Literarische Imagination Und Soziologische Zeitdiagnose Im Wiedervereinigten Deutschland
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LITERARISCHE IMAGINATION UND SOZIOLOGISCHE ZEITDIAGNOSE IM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLAND Untersuchungen zur Funktion von ›Welthaltigkeit‹ im deutschsprachigen Gegenwartsroman am Beispiel von Ingo Schulzes Simple Storys von Uwe Schumacher Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Geschichte Freie Universität Berlin, 1994 Submitted to the Graduate Faculty of Arts and Sciences in partial fulfillment of the requirements for the degree of PhD in German Literature University of Pittsburgh 2008 UNIVERSITY OF PITTSBURGH ARTS AND SCIENCES This dissertation was presented by Uwe Schumacher It was defended on April 18th, 2008 and approved by Sabine von Dirke, PhD, Associate Professor John Lyon, PhD, Assistant Professor Randall Halle, PhD, Klaus W. Jonas Professor Stephen Brockmann, PhD, Professor Dissertation Director: Sabine von Dirke, PhD, Associate Professor ii Copyright © by Uwe Schumacher 2008 iii Sabine von Dirke, PhD, Associate Professor LITERARISCHE IMAGINATION UND SOZIOLOGISCHE ZEITDIAGNOSE IM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLAND Untersuchungen zur Funktion von ›Welthaltigkeit‹ im deutschsprachigen Gegenwartsroman am Beispiel von Ingo Schulzes Simple Storys Uwe Schumacher, PhD University of Pittsburgh, 2008 This dissertation revitalizes the sociological approach to literature in the light of the ‘cultural turn’ in sociology represented by Pierre Bourdieu, Ulrich Beck, Gerhard Schulze and others – and demonstrates its potential for contemporary German-language literature. Advocating the decisive role of the social functions of cultural products, my investigation starts from the thesis that, with the electronic mass media acquiring a dominant role in the cultural sphere, a functional differen- tiation has taken place, forcing authors of artistic aspiration to focus on the media-specific strengths and benefits of literature as text while at the same urging them to adjust to the con- sumption patterns of mass entertainment – not least because literature as institution is increas- ingly permeated by the laws of a globalized market. The result is, as I argue, a neo-realism which appeals on the surface to readers looking for intense, authentic experiences of “reality” and shifts its more challenging artistic dimensions to a deeper level of symbolism, allusions and structural constellation. iv Sabine von Dirke, PhD, Associate Professor My inquiry into the social functions of this new realistic paradigm is carried out by ex- posing the literary representation of the transforming East-German society after reunification, as represented in Ingo Schulze’s novel Simple Storys, to a comparison with the sociological diagno- sis of it. This comparison does not subjugate the novel to external, non-literary criteria; instead, it demonstrates the specific features of the literary “grip on reality” as opposed to the scientific one and relates them to the competition with the mass media. On the individual level, two main social functions of contemporary literature-as-art finally emerge: to work through the cultural knowledge of its readers and their modes of experience, to test their limits and to transcend them partially – and to do the same with the elements of identity bound up with this cultural knowledge, thus facilitating a partial self-transcendence which gives room for suppressed needs. On a more general level, these functions keep reader’s cultural knowledge and personal identities flexible enough to adjust to an ever-changing social environ- ment. At the same time, they provide the subjective basis for critical distance and creative inno- vation. v INHALTSVERZEICHNIS I. Einleitung: ............................................................................................................. 1 A. Problemstellung und Erkenntnisinteressen ..................................................... 1 B. Theoretisches Konzept ....................................................................................... 29 1. Ein literatursoziologischer Ansatz .................................................................. 29 2. Ästhetische Vorannahmen .............................................................................. 55 C. Methode und Vorgehensweise .......................................................................... 70 II. Ingo Schulzes Roman ›Simple Storys‹ ....................................................... 90 A. Formale Grundzüge der literarischen Darstellung ......................................... 94 B. Allgemeine inhaltliche Selektionskriterien ...................................................... 110 C. Systemwechsel und politische Identität ............................................................ 187 D. Arbeitswelt und ökonomische Lebensbedingungen ......................................... 211 E. Der Umgang mit der Bürokratie ....................................................................... 274 F. Konsum .............................................................................................................. 294 G. Liebe und Partnerschaft .................................................................................... 308 H. Familie: Kinder und Alte ................................................................................... 411 I. Wertewandel, Welt- und Menschenbild ............................................................. 432 III. Zusammenfassung der Ergebnisse .............................................................. 450 IV. Zitierte Literatur ................................................................................................ 477 A. Primärliteratur: Texte Ingo Schulzes .................................................................. 478 vi B. Sekundärliteratur ................................................................................................. 479 1. Rezensionen und Wissenschaftliche Sekundärliteratur zu ›Simple Storys‹ ........ 479 2. Sonstige Sekundärliteratur ................................................................................... 481 vii I. Einleitung: A. Problemstellung und Erkenntnisinteressen: Kaum jemand wird bestreiten, dass die Gegenwartsliteratur den lebendigsten Kontakt mit der Institution Literatur überhaupt ermöglicht: Hier sind künstlerische Texte, die für uns als Zeitge- nossen geschrieben und vermarktet wurden, die auf unsere Bedürfnisse zielen und die unter den Bedingungen und als Reaktion auf die uns aktuell umgebende gesellschaftliche und kulturelle Situation entstanden sind – eine Identität des historischen Entstehungs- und Rezeptionskontextes, die auch den historischen Entwicklungsstand der Sprache betrifft und den interpretativen Zugang zu den Texten nicht unerheblich erleichtern sollte. Nur die Gegenwartsliteratur können wir ganz in ihrem lebendigen kommunikativen Kontext kennen lernen; Produktion und Rezeption, Autor, Lektor, Verleger, Multiplikatoren und Leser sind noch untrennbar mit den Texten verbunden: Sie alle sind Teil einer ›Literaturszene‹, wir können die Autoren bei Lesungen persönlich erleben und in ›Werkstattgesprächen‹ nach ihren Produktionsbedingungen befragen, die Werke werden von ihren Verlagen beworben, werden auf Buchmessen präsentiert und sind Gegenstand von Rezensi- onen des Feuilletons sowie von Interviews und Diskussionsrunden in verschiedenen Medien – und schließlich gewinnen sie manchmal auch mehr oder weniger prestigeträchtige Preise. Kurz: die Literatur ist unmittelbar als ein Teil des gesellschaftlichen Lebens erfahrbar. Man könnte also meinen, die Literaturwissenschaft (und a forteriori die Literaturdidaktik und der schulische Lite- raturunterricht) müsste gerade in der Gegenwartsliteratur einen prädestinierten Untersuchungsge- genstand besitzen. 1 Dass dies lange Zeit nicht so war und bis heute trotz eines sprunghaft gewachsenen Inte- resses erst ansatzweise so ist, hat natürlich ebenfalls seine Gründe: Die mangelnde zeitliche Dis- tanz und die erst geringe Wirksamkeit von Selektionsprozessen der Kanonisierung1 sorgen dafür, dass das Feld der zeitgenössischen Veröffentlichungen sich noch in einer kaum zu bewältigenden Breite und vergleichsweise unstrukturierten Vielfalt präsentiert, in der nachhaltige Entwick- lungstendenzen nicht immer klar von den flüchtigen Trendmeldungen der Feuilletons separiert werden können und in der das Originelle, Typische und Dauerhafte in der großen Menge des Konventionellen und Modisch-Saisonverhafteten nur schwer zu identifizieren ist (Durzak 2006a, 834).2 Das gilt besonders in einer Zeit wie der unsrigen, in der einerseits die Literaturgeschichte nach dem Ende der Avantgarden und mit Beginn des postmodernen Eklektizismus nicht mehr von einer kleinen Zahl stilistisch klar identifizierbarer Strömungen geprägt ist und andererseits die Flüchtigkeit des Literaturmarktes unter dem Druck beschleunigten Umsatzes erheblich ge- stiegen ist: Die Zahl der Titel steigt, aber auf Kosten ihrer „Nutzungsintensität“ (Greiner 2000, 233ff)3, und dem gründlich (das heißt mehrfach) lesenden Literaturwissenschaftler fällt es zu- nehmend schwerer, auch nur die wichtigsten Neuerscheinungen eines Halbjahres zur Kenntnis zu nehmen – geschweige denn sie kompetent zu bewerten. Hinzu kommt, dass es weder eine doku- mentierte Wirkungsgeschichte noch eine Tradition literaturwissenschaftlicher Interpretationen gibt, auf deren Fundamente man bauen und von deren Unzulänglichkeiten man sich in seiner ei- genen Deutung abstoßen könnte. Stattdessen dominiert der Einfluss des Feuilletons, das mit sei- ner unmittelbaren Eingebundenheit in seine Zeit, deren konkurrierende Interessen, polarisierende 1 Vgl.