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Zeitschrift für Germanistik

Neue Folge XXVI – 3/2016

Herausgeberkollegium

Steffen Martus (Geschäftsführender Herausgeber, ) Alexander Košenina (Hannover) Erhard Schütz (Berlin) Ulrike Vedder (Berlin)

Gastherausgeberin

Katja Stopka ()

Sonderdruck

PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford · Wien Inhaltsverzeichnis

Schwerpunkt: Neue Materialien Literarische Schreibprozesse am Beispiel der Geschich­- ­­te des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ Isabelle Lehn – „Wo das Glück sicher wohnt.“ (IfL) / Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL) Politische Kontrolle und Zensur am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ 622 Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stop- ka – Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Eine Institution im Wandel von vier Dossiers Dekaden DDR-Literaturgeschichte. Vorwort 485 icola aminski Katja Stopka – Rechenschaftsberichte und Se­ N K – (1616– mi­narprotokolle, biographische Erzählungen 1664). Zum 400. Geburtstag des „Unsterb- und Zeitzeugenberichte. Eine Kritik zur Quel- lichen“ 634 lenlage des Instituts für Literatur „Johannes Philipp Böttcher – „Der Herold des deutschen R. Becher“ 502 Bürgerthums“. Zum 200. Geburtstag Gustav Freytags (1816–1895) 638 Isabelle Lehn – „Von der Lehrbarkeit der litera- rischen Meisterschaft“. Literarische Nachwuchs- Stephan Braese – „Ich bin bei weitem der kon- förderung und Begabtenpolitik am Institut für ventionellste Schriftsteller, den ich lesen kann“. Literatur „Johannes R. Becher“ 514 Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Hildeshei- mer (1916–1991) 646 Hans-Ulrich Treichel – Ein Wort, geflissent- lich gemieden. Dekadenz und Formalismus am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ 530 Konferenzberichte Maja-Maria Becker – „Was hat das mit sozia­ listischer Lyrik zu tun?“. Die Bedeutung der Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Se­- Lyrik am Institut für Literatur „Johannes R. Be- mantiken. Praktiken. Materialität (Workshop in Mar- cher“ in der Ära Maurer 549 bach a. N. v. 14.–16.1.2016) (András Lempel) 652 Juliane Zöllner – Zur Schriftkultur am Insti- Durch Worte in die Zeit verzweigt. Perspektiven tut für Literatur „Johannes R. Becher“. Eine Lek- auf das Werk Marcel Beyers (Internationale Ta- türe ausgewählter Absolventenarbeiten aus dem gung in Wuppertal v. 6.–8.11.1015) (Michael Eg- Direktstudienjahrgang 1976–1979 567 gers, Christof Hamann) 654 Sascha Macht – Die Einflussnahme des DDR- lyrik.markt.heute. Über den Warenwert von Ge- Staatssicherheitsdienstes auf den Studienalltag am dichten (Kolloquium in Mainz am 29.1.2016) Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ 583 (Annedore Friedrich, Carmen Hertwig) 658

Katja Stopka – Insel der Toleranz? Studieren Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwi- und Schreiben in den 1980er Jahren am Institut schen Journalismus und Literatur (Interdiszipli- für Literatur „Johannes R. Becher“ 602 näre Tagung in Graz v. 26.–28.11.2015) (Miriam Leitold) 660 484 Inhaltsverzeichnis

Besprechungen Lucas Marco Gisi (Hrsg.): Hand- buch. Leben – Werk – Wirkung (Erhard Schütz) 693 Tobias Büchi: Fortifikationsliteratur des 16. und Eberhard Sauermann, Hermann Zwerschi- 17. Jahrhunderts. Traktate deutscher Sprache im na (Hrsg.): . Sämtliche Werke und europäischen Kontext (Jörn Münkner) 664 Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch- Dirk Niefanger, Gunnar Och, Birka Siw­ kritische Ausgabe mit Faksimiles der hand- czyk (Hrsg.): Lessing und das Judentum. Lektü- schriftlichen Texte Trakls (Martin Vejvar) 694 ren, Dialoge, Kontroversen im 18. und 19. Jahr- Torsten Voss: Körper, Uniformen, Offiziere. hundert (Daniel Zimmer) 666 Soldatische Männlichkeiten von Grimmelshau- Beate Hochholdinger-Reiterer: Kostümie- sen und J. M. R. Lenz bis Ernst Jünger und Her- rung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfin- mann Broch (Inge Stephan) 697 dung der Aufklärung (Tamara Fröhler) 668 Julia Benner: Federkrieg. Kinder- und Jugend- Stefan Greif, Marion Heinz, Heinrich literatur gegen den Nationalsozialismus 1933– Clairmont (Hrsg.): Herder Handbuch (Kaspar 1945 (Inger Lison) 698 Renner) 670 Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik Andreas Döhler (Hrsg.): Johann Wolfgang im Kontext 1750–1950 (Elisabetta Mengaldo) 699 Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Aus­­ Hans Peter Herrmann: Krisen. Arbeiten zur gabe, Bd. VI/1: 1817–1818; Edith Zehm Univ­ersitätsgeschichte 1933–2010 am Beispiel (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. Freiburgs i. Br. (Ralf Klausnitzer) 703 Historisch-kritische Ausgabe, Bd. VII: 1819– 1820; Wolf­gang Albrecht (Hrsg.): Johann Jürgen Lehmann: Russische Literatur in Wolfgang Goethe: Tagebücher. Historisch-kriti- Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschspra- sche Aus­­gabe, Bd. VIII: 1821–1822 (Alexander chige Schriftsteller und Kritiker vom 18. Jahrhun­ Nebrig) 675 dert bis zur Gegenwart (Evi Zemanek) 706

Michael Gamper, Ingrid Kleeberg (Hrsg.): Hans Otto Horch (Hrsg.): Handbuch der Größe. Zur Medien- und Konzeptgeschichte per- deutsch-jüdischen Literatur (Cord-Friedrich Berg- sonaler Macht im langen 19. Jahrhundert (Caro- hahn) 709 lin Rocks) 678 Jörg Dünne, Andreas Mahler (Hrsg.): Hand- Michael Gamper: Der große Mann. Geschich- buch Literatur & Raum (Jörg Döring) 713 te eines politischen Phantasmas (Erika Thomal- Ingo Schneider, Martin Sexl (Hrsg.): Das la) 681 Unbehagen an der Kultur (Kai Fischer) 716

aniel ilpert D H : Magnetisches Erzählen. E.T. A. Said El Mtouni: Exilierte Identitäten zwischen Hoffmanns Poetisierung des Mesmerismus (Bas­ Akkulturation und Hybridität (Arnhilt Johanna tian Dewenter) 683 Hoefle) 717 ven römsel S B : Exzentrik und Bürgertum. Rolf Parr, Jörg Wesche, Bernd Bastert, Car- Hous­ton Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer la Dauven-von Knippenberg (Hrsg.): Wieder- Intellektueller (Cord-Friedrich Berghahn) 686 holen / Wiederholung (Carola Hilmes) 719 Kai Kauffmann: . Eine Bio- graphie; Birgit Wägenbaur, Ute Oelmann (Hrsg.): „Von Menschen und Mächten“. Stefan Informationen George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Brief- wechsel 1892–1933 (Claude Haas) 690 Eingegangene Literatur 723 706 Besprechungen

semesters verfügten Ministerium und Rektorat, daß und durch mich. Sie werden sich denken können, die Seminare neben einander gelegt werden, den daß Herr Professor Witkop und Herr Professor gleichen Schlüssel erhalten und ‚Deutsches Semi- Wilhelm etwas aus ihrer Ruhe gerissen waren. Die nar, Alte Abteilung‘ und ‚Neue Abt.‘ heißen sollten. Fakultät war jedenfalls zufrieden.“ Unter meiner Leitung geschah der Umzug. Aber die Ralf Klausnitzer Seminare liegen noch nebeneinander, sind nicht zu- sammengelegt. Die Büchereien sind getrennt, die Humboldt-Universität zu Berlin Direktorzimmer liegen dazwischen, der Schlüssel Philosophische Fakultät II ist der Gleiche. Nun wurden aber alle Kleinigkeiten Institut für deutsche Literatur wie Stempel, Inventuraufnahme usw. gleichmäßig D–10099 Berlin durchgeführt. Immer von Rektorat und Dekanat,

Jürgen Lehmann Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller und

Kritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2015, 417 S.

Schon die Absicht, die Spuren der russischen in der herung und Abgrenzung für den deutschen Rea- deutschen Literatur – im engeren Sinne: Erzähl- lismus. Viel konkreter gestaltet sich die Turgenev- prosa, Lyrik und Drama – seit den ersten Berüh- Rezeption jedoch z. B. bei M. v. Ebner-Eschen- rungen beider Kulturen zu verfolgen, ist ein sehr bach in der geschickten Bezugnahme der Erzäh- großes Vorhaben. Jürgen Lehmann geht weit lung Ob spät, ob früh auf Turgenevs wunderbare darüber hinaus: Er berücksichtigt überdies die Novelle Erste Liebe. Lehmann verweist darauf nur essayistische Rezeption, stellt Vermittlungsinstan- knapp, aber treffend. Geht man davon aus, dass zen vor und skizziert, in jede Epoche einführend, der Leser stets gleichermaßen reich belohnt wird, die politischen Rahmenbedingungen für den wenn er, solchen Hinweisen folgend, beide Er- Kulturtransfer. Schnell wird klar, dass das Eine zählungen nebeneinander liest, öffnet Lehmanns ohne das Andere unbefriedigend gewesen wäre, Buch unzählige Türen zu großem Lesevergnügen. hängt doch alles zusammen. Dass als Ergebnis Eine Herausforderung für eine Rezeptionsge- eine wohlgeordnete, höchst leserfreundliche und, schichte, die zugleich russische und deutsche Lite- trotz notwendiger Beschränkung, überaus lehrrei- raturgeschichte enthält, besteht darin, auf beiden che Studie vorliegt, ist eine große Bereicherung für Seiten kanonische und unbekanntere Autoren zu Germanistik, Slawistik und Komparatistik. integrieren, so dass am Ende die deutsche Literatur- Sogar noch weiter als im Untertitel angekün- geschichte erkennbar bleibt, aber in neuem Licht digt, geht Lehmann zurück, um die Rezeptions- erscheint. So widmet Lehmann den Reak­tionen ka- geschichte nachzuzeichnen. In Erinnerung ruft nonischer Autoren (wie Rilke, Kafka, Th. Mann, er, dass P. Fleming rund 50 Russland-Gedichte Brecht, Ch. Wolf, I. Bachmann, Th. Bernhard und verfasste und Grimmelshausen sich im Simpli- H. Böll) eigene Kapitel, erwähnt aber auch unzäh- cissimus wie später Goethe und Schiller auf den lige andere ‚produktive Rezipienten‘ wie W. Ber- vielgelesenen Reisebericht des Olearius stützt. gengruen oder U. Grüning. Ähnliches gilt für Sodann schildert er die „behutsame Annäherung Autoren von Reiseberichten: Lehmann behandelt in Literaturkritik und Dichtung zwischen 1800 nicht nur die Bekanntesten (L. Feuchtwanger und und 1885“, die in der zweiten Hälfte des Jahrhun- J. Roth), sondern stellt z. B. auch Armin T. Weg- derts tüchtig Fahrt aufnimmt, als Turgenev zur ners differenziertes Russland-Bild vor. Da auf der Orientierungsgröße für den deutschsprachigen Seite der rezipierten Autoren kontinuierlich Tols- (Spät-)Realismus wird. Lehmann hebt Fontanes toj und Dostoevskij im Zentrum stehen, werden Rezeption ausgehend von dessen (ambivalenten) sie – aus den Perspektiven verschiedener Epochen Äußerungen über Turgenev hervor und betont die – am ausführlichsten besprochen, doch verschafft Bedeutung dieser dichtungstheoretischen Annä- Lehmann neben Puškin, Gogol’, Cˇechov und

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Cvetaeva ge­rade auch verspätet rezipierten, in merhin zwischen evident-expliziten und implizit- der Sowjetunion tabuisierten Autoren, z. B. Man­ kaschierten Referenzen unterscheiden oder, unter del’­štam, Achmatova, Majakovskij, Solženicyn, Berufung auf die von R. Lachmann in Gedächt- Brodskij und Bulgakov, Aufmerksamkeit. nis und Literatur vorgestellten Modelle, zwischen Schwierig ist der doppelte Ausgleich von mehr Partizipation, Tropik und Transformation, die das und weniger Kanonisiertem, weil nachweisbare, Verhältnis zwischen Prä- und Posttext beurteilen ästhetisch reizvolle Referenzen oft bei Autoren zu als affirmatives Weiter- und Wiederschreiben, ad- finden sind, die die germanistische Literaturge- versatives Wider- oder spielerisches Umschreiben. schichtsschreibung in die zweite oder dritte Reihe Lehmann verzichtet auf Verwendung dieser und verwiesen hat, und umgekehrt der ‚Einfluss‘ auf anderer Systematiken. Selbst von „intertextuel- die Autoren der ersten Reihe oft schwer konkre- len Referenzen“ spricht er selten, stattdessen von tisierbar ist, zumal deren Originalität dadurch in „schöpferischer Aneignung oder Rezeption“ (für Zweifel gezogen würde. Deshalb geht Lehmann verschiedenste Formen von Intertextualität), von behutsam vor, wenn er für viele Autoren vorsichtig „Auseinandersetzung“ (meist, wenn paratextuelle „Affinitäten“ zu DostoevskijsVerbrechen und Stra- Kommentare oder essayistische Erörterungen zu fe konstatiert, etwa auch für Kafkas Der Proceß und einem Autor vorliegen) sowie von „Korresponden- Die Verwandlung. Zwar sind viele Dostoevskij- zen“ (oft für ursächlich ungeklärte ‚Entsprechun- Bezüge im Werk verschiedener Autoren schon be- gen‘). Den Begriff „Übersetzung“ behält er sich kannt – neben thematischen auch erzähltechnische für (wortgetreue oder freie) Übertragungen ins wie Döblins Polyphonie, die man über Bachtin auf Deutsche vor, denen er Beachtung schenkt, weil Dostoevskij zurückführen kann – , doch, liest man sie wichtigstes Vehikel der Literaturvermittlung Lehmanns Buch in Gänze, könnte der Eindruck und oft Vorarbeit für eine produktive Rezeption entstehen, fast die ganze deutsche Literaturge- sind. Lehmann erklärt gleich in seiner Einlei- schichte arbeite sich an diesem Autor ab. Nicht tung, dass er die von ihm verwendeten Begriffe haltbar wäre es freilich, alle Texte, die Schuld und nicht erörtern werde – damit muss man sich als Strafe behandeln, als Dostoevskij-Nachahmung Leser schlichtweg abfinden. So wäre es müßig, zu lesen. Ein Grundproblem benennt Lehmann hier all die Möglichkeiten aufzuzählen, wie man selbst wiederholt, hier bezogen auf Kafka: „Di- die „schöpferische Rezeption“ (z. B. durch weitere rekte Spuren einer dichterischen Aneignung […] Ausdifferenzierung der o. g. drei Alternativen von sind nur in Ansätzen nachweisbar […] nicht selten Lachmann) präziser beschreiben kann. Lehmanns ersetzt die Spekulation den exak­ten philologischen Verzicht, seine Studie auf eines der gängigen In- Nachweis.“ (S. 106). Dieses Manko auszugleichen, tertextualitätsmodelle zu gründen, mag in der Er- ist Lehmanns Ziel, und es ge­lingt ihm vielfach, fahrung wurzeln, dass erstens die Integration einer vermutete Referenzen nachzu­weisen. Systematik zusätzliche Herausforderungen an den Dabei ist terminologische Vorsicht geboten Aufbau eines Buches stellt, zweitens Theorien mit- angesichts der Schwierigkeit, verschiedenste Modi samt Terminologien den Blick auf die Prä- und der Berührung zwischen Werken präzise zu be- Posttexte stark perspektivieren oder gar ablenken, nennen. Die verfängliche Frage der Intentionalität und dies drittens viele der für dieses Buch ge- umschifft Lehmann. Bisweilen lässt er die Art der wünschten Leser abschrecken könnte. Ein vierter Beziehung zwischen fraglichem Prä- und Posttext Grund besteht sicher in der Schwierigkeit, die ter- in der Schwebe, indem er lediglich thematische minologisch-theoretisch heterogenen Vorarbeiten oder stilistische „Affinitäten“ feststellt. Auch ver- der Forschung zu synthetisieren. Angesichts der meidet er es, alternativ zur intentionalen Referenz von Lehmann behandelten Menge von Werken andere Erklärungen für Parallelen zu erwägen. versteht es sich von selbst, dass er sich weitläufig Will man nicht davon ausgehen, dass es auch zu- auf Forschung stützen muss und diese nicht in al- fällige Parallelen gibt, sind doch zumindest ideen- len Details ergänzen und korrigieren kann. Einen oder ästhetikgeschichtliche parallele Entwicklun- bestens sortierten Überblick über die Forschung gen bedenkenswert. Will man die problematische gibt übrigens die umfangreiche Bibliografie. Intention ignorieren, könnte man qua Rekurs Letztlich gelingt es Lehmann auf ansprechen- auf verschiedene Systematisierungsversuche im- de Weise, dem Leser in seiner Façon die Vielfalt

© Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI (2016), H. 3, S. 664–722 708 Besprechungen der Referenzen vor Augen zu führen. Gleichsam deutschsprachigen Raum“ und analysiert sie er- werden die Bedingungen, Prozesse, Akteure und hellend als „verordnete Aufnahme“. Da Ch. Wolf Medien des Kulturtransfers sichtbar, ohne dass und J. Bobrowski mit individuelleren Reaktionen Lehmann konsequent auf die Kulturtransfer- auf die russische Tradition und sowjetische Kul- forschung rekurrieren müsste. Auf jene Kapitel, turpolitik eigene Wege gehen, würdigt Lehmann welche die Übersetzungsgeschichte dokumentie- sie in eigenen Kapiteln. Erhöhte Aufmerksamkeit ren und Essays vorstellen (z. B. von Zweig, Lucács erfährt nun auch wieder die Gattung Lyrik, weil und Th. Mann, der mit Brecht zu den am ausführ- sich, dank kulturpolitischem ‚Tauwetter‘, eine lichsten behandelten Autoren zählt), trifft freilich neue Generation von DDR-Lyrikern den bislang das Problem, intertextuelle Referenzen entdecken tabuisierten russischen Symbolisten und Akmeis- und deuten zu müssen, nicht zu. Sie erlauben es, ten zuwendet. Lehmann zeigt, wie Texte, die zu- die explizite Auseinandersetzung in aller Klarheit nächst Übersetzungen waren, etwa bei S. Kirsch nachzuzeichnen. Ähnlich problemlos lassen sich (Blok, Achmatova), R. Kirsch (Mandel’štam, Ese-

Bühnenadaptionen (allen voran Heiner Müllers nin) und E. Erb (Brjusov, Cvetaeva u. a.) sich zu Bearbeitungen) beschreiben, die sich, selbst wenn innovativen (Nach-)Dichtungen entwickeln. Be- sie Änderungen gegenüber ihrem Prätext vorneh- sonders ausführlich bespricht Lehmann – gemäß men, immer als Posttexte verstehen. eigener Forschung dazu – Celans „aneignende Den Einfluss der russischen Literatur erachtet Rezeption Mandel’štams“, die weitläufigen Mo- Lehmann als so groß, dass er viele (vermeintliche) tivkorrespondenzen, die Orientierung an dessen Innovationen in der deutschen Literatur auf Ers- intertextueller Poetik sowie die Übernahme poe- tere zurückführt. So finden wir z. B. in Brechts tologischer Positionen. Anhand solcher Fälle zeigt Anmerkungen zu seiner Dramatisierung von Lehmann, wie die Rezeption russischer Literatur Gor’kijs Roman Die Mutter die erste ausgiebige zu poetologischer Innovation beitrug – wobei die Erörterung des „nicht-aristotelischen Theaters“. Resultate höchst unterschiedlich ausfallen, man Ausführlich diskutiert Lehmann die russischen vergleiche nur Celan und Rilke. Das letzte, nur Kontexte von Brechts Dramentheorie; beson- 10-seitige Kapitel gibt lediglich einen Ausblick ders erhellend sind die erstaunlich engen Bezü- auf die „Tendenzen und Perspektiven nach 1989“, ge zu den dramaturgischen Experimenten von macht jedoch mit Verweisen auf Ingo Schulze u. a. Tret’jakov und Mejerchol’d. Unklar ist hingegen, deutlich, dass hier einiges zu erforschen lohnt. in welchem Maß der russische Futurismus die Wer auf der Suche nach einem Dissertations- hiesige Avantgarde inspiriert hat. Da in diesem thema ist, wird in Lehmanns Buch vielfach fün- Fall keine „direkten Kontakte“ nachgewiesen dig werden. Wer gezielt an Referenzen auf rus- werden konnten, gehört dieses Kapitel leider zu sische Literatur im Werk eines einzelnen Autors den kürzesten. Erwähnung finden jedoch die interessiert ist, darf mit reichhaltiger Information Nachwirkungen Majakovskijs und Chlebnikovs rechnen. Wer aber Lehmanns Buch in Gänze liest, auf DDR-Autoren wie S. Kirsch und G. Kunert wird sowohl über die russische Literaturgeschich- sowie später auf A. Nitzberg. Zu Recht verweist te unterrichtet als auch mit einer neuen Perspek- Lehmann in diesem Kontext auf das Desiderat, tive auf die deutsche beschenkt. Lehmann gehört die Beziehungen zwischen Konkreter Poesie und zu den wenigen Wissenschaftler(inne)n mit der russischem Futurismus zu untersuchen. Doppelqualifizierung in Germanistik und Slawis- Zu den Phänomenen, die es ohne sowjetische tik, die ein Buch von solcher Spannbreite schrei- Vorbilder wohl nicht gegeben hätte, zählen so- ben können, das so umfängliche Kenntnisse und zialistische Erziehungs- und Aufbauprosa (z. B. dazugehöriges Urteilsvermögen erfordert. von A. Seghers, nach dem Vorbild von Gladkovs Zement) und womöglich auch die sozialistische Evi Zemanek Landlebenliteratur (orientiert an Šolochovs Neu- Albert-Ludwigs-Universität Freiburg land unterm Pflug). Die Rezeption russischer und Deutsches Seminar sowjetischer Literatur in der SBZ und DDR be- Platz der Universität 3 handelt Lehmann kenntnisreich als „umfassendste D–79098 Freiburg und intensivste Rezeption russischer Literatur im

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