» stattgefunden hat und dass bei den Frauenklöstern wie bei den Klerikergemeinschaften neben den durch Zufallsnennungen bekannten mit weiteren Gründungen zu rechnen ist, die sich aus den Schriftquellen und/oder den archäologischen Zeugnissen erschliessen lassen. - 37 -

Für die Gründung des um 720/730 von Bischof Victor (II.) und seiner Mutter als Hauskloster der Bischofs- und Praesesfamilie errichteten Frauenklosters in Cazis (s. oben S. 128-132) gelingt es R. Di Natale nicht, durch die Verknüpfung mit der erst in der Neuzeit verschrifteten Legende des heiligen Victor von Tomils, dem Kephalophoren, neue Anhaltspunkte zur Frühgeschichte des Klosters zu gewinnen, auch wenn die Parallelen (Namen und Orte) zwischen der Gründungsgeschichte und der Geschichte des Märtyrers in die Augen fallen. Auch der Einbezug der neuesten Grabungsbefunde von Tumegl/Tomils (Sogn Murezi) hilft hier nicht weiter, denn über die Funktion der Saalkirche des 6. Jahrhunderts, über welche eine karolingische Dreiapsidenkirche mit Nebengebäuden errichtet worden ist, wissen wir nichts. War hier, zweifellos einem zentralen Ort des Domleschg (als ministerium Tumilasca, ca. 842 im Reichsgutsurbar erwähnt), eine geistliche Gemeinschaft ansässig, war hier ein Wallfahrtsort, ein Hospiz oder, worauf die reichen Speisereste (vor allem Fisch) hinzuweisen scheinen, eine adelige Stiftung - die Bearbeiter des Fundstoffes suggerieren einen Zusammenhang mit den Zacconen/Victoriden und ihrer Gründung in Cazis Wir wissen es nicht. Auszuschliessen ist eine Klerikergemeinschaft jedenfalls nicht.

Bevor die Grabungspublikation zum Kloster Mistail (s. oben S. 132-134) erscheint (vorgesehen von H.R. Sennhauser), ist für die beiden Kirchen und den kleinen Grabbau, vor allem aber für das ca. 25 m lange karolingische Nonnenhaus nördlich der heute noch bestehenden Dreiapsidenkirche auf den kurzen Katalogeintrag von H.R. Sennhauser zurückzugreifen. Die Vermutung, dass bei Mistail und nicht auf dem Septimer das senodochium s. Petri (831) gelegen habe, wird von Ingrid Heike Ringel ausführlich zu begründen versucht.

S. 267: Ähnlich gilt auch für Disentis (s. oben S. 134-140), dass der ausführliche Bericht über die Grabungen 1980-83 noch aussteht und statt dessen der Katalogeintrag von H.R. Sennhauser zu benutzen ist. Aus diesem ergibt sich mit grosser Sicherheit, dass in der Mitte des 8. Jahrhunderts mit drei Kirchenbauten zu rechnen ist, St. Maria, St. Peter und St. Martin Der archäologische Befund bestätigt den Wortlaut des Tellotestaments (s. oben S. 136) von 765, das nach dem letzten Bearbeiter, Sebastian - 38 -

Grüninger, formal als Fälschung zu betrachten und für die Rekonstruktion des frühen Klosterbesitzes nicht zu gebrauchen sei, für die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Auswertung aber sehr wohl.

Die Gründungsgeschichte des Klosters Disentis (s. oben S. 134-136, hier im wesentlichen nach den Forschungen I. Müllers dargestellt) erscheint nach Bruno Hübscher in einem anderen Licht, einem deutlich weniger «politischen» Licht. Hübscher betrachtet Sigisbert als «einen fränkischen Priestermönch», der um 614 (vgl. Bischof Victor auf dem Reichskonzil in Paris!) nach Churrätien gekommen ist und dem sich der einheimische Placidus zugesellt hat bei der Begründung seiner Niederlassung unweit der Gabelung des Lukmanier- und des Oberalppasses. Placidus sei bald Opfer eines Raubmordes und nicht einer politischen Auseinandersetzung mit der um ihre Herrschaft bangenden Familie der Zacconen/Victoriden geworden. Bei seinem und Sigiberts (Doppel-)Grab sei etwa ein Jahrhundert später - ähnlich wie bei der Galluszelle an der Steinach oder am Grab des ermordeten Meinrad von Einsiedeln - durch Bischof Ursicinus ein Kloster eingerichtet worden, gestiftet durch eben den praeses Victor, den angeblichen Placidus-Mörder, und durch dessen Sohn Tello mit weiterem Vermögen ausgestattet. Damit wäre Disentis eine Victoridengründung, ein Männerkloster als Pendant zum Frauenkloster Cazis, errichtet eine Generation nach jenem. Die Stilisierung des «Tyrannen» Victor zum Mörder des Placidus und des Placidus zum Kephalophoren, der sein Haupt von der Märtyrerstätte (an der Stelle der späteren Placiduskapelle) zur Begräbnisstätte (beim Kloster) trägt, ist erst nach der Flucht der Mönche von Disentis vor den Sarazenen nach Zürich (um 936/40) erfolgt. In Zürich dürfte über Felix und Regula die Anknüpfung an die Kephalophorentradition des Klosters St. Denis vollzogen und Victor zum Antagonisten des «Märtyrers» gemacht worden sein‘

S. 268: Die annähernd 12'000 Fragmente von bemaltem Putz und Stuck, der so genannte «Disentiser Stuck», gefunden in der um die Mitte des 8. Jahrhunderts ummantelten Apsis von St. Martin (II), haben eine überraschende Deutung durch Walter Studer erhalten. Neben Architekturelementen hat er als Teile einer Weltgerichtsdarstellung sieben Engel mit Posaunen, 17 lebensgrosse, Schriftrollen haltende Heilige, deren Gewänder mit Gammadia (Schriftzeichen) geschmückt waren, und eine Engelsglorie rekonstruieren - 39 -

können, dazu eine Koimesis, eine byzantinische, auf den Apokryphen des Pseudo Melitus und des Johannes von Thessaloniki beruhende Darstellung des Marientodes. Diese frühbyzantinischen Malereien schreibt er «zwei über Rom nach Disentis verpflichteten byzantinischen Mönchen» zu. Die qualitätvollen Inschriftreste, meist eingeschnittene und/oder gefärbte Kapitale, die Marina Bernasconi Reusser ediert und neuerlich kommentiert hat, bezeugen, dass das Bildprogramm wie in Müstair durch Titel erklärt war.

Die Anfänge und die Frühgeschichte des Klosters Pfäfers (s. oben S. 140-145) verlieren sich im dichten, von Fälschungen überwucherten Gestrüpp einer widersprüchlichen Überlieferung, in das Sebastian Grüninger Licht zu bringen sucht. Für ihn ist über die Anlehnung an die Reichenau hinaus mit stärkeren karolingisch-fränkischen Einwirkungen in der Gründungsphase zu rechnen.

In einem weit höheren Masse gilt dies auch für die neuen Deutungen der Gründungsgeschichte des Klosters Müstair (s. oben S. 145-149). Die archäologischen und bauhistorischen Befunde der immer noch im Gang befindlichen Grabungen hat H.R. Sennhauser mehrfach zusammenfassend dargestellt und kommentiert. Umstürzend sind die neuen auf der Dendrochronologie beruhenden Datierungen. Sie bestärken H.R. Sennhauser und J. Gollin der schon 1999 von H.R. Sennhauser geäusserten Ansicht, dass Müstair von Karl dem Grossen gegründet sei, und zwar nach der Eroberung des Langobardenreiches und im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden

S. 269: Auseinandersetzung mit dem Bayernherzog Tassilo. Es sprechen dafür die späten Karlstraditionen des Klosters Müstair, aber auch die verkehrsgeographisch günstige Lage, der Typ und die Grösse der Klosteranlage, die Ausstattung und das Geschick in karolingischer Zeit. Schliesslich erhärten diesen Zeitansatz der Baubeginn der Klosteranlage (nach 775) und das jetzt neu ermittelte Baudatum der Heiligkreuzkapelle, einer Doppelkapelle im Süden der Dreiapsidenkirche des Klosters: um 788. Der sog. Plantaturm, bisher als spätmittelalterlich betrachtet, wurde nach 957/58, vermutlich im Zusammenhang mit den Sarazeneneinfällen, als Wohn- und Fluchtturm für den Bischof und das Kloster errichtet, die Bischofsresidenz im 11. Jahrhundert (Dendrodaten: 1034/35) gebaut. - 40 -

Dass Müstair als Königskloster gegründet sei, steht in scheinbarem Widerspruch zur Klageschrift Bischof Victors III. von ca. 823, laut der die drei Männerklöster der Diözese bei der divisio von 806 dem Bischof entfremdet und dem Reichsgut zugeschlagen worden seien, Als diese drei Klöster gelten in der bisherigen Forschung die Klöster Disentis, Pfäfers und Müstair, die also ursprünglich bischöflich gewesen seien (s. oben S.128). H. R. Sennhauser löst diese Schwierigkeit, indem er, wie oben gezeigt (s. oben S. 254 mit Anm. 68), ein Kloster in St. Luzi nachzuweisen sucht, das 806 dem Bischof entfremdet worden sei, während Müstair, von Anfang an als Königskloster gegründet, erst durch den Tausch gegen elsässische Güter im Jahre 881 zum bischöflichen Eigenkloster wurde. Dass sich Karl der Grosse im Zuge des Langobardenkrieges der Alpenregion aktiv zugewendet hat, ist gut bezeugt, nicht zu letzt durch das Schutzprivileg für den Bischof und rector Constantius und das rätische Volk von ca. 773. Das darin aufscheinende komplizierte bilaterale Verhältnis bildet den Hintergrund für die Gründung von Müstair (vgl. oben S. 246 mit Anm. 45). Ob das Kloster angesichts der schillernden Stellung des gewählten und gleichzeitig vom König eingesetzten rector/episcopus als königlich, als bischöflich oder als ein Koprodukt des Königs und des Bischofs anzusehen sei, ist schwierig auszumachen. Im Gegensatz zu H. R. Sennhauser betont Jenny Kirsten Ataoguz neuerdings wiederum stärker die Zeugnisse, welche für eine churisch-bischöfliche Initiative sprechen. Vielleicht

S. 270: wird man sich von der scharfen Gegenüberstellung bischöflich - königlich freimachen müssen, sie gilt in ausgeprägter Form erst ab 806. In diesem Sinne beantwortet «die Frage nach der Gründerpersönlichkeit» auch Jürg Goll, wenn er schreibt: «Aus heutiger Sicht erscheint am plausibelsten, dass der Anstoss und einige Mittel vom König ausgingen und der Bischof für die Umsetzung zu sorgen hatte»‘ Über die Rechtsstellung des Klosters ist damit allerdings nichts ausgesagt.

Die Eindeutigkeit, mit der oben (S. 149f.) und in der Helvetia Sacra (2004) das Frauenkloster Schänis als hunfridingisches Haus- und Eigenkloster bezeichnet wird, das dann im 11. Jahrhundert in der Hand der Herren von Schänis bzw. der Lenzburger als Nachfolger der Hunfridinger ist, wird von S. Grüninger mit dem Hinweis auf die neuere Adelsforschung, welche die Fluktuationen der - 41 -

frühen Adelsgruppen stärker betont als die agnatischen Abstammungslinien, in Frage gestellt‘ Für die Besitzausstattung des Klosters rechnet S. Grüninger mit einem grossen Anteil an Fiskalbesitz, also gräflichem Amtsgut, und nicht mit Hunfridinger Eigengut. Dass über die frühe Regeltraditionen bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, d.h. bis zu dem Versuch, die Gemeinschaft nach der Regel der Augustiner Chorfrauen zu reformieren, nichts Sicheres bekannt ist, entspricht den Verhältnissen in den anderen rätischen Frauenklöstern.

Bei der von Bischof Verendar gegründeten, 841 von Lothar I. mit weit gestreutem Besitz ausgestatteten cellula von St. Maria in Serris (heute Kapelle St. Jakob in Flums) (s. oben S. 64, 151) ist es nicht zum Aufbau eines Klosters gekommen. Doch lassen sich immerhin eine kreuzförmige Kapelle (über einem rechteckigen Gebäude, Grabkammer?) und südlich davon die zur cellula gehörige, karolingische Saalkirche mit eingezogenem, annähernd quadratischen Chor und vielleicht nördlich der Kapelle ein Wohnbau archäologisch nachweisen.

S. 271: Die Geschichte des 884 gestorbenen irischen Inklusen Eusebius auf dem Viktorsberg bei Röthis in Vorarlberg (s. oben S. 151) und des ephemeren religiosus Scotorum conventus, der sich bei seiner Klause gebildet hat, ist unter ausführlicher Erörterung der Zeugnisse in Ratperts Casus s. Galli und der urkundlichen Überlieferung von R. Di Natale untersucht worden. Eine unmittelbare Kultverbindung lässt sich zwischen dem irischen Inklusen des 9. Jahrhunderts und dem in der frühen Neuzeit als Kephalophor auf dem Viktorsberg (Bestattungsort) und in Brederis (St. Anna-Kapelle, Martyriums- Ort) verehrten Eusebius nicht herstellen.

Zu den ephemeren oder den gescheiterten Klostergründungen in Rätien wird man auch den Versuch Otmars vor seiner Übernahme der Abtswürde in St. Gallen (719) zählen können, eine Klostergemeinschaft im Engadin an der Grabstätte des confessor Florinus in Ramosch zu gründen (s. oben S. 257 mit Anm. 77). Dieser Versuch wurde dann anscheinend im zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts wiederholt, als 930 bzw. 948 der presbiter bzw. abbas Hartbert, der spätere Bischof von Chur, umfangreichen Besitz, darunter Fiskaleinkünfte im unteren Engadin und den Fronhof von Ramosch mit weit gestreuten Gütern (bis nach Meran!) und Rechten erhielt mit der Auflage König Ottos 1. ad recuperandum Christi confessoris Florini servicium, worunter wohl die - 42 -

Einrichtung einer geistlichen Gemeinschaft zum Dienst an der Grabeskirche in Ramosch zu verstehen ist, wofür auch die grosszügige Ausstattung (vor allem mit Fiskaleinkünften) spricht. Auch die (schon von Hartbert?) vollzogene Übertragung der basilica s. Florini an das Domkapitel könnte ein Hinweis auf eine Klerikergemeinschaft in Ramosch sein Der archäologische Befund in Ramosch ist mit einer hypothetischen Klostergründung im 8. Jahrhundert bzw. einer Neugründung im 10. Jahrhundert gut in Einklang zu bringen: Die auf das 8./9. Jahrhundert datierte Dreiapsidenkirche mit breitem südlichem Annexbau war unwesentlich kleiner als Müstair oder Disentis und grösser als Mistail, im 10./11. Jahrhundert ist ein dreigeteilter Nordannex, ein Narthex und die Unterteilung des Südannexes hinzugekommen. Diese Erweiterungsbauten könnten durchaus mit dem Versuch Hartberts in Verbindung gebracht werden, hier eine geistliche Gemeinschaft anzusiedeln.

S. 272: Die Auswirkungen der Klostergründungen auf die kulturelle Entfaltung, die Verbreitung der Schrift und der Schriftlichkeit, die Bewahrung der Schriftzeugnisse und die künstlerische Ausgestaltung von Codices wie von Kultbauten werden seit der Mitte des 8. Jahrhunderts in Rätien mit einer Plötzlichkeit und Einmaligkeit fassbar, dass man fast von der Entstehung einer eigenständigen Kulturprovinz sprechen könnte. Das gilt mindestens in Hinblick auf «Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien», wie das unter diesem Thema im Mai 2006 in Chur veranstaltete internationale Kolloquium ergeben hat. Alle oben (S. 154-158) vorgestellten und besprochenen Handschriften erhalten durch die verschiedenen Beiträge wesentliche Ergänzungen dadurch, dass sie jeweils in den grösseren paläographischen, kodikologischen und gattungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden.

In seinem allgemeinen Einleitungsvortrag gibt Rudolf Schieffer kurz und präzise Antwort auf die Frage: «Was ist das Besondere an der rätischen Schriftkultur des Frühmittelalters?» Als charakteristisch betrachtet er: 1. die Ausbildung einer rätischen Schriftprovinz (»rätische Minuskel»), die in einem Kontinuitätszusammenhang mit der spätrömischen Schriftkultur steht, 2. eine ausgedehnte pragmatische Schriftlichkeit, die sich in der Überlieferung von 35 originalen rätischen Privaturkunden aus der Zeit vor 850, davon 27 aus dem Privatarchiv eines Laien, des Schultheissen Folkwin, widerspiegelt und an - 43 -

die Praxis der Beurkundung (Ravenna!) anknüpft, dazu in kopial überlieferten Dokumenten wie dem «Tellotestament» von 765, den Klageschriften Bischof Victors III. (ca. 823) und dem Reichsgutsurbar von ca. 842 fassbar ist, 3. eine grosse Varietät der Textsorten mit auffällig vielen Rechtstexten (Lex Romana Curiensis, Capitula Remedii, Canonessammlungen) neben den üblichen theologischen, hagiographischen, liturgischen und historisch- enzyklopädischen Texten. Zwei Dinge sind es, die es nach R. Schieffer erleichtern, die rätische Schriftkultur gegenüber anderen Räumen, etwa Bayern, Alemannien, Burgund oder der Lombardei, abzugrenzen: die rätische Schrift als Leitfossil und die besonders günstige Überlieferungssituation in St. Gallen.

Über beides ist es nun möglich, sich einen Einblick zu verschaffen dank der von Marlis Stähli erstellten Liste der «Handschriften, die im Zusammenhang mit der rätischen Minuskel genannt werden». Aus dieser Liste - gleichzeitig eine Art Zusammenschau der auf der Tagung diskutierten Handschriften - ergibt sich die weite Streuung der Überlieferung - Einsiedeln wäre

S. 273: nach St. Gallen als wichtiger Überlieferungsort zu bezeichnen‚ ferner der ganze Reichtum an Textsorten, dazu aber gleichzeitig, wegen der oft widersprüchlichen paläographischen Einordnung, auch die ganze Problematik, die mit dem Begriff der «rätischen Minuskel» verbunden ist. Die Liste wird es der zukünftigen Forschung erleichtern, genauere Vorstellungen über die rätische Schriftprovinz zu entwickeln.

Die Erforschung kirchenrechtlicher Texte, die aus und über Rätien überliefert sind, ist durch Rudolf Schieffer angestossen worden, der 1980 sechzehn in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrte Fragmente einer Collectio canonum identifiziert, ediert und als ihre Schriftheimat Rätien, genauer: das Kloster Müstair (Tuberis) bestimmt hat. Die Sammlung ist nach Schieffer von Afrika aus über Italien und Gallien (Saint-Maur-des Fossés) nach Rätien gelangt und ist Zeuge für die kirchliche Integration in das Frankenreich (s. oben S. 156 mit Anm. 499). Hubert Mordek hält diese Interpretation für falsch, weil er eine engste Verwandtschaft mit der Ende des 8. Jahrhunderts wahrscheinlich in Chur geschriebenen, heute in Stuttgart aufbewahrten Collectio Weingartensis feststellen kann. Beide Sammlungen enthalten die gleichen Texte und gehen nach Mordek ohne den Umweg über Gallien und - 44 -

Saint-Maur direkt auf das in Italien (Rom?) überarbeitete afrikanische corpus canonum zurück, wobei dem neugegründeten Kloster Müstair (Tuberis) eine bedeutende Mittlerrolle zugeschrieben wird, «ideal als Horchposten und Transitschiene für kulturelle Importe aus dem Süden».

Klaus Zechiel-Eckes hat in seiner Übersicht über «Historisch geordnete und systematische Sammlungen des kirchlichen Rechts im frühmittelalterlichen Rätien» diese Mittlerrolle bestätigen können. Den Reichtum an kirchenrechtlichen Sammlungen bezeugen des weiteren zwei Exemplare der 774 von Papst Hadrian I. dem Frankenkönig Karl gegebenen Collectio Dionysio-Hadriana, der historisch geordneten Konzils- und Dekretalensammlung, die im wesentlichen auf Dionysius Exiguus (Anfang 6. Jahrhundert) zurückgeht. Die eine Handschrift ist in rätischer Minuskel des

S. 274: ausgehenden 8. Jahrhunderts geschrieben und in Fragmenten aus den Staatsarchiven Zürich und Solothurn überliefert. Sie gehört zu den frühesten Handschriften der Dionysio-Hadriana. Die zweite, aus der Zeit nach dem Tode Karls des Grossen, aus der das Gros der Handschriften der Hadriana stammt, ist über Einsiedeln (Codex 199) überliefert. Der gleiche Einsiedler Codex 199 enthält in seinem ersten Teil (allerdings in karolingischer und nicht rätischer Minuskel geschrieben) eine Exzerptensammlung aus der Collectio Hispana (7. Jahrhundert). Da auch die systematisch angelegten Handschriften aus Rätien gut bezeugt sind - Ferrandus und Cresconius in einem Codex aus Montpellier und die Collectio Vetus Gallica in der Stuttgarter Handschrift, die auch die Weingartensis enthält - kann Rätien laut K. Zechiel-Eckes wegen seines «breiten Spektrums der erhaltenen Sammlungen des kirchlichen Rechts ... als eines der bestausgestatteten Territorien im Reich Karls des Grossen und Ludwigs des Frommen gelten» Die meisten Sammlungen sind über Italien vermittelt, die Vetus Gallica als einzige aus dem Norden bzw. Westen.

Die weltlichen Rechtstexte Rätiens sind die in drei vollständigen und zwei Fragmenten überlieferte Lex Romana Curiensis und die im Cod. Sang. 722 im Anschluss an die Lex geschriebenen Capitula Remedii (s. oben S. 41-43, 157). Sie haben durch das Wiederauftauchen der dritten, aus Italien (Udine) stammenden, in Verona geschriebenen, im 19. Jahrhundert durch Gustav Hänel nach Leipzig verbrachten, seit dem Zweiten Weltkrieg verschollenen Handschrift erneut das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Adelheid - 45 -

Krah hat 1993 die Beschreibung der Leipziger Handschrift, die E. Meyer Marthaler für ihre Edition der Lex Romana Curiensis (1959, 21966) nicht nach Autopsie, sondern nur anhand der Literatur hat vorlegen können, ergänzt und präzisiert und im Jahre 2006 weitere Beobachtungen zu dieser und zu den beiden rätischen Handschriften (Cod. Sang. 722 und Cod. Fabariensis XXX) beisteuern können, aus denen sich ergibt, dass durchaus praktische Bedürfnisse für die Anlage der Handschriften und die Auswahl der Texte entscheidend gewesen sein können und ein Bezug zur Rechtspraxis gegeben war, ja, dass man von «so etwas wie einer Rechtslandschaft» im frühmittelalterlichen Rätien sprechen könne. Eine sehr genaue, die Angaben

S. 275: von A. Krah von 1993 noch präzisierende Beschreibung der Leipziger Handschrift bietet auch Wolfgang Kaiser. Nach einem Vergleich mit dem Cod. Sang. 722 erschliesst er für die Epitome Juliani, seinen Untersuchungsgegenstand, einen rätischen Archetyp, der ein besonderes Interesse am kirchlichen Recht (Constitutiones de rebus ecclesiasticis) erkennen lässt

Wie ungeheuer komplex sich die Problematik eines Textes wie der Lex Romana Curiensis präsentiert, ergibt sich aus dem Tagungsbeitrag von Harald Siems. So gut wie alle Fragen sind und werden auch in Zukunft noch kontrovers behandelt: Ort und Zeit der Entstehung, Zweck (für die Praxis, für den Rechtsunterricht), Realitätsgehalt, Abweichungen und Eigenständigkeit gegenüber der Vorlage oder besser den Vorlagen (Breviarium Alarici bzw. Zwischenstufen, Epitomen, Glossen), handschriftlicher Überlieferungszusammenhang, Herkunft der germanischen Wörter (Frankenreich, langobardisches Italien) und schliesslich der Inhalt. Als Fazit der an Einzelbestimmungen exemplifizierten Betrachtungen ergibt sich, «dass in der Lex Romana Curiensis das rechtliche Kulturgut im frühmittelalterlichen Westeuropa einbezogen und mit eigener Gestaltung verbunden wird», wobei für den Redaktor in Hinblick «auf Zielsetzung, Arbeitsweise und Weltsicht eine rätische Perspektive bestimmend gewesen sein» mag.

Der zweite berühmte Rechtstext des Cod. Sang. 722, die sog. Capitula Remedii, wird von der Forschung so gut wie einhellig dem Bischof Remedius zugeschrieben (s. oben S. 41-43, 157). Dafür hat die suggestive Wirkung des sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich einbürgernden Titels - 46 -

gesorgt, wie R. Kaiser gezeigt hat. Statt eines Herrschererlasses des princepsartigen, weltliche und geistliche Macht vereinenden praeses et episcopus Remedius dürfte es sich bei den zwölf Bestimmungen, die fränkisches Reichsrecht mit lokalem Recht verknüpfen, um einen Text handeln, der auf das Wirken des missus Wulfar, des Erzbischofs von Reims, zurückgeht und im Zusammenhang mit der Welle von Rechtskodifikationen im Anschluss an

S. 276: das «programmatische Kapitular» Karls des Grossen von 802 und die dazu gehörenden «Durchführungsbestimmungen» steht. Die «Capitula Remedii» sind demnach nicht Gesetze des Bischofs Remedius von Chur, sondern ein durch den missus Wulfar von Reims aufgrund des kaiserlichen Gebots von 802 verfasstes Capitulare legi additum oder, wenn man so will: die «Capitula Remedii» sind Capitula a misso facta et ad legem Curiensem addita.

Aus dem gleichen bischöflichen Scriptorium von Chur, in dem der berühmte rätische Rechtscodex Sang. 722 geschrieben worden ist, stammen zwei nicht minder berühmte liturgische Texte: die Lucius-Vita und das sog. Remedius- Sakramentar (s. oben S. 157f.). Joseph-Claude Poulin kann die Herkunft des libellus mit der Conversio s. Lucii, erhalten in der hagiographischen Sammelhandschrift Sang. 567, aus dem Scriptorium von Chur sichern. Das kleine Format der Handschrift, die strikte Beschränkung auf die Vita (nur eines Heiligen), das Fehlen eines Einbandes (lediglich Vorder- und Rückseite sind zum Schutze freigelassen) und die Faltung sowie die unprätentiöse Gestaltung und sparsame Ausstattung erweisen sich als typisch für die seit dem 8. Jahrhundert in grosser Zahl verbreiteten hagiographischen libelli. In diesem einfachen, praktischen «Taschenbuchformat» war die Conversio s. Lucii geeignet, auf lokaler Ebene zu zirkulieren und gegebenenfalls auch Leser ausserhalb der monastischen und klerikalen Zentren zu erreichen und damit den üblichen liturgischen Rahmen des hagiographischen Schrifttums zu überschreiten

Aus Oberitalien (Mailand) stammende libelli mit liturgischen Gebetstexten haben gleichsam in Form von «Loseblattsammlungen» den Anstoss zur Entstehung des Sacramentarium Gelasianum gegeben, und zwar, so die These von Bernard Moreton, im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts in Rätien, woher drei, wenn nicht fünf, der neun Textzeugen, darunter das berühmte Remedius- - 47 -

Sakramentar (Cod. Sang. 348), stammen. Zur Untermauerung dieser These, die sich gegen die Annahme Burgunds, genauer des Klosters Flavigny, als Entstehungsort wendet, zieht Helena F. Carr die dichten und vielfältigen kirchlichen (Zugehörigkeit Churs zur Erzdiözese Mailand) und kulturellen Beziehungen sowie insbesondere die enge Verwandtschaft

S. 277: zwischen der oberitalischen und der rätischen Schriftprovinz, ferner patrozinienkundliche Erwägungen heran, die zeigen, dass Rätien wie für die kirchenrechtlichen Texte so auch für die liturgischen eine bedeutende Vermittlerrolle im Austausch zwischen Italien und dem Frankenreich zukam.

In welchem Scriptorium, Chur oder Pfäfers, der berühmte Liber Viventium von Pfäfers (s. oben S. 156f.) angelegt worden ist, bleibt auch nach den erneuten Untersuchungen von Romain Jurot und Rudolf Gamper sowie Dieter Geuenich unklar D. Geuenich vermutet, dass er von vorneherein als Liber vitae geplant war, auch wenn die Gedenkeinträge erst seit 820/30 einsetzen. Die nach 840 eingetragenen Namenlisten der verbrüderten monastischen und geistlichen Gemeinschaften weisen, entsprechend der politischen Zugehörigkeit, vor dem Vertrag von Verdun (843) nach Süden (Biasca, Como), nach 843 nach Norden (St. Gallen, Konstanz, Schienen am Bodensee). Die Zeugnisse pragmatischer Schriftlichkeit im Liber Viventium (s. oben S. 156) harren noch der genaueren Analyse, die von dem Kommentarband der Faksimile-Ausgabe von 1973,zu dessen Vorbereitung die erneute Beschäftigung mit dem Text angeregt hat, zu erwarten ist.

Ein Scriptorium wird in der Forschung öfters auch für das um 775 gegründete Kloster Müstair angenommen, und zwar aufgrund der Überlieferung der oben erwähnten kirchenrechtlichen Texte und der Überlegung, dass bei einem so wichtigen und grossen «Reichskloster» eine Bibliothek und eine Schreibstube anzunehmen seien. Doch die im Klosterarchiv von Müstair erhaltenen Fragmente in rätischer Minuskel und die seit Jahrzehnten währenden intensiven archäologischen Untersuchungen lassen keinen sicheren Schluss auf ein Scriptorium in Müstair zu, wie Josef Ackermann und Jürg Goll gezeigt haben Schrift und Schriftgebrauch waren indessen in Müstair sehr wohl verbreitet. Dafür zeugen nicht nur die Tituli der Wandmalereien - 48 -

S. 278: und die Marmorinschriften auf den Chorschranken, die Marina Bernasconi Reusser ediert und kommentiert hat, sondern auch eine Reihe von Kleinfunden.

Die in ihrer Vollständigkeit einmaligen Wandgemälde von Müstair (s. oben S. 158f.) sind von Jürg Goll, Matthias Exner und Susanne Hirsch in ihrem historischen, kunstgeschichtlichen und theologischen Kontext untersucht und von Michael Wolf in einer rekonstruierten Gesamtschau dokumentiert worden, so dass das Bildprogramm, soweit erhalten, in seiner ganzen Fülle zu übersehen ist Einleitend skizziert J. Goll aufgrund der neuesten archäologischen Befunde die Geschichte des Klosters von seiner Gründung zur Zeit Karls des Grossen bis heute, situiert die Wandmalereien im ursprünglichen Bestand der beiden Kirchen, der Klosterkirche St. Johann und der Heiligkreuzkapelle, und verfolgt die verschiedenen Etappen von der ersten Ausmalung über die hochmittelalterlichen Veränderungen und die romanischen Fresken der Zeit um 1200 bis zu den Übermalungen, Freilegungen und Ablösungen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu den neuesten Konservierungsmassnahmen. M. Exner analysiert das Bildprogramm und schliesst nach der von Joan Cwi 1979 begründeten These, dass die ausser ordentliche Ausführlichkeit, mit der auf der Nordwand der Klosterkirche die Geschichte vom Aufstand und Tod von Davids Sohn Absalom dargestellt ist, eine direkte Anspielung auf den Aufstand der Söhne Ludwigs des Frommen und die Zeit von 829-834 sei, auf eine Entstehung der Wandmalereien in den beiden Jahrzehnten nach diesen Ereignissen. Die Fresken wären damit nicht zeitgleich mit dem Bau der Klosterkirche, weshalb Bischof Remedius auch nicht als Autor des Bildprogramms in Frage kommen könne (vgl. oben S. 159). Demgegenüber halten H. Rutishauser und J. K. Ataoguz an der Frühdatierung fest. Für J. K. Ataoguz ist das Kloster nicht so sehr aus politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Gründen errichtet worden, sondern, wie das Bildprogramm zeige, aus monastischen und pastoralen. Die zeitgenössische Verbreitung der homiletischen und liturgischen Texte in rätischer Schrift und ihre Kenntnis auch in Müstair, der Nachweis, dass entgegen der Ansicht von H. R. Sennhauser die Kirche einem Laienpublikum offenstand, sowie die Bedeutung des Apostelprogramms der Fresken erweisen nach ihrer kunsthistorischen Studie die Seelsorge der Laienbevölkerung und ihre stärkere christliche Durchdringung als das - 49 -

S. 279: eigentliche Anliegen der Klostergründung und als Zweck der Ausmalung der Klosterkirche. Die vielleicht in der gleichen Werkstatttradition stehenden, etwa zeitgleichen Stifterfiguren an der Ostwand der Benediktkirche in Mals (s. oben S. 159) sind in den kunsthistorisch-archäologischen Monographien von Elisabeth Rüber und Hans Nothdurfter untersucht worden Die Frage nach der Identität der beiden Figuren, die durchaus Individualisierung und Porträtähnlichkeit verraten, ist immer noch offen. Für den weltlichen Stifter werden genannt: Pippin, der Sohn Karls des Grossen, dem nach der divisio regnorum von 806 Italien mit den Bündnerpässen zugefallen war, Graf Hunfrid, ein (unbekannter) Angehöriger der fränkischen Oberschicht, oder Bischof Remedius als praeses, für den geistlichen: ein einfacher Priester, ein höherer Geistlicher wie der Abt von Müstair oder der Bischof von Chur, etwa Remedius oder sein Nachfolger Victor III. Da die Benediktkirche um 750 gebaut worden ist, die Malereien aus der Zeit um 820/30 stammen, könnten sich die «aktualisierten Stifterbilder» angesichts der intendierten Porträtähnlichkeit auch auf das rätische Brüderpaar Bischof Tello und praeses Zacco aus der Mitte des 8. Jahrhunderts beziehen, wie R. Kaiser zu zeigen versucht. Für die kirchliche Erfassung des ländlichen Raumes (s. oben S. 168f.) hat Josef Ackermann nachweisen können, dass sich bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts ein dichtes Netz von Pfarrbezirken ausgebildet hatte, in welchem, wie die Spezialuntersuchung des Bezirkes ergeben hat, der siedlungs- und verkehrsgünstige Raum erfasst war und nur die Nebentäler (hier:

S. 280: Tamina- und Weisstannental) ausgespart blieben. Die Frage, ob die frühen rätischen Kirchen als «Eigenkirchen», als Kirchen mit «Stifter- oder Gründergräbern» oder als private «Kirchenstiftungen nach römisch- rechtlichem Gründungsstil» (s. oben S. 170f.) anzusehen seien, kann durch einen Vergleich mit den «frühen Eigenkirchen im Südostalpenraum», die Kurt Karpf unter sucht hat, nicht gelöst werden, denn die in Karantanien und Slowenien zwischen 750 und 1000 erbauten Kirchen gehen entweder auf den christlich- slawischen Adel oder - nach den Awarenkriegen und der Einführung der Grafschaftsverfassung (828) - auf die bayerisch-fränkischen Grundherren zurück, wozu der weltliche Adel, geistliche Institutionen und der König gehörten. Sie standen im Zusammenhang mit der Mission der durch Slawen repaganisierten Gebiete - 50 -

c) Frühmittelalterliche Siedlung und Grundherrschaft, Sozialstruktur und Wirtschaft. Wie stark die frühmittelalterliche Besiedlung der Alpenregionen von den verkehrsgeographischen und naturräumlichen Faktoren abhängig gewesen sind (s. oben S. 173), haben Irmtraut Heitmeier für das benachbarte Inntal und Rainer Loose für das Trentino und den Vintschgau, dort vor allem am Beispiel von Kortsch, gezeigt, wo alter churischer (bischöflicher) Besitz (Victoridengut?) und bayerisches Herzogsgut nachweisbar sind.

Das besondere Interesse der historischen Verkehrs- und Siedlungsgeographie richtet sich auf die Pässe (s. oben S. 173—182). Einen Überblick über die Alpenstrassen und die «Transitprobleme zwischen Spätantike und Hochmittelalter» bietet Wilhelm Störmer. Für die Bündnerpässe hat Jürg Rageth die Forschungen zu den Itinerarien, die Feldforschungen von Armon Planta und die Siedlungsfunde entlang den römischen Strassen knapp dargestellt.

S. 281: Danach war die Julierroute für zweirädrige Wagen ausgebaut, der Septimer indessen entgegen der Vermutung von A. Planta für Wagen nicht geeignet und die Splügen- und San-Bernadino-Route durch eine Galerie in der Viamala als Fuss- und Saumpfad benutzbar. Als weitere begangene Pässe er wähnt Rageth die Inntal-Route, Bernina, Puschlav, Ofen, Albula, Flüela, Vorderrheintal und Lukmanier.

Der Julier- und Septimer-Route (s. oben S. 176f.) hat Ingrid Heike Ringel verschiedene Untersuchungen gewidmet, den Verlauf der Strassen rekonstruiert, auf die zunehmende Beliebtheit des Septimers in nachkarolingischer Zeit (wegen der Einsparung einer halben Tagesreise) und auf seine Stellung als der Bündner Pass schlechthin bis zum Ende des Mittelalters hingewiesen Den archäologischen Befund des zwischen 1979 und 1983 ergrabenen grossen, u-förmigen Gebäudes nebst Nebengebäuden in Riom an der Julier und Septimer-Route (s. oben S. 180) stellt Ren Matteotti in einer umfangreichen Studie vor. Die Siedlungskontinuität ist hier zwischen dem ersten nachchristlichen Jahrhundert und dem Früh- bzw. Hochmittelalter erwiesen. Das Hauptgebäude wird wegen seiner Form und der verkehrsgeographischen Lage von R. Matteotti als römische Raststation, der - 51 -

eventuell ein land wirtschaftlicher Betrieb angegliedert war, betrachtet. Die im Befund nachweisbaren spätantiken Handelswaren stammen zum grössten Teil (ca. 85%) aus dem Süden. Der Lavezhandel hat im 4. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Ein direkter Zusammenhang zwischen den ergrabenen Gebäuden und dem im Reichsgutsurbar von ca. 842 genannten Königshof in Riom lässt sich zwar archäologisch nicht nachweisen, ist aber aufgrund der Forschungen von O. P. Clavadetscher zur karolingischen Verkehrsorganisation und ihrer Anknüpfung an ihre antiken Vorläufer höchst wahrscheinlich.

Die archäologischen Zeugnisse für eine Benutzung des Lukmanierpasses in römischer und frühmittelalterlicher Zeit (vor allem auf der Südseite: Siedlungsfunde, frühe Kirchen, Erwähnungen im anonymen Geographen von Ravenna) erörtern Rossana Cardani Vergani und Massimo Colombo.

S. 282: Im Osten der Diözese querte die Via Claudia Augusta, die von der Pomündung (Altinum/Altino) über Trient, Bozen, den Vintschgau, Reschenpass, Fernpass, Füssen und Augsburg an die Donau (beim Kastell Submuntorium/Burghöfe) führte, churrätisches Gebiet, während die von Bozen abzweigende, erst im Laufe des 2. Jahrhunderts ausgebaute Brenner-Route an den Grenzen des Bistums vorbeiführte. Die Via Claudia ist in den letzten Jahren häufig untersucht worden, so in zwei von Elisabeth Walde 1998 und von Rainer Loose 2006 herausgegebenen Sammelbänden, ferner in einem kurzen Beitrag von Gerald Grabherr, der insbesondere über die archäologische Erforschung der Trasse nördlich des Reschenpasses referiert und auf den kontinuierlichen Unterhalt der Strasse bis ins späte 4. Jahrhundert und eine Benutzung ohne Unterbrechung bis in die Neuzeit hinweist Für das 6. Jahrhundert ist die Weiterbenutzung der Via Claudia nicht nur durch palynologische Befunde erwiesen, sondern auch durch den Reiseweg des Venantius Fortunatus von Ravenna ins Frankenreich über den Brenner (565) und auf der Rückreise über den Reschenpass (um 575), was, wie erwähnt, durch die politische Situation bedingt war. Für den intensiven Handel über die Reschen- und Brenner-Route gibt es viele Zeugnisse: die Reste römischen Tafel- und Küchengeschirrs, frühmittelalterliche Grabbeigaben, die im langobardischen Oberitalien und im alemannisch-bayerischen Süddeutschland in identischer oder nachgemachter Form zu finden sind, das «koptische» Bronzegeschirr oder Prunkschilde. - 52 -

Aber auch Bleiplomben etwa in Zirl/Martinsbühel oder in Innsbruck/Wilten, die auf eine Warenkontrolle nachweislich in der Spätantike (4. Jahrhundert) hinweisen, und die Existenz einer Zollstation an der Grenze des illyrischen und des gallischen Zollbezirkes deuten darauf hin. Nachgewiesen ist eine solche Station durch den Diana-Altar von Partschins bei Meran. Was aus dieser Fiskalorganisation in Verbindung mit dem Strassennetz in spätrömischer und frühmittelalterlicher Zeit geworden ist, bleibt unbekannt.

S. 283: Die Via Claudia hat im Bereich des Vintschgaus zweifellos die Siedlungsachse gebildet und die Errichtung von Talbodensiedlungen begünstigt bzw. zur Siedlungsverdichtung geführt. Dafür zeugen die Siedlungsspuren aus der Römerzeit, etwa in Mais, Kortsch, Schlanders, Latsch, Naturns oder Partschins. Die Bedeutung der Reschenpass-Route auch im frühen Mittelalter, «der relativ starke Fundniederschlag für das 6. Jahrhundert im Bereich des Klosters Müstair, der an Siedlungsreste im Umfeld eines Pfostenbaues aus dem 4.-5. Jahrhundert anknüpft», sowie allgemeine siedlungsarchäologische Erwägungen lassen Paul Gleirscher eine Kontinuität des Siedlungsbildes annehmen, auch wenn diese im Einzelfall - gerade wegen der kontinuierlichen Bebauung - schwierig nachzuweisen ist.

Die Verbindungen zwischen dem Vintschgau und dem unteren Engadin und weiter über Flüela und Strela nach Chur (s. oben S. 178) verliefen wohl weniger über den Reschenpass, Nauders und Martina bzw. durch das Münstertal über den Ofenpass, als über die direkten Wege, die zwar höher anstiegen, aber kürzer und leichter zu begehen waren, worauf mit Recht Ulrich Köpf hingewiesen hat Von Burgeis an der Via Claudia führt eine Route durch das Schlinigtal über den Schlinigpass (ca. 2310 m) ins Uinatal und erreicht das Unterengadin bei Crusch zwischen Sent und Ramosch. Vom Münstertal aus gibt es zwei «relativ bequeme Wege» zum Unterengadin, einmal von Taufers aus durchs Avignatal über das S-charljöchl (Cruschetta) (2296 m) nach S-charl und weiter nach Scuol, dann von Santa Maria im Münstertal, wo der Weg von Bormio über das Wormser Joch (Umbrail-Pass) auf die Münstertalstrasse stösst, über Lü und den Pass da Costainas (2251 m) nach S-charl und Scuol. Diese Verbindungen lassen den Raum von Müstair und Taufers, Mals und Burgeis in einer viel günstigeren verkehrsgeographischen Lage erscheinen (s. oben Karte 20, S. 174f.). - 53 -

Für die ethnische und sprachliche Situation des frühmittelalterlichen Rätien ergeben sich aus der Studie von I. Heitmeier zum Inntal bezeichnende Parallelen, so die Persistenz der vorrömischen und römischen Toponyme, das Vorherrschen romanischer Gräberfelder mit charakteristischen germanischen Einsprengseln oder die Kontinuität der romanischen Sprache (im mittleren Inntal bis zum 12. Jahrhundert). Die archäologischen Zeugnisse für Churrätien (s. oben S. 184-188) sind in den oben genannten Sammelpublikationen ausgewertet.

S. 284: Besonders hinzuweisen ist hier auf die von Margarita Primas u.a. herausgegebene Sammelpublikation von 2001, in welcher die abschliessenden Berichte und Auswertungen der Grabungen von Wartau SG-Ochsenberg vorgelegt werden (vgl. oben S. 186-188, Anm. 586). Das Plateau des Ochsenbergs (höchster Punkt: 662 m) beherrscht im Norden die zwischen Sevelen und Sargans gelegene Wartauer Siedlungskammer, schräg gegenüber von Balzers, das an der rechtsrheinisch verlaufenden Römerstrasse Chur- Bregenz kurz vor dem Aufgang zur St. Luzisteig gelegen ist. An der Südspitze des Plateaus, und von diesem durch einen künstlich erweiterten Graben getrennt, erhebt sich die Ruine der spätmittelalterlichen Burg Wartau. Im Norden lag ein eisenzeitlicher Brandopferplatz, der nach Ausweis der römischen Münzen bis Anfang des 5. Jahrhunderts - anscheinend durch die einheimische Bevölkerung - weiterbenutzt und erst im Zuge der Christianisierung als Kultplatz aufgegeben worden ist. Die römischen Münz- und Kleinfunde reichen in Ermangelung von römischen Gebäuderesten nicht aus, eine römische Besiedlung zu erweisen. Eisenschlackenstücke verweisen immerhin auf spätrömische Eisenverarbeitung, wobei ein Zusammenhang mit den Erzlagerstätten am Gonzen noch nicht geklärt ist. Zeugnisse für eine Begehung oder Belegung des Platzes fehlen für das späte 5. und das ganze 6. Jahrhundert.

Nach einem Unterbruch von ca. 200 Jahren wird dann in den 20/30er Jahren des 7. Jahrhunderts eine Mauer um das 125 x 50 m messende Plateau gezogen, in deren Innern ein Hauptgebäude aus Holz auf Steinsockel mit Feuerstellen und mehrere Nebengebäude (Speicher, Pferdeställe, Werkstätten) errichtet worden sind. Nach den Einzelfunden aus Metall (Teile einer Garnitur eines Frauengürtels und eines Saxgürtels, Reitzeug wie Riemenzungen, - 54 -

Riemenverteiler, Sporen, Pferdegeschirr und Sattel mit Steigbügel, Lanze, Messer, Beschläge, Schlüssel, Werkzeuge, landwirtschaftliche Geräte usw.), aus Glas mit Bernstein (Ketten), aus Knochen (aufwendiger Griffkamm) sowie nach dem Lavezgeschirr scheint der Ochsenberg der Sitz einer vornehmen Familie mit Abhängigen gewesen zu sein. Die durch die Fundgegenstände dokumentierten Fernbeziehungen weisen vor allem auf das langobardische Italien (Reitzeug, Goldmünzen Liutprands, 712-744), das Gebiet südlich des Alpenkammes (Lavez), aber auch auf den alemannischen Raum (Gürtelgarnitur). Die Siedlungsstrukturen, Bauformen (Gebäude und Umfassungsmauern) und einzelne Fundgruppen wie das Lavezgeschirr und

S. 285: die Glasperlen lassen auf romanische Bewohner schliessen. Diese Siedlung ist um die Mitte des 8. Jahrhunderts durch Brand zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Die Burg Wartau datiert erst aus der Zeit um 1200.

Als befestigte Höhensiedlung entspricht der Ochsenberg in Hinblick auf Verkehrslage, Repräsentativität seiner Rheinfront, Chronologie der Belegung, Ummauerung und Bebauung im Innern und Fundspektrum ähnlicher befestigter Höhensiedlungen Churrätiens wie Truns/Trun-Grepault (s. oben S. 93), Sagogn-Schiedberg (s. oben S. 96, 211-216) und Castiel-Carschlingg (s. oben S. 96, 178, 182). Von einem «Kirchenkastell» kann keine Rede sein. Der auf dem Ochsenberg ergrabene Sakralbau stammt erst aus dem 13. Jahrhundert, der Zeit des Burgenbaus. Möglicherweise hängt die Aufgabe des Siedlungsplatzes nach dem Brand Mitte des 8. Jahrhunderts mit der Erbauung der Kirche in Gretschins (8.19. Jahrhundert) zusammen. Zu ihrem Sprengel hat im Mittelalter die heutige Gemeinde Wartau gehört.

Dass neue Funde unser Bild von der romanisch-alemannischen Interferenzzone (s. oben S. 185f.) präzisieren können, zeigt die Entdeckung eines alemannischen Grabes des 6.17. Jahrhunderts in Schaan, ca. 180 m von dem schon bekannten Gräberfeld «Specki» entfernt.

Die sprachliche Situation in der alemannisch-romanischen Interferenzzone (s. oben S. 188-193) ist in dem Überblick über die Sprachentwicklung der viersprachigen Schweiz von Stefan Sonderegger und Wulf Müller zusammengefasst. Viele Parallelen zwischen dem Rätoromanischen in Graubünden und dem Ladinischen in den Diözesen Trient und Brixen zieht Hans Goebl, wobei er auch die allgemeine historische Entwicklung Rätiens - 55 -

berücksichtigt Das Rätoromanische wird demnächst in einem knappen Handbuchartikel behandelt.

Den Rückzug des Romanischen nach einer Phase des Gleichgewichts zwischen Romanisch und Alemannisch im Raum des Alpenrheintals (s. oben S. 191- 193) hat auf der Grundlage der Arbeiten von Hans Stricker aus romanistischer

S. 286: Sicht Gerold Hilty für die Zeit vom 7. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert dargestellt und zugleich neues Licht auf den Prozess der Alemannisierung des Klosters St. Gallen geworfen. Die von G. Hilty untersuchten Sprachzeugnisse der drei Vitae s. Galli und der Vita s. Columbani bezeugen für den Raum des Bodensees und des Alpenrheintals im frühen Mittelalter eine romanisch- alemannische Zweisprachigkeit, die in Arbon und Konstanz bis ins 7. Jahrhundert gewährt hat, im Alpenrheintal südlich Bregenz länger dauerte, denn erst um 1200 scheint der Prozess der Alemannisierung bis Schaan und Grabs vorgedrungen zu sein Hans Stricker hatte 1974/81 in seiner Dissertation «die romanischen Orts- und Flurnamen von Grabs» untersucht, 1980 die «etappenweise Verdeutschung Unterrätiens» und 1991 allgemeiner die «Sprachgeschichte des oberen Rheintals» dargestellt. Für die toponomastische Erforschung des rechten Alpenrheintals ist jetzt das von H. Stricker u.a. bearbeitete Orts- und Flurnamenbuch (1999) unerlässlich. Unter H. Strickers Leitung ist zur Zeit auch das Werdenberger Namenbuch (Region Werdenberg, Kt. St. Gallen) in Arbeit. Noch nicht erschienen sind die Bände der Personennamen des Liechtensteiner Namenbuches. Erstaunlicherweise hat sich die Forschergruppe des monumentalen Projekts Nomen et gens bzw. Namen und Gesellschaft, soweit ich sehe, noch nicht mit den Personennamen der romanisch-alemannischen Interferenzzone Churrätiens (s. oben S. 193-195) befasst.

Eine mit dem Gräberfeld von Bonaduz (s. oben S. 195f.) vergleichbare spätantik-frühmittelalterliche Nekropole ist in dem letzten Jahrzehnt im churrätischen Raum m. W. nicht entdeckt worden, so dass es keine neueren archäologisch gestützten Aussagen zur frühmittelalterlichen Demographie Rätiens gibt.

S. 287: In ständiger kritischer Auseinandersetzung mit der prekären Überlieferung der rätischen Schriftquellen (Lex Romana Curiensis, Tellotestament, Capitula Remedii, rätische Privaturkunden, Reichsgutsurbar und Königsdiplome) hat S. - 56 -

Grüninger in seiner Dissertation die rechtsständische Gliederung und soziale Schichtung der zu den grundherrschaftlich organisierten Hofverbänden gehörenden Personengruppen untersucht (vgl. oben S. 197-207). Als Ergebnis zeichnet sich ab, dass die rechtsständische Unterscheidung von Freien und Unfreien, von liberi und mancipia, servi und coloni im (grund)herrschaftlichen Verband allmählich durch eine soziale Differenzierung ersetzt wird, in welcher die Übernahme von Ämtern und die wirtschaftliche Autonomie statusentscheidend sind. Weitgehend deskriptiv und auf einer Zusammenstellung der Quellenzeugnisse beschränkt bleibt die Untersuchung, die Dieter Weidemann in seiner Lizentiatsarbeit den churrätischen Amtsträgern (s. oben S. 198-202) gewidmet hat

Von den rätischen Amtsträgern ist der centenarius-Schultheiss Folkwin (s. oben S. 200-202) dank seines über die Abtei St. Gallen überlieferten Privatarchivs, in dem sich 27 Originalurkunden erhalten haben, sehr gut dokumentiert. Es ist das einzige Archiv eines Laien, das in einer solch geschlossenen Form, und zwar für die Jahre 817-825, aufbewahrt ist. Das vergleichbare Archiv der Totoniden von Campione d'Italia (Prov. Como) gegenüber von Lugano, das ebenfalls über ein Klosterarchiv, das von San Ambrogio von Mailand, überliefert ist, enthält 17 Urkunden, die sich allerdings über fast ein Jahrhundert (721-810) erstrecken. Die nach rätischem Formular, in rätischer Minuskel von den Notaren bzw. Klerikern Andreas, Valerius, Vigilius und Drucio ausgestellten Urkunden bezeugen einen hohen Grad pragmatischer Schriftlichkeit im Raum des unterrätischen Rankweil (Vinomna) und bekunden einen regen, in der Regel wohl schriftlich festgehaltenen Güterverkehr, wie er sich auch in den Chartularfragmenten von Chur bzw. Müstair widerspiegelt. Die 27 Folkwinurkunden, dazu weitere 33 rätische Privaturkunden sind mustergültig ediert und erschlossen durch Peter Erhart und

S. 288: Julia Kleindinst. Ihre Edition von 2004 ist noch nicht benutzt in der sozial-, wirtschafts- und verfassungsgeschichtlichen Studie, die Katherine Bullimore den Folkwinurkunden und anderen rätischen Urkunden gewidmet hat. K. Bullimore betont das Fehlen von adligem oder kirchlichem Besitz im Alpenrheintal, das niedrige soziale Niveau der Landbesitzer, der Zeugen, Schreiber und Amtsträger, die Geschäftsfähigkeit von Frauen, die - 57 -

Verwandtschaftsbeziehungen und damit die lokale Herkunft der Schreiber und versucht, Folkwin mit einem in Grabs 854/51 und 858/65 als Zeugen fungieren den Folcarinus zu identifizieren. Diese Hypothese lässt sich nicht begründen.

Nachweis, Herkunft, Verbreitung, Umfang und Verwaltung von Fiskal bzw. Königsgut, kirchlichem und adeligem Besitz im frühmittelalterlichen Rätien (s. oben S. 207-211) hat ausführlichst S. Grüninger behandelt und die ganze Spannweite von der amts- und herrschaftsrechtlichen bis zur besitzrechtlichen Verfügungsgewalt analysiert‘ Am Einzelbeispiel von Vella im Lugnez zeigt Helmut Maurer den Übergang von Fiskalbesitz an den Adel (Welfen) bzw. die Kirche (Bistum Konstanz). Sein Interesse richtet sich da bei vornehmlich auf die Überlieferung, mithin auf den Prozess der Verschriftung des Besitzwechsels. Dieser ist fassbar in einem Diplom Friedrich Barbarossas von 1155 für die Konstanzer Bischofskirche, in der um 1170 verfassten Welfenchronik und in einer späten, auf eine Tauschnotiz des 10. Jahrhunderts zurückgehenden Bemerkung in der Konstanzer Bischofschronik von Jakob Memel (1519). Daraus lässt sich der wesentliche Wortlaut der Überlieferung des 10. Jahrhunderts erkennen, die in zwei Stränge aufgespalten ist, einen adelig-welfischen (Historia Welforum) und einen kirchlichen, domkapitularisch-konstanzischen (Barbarossaurkunde). Bezeugt wird dadurch

S. 289: die welfische Position in Churrätien seit spätkarolingischer Zeit. Erschliessen lässt sich ein Zusammenhang mit dem Reichsgutsurbar, das die Kirche S. Vincentius zu Vella/Pleif im Lugnez erwähnt (s. oben S. 134, 167f.). Schliesslich machen dieser Überlieferungsbefund und der Nachweis welfischer Rechte im Lugnez spätestens Anfang 10. Jahrhundert eine Spätdatierung des Reichsgutsurbars um 920, wie sie von D. Hägermann 1989 und L. Kuchenbuch 1991 erneut vorgeschlagen worden ist, unmöglich.

Hier wie so oft erweist sich das Reichsgutsurbar (s. oben S. 209-211) als eine der ganz zentralen Quellen Churrätiens im 9. Jahrhundert, nicht nur zum Nachweis des Königsgutes, sondern auch als Quelle für den kirchlichen und als Lehen an Weltliche vergebenen Besitz sowie ganz allgemein für die Wirtschafts- und Sozialstruktur nach der Etablierung der karolingischen Grafschaftsverfassung in Rätien. Die Problematik, die mit dieser allein durch eine um 1530/32 gefertigte Kopie von Aegidius Tschudi (1505-1572) bekannten Quelle aufgeworfen wird, ist in mehreren Beiträgen von S. - 58 -

Grüninger um fassend diskutiert worden. Sehr vieles ist seit langem umstritten: Authentizität des Textes, Zuverlässigkeit der Kopie, mögliche Zwischenstufen, Vorlagen, Datierung, Verfasser, Anlass, causa scribendi, Funktion, Inhalt und Anlage der Aufzeichnung, Gliederung des Textes nach ministeria, Gebrauchszusammenhang bzw. -zusammenhänge, Deutungen als Reichsgutsurbar oder als bischöfliches Rodel, Gebrauchswert für Tschudis topographische Forschungen, Bearbeitungen, Ergänzungen durch Tschudi und vieles mehr. Trotz kritischer Zurückhaltung kommt S. Grüninger schliesslich doch zu einer positiven Beurteilung von Tschudis Arbeitsweise, denn sein Fazit lautet: «Alles spricht dafür, dass Tschudi, wenn auch weniger in formaler, so doch ziemlich sicher in quantitativer und inhaltlich-qualitativer Hinsicht seine Vorlage so genau wie möglich abgeschrieben hat». Insgesamt hält S. Grüninger an der Interpretation von O. P. Clavadetscher als Reichsgutsurbar, aufgezeichnet anlässlich der Reichsteilung von 843, fest.

S. 290: Der wichtigsten Quelle für die Besitz-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte des 8. Jahrhunderts, dem sog. Tellotestament von 765 (s. oben S. 13Sf., 211-214), widmet S. Grüninger ebenfalls eine ausführliche Diskussion, referiert die verschiedenen Thesen zur Erklärung dieses «Testamentes» (eigentlich einer donatio post obitum) und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich formal um eine Fälschung handelt, materiell um eine Kompilation zweier oder mehrerer Texte und dass «auf jeden Fall nicht auszuschliessen (sei), dass der Text im 9., 10. oder gar 11. Jahrhundert zum Zweck der Besitzsicherung oder zur Untermauerung von Besitzansprüchen hergestellt wurde». Konsequenterweise benutzt S. Grüninger deswegen die Tellourkunde nicht oder nur mit grossen Vorbehalten, um den victoridischen Besitz oder den Besitz des Klosters Disentis für das 8. Jahrhundert zu rekonstruieren. Da auch Grüninger von (echten) Vorlagen des 8. Jahrhunderts ausgeht, benutzt er den Tellotext für alle «jene herrschafts- und verfassungshistorischen Fragen, die nicht direkt, die möglicherweise manipulativen Absichten des Fälschers berühren» Damit behält der Tellotext (des 8. Jahrhunderts) seinen her vorragenden Stellenwert für die zentralen Teile der Untersuchung, die S. Grüninger der «Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien» gewidmet hat (s. oben S. 214f. wurde vorgängig auf die Ergebnisse von S. Grüningers Lizentiatsarbeit von 1995 zurückgegriffen). - 59 -

Insbesondere aus dem Vergleich der Siedlungs- und Besitzstrukturen der curtis von Sagogn (s. oben S. 213f. mit Abb. 45,46), den coloniae des Tellotextes mit den Befunden des Reichsgutsurbars und der späteren Königsurkunden ergibt sich, dass die Thesen zur Entstehung der klassischen «bipartiten» Grundherrschaft von A. Verhulst für Churrätien nicht zutreffend sind, dass vielmehr die zweigeteilte Struktur der tellonischen Hofverbände (coloniae/coloni, specia/spehatici) und des Reichsgutsurbars (mansi, coloniae, hubae) Elemente des spätantiken Kolonats und der Fiskalverwaltung enthält, welche die Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Rätien keinesfalls als fränkischen Import erscheinen lassen. Im Hinblick auf das Tellotestament spricht S. Grüninger von einer «Scharnierfunktion ... zwischen den nicht sehr zahlreichen Belegen für das spätrömische Kolonat und den karolingischen Zeugnissen für zweigeteilte Grundherrschaft» Eine solche Scharnierfunktion hat auch S. Grüningers eigene Untersuchung, und zwar zwischen der «klassischen Grundherrschaftsthese» und der «fiskalistischen These», von welcher er sich vorsichtig absetzt, indem er die Zwischenbilanz zieht:

S. 291: «Unabhängig von der Akzeptanz stark geprägter Erklärungsmuster liegen das spätrömische Kolonatswesen und die Grundherrschaft demnach vielleicht doch näher beisammen, als die neuere Grundherrschaftsforschung postuliert». Es ist kaum nötig zu betonen, dass S. Grüninger die zentralen Quellentermini wie vicus, villa, curtis, fundus, terra domini ca/salica, fiscus, colonia, specia, mansus, hoba, die dazugehörenden Personen, liber, colonus, servus, spehaticus, und die von ihnen zu erbringenden Leistungen, opera, tributa, ausführlich erörtert. Was die Schriftquellen über Ackerbau, Viehzucht und Sonderkulturen (s. oben S. 216- 221) aussagen, die Aufschlüsse, die daraus über die Grössenordnungen der Güter und Fluren, die Erträge, die Abgaben und Leistungen zu entnehmen sind, untersucht S. Grüninger im einzelnen und verweist dazu auch auf Befunde der Archäobotanik (für Wartau-Ochsenberg). Speziell das Reichsgutsurbar wird als agrargeschichtliche Quelle auch von Julia Kleindinst ausgewertet, die insbesondere die Bedeutung der Kleinviehhaltung (Ziege, Schaf und Schwein) betont. - 60 -

Das Reichsgutsurbar macht nicht nur mit der Eisengewinnung und - verarbeitung im Vorarlberger Oberland (Montafon und Walgau) bekannt (s. oben S. 222), sondern auch, wie S. Grüninger gezeigt hat, in Mels (SG) oder Mäls (FL) und der Walenseeregion. Hier steht sie vielleicht in einer Tradition, zu der auch die aus der spätrömischen Zeit stammenden Eisenschlacken von Wartau-Ochsenberg gehören.

Dass die meisten Handelswaren in spätrömisch-frühmittelalterlicher Zeit (s. oben S. 224f.) aus dem italischen Raum stammen, ergibt sich, wie erwähnt, aus dem Spektrum der in der Raststation Riom gefundenen Waren und den Handelsbeziehungen zwischen dem langobardischen Oberitalien und Süddeutschland (Alemannen). Ein Vergleich mit den in Tirol in römischer Zeit nachweisbaren Handelswaren bestätigt dies, macht aber zugleich mit einem regionalen Handel (Lavez aus dem rätischen Gebiet: Bergell, Val Malenco) und auch mit Beziehungen zum Norden (Glas aus dem Rheinland) bekannt.

S. 292: Südbeziehungen dominieren auch die rätische Münz- und Geldgeschichte des Frühmittelalters (s. oben S. 22Sf.). Eine neuere Übersicht über die Fundmünzen im Kanton Graubünden, die v. a. auch die in Müstair geborgenen Münzen behandelt, bezeugt dies ebenso wie die schon erwähnte Untersuchung eines Hortfundes aus Lauterach (am Bodensee bei Bregenz) mit Münzen aus der Zeit Lothars 1. (840-855), von denen die Mehrzahl aus Mailand (15) und Pavia (2) stammt Chur scheint bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts zum italischen Währungsgebiet gehört zu haben. Oberitalische Prägungen dominieren auch noch im 10. Jahrhundert, so in dem Schatzfund von St. Nicolai in Chur mit 10 Münzen aus Italien (Pavia 6, Mailand 4) und vier von der Rheinschiene (Köln, Mainz, Worms/Speyer, Breisach).

Von den in Chur selbstgeprägten Münzen bestätigt die zum Schatzfund von Ilanz (s. oben S. 226 mit Abb. 31) gehörende Goldmünze Karls des Grossen, dass Chur zur Zeit der Prägung, wohl um 773, zum italisch-langobardischen Prägegebiet gehört hat. Die folgenden bekannt gewordenen Prägungen auf die Namen Ludwigs des Frommen (aus der Zeit 819-822) und Ottos I. als Kaiser (962-973) verweisen dagegen auf eine währungspolitische Nordanbindung, wie sie jedenfalls die als Vergleichsstücke zu Ottos I. Münzen herangezogenen Prägungen aus Strassburg, Basel, Zürich und Konstanz bezeugen.

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3. Schluss und Ausblick Im Kanton Graubünden wird vielfach der Name der Räter in den verschiedensten Formen zur Bezeichnung von Personen, wissenschaftlichen

S. 293: Einrichtungen und Unternehmen, von Firmen, Gesellschaften, Vereinen und dergleichen verwendet, man denke an Reto, das Rätische Museum, das Rätische Namenbuch, die Rhätische Bahn, Rhätia Immobilien AG, Rezia Treuhand AG, Raetus Apotheke, Chor Rezia, SSC Rätia Chur u.ä. Hinter dieser Gepflogenheit steht die seit der frühen Neuzeit von Historikern und Publizisten suggerierte Vorstellung einer ungebrochenen rätischen Tradition von den vor- und frühgeschichtlichen Rätern bis zu den heutigen Bündnern als deren wahren Nachfahren im eigentlichen Räterland, dem heutigen Graubünden, in dem vielerorts ja noch «räto»romanisch gesprochen wird.

In der gegenwärtigen Frühmittelalterforschung werden die durch diese vorschnelle Verknüpfung aufgeworfenen Probleme stark beachtet. Hat es so etwas wie ein durchgängiges kollektives Bewusstsein einer Abstammungsgemeinschaft, einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, einer Rechts- und Friedensgemeinschaft von den Rätern der Vor- und Frühgeschichte über die Römerzeit bis ins Mittelalter und in die Neuzeit gegeben? Anders gefragt: haben in dem hier behandelten langen Zeitraum von mehr als 500 Jahren, einem Zeitraum, der oft nur in höchst unbefriedigender Weise als Phase des Übergangs von der Antike zum Mittelalter verstanden wird, denn diese Phase dauerte länger als das Imperium Romanum selbst, haben in dieser langen Zeit spanne die Bewohner Rätiens ein ethnisches Bewusstsein gehabt oder entwickelt? Können wir in Analogie zu anderen frühmittelalterlichen Völkern von einer rätischen Ethnogenese sprechen? Haben wir es mit einer rätischen gens oder mit einer provincia zu tun, einem politisch-administrativen Bezirk des Römerreichs, der als regio, ducatus, territorium o. ä. bezeichnet, das Ende dieses Reiches überdauert und als politisch-administrative Einheit im Frankenreich weiter existiert hat? Hat sich in dieser provincia ein rätisch bestimmtes Eigenbewusstsein entwickelt, das als ethnisch, als gentil bezeichnet werden kann?

Die Griechen und Römer, die seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. für uns erstmals fassbar von den Rätern sprechen, haben dieses Problem auf ihre Weise gelöst, indem sie auf ihre traditionellen ethnographischen Kategorien zu rückgriffen - 62 -

und wie selbstverständlich von den Rätern als einer Grossgruppe wie den Galliern sprachen und Kleingruppen als civitates («Stämme») bezeichneten. Die Sammelbezeichnung der Räter diente ihnen dazu, die Bewohner der inneralpinen und z. T. auch der voralpinen Gebiete in je unter schiedlicher Ausdehnung zu benennen, die seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. immer wieder Oberitalien als «Räuber» bedrohten. Gemäss den ethnographischen Vorstellungen der antiken Autoren stammten die Räter von den Etruskern ab und verdankten ihren Namen einem dux Raetus, ihrem Heros eponymos, der sie, als sie von den Kelten bedroht wurden, in die Alpen geführt hätte.

S. 294: Die von den antiken Schriftstellern als Räter zusammengefassten Bewohner des Alpenraumes waren vor der Eroberung durch die Römer politisch autonom, gehörten aber aus vorgeschichtlicher Sicht in der Eisenzeit (ca. 800- 15 v. Chr.) zu mindestens drei verschiedenen Kulturkreisen: 1. im Norden zur Randzone des keltischen Kulturkreises, 2. im Südwesten zum tessinisch- lombardischen oder lepontischen Kreis, der dem keltischen nahe- steht, und 3. dazwischen, im Gebiet Trentino, Südtirol, Nordtirol, Vinschgau, Unterengadin, Münstertal und in Ausläufern im Alpenrheintal und in Vorarlberg, zur eisenzeitlichen Fritzens-Sanzeno-Kultur (Latènezeit), die von Archäologen, Althistorikern und Sprachwissenschaftlern als rätischer Kernraum betrachtet wird. Der von einem antiken Text zum anderen je unterschiedliche Räterbegriff deckt sich nicht mit diesen Kulturkreisen, er ist an den Rändern höchst unscharf.

Die Raumorganisation der Römer nach der Eroberung des Alpengebietes durch Tiberius und Drusus (15 v. Chr.) verstärkt diese Unschärfe noch, denn der ganze inner- und voralpine Raum wurde vom Wallis bis zum bayerischen Alpenvorland zu einer einzigen Verwaltungseinheit zusammengefasst, die um 40 n. Chr. zur Provinz erhoben wurde. Unter Claudius (41-54) wurde zwar das Wallis abgetrennt, aber Vindelizien, das Alpenvorland des keltischen Kulturkreises, blieb in der Provinz Raetia et Vindelicia, die meist mit der Kurzform einfach Raetia genannt wurde und sich in der mittleren Kaiserzeit vom Furka- und Oberalppass bis zum obergermanisch-rätischen Limes an der Donau und bis nach Passau im Osten ausdehnte. Als «rätisch» galt nun, wer oder was zur provincia Raetia - seit 4. Jahrhundert aufgeteilt in Raetia I im Westen und Raetia 1I im Osten - gehörte. Das erklärt, warum der Name Rätien - 63 -

in dem nördlich der Donau und südlich des rätischen Limes gelegenen niederschwäbischen Ries (in Urkunden des 8.19. Jahrhunderts: in Rieza, in pago Rezi, Rede oder Retiense), dem Siedelgebiet der alemannischen (!) Raetobarii, lebendig geblieben ist, mitten im ehemaligen Keltenland.

Auch in der Ostgotenzeit bezeichnet Raetia die Provinz oder die Provinzen, so im Titel des dux Raetiarum, des dux beider Rätien. Es heisst nicht dux Raetiorum, wie man bei einem gentilen Verständnis in Analogie zu dem wenig später in Rätien operierenden dux Francorum erwarten könnte. In dem Bestallungschreiben des dux Raetiarum (von vor 507) ist nirgends von Raeti die Rede. Die von dem dux zu Beschützenden sind die provinciales, die Provinzbewohner. Sie werden als Romani, als Bürger des Imperium Romanum, von den milites, den Goten des königlichen Heeres (exercitus) und von den in die Provinz einbrechenden gentes - zweimal wird von ihrem impetus gentilis gesprochen - unterschieden. In dem zweiten Schreiben an den dux (507/11) werden noch die kriegstüchtigen und stets kriegsbereiten Breonen

S. 295: erwähnt, ein Zeugnis für ihre «Regentilisierung», wie wir gesehen haben, während von Raeti in einem gentilen Sinne keine Spur zu finden ist.

Raetia und Raetiae werden in dem politisch-administrativen Sinn der römischen Provinz(en) auch von den kirchlichen und gelehrten Autoren der Spätantike und des frühen Mittelalters verwandt: so wenn Eugippius den Bischof Valentinus Raetiarum quondam episcopus nennt oder Paulus Diaconus die beiden Rätien unterscheidet, in denen die Räter wohnen (Hist. Lang. 2, 15), oder wenn Karl der Grosse in seiner Schutzurkunde von ca. 773 den Bischof Constantius in seiner Eigenschaft als rector über das territurium Raetiarum bestätigt und zusammen mit dem populo Retiarum in seinen Schutz nimmt, oder wenn sich Hunfrid 807 sehr korrekt Reciarum comis nennt und noch 952 der Fortsetzer der Chronik Reginos von Prüm den Reichstag Ottos I. in Augsburg erwähnt und dazu die Stadt in der Provinz Rätien lokalisiert, apud Augustanam urbem Rhetiae provinciae (ed. Kurze, S. 166).

Dass es sich hier um eine antikisierende Schreibweise handelte, dürfte den Zeitgenossen bewusst gewesen sein, denn längst war das, was von ihnen als Rätien betrachtet wurde, auf den inneralpinen Raum zusammengeschrumpft, den Raum des Bistums Chur, der mit dem des pagus, pagellus, ducatus, comitatus bzw. der provincia Raetia Curiensis, Curia, zusammenfiel. Die hier - 64 -

Lebenden waren die Romani der Provinz Raetia oder anders gesagt: die Raeti waren die Romani der Provinz Raetia I. So konnte derselbe Paulus Diaconus, der in seiner Provinzbeschreibung Italiens die Reti in traditioneller Sicht in den beiden Rätien wohnen lässt, die Stadt Chur als civitas Retorum bezeichnen (Hist. Lang. 6, 21) und der Verfasser der Murbacher Formelsammlung den Bischof von Chur als episcopus infra valle Recianorum nennen (BUB I 20). In der Datierungszeile einer Privaturkunde aus St. Gallen von 890 findet sich schliesslich als Titel des Welfen Rudolf (s. oben S. 65): dux Retianorum. Der hier benutzte Rätername stammt aus Texten, die ausserhalb Rätiens entstanden sind, es sind Fremdzeugnisse. Zudem sind es nur wenige und nicht zufällig aus dem 8. und 9. Jahrhundert, wie wir noch sehen werden.

Üblich blieb der Rätername, die territoriale Bezeichnung, doch waren beide inzwischen missverständlich geworden. Mit der Abmarkung Alemanniens, des Bistums Konstanz, des Amtssprengels der Herzöge im Bodenseeraum und mit der Neufestlegung der Grenze Churrätiens, wie es jetzt in der (allerdings späten) Barbarossaurkunde von 1155 heisst, gegenüber dem Teilreich Burgund war durch den Frankenkönig Dagobert oder einen seiner Nachfolger die ehemalige Römerprovinz Raetia I, um den nördlichen Teil des Alpenrheintals und um das ganze voralpine Rätien verkleinert worden.

S. 296: Das führte aus dem Wissen um die ehemalige römische Raumorganisation zu Doppelbezeichnungen, so bei Walafrid Strabo im Prolog der Vita s. Galli, wo er die Raetia major, das römische «Grossrätien», von der eigentlichen, der zeitgenössischen Raetia im engeren Sinne, dem «Rumpfrätien», unterscheidet. Der Verfasser des Breviarium Erchamberti aus dem endenden 9. Jahrhundert nimmt diese Doppelbezeichnung auf und präzisiert, indem er das engere Rätien Rhaetia Curiensis nennt.

Der Bezeichnung nach dem Provinz- und Bistumsvorort Chur gehörte die Zukunft. Sie knüpfte an eine Gewohnheit an, die sich seit der Zeit um 800 nachweisen lässt, und zwar in den Briefen Alkuins an Bischof Remedius, in offiziellen Schreiben des Königshofes (divisio regnorum von 806), in Victors III. Klageschriften von ca. 823 oder in Urkunden. Raetia Curiensis oder einfach Curia, Curio mit oder ohne Zusatz von pagus, pagellus, provincia oder ducatus, das ist jetzt die Benennung des politisch-herrschaftlich von Chur aus bestimmten «Rumpfrätien» - 65 -

Eine vergleichbare Entwicklung durchläuft die Bezeichnung Romani: Um 507 werden damit die römischen Bürger der Provinz Rätien benannt. Noch in der Lex Romana Curiensis werden die Romani, die römischen Bürger, die nach römischem Recht leben, den Gentilen und den Juden gegenübergestellt. Die Capitula Remedii von ca. 802/3-806 verstehen dagegen die Romani als solche, die in einem besonderen Rechtsverhältnis zu dem praeses/episcopus stehen, sie sind ihm herrschaftsmässig und politisch zugeordnet. Ca. 100 Jahre später werden in einer Gerichtsurkunde aus Rankweil die Romani von den Alamanni unter den Richtern unterschieden. Jetzt ist es die Sprache, die Zugehörigkeit zu dem zweimal in der Urkunde erwähnten Curuvvala, die als Unterscheidungsmerkmal dient. Schon 841 ist in einer Urkunde Lothars 1. von Churwalchen (in valle Curualensae) die Rede. Die Welschen, das waren für Germanischsprachige die Romanen, und zwar in der gesamten germanisch- romanischen Sprachgrenzzone. Für den näheren Umkreis wären hier die Romanen des elsässischen Sundgaus, des Aareraumes oder des Gebietes um Salzburg zu erwähnen. Romani/Welsche allein genügte nicht, es war unscharf, es brauchte eine Spezifizierung, und diese war - und das ist das Entscheidende hier - territorial, geographisch oder, wenn man Chur in seiner Funktion als Hauptort betrachtet, politisch. Die Sprache erscheint also erst spät, und zwar zunächst in einer unspezifischen, nicht auf Rätien allein zu beziehenden Weise als Unterscheidungsmerkmal. Einige amüsante Geschichten in Ekkehards IV. Casus s. Galli, die G. Hilty kommentiert hat, illustrieren

S. 297: sehr schön, dass Sprache, so auch das Romanische, kulturelle Zugehörigkeiten signalisiert, und Romanisch im Umkreis von St. Gallen, das war das von den «Churrätern» gesprochene Romanisch, das, was wir «Rätoromanisch» nennen, das erstmals in einer wahrscheinlich aus St. Gallen stammenden Handschrift, der sog. Würzburger Federprobe von Ende 10./Anfang 11. Jahrhundert, fassbar wird mit dem Satz eines geplagten Schreibers: Diderros ne habe diege muscha «Desiderius erhält dafür (nur) zehn Fliegen», d.h. «Desiderius erhält für seine Arbeit fast keinen Lohn. Ist die Sprache, das Rätoromanische, erst sehr spät zu einem Unterscheidungsmerkmal der Romanen der Raetia Curiensis geworden, so bleibt zu fragen, ob es nicht andere, frühere Zeugnisse für die Entstehung eines Gemeinschaftsbewusstseins, einer gewissen Eigenständigkeit und - 66 -

Sonderstellung in der Geschichte Churrätiens im frühen Mittelalter gibt. Die Grabinschrift für Bischof Valentian von 548 (s. oben S. 69, 98) enthält zweifellos zahlreiche Formeln, die zum Totenlob eines Bischofs einfach mit dazugehören, wie ein Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Bischofsepitaphien ergibt. Das entspricht der sozialen und der politischen Stellung der spätantik-frühmittelalterlichen Bischöfe, gleichsam als Exponenten ihrer civitates. Wenn nun darin eigens die Trauer des (ganzen) rätischen Landes (tellus retica) betont wird, so entspricht das sicherlich dem Stil der Totenklage, zugleich aber wird gerade durch den Formelcharakter bedeutet, dass der Bischof Integrationsfigur der civitas ist, mit dem sich das öffentliche Interesse (und Wohl) verbindet. Die integrative Wirkung des Bischofsamtes wird dadurch verstärkt, dass Bischofsamt und praeses/rector- Amt in der Hand der Zacconen/Victoriden vereinigt und die von ihr ausgeübte Herrschaft dynastisch abgesichert ist. Beim Tode Tellos (nach 765) fällt diese dynastische Klammer weg, es bleibt die institutionelle Verknüpfung der beiden Ämter, die den rector/episcopus zum monarchischen Leiter von Diözese und provincia macht, zweifellos ein integratives Element. Zum Ausdruck kommt es in Karls des Grossen Schutzurkunde von ca. 773, der Erneuerung der vertraglichen Bindung der rätischen Provinz an das Frankenreich. Der rector/Bischof des territurium Raetiarum und des populus Retiarum, verstanden als die Bewohner der patria, sind herrschaftlich und rechtlich einander zugeordnet. Der hier genannte populus Retiarum ist wohl identisch mit den in den Capitula Remedii (c. 3) genannten Romani homines, qui ad domnum Remedium episcopum pertinent, den Romanen Churrätiens, die unter der weltlich/geistlichen

S. 298: Herrschaft des Bischofs leben. Sie leben im Schutz des Königs und unter der Garantie ihrer lex ac consuetudo, worunter das regionale Sonderrecht zu verstehen ist. Das oben festgestellte besondere Interesse in Churrätien an den Rechtstexten und der Weiterentwicklung des Rechtes, wie es sich in der Lex Romana Curiensis, den Capitula Remedii und den verschiedenen kirchlichen Rechtssammlungen widerspiegelt, das gerade seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts manifest wird, zeugt für das erstarkende Bewusstsein, eine eigenständige Rechtsgemeinschaft zu bilden. - 67 -

Ausdruck eines regionalen Sonderrechtes in einem weiteren Sinne ist es auch, wenn die Beurkundungspraxis eigene Wege geht und die rätischen Privaturkunden zwischen der Mitte des 8. und dem Anfang des 10. Jahrhunderts das entstehen lassen, was als «Urkundenlandschaft Rätien» bezeichnet und mit allen seinen charakteristischen Eigenheiten beschrieben worden ist. Eng mit der Urkundenpraxis verbunden sind die pragmatische Schriftlichkeit und der Schriftgebrauch im allgemeinen. Auch für die Schrift kommt es zwischen ca. 750 und 850 zur Ausbildung und Verbreitung einer Sonderentwicklung in Form der «rätischen Minuskel». Sie lässt von einer «rätischen Schriftprovinz» sprechen.

Aus den erhaltenen Texten zur Besitzsicherung und aus dem Verwaltungsschriftgut lässt sich für Churrätien im frühen Mittelalter für die Wirtschafts- und Sozialordnung wie für die Besitzorganisation ein Zwischenstadium ermitteln, das eine eigenständige Entwicklung von der römischen Sklaven- und Kolonenwirtschaft zur klassischen Grundherrschaft nordalpinen Typs verrät. Eine solche Mittlerfunktion hat Churrätien noch in vielen anderen Bereichen im frühen Mittelalter innegehabt. Handel und Geldwirtschaft waren stark auf den Süden ausgerichtet. Die Kultbeziehungen der spätantik-frühestmittelalterlichen Zeit weisen ebenfalls nach Oberitalien (Patrozinien und Liturgie, Zugehörigkeit zur Provinz Mailand), kennen aber auch eine deutliche Hinwendung und Umorientierung zum Westen bzw. Norden (gallische Patrozinien, Angliederung an die gallisch-fränkische Kirche seit dem Konzil von Paris 614, Gebetsbund von Attigny, Zugehörigkeit zur Kirchenprovinz Mainz).

In der archäologisch-bauhistorischen Forschung galt lange Zeit der «rätische Dreiapsidensaal» als typische Bauform des frühmittelalterlichen Churrätien. Demgegenüber wird heute auf Vorläufer in Oberitalien, in Istrien und im christlichen Orient verwiesen. Allenfalls ist die Adaptierung dieses Bautyps für Grossbauten, für Kloster- und Gemeindekirchen, eine für Churrätien typische Sonderentwicklung. Ähnliches gilt für die von der früheren Forschung als bündnerische Eigenheit reklamierten «rätischen Kirchenkastelle». Sie waren keineswegs auf das frühmittelalterliche Churrätien beschränkt, - 68 -

S. 299: sondern fanden sich als «befestigte Höhensiedlungen mit Kirchen» vielerorts im Alpenraum.

Das frühmittelalterliche Churrätien hat Anteil an den verschiedenen Kulturströmungen gehabt, stand gleichsam im Schnittpunkt von je verschiedenen Kulturkreisen, in einer nicht nur sprachlichen, sondern auch kulturellen Interferenzzone. Die Aneignung und Verarbeitung der verschiedenen Einflüsse hat zur Ausprägung einer gewissen Eigenständigkeit, zu Sonderentwicklungen geführt, vor allem in der Phase relativer Autonomie in merowingischer und frühkarolingischer Zeit. Sie hat nicht eine Ethnisierung oder Gentilisierung der Provinzbewohner zur Folge gehabt. Von einer rätischen Ethnogenese wird man daher nicht sprechen können.

Die Sonderstellung Rätiens, die im 8./9. Jahrhundert gut zu beobachten ist, ist im Wechselspiel von Peripherie und Zentrum als Auswirkung eines starken Regionalisierungsschubes innerhalb des politisch-administrativen Rahmens der auf die Curiensis geschrumpften Römerprovinz entstanden. Der territoriale Bezug ist zweifellos dadurch verstärkt worden, dass provincia, ducatus und episcopatus zusammenfielen und eine einzige territoriale Grösse waren. Im Laufe des 9./10. Jahrhunderts verschwindet die Sonderstellung Churrätiens so allmählich, wie die rätische Minuskel verschwindet. Die Eigenheiten werden abgeschliffen, umgebogen wie in der Erneuerung der Karlsurkunde von ca. 773 durch Lothar 1. (841): Die Rektorswahl wird darin zur Bischofswahl, der Schutz vor auswärtigen Angriffen zum Schutz vor ungerechtfertigten fiskalischen Forderungen und die Garantie des regionalen Rechtes zur Garantie der gewohnheitsrechtlich fixierten Steuerabgaben. Die Integration - sie kann als Gleichstellung durchaus ambivalent, positiv und negativ, gesehen werden - wird offen als Ziel der Privilegierung durch König Konrad 1. (912) ausgesprochen: Das Inquisitionsrecht, das Recht, die materielle Wahrheit von den Zeugen zu erfragen, wird dem Bischof von Chur «nach Art und Weise der übrigen Reichsbischöfe» (secundum morem ceterorum praesulum) verliehen und die noch verbliebene Eigenheit des regionalen Rechts, die dreissigjährige Frist zur Erlangung der Freiheit für bischöfliche Hörige (servi vel ancillae), aufgehoben, und zwar mit der bezeichnenden Begründung, das sei eine - 69 -

schlechte Gewohnheit - sie stammt aus dem römischen Recht! - und stehe im Widerspruch zum Recht der übrigen (Bischofs-) Kirchen. Damit war die rechtliche Gleichstellung des Churer Bistums mit

S. 300: den übrigen ostfränkisch-deutschen Bischofskirchen vollzogen. Der Wechsel von der Mailänder zur Mainzer Kirchenprovinz im Zuge des Vertrages von Verdun von 843, der einem Jahrhunderte währenden Schwanken zwischen einer Süd- und einer Nord- bzw. Westanbindung ein Ende gemacht hat, zeigt hier seine Wirkung. ------

Aus Platzgründen konnten nur einige Auszüge aus dem sehr lesenswerten Buche hier angezeigt werden. Ebenso wurden die Anmerkungen (Fussnoten) weggelassen. Für weitergehenden Gebrauch ist das Original beizuziehen. (Kantonsbibliothek Graubünden: Sign. KBG 15.60.21 m)

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 11/2014 ------