ThPQ 152 (2004) 3-15 3

MAG DA MOTTE

Verborgene Religiosität Ist gegenwärtige Literatur für Glaubensfragen (noch) sensibel?

Solange die europäische Kultur noch markant christlich geprägt war, fanden explizit reli­ giöse Themen auch in der Literatur ihren deutlichen Niederschlag. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich diese Situation drastisch verändert. Ja, in der Gegenwartsliteratur sind religiöse Themen überhaupt nur mehr marginal vertreten. Die renommierte Litera­ turwissenschaftlerin und Theologin Magda Motte gibt in ihrem Aufsatz einen orientie­ renden Überblick, bei welchen Autoren und Autorinnen Religion eine Rolle spielt. Ihr Aufsatz schließt mit einer aufschlussreichen Deutung: Obwohl "Gott" nur noch selten ein Thema ist, bleibt Literatur offen für die Suche nach den verlorenen Dimensionen von Transzendenz. (Redaktion)

Von Jahr zu Jahr wird die Frage nach ten, als religiöse interpretiert wurden, Spuren des Religiösen in der Literatur was Kritiker wie Jens Jessen in seinem immer brisanter. Das unaufhaltsame Bericht über den Kongress "Autono­ Schwinden des jüdisch-christlichen mie und Verantwortung - Religion und Gottesglaubens, der Rückzug zahlrei­ Künste am Ende des 20. Jahrhunderts" cher Bürger aus kirchlichen Bindun­ bereits 1995 in Berlin zu ironischen gen, das Desinteresse an Religion und Kommentaren veranlasste: Kirche vor allem bei der jungen Gene­ Sie zogen durchs weite Kunstgelände und ration und das Ausweichen vieler auf apportierten alles, was irgend als religiös eine vage, oft sentimentale individuell verstanden werden könnte. Es war ein gestaltete Religiosität bilden kaum edler und lächerlicher Wettstreit. Jeder einen Nährboden für die Gestaltung wollte von seinem Feld die meisten Funde religiöser Fragen in der Literatur. mitbringen ... t So nimmt es nicht wunder, dass in den Bis heute haben sich diese Fragen nicht letzten vierzig Jahren der Begriff des erledigt. Seit neuestem wird zudem Religiösen immer mehr erweitert, ja von Literaturkritikern und Religions­ aufgeweicht wurde und alle Texte, die pädagogen eine Wiederbelebung reli­ Grenzfragen des Lebens wie Suche giöser Themen beziehungsweise ein nach dem Ich, Liebe und Beziehungs­ neues unbefangenes Reden von Gott konflikte zwischen Generationen und festgestellt. 2 Doch bleibt zu fragen: Ist Geschlechtern, Schuld und Versöh• das wirklich so? Was verstehen die Re­ nung, Krankheit und Tod thematisier- zensenten unter "religiös"? Welches li-

I Jens Jessen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.1995, 18. 2 Zum Beispiel von Thomas Macho, UUa Berkewicz, Arnold Stadler in: "Literaturen", hg. von Jan Bürger!Hanna Leitgeb/Sigrid Löffler, 11/02; Paul Konrad Kurz in: Die Vernunft der Dichter. In: StdZ 10/1999,124. Jg.; ders., Göttliches Jetzt, Du Wir. Die Wiederentdeckung des Heiligen, CiG 43 u. 44/02, 54. Jg. u.a. - Siehe auch: Ursula Homann, Welche Rolle spielt Gott in der modemen Literatur. In: http://ursulahomann.de/WelcheRoliespieltGottInDerModernenLiteratur/kapOOl-0015.-Vgl. Bei­ trag der Verf. "Wunsch oder Wirklichkeit? - Religiöse Tendenzen in der Literatur des 21. Jahrhun­ derts". HK 3/2003,138-143. 4 Motte/Verborgene Religiosität

terarische Niveau erreichen diese Wer­ ten zur Reflexion an. Zwar stellen sie ke? Ist die Feststellung mehr Wunsch gelegentlich die Erfahrung des Hinge­ als Wirklichkeit? ordnetseins auf vorgegebene Ordnun­ Deshalb ist es notwendig, zunächst gen und Gesetze dar3, gehen aber nicht den Begriff "religiös" näher zu bestim­ über das Sichtbare hinaus, öffnen kein men, auch wenn eine genaue Begriffs­ Fenster mit Blick auf eine andere, definition nahezu unmöglich ist (1), größere Welt, sondern bleiben im Ge­ sodann den Autorenkreis zu struktu­ häuse des begrenzten, rein innerwelt­ rieren (2), um schließlich an einigen lieh menschlichen Erfahrungsraums. Beispielen der deutschsprachigen Ge­ Aus vielen klingt die Zuversicht, dass genwartsliteratur die Sachlage zu ver­ der Mensch mit seinen Kräften eine anschaulichen. gute Welt, das Paradies, schaffen könn• te, wenn sich nur die Verhältnisse än• 1. Kategorisierung der Literatur unter derten. All diese Texte sollte man nicht "religiösen" Aspekten als "religiöse" bezeichnen, auch nicht als "latent" oder "anonym" religiöse, Bei der Suche nach religiösen Ver­ sondern als existenzielle oder ethische. weisen oder Motiven in literarischen Sie verharren letztlich im Horizonta­ Texten dürfte klar sein, dass man len, im Innerweltlichen, im Vorraum grundsätzlich alle Werke in den Blick des Glaubens. "Die Sinnfrage ist nicht nehmen kann, die sich ernsthaft mit durchweg Religion", sagte Kardinal menschlichem Schicksal und der Sinn­ Karl Lehmann 1995 auf einem Kongress frage befassen. Im Speziellen aber wird in Berlin.4 Diese Einschränkung gilt man Bücher untersuchen, die mehr auch dann, wenn die literarischen Tex­ oder weniger deutlich existenziell, reli­ te biblische Motive oder liturgisch giös oder christlich ausgerichtet sind. geprägte Metaphern zitieren. Hier wird mit Bedacht zwischen diesen Die meisten literarisch bedeutsamen drei Begriffen unterschieden, die nicht Werke unserer Zeit gehören in diese identisch sind, oft aber synonym ge­ Kategorie, selbst dann, wenn sie sich braucht werden. mit Relikten einer christlichen Soziali­ sation auseinandersetzen, wie zum Bei­ Die ethisch-existenzielle Ebene spiel die Werke von Barbara Frischmuth, Zu dieser Gruppe gehören Texte mit Norbert Gstrein, Günter Grass, Bodo allgemein menschlichen Themen wie Kirchhof!, Robert Menasse, , der Frage nach dem Ich und dem Du, Sten NadoIny, Christoph Ransmayr, Mar­ der Einsicht in persönliches Versagen, tin Waiser u.v.a. der Sorge für die Umwelt, dem Teilen der Güter, dem Einsatz für Gerechtig­ Die transzendental-religiöse Dimension keit und Frieden, der Krankheit und Wenn jedoch der Mensch in der Erfah­ dem Tod. Sie führen den Leser an zent­ rung von Liebe und Gemeinsamkeit, rale Realitäten unserer Welt und an von Angst und Einsamkeit, von Leid Fragen des persönlichen Lebensent­ und Tod an die Grenzen seiner Er­ wurfs heran. Sie zeigen diese und lei- kenntnis- und Erlebnisfähigkeit ge-

, Vgl. Hans Waiden/eis, Artikel Religion(en), in: Christian Schütz (Hg.): Praktisches Lexikon der Spiri­ tualität. Freiburg/Basel/Wien 1988, Sp. 1050f. • Vgl. Karl Lehmann/Hans Maier (Hg.), Autonomie und Verantwortung. Religion und Künste am Ende des 20. Jahrhunderts. Regensburg 1995,44 u. 138. Motte/Verborgene Religiosität 5 führt wird, wenn er zudem die Erlö• und zwar in seiner Erniedrigung wie in sungsbedürftigkeit unserer Welt nicht seiner Erhöhung.6 In diesem Sinne fin­ durch Selbsterlösungsprogramme be­ den sich auch unter den neueren Titeln antwortet und das Ich nicht zum Mit­ etliche, denen diese Ausrichtung zuge­ tel- und Zielpunkt des Universums sprochen werden kann. Allerdings ist stilisiert, sondern diese Erfahrungen der Befund unter den literarisch befrie­ transzendiert, das heißt, sich auf einen digenden Werken mager, zu nennen letzten, alles umfassenden Sinngrund sind Titel zum Beispiel von Johannes verwiesen fühlt, von dem er sich ab­ Kühn, Pa trick Roth, Hanns-Josef Ortheil, hängig weiß und dem er sein Leben Arnold Stadler. verdankt, so deuten die Menschen die­ se Verwiesenheit auf etwas Höheres Probleme der Einordnung von altersher als "Religion". Eine sol­ Was sich definitorisch relativ klar ab­ che Erfahrung führt meistens zum grenzen lässt, erweist sich im Umgang staunenden Schauen, zur meditativen mit einzelnen Texten als problematisch. Betrachtung, oft auch zum Lobpreis Bei der Kategorisierung einzelner Texte oder zur Anbetung. Texte, die davon wird deutlich, dass eine solche Zuord­ etwas expressis verbis deutlich ma­ nung weder vom Vokabular noch von chen, können als "religiöse" eingestuft der Intention des Autors allein ab­ werden. hängt, sondern dass als entscheidender In einigen Werken zum Beispiel von Faktor das Verständnis des Lesers hin­ , Barbara Frischmuth, Ulla zukommen muss. Daraus ergibt sich Hahn, , Thomas Hürlimann, allerdings nicht selten die Gefahr einer Michael Köhlmeier, , Inge Vereinnahmung oder eines Miss­ Merkel, Ralf Rothmann, Ernst Stadler fin­ brauchs literarischer Texte hinsichtlich den sich solche Passagen. religiöser Tendenzen.

Die christliche Botschaft 2. Überblick über die Publikationen Kaum jemand wird heute die bekennt­ der letzten vierzig Jahre nishafte Behandlung von Glaubenspro­ blemen in literarischen Werken erwar­ Seit der Absage an die sogenannte ten, wie sie seinerzeit christliche Au­ christliche Literatur vor fast 40 Jahren toren darstellten. Vielleicht kann man ist die Suche nach Spuren des Religiö• wie Heinz Michael Krämer das Christli­ sen in der zeitgenössischen deutsch­ che eines Textes so umschreiben, dass sprachigen Literatur ein wichtiges er "unter dem Eindruck der Geschichte Thema der Motivforschung, und von Jesu von Nazaret [ ... ] Menschenge­ Jahrzehnt zu Jahrzehnt wird eine Fülle schichte ebenso inszeniert und damit an Publikationen vorgelegt, die mehr die Erfahrungen des Lesers in spezi­ oder weniger auf die Religion im All­ fisch christlichem Sinne organisiert". 5 gemeinen und den christlichen Glau­ Zudem gibt es nicht den christlichen ben im Besonderen Bezug nehmen. Text, sondern höchstens Werke, in de­ Allerdings wird solchen Untersuchun­ nen das Christusereignis spürbar wird, gen gelegentlich der nicht unberechtig-

5 Heinz Michael Krämer, Elemente theologischer Ästhetik, in: Anneliese Werner (Hg.), Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein. München/Mainz 1982, 110. , Vgl. Siegfried Schröer, Jugendliteratur und christliche Erlösungshoffnung. Vom Widerstand junger Menschen gegen die Mächte des Bösen, Essen 2001, bes. 85-98. 6 Motte/Verborgene Religiosität te Einwand entgegengebracht, sie un­ gebunden war in den allgemeinen terwürfen die Literatur artfremden, Erziehungskodex von Moral und Vor­ ideologischen Kategorien. Dem ist ent­ schriften, die zu übertreten schwere gegenzuhalten, dass die Frage nach Sanktionen nach sich zog. Spuren des Religiösen in der Literatur 2. Die zwischen 1940 und 1960 Gebore­ der Erforschung geistesgeschichtlicher nen, wie , John van Düffel, Entwicklungen in unserer Zeit dient, Babara Frischmuth, Reinhard P. Gruber, die der sensible Künstler - weitaus Wla Hahn, Christoph Hein, Wolfgang Hil­ tiefgründiger als jede Demoskopie - bich, Thomas Hürlimann, , seismografisch erfasst; mit anderen Bodo Kirchhof!, Michael Köhlmeier, Monika Worten, die Gegenwartsliteratur gibt Maron, Robert Menasse, Anna Mitgutsch, Aufschluss darüber, wie Menschen Sten Nadolny, Hanns-Josef Ortheil, Chris­ heute mit den Fragen nach Transzen­ toph Ransmayr, Patrick Roth, Ralf Roth­ denz, nach Gott, nach Christus umge­ mann, Robert Schlinck, Robert Schneider, hen und inwieweit diese für den Zeit­ Arnold Stadler, Peter Turrini, wurden genossen noch relevant sind. Darüber noch in weltanschaulich geschlossenen hinaus dient die Aufarbeitung literari­ Milieus groß. Aber sie hatten bereits scher Werke unter dieser Problemstel­ mehr Möglichkeiten, daraus auszubre­ lung religionspädagogischen Zielen, chen, zumal die Hippie-Kultur und die denn die Ergebnisse können für Theo­ Studentenbewegung in den 60er und logInnen, besonders SeelsorgerInnen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die und LehrerInnen aller Schulgattungen, Protestler auffingen. eine Hilfe zur Situationsanalyse und 3. Die nach 1960 Geborenen, wie Tho­ bei der Erörterung von Lebensfragen mas Brussig, Wrike Draesner, Karen Du­ sein. ve, Durs Grünbein, Norbert Gstrein, Kers­ Es ist ratsam, drei Gruppen von noch tin Hensel, Judith Hermann, Thomas schaffenden Autoren/ Autorinnen zu Kling, Michael Krüger, Markus Orths, unterscheiden, bei denen ethisch-reli­ Ingo Schulze, Lutz Seiler, Uwe Timm, Bir­ giöse Verweise in verschiedenster Aus­ git Vanderbeke u. a., kennen konfessio­ sageintention zu erwarten oder festzu­ nelle Gebundenheit meist nur aus Er­ stellen sind: zählungen ihrer Eltern oder Großeltern 1. Die der älteren Generation, die seit und stehen dem Religiösen offen, aber etwa 30-40 Jahren die literarische distanziert gegenüber. Szene beherrschen, wie Günter de Je nachdem wie eng oder wie weit man Bruyn, , Tank­ den Begriff "religiös" oder "christlich" red Dorst, Dieter Forte, Günter Grass, auffasst, ist das Lektüreergebnis befrie­ Peter Handke, Dieter Kühn, Johannes digend oder mager. Überblickt man Kühn, Günter Kunert, Reiner Kunze, Hel­ nämlich ausschließlich die deutsch­ mut Lange, Inge Merkel, Adolf Muschg, sprachige Literatur der letzten 25 Jahre, Botho Strauß, Arno Surminski, Martin so finden sich zwar in den Werken der Walser, Urs Widmer, u. a., Autoren vereinzelte Hinweise, zum sind zum größten Teil in einem konfes­ Beispiel sionell oder weltanschaulich homoge­ - in Autobiografien: Günter de Bruyn nen Milieu aufgewachsen, das, wie "Zwischenbilanz", Wla Hahn "Das viele von ihnen bekennen, die meisten verborgene Wort", Christoph Hein belastet hat. Das liegt nicht zuletzt "Von allem Anfang an", Martin Wal­ daran, dass die religiöse Erziehung ein- ser "Ein springender Brunnen", Motte/Verborgene Religiosität 7

- in autobiografisch geprägten Roma­ 3. Beispiele nen und Erzählungen: Peter Handke "Langsame Heimkehr" und "Mein Bei der Auswahl möglicher Beispiele Jahr in der Niemandsbucht", Tho­ aus der deutschsprachigen Literatur mas Hürlimann "Die Tessinerin" und erweisen sich zum einen biografisch "Fräulein Stark", Adolf Muschg "Das geprägte Romane als ergiebig, zum gefangene Lächeln", Hanns-Josef Or­ anderen bieten besonders Gedichte theil "Lo und Lu", Ralf Rothmann Aufschluss über den Zeitgeist. Ich be­ "Stier", "Wäldemacht" und "Milch schränke mich auf einige wenige Ro­ und Kohle", Arnold Stadler ,,Ich war mane, Erzählungen und Gedichte der einmal", "Feuerland" und "Mein letzten Jahre von Adolf Muschg, Arnold Hund, meine Sau, mein Leben", Stadler, Hanns-Josef Ortheil, Ralf Roth­ - in Romanen: Barbara Frischmuth mann, Lutz Seiler, Hans Magnus En­ "Kopftänzer", Michael Kählmeier zensberger, deren Protagonisten be­ "Spielplatz der Helden", Inge Merkel ziehungsweise Sprecher aus der Erin­ "Die letzte Posaune" und "Das große nerung an eine christlich oder marxis­ Spektakel", Patrick Roth "Riverside" tisch geprägte Erziehung beglückende und "Corpus Christi", Markus Orths oder schmerzliche Erlebnisse und de­ "Corpus", ren Folgen thematisieren und Zu­ - in Gedichtsammlungen: Hans Magnus standsbeschreibungen unserer jüngs• Enzensberger, Richard Exner, Michael ten Vergangenheit bieten. Krüger, Johannes Kühn, Reiner Kunze, Ralf Rothmann u. a., 3.1 Kindheitserfahrungen - in verschiedenen Essays: Franz Füh• Besonders ergiebig ist das Motiv Kind­ mann "Meine Bibel", Hanns-Josef Or­ heitserfahrungen. Nach ihrem Glauben theil "Blauer Weg", Botho Strauß "An­ und ihrer Gottesvorstellung befragt, schwellender Bocksgesang", Christa haben die meisten Autoren in Inter­ Wolf "Kommentar zu J. Haydns ,Mis­ views und biografischen Notizen im­ sa in Tempore Belli"'; mer schon Bezug auf ihre frühkindliche - aber von einer generellen Tendenz, Entwicklung genommen.? Dennoch ist die Frage nach Gott oder nach ei­ auffallend, wie viele Autoren im letz­ nern tragbaren Lebenskonzept aus ten Jahrzehnt in ihren Werken auf Er­ dem Glauben als zentrales Motiv für lebnisse einer protestantisch oder ka­ eine Erzählung zu wählen, kann tholisch, gelegentlich auch jüdisch ge­ man nicht sprechen, besonders dann prägten Sozialisation zurückgegriffen nicht, wenn man sich auf die Auto­ haben. Entweder mangelt es ihnen an ren beschränkt, die die literarische interessanten Stoffen, oder sie wollen Szene in Deutschland bestimmen. im fortgeschrittenen Alter dem abge­ Das heißt jedoch nicht, dass sich legten Kinderglauben und den Ur­ nicht einige Autoren in resignieren­ sprüngen ihres Lebens nachspüren. der oder in rebellischer Weise mit Unter diese Rubrik fallen etliche Auto­ religiösen Fragen und mit Gott aus­ biografien und Romane, die im letzten einandersetzen, wie die folgenden Jahrzehnt für Aufsehen sorgten. In Betrachtungen zeigen. Martin Walsers "Ein springender Brun-

7 Vgl. dazu Magda Motte, Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart. Mainz 1996, bes. 14ft, und die dort angegebene weiterführende Literatur. 8 MothYVerborgene Religiosität nen" (1998) gehören die Passagen über und deren Bewältigung, wie sie man­ religiöse Praktiken und Erlebnisse mit cher Zeitgenosse ähnlich erlebt haben der Kirche allerdings zu den schwächs• mag. Drei Generationen sind nötig, um ten. Sie beschreiben nur jugendlichen das "gefangene Lächeln", ein schweres Übermut und Missachtung. - Ulla Erbe der Familie Kummer, zu befreien. Hahns Roman "Das verborgene Wort" Die Kindheit und Jugend des Ich­ (2001) enthält eine Fülle an Verweisen. Erzählers Kaspar Josef Kummer ist Dabei hat das Kind Hildegard mehr überschattet von der streng puritani­ unter der rigiden Religionsausübung schen Erziehung im Elternhaus, die der bei Großmutter und Eltern als unter herrische und selbstherrliche Vater dem Einfluss des katholischen Kinder­ Kaspar Kummer autoritär bestimmt. gartens, der Grundschule oder der Kir­ Aus den Banden dieses puritanischen che gelitten. Hier fand sie eher Zu­ Familienerbes kann sich Kaspar Josef flucht und Verständnis. - Aus ein­ nicht befreien. In den entscheidenden deutig positiver Sicht stellt Günter de Jahren seiner Entwicklung vom Kind Bruyn in "Zwischenbilanz" (1992) die zum Mann findet er keine Hilfe, lebt Atmosphäre im Elternhaus gegen die vielmehr im Bewusstsein, dass alles, der Naziherrschaft, die Welt der katho­ was mit Sexualität im Zusammenhang lischen Jugend gegen die der Hitlerju­ steht, jede Regung, jedes Wort, jede gend, die alles vereinnahmte. - Der Geste Sünde sei. lO Muschg lässt seinen Roman "Corpus" (2002) von Markus Protagonisten alle Qualen einer unbe­ Orths, einem Vertreter der jungen Ge­ wältigten Sexualität durchmachen, von neration, ist zwar offensichtlich im ka­ zaghafter Annäherung an eine Frau tholischen Milieu angesiedelt: die jun­ über Eifersucht und Voyeurismus bis gen Freunde spielen "Messe", geraten zum exzessiven Gewaltausbruch. Im in Folge unglücklicher Umstände in Bewusstsein, seine Verlobte Magda schwere Schuld, die den einen zum umgebracht zu haben, was sich erst 20 Priesterberuf drängt, basiert aber nicht Jahre später als Irrtum herausstellt, überzeugend auf religiösem oder flieht er aus seinem bisherigen Leben christlichem Grund. Das katholische nach Ägypten. Messritual, dem die Kapitelüberschrif• Dort wird er "erlöst". Zoe, Tochter aus ten entnommen sind, dient als forma­ reichem Hause, findet Gefallen an dem les Gerüst.s - Einige neuere und scheuen Menschen und verführt ihn zu weniger beachtete, aber literarisch in­ Liebe und Zärtlichkeit. Josef wird mit teressante Werke seien etwas genauer ihr glücklich, beider Sohn Pierre ist untersucht. der Vater des Enkels John, dem der Großvater angesichts seines nahen Adolf Muschg: "Das gefangene Lächeln. Endes in Form eines langen Briefs die­ Eine Erzählung"(2002)9 sen Lebensbericht verfasst. Ausgelöst Auch Adolf Muschg bringt in seiner wird das Bekenntnis durch ein anschei­ jüngsten Erzählung eine Art Glaubens­ nend harmloses Spiel des Enkels, als geschichte, die Geschichte einer Schuld dieser die Krippenfiguren Maria, Josef

8 Vgl. zu Markus Orths Roman "Corpus" die Besprechung der Verfasserin "Wunsch oder Wirklichkeit? Religiöse Tendenzen in der deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts", in: HK 57,138-143, bes. 140f. 9 Adolf Muschg, Das gefangene Lächeln. Eine Erzählung, Frankfurt 2002. 10 Ein ähnliches Sujet hat Thomas Hürlimann in seinem Roman "Fräulein Stark" gewählt, es aber mehr ins Ironisch-Komische gewandelt. Motte/Verborgene Religiosität 9 und Jesus so arrangiert, dass eine starrten, missverstandenen Christen­ Szene der Gewalt entsteht. 11 tum, greift aber dessen heilende Kraft Obwohl die Erzählung viele Anspie­ nicht auf. Die positiven Elemente in lungen auf die Bibel (Krippenfiguren, diesem Buch könnte man zwar als ano­ Heilige Familie, Namengebung, Josefs nymes Christentum aufwerten, doch Flucht nach Ägypten, Sprachpathos) geht dies über die Intention des Au­ aufweist, ist von religiöser oder christ­ tors hinaus. In einem Interview gibt licher Substanz kaum etwas zu spüren; Muschg auf die Frage von Brückenbau• sie spricht eher gegen das Christentum, er 12: "Das Buch nimmt christliche The­ gegen den puritanischen Protestantis­ men auf wie heilige Familie, Fügung, mus. Der Vater beherrscht seine Rolle Segen - welche Rolle spielen diese The­ als pater familias, der zwar zu Weih­ men für Sie heute?" - eine Antwort, die nachten das Lukasevangelium vorliest, den Interpreten aller Spekulation ent­ aber das Christentum zu einer kalten hebt: Morallehre verkommen lässt, die alles, Das ist genau die Frage, die sich mir in den was natürlich ist oder glücklich macht, Figuren dieser Erzählung gestellt hat. unter das Diktum der Sünde stellt. Christliche Themen spielen für mein Be­ Auch der Versuch des Protagonisten, wusstsein heute eine weniger bedeutende mit der Schuld fertig zu werden, bleibt Rolle als früher. Ich fühle mich aber auch im Innerweltlichen. Denn von jeher von früheren negativen Gefühlen und gelten Briefe, Tagebuchaufzeichnun­ Widerständen stark entlastet. Dass die gen und Bekenntnisse an Dritte als eine Hauptfigur im Buch, fase! Kummer, nach Art Beichte, wobei der Vorgang des Ägypten geht, spielt nicht nur auf den bib­ Schreibens als Akt der Befreiung dient. lischen Weg des fase! an, sondern ist auch Mit Überantwortung der Schuld an ein Weg zurück zu den alten Göttern, zur eine höhere Instanz, die sie vergeben Göttervielheit. fase! möchte sich furchtbar könnte, hat das nichts zu tun. Auch die gern die sinnenfreudige Welt des Heiden­ Erlösung vollzieht sich nicht im re­ tums zu eigen machen, aber gleichzeitig ligiös christlichen Bereich, sondern wurzelt er im streng protestantisch gepräg• durch die freigeistige Zoe in Ägypten, ten Zürcher Oberländer Boden. Diesen dem Land ursprünglicher "Götterviel• Zwiespalt teile ich mit der Hauptfigur. heit" (A. Muschg). Die Erzählung "Das gefangene Lä• Arnold Stadler: "Ich war einmal" (1989) cheln" geht zwar unbekümmert mit re­ "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" (1994) ligiösen Fragen um und thematisiert "Ein hinreissender Schrotthändler" (1999) 13 die gelungene Befreiung aus einem er- Der 1999 mit dem Georg Büchner-Preis

11 Aus einem Gespräch des Autors mit Heide Sol tau vom NDR erfährt man, dass die Krippenge­ schichte auf einen "autobiografischen Kern" zurückgeht. Vor 30 Jahren hat Muschg ähnliches "mit seinem eigenen Sohn erlebt, der sich zu tun traute, was er selbst nie gewagt hätte: Aggressionen zu zeigen", in: http://www.ndrinfo.de/pages/info_std/0.2235.OID37600_REF.00.htrn. vom 29.12.02,1. 12 Interview von Carl J. Wiget: Adolf Muschg schreibt "Das gefangene Lächeln". Eine Erzählung, in: Brückenbauer, Wochenzeitung der Migros (CH); zit. nach http://www.brueckenbauer.ch/INHALT / 0233/33iview.htrn, vom 31.08.02, H. 13 Amold Stadler, Ich war einmal. Roman. Salzburg/Wien 1989 (st 2997); ders., Feuerland. Roman, Salz­ burg und Wien 1992; ders., Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Roman. Salzburg/Wien 1994 (st 2575); ders., Ein hinreissender Schrotthändler Roman, Köln 1999 (btb 72678). Die Gattungsbe­ zeichnung Roman sollte ernst genommen werden, sucht der Autor doch dadurch sich zu seinen eigenen Erfahrungen, auch wenn sie seiner tatsächlichen Biografie entsprechen, in Distanz zu setzen und sie zu objektivieren, ein Erzählmuster, das viele Autoren wählen, wenn sie persönliche Erleb­ nisse chiffrieren wollen (vgl. u.v.a. Alfred Anderseh, Ralf Rothmann u.a.). 10 Motte/Verborgene Religiosität ausgezeichnete Schriftsteller Arnold gesamt, die Summe war so dürftig, daß ich Stadler verbrachte sein Leben in den sie vergessen habe. 1950er und 60er Jahren in einem von Mich retten - dazu mußte ich möglichst dörflich strenger Gläubigkeit gepräg• weit weg von Schwackenreute und mir. Ich ten Katholizismus, wovon er in seinen mußte ans andere Ende der Welt meiner autobiografisch geprägten Romanen selbst. Ich sah, daß ich, um mich zu retten, "Ich war einmal" (1989), "Feuerland" weg von mir mußte, daß ich mich verlassen (1992) und "Mein Hund, meine Sau, mußte, weg von so einem Menschen wie mein Leben" (1994) Auskunft gibt. mir. Ich habe es versucht. Der Grundton in Stadlers Romanen ist Auch war ich fromm, aber ich wußte nicht, geprägt von Schmerz über den Verlust daß dies nichts mit Theologie zu schaffen der Heimat, eines naturverbundenen hatte, weil ich auch ein wenig dumm war. Landlebens und von der Sehnsucht Dazu kommt der Ehrgeiz, der Ehrgeiz eines nach einem geheilten Leben. So verge­ Kindes, in den Himmel zu kommen, was genwärtigen denn auch die Berichte immer dies sein mochte. (Mein Hund, 70) des Ich-Erzählers, anders als die vieler Autoren, die ihre Kindheit meist in Hier sind die Beweggründe geschil­ verklärten Farben schildern, viele dert, die junge Menschen bewegen schmerzliche Situationen, ja sie bilden können, den Priesterberuf anzustreben: eine "kleine Passionsgeschichte", die Sie flüchten aus beengenden, gestörten mehr von Kindheitsverlusten und Er­ Familien, suchen Klarheit über sich niedrigungen als von Glücksmomen• selbst und geistige Geborgenheit. Für ten erzählt. Sie werden allerdings nicht nicht wenige endet das Studium mit. auf eine belastende moralische Erzie­ Enttäuschung. So auch für den Ich­ hung durch die katholische Kirche Erzähler in Stadlers Werk; er erreicht zurückgeführt, sondern auf die Traditi­ dieses Ziel nicht, denn er wird infolge on der bäuerlichen Familie und Ge­ einer kleinen Ohnmacht bei der ärztli• meinde, die mit Kindern generell hart chen Untersuchung wegen Verdachts umging. Aus diesem Umfeld will der auf Epilepsie von der Priesterweihe Ich-Erzähler ausbrechen, Theologie stu­ ausgeschlossen. dieren und Priester werden. Die Grün• Was Struktur und Erzählstil der Bücher de, die er nennt, überzeugen nicht, angeht, so bietet Stadler eine Art Kalei­ aber sie geben Auskunft über seine doskop einzelner Episoden, die der Le­ psychische Situation und die vieler ser zu einer Lebensgeschichte zusam­ Zeitgenossen in den 70er und 80er Jah­ mensetzen muss. Er zeigt eine scharfe ren des 20. Jahrhunderts: Beobachtungsgabe, verfügt über präg• Wie kam ich überhaupt zur Theologie? nanten Wortwitz, so dass humorvolle Theologie interessierte mich doch gar nicht. Situationen entstehen. Dennoch ist der Theologische Fragen auch nicht, längst Tenor ernst. Nicht ohne Hintersinn nicht mehr. Gewiß, ich wollte immer noch beginnt der erste der drei Romane mit wissen, was mit Caro, Gigi und vor allem der Kapitelüberschrift "Schmerzens­ Frederic [seine toten Lieblingstiere: Hund, freitag", wie in der Heimat des Autors Katze und Ferkel] jetzt war. Gewiß wollte der Karfreitag genannt wird, es ist sein ich damals auch noch die Welt retten, Geburtstag, und der dritte Roman meine diffusen Anstrengungen richteten endet mit dem Hinweis auf "einen sich also einerseits ganz auf hier, anderer­ Selbstmörder als Lebenshilfe" (Mein seits ganz auf dort aus. Das Ergebnis ins- Hund, 151), auf Adalbert Stifter. Motte/Verborgene Religiosität 11

Dennoch bleibt für den Schriftsteller als Vater. Mit Humor und Gelassenheit Arnold Stadler, der im dörflich katholi­ beobachtet er die Entwicklung seiner schen Milieu erzogen und als ehemali­ beiden Kinder, Lotta und Lukas, die er ger Priesteramtskandidat mit römi• als "Heimarbeiter" betreut, während schen Machenschaften bestens vertraut die Mutter außer Haus beschäftigt ist. ist, die Religion auch nach allen unlieb­ Es ist selten, dass ein Autor heute samen Erfahrungen wie Zurückset• den Mut aufbringt, unverhohlen von zung, Verlust, Abschieden, Einsamkeit "Glück", "Wonne", "Lachen" zu spre­ der Angelpunkt der Welt, chen. Er erzählt Episoden, die den Kin­ die für mich nach wie vor aus Sichtbarem dern Ehrfurcht, Geborgenheit und und Unsichtbarem besteht. Die Faktizität Grundvertrauen vermitteln. Ganz un­ ist das eine, und die Sehnsucht nach etwas, aufdringlich wird eine religiöse Aus­ was nicht sichtbar ist und das es doch gibt, richtung eingefügt, wenn sich der wie Glaube, Hoffnung und Liebe, ist das Vater anlässlich eines Besuchs im Köl• andere. 14 ner Dorn an seine Taufe an diesem Ort und an seine katholische Kindheit, die In seinem Roman "Ein hinreissender für ihn ganz positiv besetzt ist, erinnert Schrotthändler" lässt er den Ich-Erzäh• und beschließt, seinen Sohn Lukas ler seinen Lebensbericht mit den Wor­ auch hier taufen zu lassen. In einer ten schließen: Besprechung verweist Paul Konrad Und ich sehnte mich nach einem Men­ Kurz auf eine Aufzeichnung Ortheils in schen, mit dem ich über alles hätte reden "Blauer Weg" zum Stichwort "katho­ können, selbst über Gott, ohne ausgelacht lisch": zu werden. Ihn, der mir >näher als meine Langsam wird er wieder katholisch. Ge­ Halsschlagader< war, suchte ich auch danklich hatte er sich von seiner Kindheits­ noch. Die alte Irinissima hat noch mit religion seit Jahrzehnten entfernt, vielleicht neunzig über mich gelacht, weil ich sie ist er aber in seiner Seele so etwas geblieben nach Gott fragte. Gott? Alte Weiber reden wie ein zeitfremder Katholik des Mittelal­ über Gott und Kuchen, sagte sie. (208) ters, ein Lateinisch sprechender Mönch, mit vielen Zweifeln und klugen Bedenken, Solche Passagen weisen Stadler als letztlich aber doch auf der Seite des Glau­ einen auch religiös suchenden Autor bens. 16 aus, und sie dokumentieren die Scheu Das Buch, wenn auch gelegentlich des modemen Menschen, über Gott zu etwas zu breit erzählt, besticht ob sei­ sprechen, obwohl die Sehnsucht da­ ner heiteren positiven Grundstirnrnung nach lebendig ist. und lebensbejahenden Atmosphäre.

Hanns-Josef Ortheil: "La und Lu. Roman Ralf Rothmann: "Stier" (1991) - " Wälder• eines Vaters" (2001) 15 nacht" (1994) - "Milch und Kohle" (2000) Der Autor der bekannten Künstler• - "Gebet in Ruinen" (2000) Bücher über Mozart, Goethe, Don Juan "Langsam wird er wieder katholisch" - erzählt hier völlig unspektakulär und besser religiös - ein solcher Satz könnte gelassen von seinen eigenen Aufgaben auch zu Ralf Rothmann passen. In sei-

" Amold Stadler in: Grüß Gott. Literaturen (s. Anm. 2). 15 Hanns-JosefOrtheil, Lo und Lu. Roman eines Vaters, München 200l. 16 Hanns-Josef Ortheil, Blauer Weg. Zit. nach Paul Konrad Kurz, Familienalbum: Lo und Lu, blauer Weg. Hanns-Josef Ortheils Vaterroman, in: CiG 26/02, Jg. 54, 214. 12 Motte/Verborgene Religiosität nen Romanen schildert er unverblümt, kann doch nur das Rühmen, der Lob­ aber präzise das Leben von Jugendli­ gesang sein" in den Mund legt, so führt chen in den 1960er und 70er Jahren im dieses Bekenntnis zur Lyrik. Ruhrgebiet. Mangel an Geborgenheit im miefigen Elternhaus und an Zu­ 3.2 Lyrik von Ralf Rothmann - Lutz Seiler kunftsperspektive bestimmt das Da­ - Hans Magnus Enzensberger sein der jungen Leute und führt sie zu Obwohl Gedichte nie den Bekannt­ Alkoholkonsum, Drogen und Gewalt heitsgrad dramatischer oder epischer gegen Dinge und Menschen. Ihre Treff­ Werke erreichen, sind sie für die hier punkte auf Schutthalden und Picknick­ aufgeworfenen Fragen von hoher Be­ plätzen aus Beton sind nicht dazu an­ deutung; geben sie doch die unmittel­ getan, eine positive Sicht von Welt bare Reaktion eines sensiblen Beob­ aufzubauen. Was die Romane von an­ achters auf die Zeichen der Zeit, deu­ deren Darstellungen solcher hoff­ ten sie und bringen sie pointiert und nungslosen Situationen unterscheidet, komprimiert zur Sprache. ist die unaufdringliche Erwähnung ei­ Ralf Rothmann nennt seinen neuen ner katholischen Sozialisation. Es ist Gedichtband "Gebet in Ruinen" .18 zum Beispiel nicht unbedeutend, wenn Schon der Titel macht hellhörig, ver­ im Roman "Wäldernacht" die Abrech­ bindet er doch in der Metapher "Rui­ nung einer Clique mit dem Unter­ nen" die Zustandsbeschreibung einer drücker Racko an einem "Fronleich­ Örtlichkeit und in "Gebet" eine religiö• namstag" eingeleitet wird. Dieses Fest se Ausrichtung. In überwiegend frei­ gilt als ausgesprochen katholische rhythmischen Versen wird Alltägliches Feier mit Gepränge und Liedern und und Außergewöhnliches in überra• steht in krassem Gegensatz zur kaput­ schenden Metaphern verknüpft und ten Welt dieser Jugendlichen. Es ver­ der Leser gedrängt, "Die Leidhaftigkeit mittelt etwas von ästhetischer Schön• des Daseins" in "Die Liedhaftigkeit des heit und religiösem Gefühl, was Ralf Daseins" (52) umzumünzen, so wie es Rothmann in einem Interview aus­ auch der Titel andeutet. Ob Liebesge­ drücklich bejaht: dicht oder Psalm - alle Texte leben von Das war auch eine frühkindliche Erfah­ der Spannung oppositioneller Bilder rung. Ich bin ja brachial katholisch erzogen des Dunklen, Ekelhaften, Obszönen, worden und war bis zur Pubertät inbrün• Banalen auf der einen und des Lichten, stig katholisch. Schon in der katholischen Versöhnlichen, Sinnvollen auf der an­ Kirche mit all dem Gold und dem Glitter deren Seite. und Weihrauch-Pomp drängte sich bei mir Immer münden die Verse in eine Zu­ die Ahnung auf das Schöne und das Gött• versicht weckende Aussage, ohne in liche - irgendwie sind sie eins. Das haben sentimentale Tröstung zu verfallen: die Klassiker vorher wahrscH.einlich ähnlich formuliert. Für mich gab es da immer eine Du müßtest wieder an uns glauben, Herr, klare Affinität.17 es eilt. Ich bin durchs letzte Loch gekrochen, Und wenn Rothmann einer seiner Fi­ habe den Engel gesehn. guren den Satz "Der Sinn aller Lieder Er staunte mich an mit Rattenaugen

17 Ralf Rothmann im Gespräch mit Steffen Richter, Freitag im Internet - Archiv&Recherche - Abonne­ ment- trotznichtdesto, www.freitag.de/2000/31/00311701.htm. 28.07.2000. 18 Ralf Rothmann, Gebet in Ruinen. Gedichte, Frankfurt 2000. Motte/Verborgene Religiosität 13 und riß das Maul zum Gähnen auf saß der liebe gott; er war Ich hörte Liebesschreie in der Hölle. (17) unendlich klein & lachte oder schlier9 Ein solcher Gestus ist Gebet. Mit einer Aufforderung zum Gebet schließt der Besonders auffallend sind hier die Band: Metaphern. Sie entstammen nicht wie in der Tradition üblich der Natur, son­ Baum für Baum dern der Technik: Straße, Autobus, Zie­ entziffere die Schrift. gel, Kabel, Stahl. In diese Welt hinein Äpfel duften wird die Erinnerung an Gott verlegt, am schönsten nachts. und zwar sonntags. Aber dieser Gott ist Komm zur Ruhe, klein, hockt eingesperrt in absoluter sei Gebet. Dunkelheit und Untätigkeit, lacht oder Reinige den Tempel schläft, erregt also weder Furcht noch mit einem Lächeln. (68) umgibt ihn etwas Geheimnisvolles. Das Gedicht ist mehrdeutig: Zum Baum und Frucht, Wachsen und Reifen einen verweist es ironisch auf eine sind die Lehrmeister für ein geglücktes kindlich naive Gottesvorstellung, die Leben, das keine Aktion oder Revolte gebunden an traditionelle Sonntagsri­ verlangt, sondern nur stilles Dasein tuale Gott im Trafohaus vermutet, da und Lächeln. Das ist Gebet. hier die Verbindung von Himmel und Erde sichtbar ist. Sodann regt das Bild Das zweite Beispiel stammt von Lutz zum Nachdenken über die Verabso­ Seiler (geb. 1963), einem mit vielen Prei­ lutierung der Technik an, die Gott sen ausgezeichneten Lyriker der jun­ gleichsam gefangen gesetzt hat, der gen Generation. aber dennoch, wenn auch "unendlich klein", im Nest aus "kabel enden" die sonntags dachte ich an gott Fäden in der Hand hat. Vom Gesamt­ ton besonders der letzten Terzine her sonntags dachte ich an gott wenn wir liest es sich allerdings als Satire auf mit dem autobus die stadt bereisten. Gottes Bedeutungslosigkeit: "unend­ am löschteich an der straße stand lich klein & lachte oder schlief"; denn ein trafohaus & drei & vierzig die Stellung des "lachte" verbietet es kabel kamen aus der luft in dieses hier, dieses Lachen Gottes als Triumph haus aus hart gebrannten ziegelsteinen; über seine Feinde zu interpretieren. So dort zeugt das Gedicht zwar von einer zwanglosen, unbekümmerten neuen im trafo an der straße wohnte gott. ich sah Redeweise über Gott; aber als religiös wie er in seinem nest aus kabel enden ist es nicht einzuordnen. hockte zwischen seinen ziegelwänden Eine Spur von religiöser Fragehaltung ohne fenster dort am grund klingt hingegen in "Die Grablegung" im dunkel an der straße hinter von Hans Magnus Enzensberger an, der einer tür aus stahl keineswegs als Autor religiöser Lyrik bekannt ist, aber in einem seiner letzten

19 Lutz Seiler: pech & blende. Gedichte. Frankfurt 2000, 42. 14 Motte/Verborgene Religiosität

Gedichtbände eine bemerkenswerte religiösen Frage: Während A. Muschg Offenheit zeigt, die das Stichwort von ein falsches Religionsverständnis schil­ einer neuen Religiosität in der Literatur dert und alle Verweise auf eine tiefere möglicherweise mit begründet. Religiosität ausklammert, lässt A. Stad­ ler seine Figuren in einem katholischen Eine sterbliche Hülle, Raum agieren und Einzelne gegen so heißt es, Unrecht und Gleichgültigkeit kämp• aber was war drin? fen. H.-J. Ortheil legt dem Vater ein Die Psyche, offenes Bekenntnis seiner christlichen sagen die Psychologen, Grundgesinnung in den Mund, und R. die Seele, Rothmann verweist auf den uralten die Seelsorger, Zusammenhang vom Schönen und die Persönlichkeit, Göttlichen. Die drei Gedichte von sagen die Personalchefs. Autoren der verschiedenen Generatio­ nen dokumentieren unterschiedliche Dazu noch die Anima, Redeweisen über Gott und Mensch: L. die Imago, der Dämon, Seidler satirisch abwertend, H.M. En­ die Identität, das Ich, zensberger bescheiden reflektierend und das Es und das Überich. R. Rothmann leidenschaftlich fragend. Der Schmetterling, der sich aus diesem Gedrängel Insgesamt ist das Ergebnis bescheiden. erheben soll, Das gilt auch dann, wenn weitere gehört einer Art an, Werke analysiert würden. Bereits 1997 von der wir nichts wissen. 20 hat Brigitte Schwens-Harrant in ihrer Studie "Erlebte Welt - Erschriebene Hier ist die uralte Frage nach Wesen Welten" das Problem an einer Reihe und Sitz der Seele thematisiert, die bekannter österreichischer Romane auch die Wissenschaften der Gegen­ untersucht. Ein Zitat aus ihrer Zusam­ wart nicht gelöst haben. Dass das Phä• menfassung schließt diesen Beitrag ab nomen den Menschen stark berührt, und bietet einen Ausblick auf weitere davon zeugen die Reflexion des lyri­ Forschungen: sches Ichs angesichts einer "Grable­ Außer bei MERKEL, FRISCHMUTH und gung" über die innerste Wesenheit des KÖHLMEIER (und HENISCH, der Pepi Menschen und die Fülle der Umschrei­ auf mystische Gottesnamensuche schickt) bungen für dieses Geheimnis. Alle Fra­ ist "Gott" kein Thema, weder als an- noch gen münden ganz bescheiden in das als abwesender. Es gibt keine Erfahrungs­ Bild vom Schmetterling, das von jeher weisen, die ihn erleben lassen. Das "Ge­ als Symbol für die Seele gilt21 • heimnisvolle" wird nie als Person, als Ge­ genüber benannt. Entsprechend unergiebig Schlussbemerkungen wäre hier ein Gespräch von Literatur und Die wenigen Beispiele stehen stellver­ Theologie über Gottesbilder. Was erfahren tretend für verschiedene Zugänge zur wird, bekommt keinen Namen. Das kann

20 Hans Magnus Enzensberger, Die Grablegung, in: Kiosk. Neue Gedichte, Frankfurt a. M. 1995, 129. 21 Vgl. dazu Magda Motte, "Der Verwandlung sichtbarstes Zeichen" - Die Schmetterlingsmetaphorik im Werk der Nelly Sachs, in: Michael KesslerlJürgen Wertheimer (Hg.), Nelly Sachs - Neue Interpreta­ tion, Tübingen 1994, 179-202. - Vgl. bes.: der griech. Name für Schmetterling psyche ist wortiden­ tisch mit ,Lebensprinzip', ,Seele'. Motte/Verborgene Religiosität 15

eine große Chance sein, zunächst einmal nicht immer zu benennen - sondern (seine dem Erleben Raum zu geben. Die Theologie Spuren) auch in anders Benanntem zu ent­ muß in einem Gespräch über solche Erfah­ decken. Die Literatur ist Ausdruck einer rungsweisen den Mut aufbringen, Gott Suche. 22

22 Brigitte Schwens-Harrant, Erlebte Welt - Erschriebene Welten. Theologie im Gespräch mit österreichi• seher erzählender Literatur der Gegenwart, Innsbruck/Wien 1997, 248f.

Literaturliste (Auswahl) Quellen Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt 1992 Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt a. M. 1995 Barbara Frischmuth: Kopftänzer. Roman. Salzburg 1984 Dieter Forte: Der Junge mit den blutigen Schuhen. Roman. Frankfurt 1995 Franz Fühmann: Meine Bibel. Essay. In: Die Schatten. Hamburg 1986 Ulla Hahn: Das verborgene Wort. Roman. München/Stuttgart 2001 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt 1994 Christoph Hein: Horns Ende. Roman. Berlin/Weimar 1985 Von allem Anfang an. Berlin 1997 Gert Hofmann: Der Blindensturz. Darmstadt/Neuwied 1985 Thomas Hürlimann: Fräulein Stark. Novelle. Zürich 2001 Bodo Kirchhof!: Olmayra Sanchez und ich. In: Feme Frauen. Erzählungen. Frankfurt 1987 Michael Köhlmeier: Spielplatz der Helden. Roman. München 1988 Reiner Kunze: Sensible Wege. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1969 Inge Merkei: Die letzte Posaune. Roman. Salzburg 1985 Das große Spektakel. Roman. Salzburg 1990 Adolf Muschg: Das gefangene Lächeln. Eine Erzählung. Frankfurt 2002 Sutters Glück. Roman. Frankfurt 2001 Hanns-fosef Ortheil: Lo und Lu. Ein Vaterroman. München 2001 Markus Orths: Corpus. Roman. Frankfurt 2002 Patrick Roth: Riverside. Christusnovelle. Frankfurt 1991 Corpus Christi. Frankfurt 1996 Die Nacht der Zeitlosen. Frankfurt 2001 Ralf Rothmann: Stier. Roman. Frankfurt 1991 Wäldernacht. Roman. Frankfurt 1994 Milch und Kohle. Roman. Frankfurt 2000 Gebet in Ruinen. Gedichte. Frankfurt 2000 Arnold Stadler: Ich war einmal. Roman. Salzburg und Wien 1989 Feuerland. Roman. Salzburg und Wien 1992 Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Roman. Salzburg und Wien 1994 Ein hinreissender Schrotthändler. Roman. Köln 1999 "Die Menschen lügen. Alle" und andere Psalmen. Frankfurt 1999 Arno Surminski: Malojawind. Eine Liebesgeschichte. Hamburg 1988 : Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt 1998

Sekundärliteratur Paul Konrad Kurz: Die Vernunft der Dichter. In: Stimmen der Zeit, 10/1999, 696-708 Paul Konrad Kurz: Gott in der modemen Literatur. München 1997 Karl-fose! Kuschel: Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 1997 Georg Langenhorst: Theologie und Literatur 2001.ln: Stimmen der Zeit, 2/2001, 121-132 Magda Motte: Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart. Mainz 1997 Die Rede von Gott in der modemen Literatur. In: Spuren zum Geheimnis, hg. von Thomas Schreijäck. Ostfildern 2000, 13-52 "Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit". Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2003 Brigitte Schwens-Harrant: Erlebte Welt - Erschriebene Welten. Theologie im Gespräch mit österreichiseher erzählender Literatur der Gegenwart. Innsbruck/Wien 1997