Verborgene Religiosität Ist Gegenwärtige Literatur Für Glaubensfragen (Noch) Sensibel?

Verborgene Religiosität Ist Gegenwärtige Literatur Für Glaubensfragen (Noch) Sensibel?

ThPQ 152 (2004) 3-15 3 MAG DA MOTTE Verborgene Religiosität Ist gegenwärtige Literatur für Glaubensfragen (noch) sensibel? Solange die europäische Kultur noch markant christlich geprägt war, fanden explizit reli­ giöse Themen auch in der Literatur ihren deutlichen Niederschlag. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich diese Situation drastisch verändert. Ja, in der Gegenwartsliteratur sind religiöse Themen überhaupt nur mehr marginal vertreten. Die renommierte Litera­ turwissenschaftlerin und Theologin Magda Motte gibt in ihrem Aufsatz einen orientie­ renden Überblick, bei welchen Autoren und Autorinnen Religion eine Rolle spielt. Ihr Aufsatz schließt mit einer aufschlussreichen Deutung: Obwohl "Gott" nur noch selten ein Thema ist, bleibt Literatur offen für die Suche nach den verlorenen Dimensionen von Transzendenz. (Redaktion) Von Jahr zu Jahr wird die Frage nach ten, als religiöse interpretiert wurden, Spuren des Religiösen in der Literatur was Kritiker wie Jens Jessen in seinem immer brisanter. Das unaufhaltsame Bericht über den Kongress "Autono­ Schwinden des jüdisch-christlichen mie und Verantwortung - Religion und Gottesglaubens, der Rückzug zahlrei­ Künste am Ende des 20. Jahrhunderts" cher Bürger aus kirchlichen Bindun­ bereits 1995 in Berlin zu ironischen gen, das Desinteresse an Religion und Kommentaren veranlasste: Kirche vor allem bei der jungen Gene­ Sie zogen durchs weite Kunstgelände und ration und das Ausweichen vieler auf apportierten alles, was irgend als religiös eine vage, oft sentimentale individuell verstanden werden könnte. Es war ein gestaltete Religiosität bilden kaum edler und lächerlicher Wettstreit. Jeder einen Nährboden für die Gestaltung wollte von seinem Feld die meisten Funde religiöser Fragen in der Literatur. mitbringen ... t So nimmt es nicht wunder, dass in den Bis heute haben sich diese Fragen nicht letzten vierzig Jahren der Begriff des erledigt. Seit neuestem wird zudem Religiösen immer mehr erweitert, ja von Literaturkritikern und Religions­ aufgeweicht wurde und alle Texte, die pädagogen eine Wiederbelebung reli­ Grenzfragen des Lebens wie Suche giöser Themen beziehungsweise ein nach dem Ich, Liebe und Beziehungs­ neues unbefangenes Reden von Gott konflikte zwischen Generationen und festgestellt. 2 Doch bleibt zu fragen: Ist Geschlechtern, Schuld und Versöh• das wirklich so? Was verstehen die Re­ nung, Krankheit und Tod thematisier- zensenten unter "religiös"? Welches li- I Jens Jessen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.1995, 18. 2 Zum Beispiel von Thomas Macho, UUa Berkewicz, Arnold Stadler in: "Literaturen", hg. von Jan Bürger!Hanna Leitgeb/Sigrid Löffler, 11/02; Paul Konrad Kurz in: Die Vernunft der Dichter. In: StdZ 10/1999,124. Jg.; ders., Göttliches Jetzt, Du Wir. Die Wiederentdeckung des Heiligen, CiG 43 u. 44/02, 54. Jg. u.a. - Siehe auch: Ursula Homann, Welche Rolle spielt Gott in der modemen Literatur. In: http://ursulahomann.de/WelcheRoliespieltGottInDerModernenLiteratur/kapOOl-0015.-Vgl. Bei­ trag der Verf. "Wunsch oder Wirklichkeit? - Religiöse Tendenzen in der Literatur des 21. Jahrhun­ derts". HK 3/2003,138-143. 4 Motte/Verborgene Religiosität terarische Niveau erreichen diese Wer­ ten zur Reflexion an. Zwar stellen sie ke? Ist die Feststellung mehr Wunsch gelegentlich die Erfahrung des Hinge­ als Wirklichkeit? ordnetseins auf vorgegebene Ordnun­ Deshalb ist es notwendig, zunächst gen und Gesetze dar3, gehen aber nicht den Begriff "religiös" näher zu bestim­ über das Sichtbare hinaus, öffnen kein men, auch wenn eine genaue Begriffs­ Fenster mit Blick auf eine andere, definition nahezu unmöglich ist (1), größere Welt, sondern bleiben im Ge­ sodann den Autorenkreis zu struktu­ häuse des begrenzten, rein innerwelt­ rieren (2), um schließlich an einigen lieh menschlichen Erfahrungsraums. Beispielen der deutschsprachigen Ge­ Aus vielen klingt die Zuversicht, dass genwartsliteratur die Sachlage zu ver­ der Mensch mit seinen Kräften eine anschaulichen. gute Welt, das Paradies, schaffen könn• te, wenn sich nur die Verhältnisse än• 1. Kategorisierung der Literatur unter derten. All diese Texte sollte man nicht "religiösen" Aspekten als "religiöse" bezeichnen, auch nicht als "latent" oder "anonym" religiöse, Bei der Suche nach religiösen Ver­ sondern als existenzielle oder ethische. weisen oder Motiven in literarischen Sie verharren letztlich im Horizonta­ Texten dürfte klar sein, dass man len, im Innerweltlichen, im Vorraum grundsätzlich alle Werke in den Blick des Glaubens. "Die Sinnfrage ist nicht nehmen kann, die sich ernsthaft mit durchweg Religion", sagte Kardinal menschlichem Schicksal und der Sinn­ Karl Lehmann 1995 auf einem Kongress frage befassen. Im Speziellen aber wird in Berlin.4 Diese Einschränkung gilt man Bücher untersuchen, die mehr auch dann, wenn die literarischen Tex­ oder weniger deutlich existenziell, reli­ te biblische Motive oder liturgisch giös oder christlich ausgerichtet sind. geprägte Metaphern zitieren. Hier wird mit Bedacht zwischen diesen Die meisten literarisch bedeutsamen drei Begriffen unterschieden, die nicht Werke unserer Zeit gehören in diese identisch sind, oft aber synonym ge­ Kategorie, selbst dann, wenn sie sich braucht werden. mit Relikten einer christlichen Soziali­ sation auseinandersetzen, wie zum Bei­ Die ethisch-existenzielle Ebene spiel die Werke von Barbara Frischmuth, Zu dieser Gruppe gehören Texte mit Norbert Gstrein, Günter Grass, Bodo allgemein menschlichen Themen wie Kirchhof!, Robert Menasse, Adolf Muschg, der Frage nach dem Ich und dem Du, Sten NadoIny, Christoph Ransmayr, Mar­ der Einsicht in persönliches Versagen, tin Waiser u.v.a. der Sorge für die Umwelt, dem Teilen der Güter, dem Einsatz für Gerechtig­ Die transzendental-religiöse Dimension keit und Frieden, der Krankheit und Wenn jedoch der Mensch in der Erfah­ dem Tod. Sie führen den Leser an zent­ rung von Liebe und Gemeinsamkeit, rale Realitäten unserer Welt und an von Angst und Einsamkeit, von Leid Fragen des persönlichen Lebensent­ und Tod an die Grenzen seiner Er­ wurfs heran. Sie zeigen diese und lei- kenntnis- und Erlebnisfähigkeit ge- , Vgl. Hans Waiden/eis, Artikel Religion(en), in: Christian Schütz (Hg.): Praktisches Lexikon der Spiri­ tualität. Freiburg/Basel/Wien 1988, Sp. 1050f. • Vgl. Karl Lehmann/Hans Maier (Hg.), Autonomie und Verantwortung. Religion und Künste am Ende des 20. Jahrhunderts. Regensburg 1995,44 u. 138. Motte/Verborgene Religiosität 5 führt wird, wenn er zudem die Erlö• und zwar in seiner Erniedrigung wie in sungsbedürftigkeit unserer Welt nicht seiner Erhöhung.6 In diesem Sinne fin­ durch Selbsterlösungsprogramme be­ den sich auch unter den neueren Titeln antwortet und das Ich nicht zum Mit­ etliche, denen diese Ausrichtung zuge­ tel- und Zielpunkt des Universums sprochen werden kann. Allerdings ist stilisiert, sondern diese Erfahrungen der Befund unter den literarisch befrie­ transzendiert, das heißt, sich auf einen digenden Werken mager, zu nennen letzten, alles umfassenden Sinngrund sind Titel zum Beispiel von Johannes verwiesen fühlt, von dem er sich ab­ Kühn, Pa trick Roth, Hanns-Josef Ortheil, hängig weiß und dem er sein Leben Arnold Stadler. verdankt, so deuten die Menschen die­ se Verwiesenheit auf etwas Höheres Probleme der Einordnung von altersher als "Religion". Eine sol­ Was sich definitorisch relativ klar ab­ che Erfahrung führt meistens zum grenzen lässt, erweist sich im Umgang staunenden Schauen, zur meditativen mit einzelnen Texten als problematisch. Betrachtung, oft auch zum Lobpreis Bei der Kategorisierung einzelner Texte oder zur Anbetung. Texte, die davon wird deutlich, dass eine solche Zuord­ etwas expressis verbis deutlich ma­ nung weder vom Vokabular noch von chen, können als "religiöse" eingestuft der Intention des Autors allein ab­ werden. hängt, sondern dass als entscheidender In einigen Werken zum Beispiel von Faktor das Verständnis des Lesers hin­ Tankred Dorst, Barbara Frischmuth, Ulla zukommen muss. Daraus ergibt sich Hahn, Peter Handke, Thomas Hürlimann, allerdings nicht selten die Gefahr einer Michael Köhlmeier, Reiner Kunze, Inge Vereinnahmung oder eines Miss­ Merkel, Ralf Rothmann, Ernst Stadler fin­ brauchs literarischer Texte hinsichtlich den sich solche Passagen. religiöser Tendenzen. Die christliche Botschaft 2. Überblick über die Publikationen Kaum jemand wird heute die bekennt­ der letzten vierzig Jahre nishafte Behandlung von Glaubenspro­ blemen in literarischen Werken erwar­ Seit der Absage an die sogenannte ten, wie sie seinerzeit christliche Au­ christliche Literatur vor fast 40 Jahren toren darstellten. Vielleicht kann man ist die Suche nach Spuren des Religiö• wie Heinz Michael Krämer das Christli­ sen in der zeitgenössischen deutsch­ che eines Textes so umschreiben, dass sprachigen Literatur ein wichtiges er "unter dem Eindruck der Geschichte Thema der Motivforschung, und von Jesu von Nazaret [ ... ] Menschenge­ Jahrzehnt zu Jahrzehnt wird eine Fülle schichte ebenso inszeniert und damit an Publikationen vorgelegt, die mehr die Erfahrungen des Lesers in spezi­ oder weniger auf die Religion im All­ fisch christlichem Sinne organisiert". 5 gemeinen und den christlichen Glau­ Zudem gibt es nicht den christlichen ben im Besonderen Bezug nehmen. Text, sondern höchstens Werke, in de­ Allerdings wird solchen Untersuchun­ nen das Christusereignis spürbar wird, gen gelegentlich der nicht unberechtig- 5 Heinz Michael Krämer, Elemente theologischer Ästhetik, in: Anneliese Werner (Hg.), Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein. München/Mainz 1982, 110. , Vgl. Siegfried Schröer, Jugendliteratur

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