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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 29. Dezember 2008 Betr.: Kuba, Irak, Campino, KulturSPIEGEL it dem Einzug Fidel Castros, heute 82, in die Hauptstadt Havanna feierte die ku- Mbanische Revolution am Jahresbeginn 1959 den Sieg über den Diktator Fulgencio Batista – und etablierte doch nur eine neue, nun kommunistische Diktatur. SPIEGEL- Redakteurin Helene Zuber, 52, traf in Florida, Spanien und Deutschland frühere Weg- gefährten Castros, die sich von ihm abgewandt hatten, teils Jahre in kubanischen Ker- kern verbrachten und schließlich ins Exil gingen. Huber Matos, 90, etwa, der Castros Triumphzug durch Havanna in einem offenen Geländewagen mit einer Maschinenpistole sicherte, schilderte ihr, wie schnell die anfängliche Euphorie verflogen war. Carlos Al- berto Montaner, 65, wartet seit Jahrzehnten in Miami auf den Sturz Castros. Federico Lomnitz, 68, war ein begeisterter Anhänger der Revolution – er lebt heute als Kaufmann im hessischen Bad Homburg. „Viele der Enttäuschten würden gern nach Kuba zurück- kehren, aber erst wenn das Land wieder frei ist“, sagt Zuber (Seite 100).

or zwei Jahren, am 30. Dezember 2006, wurde der Virakische Diktator Saddam Hussein, damals 69, nach einem Prozess in Bagdad hingerichtet. Die letzten Tage und Wochen und die Hintergründe des Verfahrens blieben geheimnisumwittert. Die SPIEGEL-Redakteure Erich Follath, 59, John Goetz, 46, Volkhard Windfuhr, 71, und Bernhard Zand, 41, recherchierten bei US-Militärs, bei ägyptischen, tunesischen und jordanischen Anwälten Saddams sowie bei dessen Verwandten; sie sahen sogar seine letzten Aufzeichnungen aus der Todeszelle ein. Munib, Follath Follath traf in Kairo Saddams früheren Anwalt Mo- hammed Munib. Das Urteil des SPIEGEL-Manns über Saddams Ende fällt vernichtend aus. Der Prozess gegen den Massenmörder sei eine „vertane Chance, die Verbrechen des Saddam-Regimes im Detail aufzuarbeiten“, sagt Follath (Seite 60).

as ist Schein, was Wirklichkeit im Leben von Popstars? Was verbirgt sich Whinter der Fassade eines eher hemdsärmelig wirkenden Stars wie Campino, 46, des Sängers der Toten Hosen? Mehr als zwei Monate begleitete SPIEGEL-Redakteur Philipp Oehmke, 34, den Musiker immer wieder und war überrascht – er lernte einen Künstler kennen, der in der Öffentlichkeit gern sein Image als bierseliger Punkrocker mit wildem Haar pflegt und doch recht in sich gekehrt und nachdenklich sein kann. Ob bei der monatelangen Tournee der Band oder als Hauptdarsteller in Wim Wenders’ jüngstem Film „Palermo Shooting“: Campino, so Oehmke, „leidet unter seinem Anspruch an

Perfektion, der ihn nicht selten zu zerreißen ARNE WEYCHARDT scheint“ (Seite 134). Oehmke, Campino

inmal im Monat liegt der Inlandsauflage der KulturSPIEGEL bei – von dieser Aus- Egabe an präsentiert er sich in neuem Layout. Neu sind auch Kolumnen wie „Pla- nungsphase“, sie berichtet aus den Werkstätten von Künstlern über aktuelle Projekte. So erklärt etwa der Londoner Architekt Sir Norman Foster seine Küche der Zukunft, die er für den deutschen Küchenhersteller Format entwickelt. Sie soll erst 2010 offiziell vorgestellt werden. In der Kolumne „Ghostwriter“ nimmt sich Ralf Husmann, preis- gekrönter Autor der Comedy-Serien „Stromberg“ und „Dr. Psycho“, von nun an die Freiheit, Prominente sagen zu lassen, was er von ihnen hören möchte.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 1/2009 3 In diesem Heft

Titel Krise oder Katastrophe – womit die Deutschen im Jahr 2009 rechnen müssen ...... 16 Seite 16 Bundesländer und Kommunen wollen die 2009 – ein Jahr der Entscheidungen Investitionen beschleunigen ...... 24 Eine derart düstere Prognose zum Jahreswechsel hat es Deutschland noch nie gegeben: Den Deut- Panorama: Holt Guantanamo-Häftlinge schen droht 2009 die schwers- nach Deutschland? / NPD-Chef Udo Voigt te Rezession der Nachkriegs- soll entmachtet werden / Müntefering droht zeit. Viele Unternehmen wer- Ärger mit dem linken Flügel ...... 12 den in die Pleite rutschen, Rückblick 2008 ...... 14 Universitäten: Hunderttausende ihre Jobs Witten/Herdecke am verlieren. Kanzlerin Angela Abgrund – der Überlebenskampf der ältesten deutschen Privat-Hochschule ...... 27 Merkel und Vize Frank-Wal- Politiker: SPIEGEL-Gespräch mit der ter Steinmeier stehen vor Grünen-Chefin Claudia Roth über Emotionen einer Bewährungsprobe der und Glaubwürdigkeit in der Politik ...... 28 besonderen Art: Sie müssen Justiz: Deutsche Staatsanwälte das Land entschlossen durch

ermitteln gegen ehemalige Rotarmisten / DPA BERND WÜSTNECK die Krise steuern – und zu- wegen Kriegsverbrechen ...... 31 Werftarbeiter (in Rostock) gleich Wahlkampf führen. Kriminalität: Die illegalen Geschäfte der Firmenbestatter ...... 32 Ausländer: Wie die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer ihr Amt ad absurdum führt ...... 35 Medizin: Orthopäden fordern Rückrufaktionen für fehlerhafte Seite 28 Gelenkprothesen ...... 36 Tränen lügen nicht Unternehmen: Die Sektkellerei Rotkäppchen „Nervensäge“, „Eichhörnchen auf Ecstasy“ – kaum eine startet ins Jubiläumsjahr des Mauerfalls ...... 38 Politikerin zieht mehr Häme auf sich als Claudia Roth. Im SPIEGEL-Gespräch erklärt die Grünen-Chefin, warum Wirtschaft sie vor laufenden Kameras weint, was sie über Machos Trends: Interview mit Insolvenzverwalter in der Politik denkt und warum die Bindewirkung der Michael Jaffé über die befürchtete Pleite-Welle / Demokratie abnimmt: „Politik ist zu wenig authentisch.“ Nur kurze Verschnaufpause für Qimonda ...... 43 Rückblick 2008 – ein Jahr in Krisen Roth von A bis Z ...... 44 PLAMBECK HANS-CHRISTIAN Reformen: Nicht einmal seine Erfinder sind noch vom Gesundheitsfonds überzeugt ...... 46 Affären: Die Milliardenspielereien des US-Investors Bernard Madoff ...... 48 Ökonomie: SPIEGEL-Gespräch mit Gesundheitsfonds mit Risiken Seite 46 dem Milliardär Hasso Plattner über verlorene Reichtümer und die Zukunft des Kapitalismus ...... 50 Der neue Gesundheitsfonds kommt, die Banken: Die Fast-Pleite der Krankenkassenbeiträge steigen auf ein Hypo Real Estate entwickelt sich zur neues Rekordniveau. Doch das Geld teuersten deutschen Affäre des Jahres ...... 54 wird nicht lange reichen. Millionen Ver- sicherte müssen 2009 mit Zusatzge- Gesellschaft bühren rechnen, sagt selbst der Chef Szene: Rückblick 2008 ...... 56 der zuständigen Aufsichtsbehörde und Eine Meldung und ihre Geschichte – eine spricht von Mängeln im System. WEISFLOG RAINER junge Frau möchte mit einem Traktor an den Südpol reisen ...... 58 Hightech-Medizin Ortstermin: Der Todeskampf des ostdeutschen Motorradbauers MZ ...... 59 Zeitgeschichte: Die letzten Tage des irakischen Diktators Saddam Hussein ...... 60 Das Testament aus der Todeszelle ...... 64 Seite 140 Ausland Kogels Ideen für Harald Schmidt Panorama: Der türkische Linksintellektuelle Fred Kogel ist der Freund und Produzent von Harald Baskin Oran über die Kampagne zum Schmidt, hat lange mit Leo Kirch zusammenge- Völkermord an den Armeniern / Arabische arbeitet und war auch mal beim ZDF für „Wetten, Kritik an der Hamas ...... 93 dass …?“ zuständig. Bei Constantin Film produzier- Rückblick 2008 ...... 94 te er Kinoerfolge wie „Das Parfum“. Dort hört er Südafrika: Aufstand gegen den ANC ...... 96 jetzt auf. Im SPIEGEL-Gespräch erklärt er, was Kuba: 50 Jahre nach der Revolution warten TV-Managern heute fehlt – und weshalb „Schmidt & drei Exilanten auf eine Chance zur Rückkehr ..... 100 CHRISTIAN RUDNIK / ACTION PRESS RUDNIK / ACTION CHRISTIAN Pocher“ ab April wieder getrennte Wege gehen. Essay: Warum es still geworden ist um Papst Benedikt ...... 104 Kogel, Freundin Rhea Geisler Global Village: Ein Nigerianer als Gigolo in Moskau ...... 106 4 Sport Szene: Rückblick 2008 ...... 108 Funktionäre: SPIEGEL-Gespräch mit DOSB-Präsident Thomas Bach über seine Bilanz der Olympischen Spiele in Peking und den Kampf gegen das Doping ...... 110

Wissenschaft · Technik Prisma: Rückblick 2008 ...... 114 Energie: Die erstaunlichen Fortschritte der Fusionsforscher ...... 116 Ethik: Wie in Deutschland Föten mit Krebsgenen selektiert werden ...... 119 REUTERS ANC-Anhänger (in Pietermaritzburg) Klima: Eisendüngung am Südpol bremst die globale Erwärmung ...... 120 Medizin: Gehörtests für alle Neugeborenen ...... 122 Schiffbau: Luxusyacht mit Rennmotor Aufstand gegen Mandelas Partei Seite 96 und Solarantrieb ...... 123 Er ist die älteste Bewegung auf dem Kontinent und seit fast 15 Jahren an der Macht: Kultur Nelson Mandelas Afrikanischer Nationalkongress. Doch der ANC gilt inzwischen als korrupt und selbstgefällig, Südafrikas Probleme bekommt er nicht in den Griff. Jetzt Szene: Rückblick 2008 ...... 124 bedroht eine Gruppe von Dissidenten die Monopolstellung der Regierungspartei. Literatur: Neue Bücher und ein Film zollen Sofja Tolstaja, der leidgeprüften Ehefrau des Dichters Leo Tolstoi, Gerechtigkeit ...... 126 Musik: SPIEGEL-Gespräch mit dem Pianisten Menahem Pressler über 53 Jahre Beaux Arts Trio und sein Leben Die Zähmung des Sternenfeuers Seite 116 zwischen Deutschland, Israel und Amerika ...... 129 Jahresbestseller Schon seit Jahrzehnten bemühen ...... 131 sich Forscher, das Sternenfeuer auf Essay: Der Sozialpsychologe Harald Welzer die Erde zu holen – nun wollen sie über die Blindheit der Experten in der Wirtschafts- und Finanzkrise ...... 132 erstmals ein Fusionskraftwerk bauen, Pop: das tatsächlich große Mengen Strom Lieder voller Selbstzweifel von Campino, dem erfolgsverwöhnten Sänger und Wärme erzeugt. Entscheidende der Band ...... 134 Vorarbeiten leisten deutsche Plasma- Nahaufnahme: Der Schweizer Martin Heller, physiker. Wenn das Vorhaben gelingt, Chefplaner der Europäischen Kulturhauptstadt könnte der Menschheitstraum von Linz 09, bringt die Österreicher gegen sich auf .... 137 Energie im Überfluss wahr werden. Medien Fusionsanlage (in Garching) PETER GINTER / BILDERBERG Fernsehen: Rückblick 2008 ...... 139 TV-Macher: SPIEGEL-Gespräch mit dem Medienmanager Fred Kogel über Ödnis im Fernsehen und das absehbare Ende von „Schmidt & Pocher“ ...... 140 Wunschkinder ohne Krebsgendefekt Seite 119 Israel: Die linksliberale Zeitung „Haaretz“ ringt ums Überleben ...... 142 Britische Mediziner haben ein Designer-Baby ohne krankmachendes Brustkrebsgen geschaffen. In Deutschland ist diese Präimplantationsdiagnostik verboten – doch Briefe auch hier findet vorgeburtliche Selektion statt: Mütter entschieden sich bereits für ...... 6 eine Abtreibung, weil bei ihrem Kind ein Krebsgendefekt diagnostiziert wurde. Impressum, Leserservice ...... 144 Register ...... 146 Personalien ...... 148 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 150 Titelbild: Illustration Alfons Kiefer für den SPIEGEL Tolstois Ehekrieg Seite 126 Sie waren fast ein halbes Jahrhundert verheiratet und haben sich anfangs „glühend geliebt“: das Dichter- Luftschlösser genie Leo Tolstoi und seine Frau Sofja Tolstaja. Der Immobilienkrise zum Tatsächlich endete die Ehe in einem desaströsen Klein- Trotz: Zehn Kreativschaffen- krieg. Neue Veröffentlichungen – darunter ein nach- de entwerfen für den Kultur- gelassener Roman der Tolstaja selbst – widersprechen SPIEGEL ihr Traumhaus –

AKG dem überlieferten Bild der allein schuldigen Ehefrau. vom Ökogebäude mit künst- lichem Ungeheuer bis zum Tolstaja (um 1865) Eispalast in der Wüste.

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Der Monotheismus der ersten Jahrhunder- „Was könnte den Bibelleser Bert Brecht te ist eine Mär. Wesentliches Merkmal der Christianisierung war der Polytheismus an dieser alten Geschichte fasziniert haben? alter Prägung, dem eine absolute Instanz, Vielleicht: Abraham verkörpert den ein Gott übergeordnet wurde. Und auch die zwei anderen abrahamitischen Religio- ,Menschen‘, der alle Lebenssicherheiten nen hatten neben der zentralen, alles um- aufgibt und in eine offene Zukunft fassenden Gottheitsbegrifflichkeit ein Pan- theon verschiedener Nebengötter oder Dä- aufbricht, aufgrund einer ,göttlichen‘ monen. So weit ist es also nicht her mit der Eingebung und Verheißung. Superiorität des einen Wesens, das wir alle Dieser ,Glaubensmut‘ ist einzigartig.“ so verehren. Und Selige wie Heilige im Katholizismus dürften auch Ausdruck da- Norbert Jackisch aus Gelsenkirchen zum Titel „Abraham – von sein, dass da ein Gott nie genug ist. Es SPIEGEL-Titel 52/2008 Christen, Juden, Muslime: Wem gehört der Urvater der Religionen?“ werden bis heute Gebete an die Abteilungs- leiter des Herrn geschickt. Warum wohl? Berlin Henning Veitgen muslimischen Ursprungs, der, wie man SPIEGEL ONLINE Forum Alle Völker lehren weiß, am schlimmsten gegen die „religiö- Nr. 52/2008, Titel: Abraham – Christen, Juden, Muslime: sen Brüder“ in „Abrahams Schoß“ wütet. Wenn Abraham nur einen Gott anbetete, Wem gehört der Urvater der Religionen? Kleinblittersdorf (Saarl.) Manfred Göppel bedeutet dies noch lange nicht, dass er ein Monotheist war, also die Existenz anderer Weder Mose noch Abraham waren Hel- Juden und Christen haben deutlich mehr Götter abstritt. Selbst Jahwe, der Gott Ab- den, sondern gehorsame Diener, die nicht gemeinsam als den Glauben an den einen rahams, Jakobs und Moses, hielt sich selber jedes Leben respektierten. Mose ließ, die Gott. Der Mythos von Abraham, der bereit keineswegs für einzigartig. Schon in den Zehn Gebote in den Händen, 3000 seiner Zehn Geboten heißt es: „Du sollt neben Landsleute, die vom Weg des Herrn abge- mir keine anderen Götter haben.“ Und „Du wichen waren, erschlagen. Dass ein Vater sollst dich nicht vor anderen Göttern nie- seinen Sohn aus Gründen des Gehorsams derwerfen.“ Und warum nicht? „Denn ich, oder des Glaubens schlachten soll, ist re- dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott.“ gelrecht pervers. Da hilft auch keine In- Nichts von „Es gibt keinen Gott außer mir.“ terpretation, und sei sie vom Philosophen Klosterneuburg (Österr.) Rolf Zimmermann Kierkegaard. Weniger Gehorsamsbereit- schaft für eine „höhere Ehre“ hätte viele Kriege verhindert. Leistung ist ohne Verzicht undenkbar Weissenhorn (Bayern) Michael Joseph Scherm Nr. 51/2008, Institutionen: Eltern kritisieren die harte Erziehung ihrer Kinder im berühmten Leipziger Thomanerchor Fakt ist, dass Abraham, ob historische Per- AKG son oder nicht, eine Gestalt der jüdischen Abraham mit Sohn Isaak* Tradition ist. Anders sieht es das Chris- Opferbereitschaft für eine höhere Ehre Diese Eltern sind doch nicht gezwungen, tentum auch nicht, selbst wenn Sie den ihr Kind „in den Kasten“ zu schicken, und Apostel Paulus als Zeuge angeführen. Der ist, für den Bund mit Gott seinen Sohn zu sie sollten sich vielleicht mal überlegen, nämlich hatte es nicht darauf abgesehen, opfern, findet sich wieder im Kreuzestod welchen Druck sie erzeugen können, wenn Abraham zum Stammvater aller Christen von Jesus. Was dem Vater Abraham und sie ihr Kind aus dem Internat nehmen oder zu erheben, sondern die strittige Frage zu seinem Sohn Isaak erspart blieb, nahmen nur wieder singen lassen, wenn bestimmte klären, ob zum Glauben an Gott die Be- Gott und sein Sohn Jesus auf sich: Gott Bedingungen erfüllt sind. schneidung notwendig sei. Wie jeder Jude opferte seinen Sohn. Ohne die Mythen des Hamburg Marina Meyer wird aber Jesus als Nachfahre Abrahams Judentums hätte es das Christentum nie und insoweit als Angehöriger des auser- gegeben. Dessen große geistige, philoso- Warum gibt es nicht eine Stellungnahme von wählten Volkes anzusehen sein. Jesus wie- phische Leistung ist es, die auf ein Volk Thomanern, die ihre Chorzeit ohne Frustra- derum öffnet den Glauben an Gott auch bezogenen jüdischen Mythen zu abstra- tionen erlebt und sie als einen wesentlichen für Nichtjuden. hieren, zu überhöhen. Dadurch war es den Bestandteil ihrer Entwicklung verinnerlicht Delitzsch (Sachsen) Gernot Schmidt Christen möglich, „alle Völker zu lehren“. haben? Und das sind bei weitem die meisten Berlin Gunnar Bluhm Sänger, denn kein Thomaner wird gezwun- Leider erreichen Sie mit Ihrem naiven gen, neun Jahre solche schlimmen Bedin- Idealismus immer nur jene, die solche * Gemälde von Caravaggio, um 1600. gungen, wie sie dargestellt werden, zu er- Dinge sowieso schon aus einer skeptischen Distanz wahrnehmen, die Gläubigen sicher nicht. Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE München Karl Heinz Hoeck • Titel Wie kommen die Deutschen 2009 durch die Wirt- www.spiegel.de/forum/Wirtschaftskrise Die sprichwörtliche „Opferbereitschaft“ schaftskrise? Abrahams, sich bedingungslos dem gött- • Ethik Darf man Ungeborene abtreiben, die ein defektes lichen Willen beziehungsweise denen zu Krebsgen haben? www.spiegel.de/forum/Ethik unterwerfen, welche die Interpretations- hoheit beanspruchen, was als „göttlicher • Krankenversicherung Wer profitiert vom Gesundheits- Wille“ zu gelten habe, macht ihn natürlich fonds – die Patienten oder die Bürokratie? auch zum „Stammvater“ des religiösen www.spiegel.de/forum/Gesundheitsfonds Fanatismus jüdischen, christlichen oder

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oder so, die Erde wird rot, entweder leben- So viel Schaum vor dem Mund rot oder todrot“. 2000 heuerte er bei Sprin- Nr. 51/2008, Affären: Der Dichter gers „Welt“ als Kultur-Chefkorrespondent Wolf Biermann über den Eklat in Thüringen um die Linke an. Widerlicher geht es wohl kaum noch. und den DDR-Dissidenten Jürgen Fuchs Berlin Karl H. Brückner

Dass Biermann sich gerade um diese Straße bemüht, sagt viel über ihn, aber noch gar Äußerst fragliche Steigerung nichts zum Umgang der Linken mit diesem Nr. 51/2008, Psychologie: Interview mit dem Thema. Lieber guter alter Wolf Biermann, Intelligenzforscher James Flynn über die IQ-Unterschiede warum so viel Schaum vor dem Mund? Es von Schwarzen, Weißen, Jungen und Alten lohnt sich, noch mal hinzusehen, was hier mit dem Namen des verehrten Jürgen Fuchs angestellt wurde. Erst wurde ein gerade fer-

ANDREAS REEG / VISUM ANDREAS tiggestellter Bürgersteig wieder abgerissen, Leipziger Thomanerchor weil, wie der Volksmund sagte, die CDU sich Erziehungsrecht abgegeben vom Volk nicht aufs Maul beziehungsweise aufs Abstimmen schauen lassen wollte. Der dulden – es sei denn, seine Eltern wollten das Weg wurde zwei Meter tiefer gelegt mit der so! Jedem Thomaner werden entsprechend Folge, dass Fußgänger nicht mehr in den seinem Alter und seinen Fähigkeiten Auf- Plenarsaal schauen können. Dann wurde gaben zugewiesen, um dem Gemeinwohl zu Ende 2002 die Straße umbenannt und neun dienen – eine wesentliche Säule des inner- Monate später das Demonstrieren bei oder

chorischen Zusammenhalts und nicht etwa auf der Jürgen-Fuchs-Straße verboten. Dies / CORBIS PELAEZ / ZEFA JOSE LUIS nur wohlfeiler Ersatz für fehlende pädagogi- alles ist wirklich nicht mit seinem Namen zu Schüler im Unterricht sche Mitarbeiter. Diese Aufgaben stellen ei- vereinbaren. Wir negieren keinesfalls des- Keine absolute Intelligenz nen Beitrag zur Eigenverantwortlichkeit und sen Ansehen. Meine Fraktion benutzt selbst- Disziplin jedes Einzelnen dar. verständlich den Namen Jürgen-Fuchs-Straße Völlig zutreffend macht Emeritus James Halle (Saale) Dr. Michael Wetzig 1, vor allem dann, wenn Bürger eingeladen Flynn auf den Missstand der mangelnden werden. Wolf Biermann, komm doch und Hinterfragung und Fundierung wissen- Dass ich von älteren Thomanern miterzo- lass uns zusammen für die Meinungsfreiheit schaftlicher Intelligenzkonzepte aufmerk- gen worden bin und auch selbst Jüngere mit- im Namen von Jürgen Fuchs demonstrieren! sam. Auf zwei weitere grundlegende Pro- gebildet habe, halte ich für ein großes Gut, Berlin Bodo Ramelow bleme sei noch hingewiesen: Wenn „richti- diese Methode steht neben der Musik Bachs MdB (Die Linke) ges“ beziehungsweise „falsches“ Verhalten für die Einzigartigkeit dieser Institution. im Test vom Grade der Intelligenz abhängig Leipzig Lars Penndorf sein soll, Intelligenz aber als kontinuierli- ches und offenes Maß gedacht wird, kann Jedes Internat braucht ein Korsett aus Ord- es keinen Standpunkt der absoluten Intelli- nung und Disziplin. Und jede Leistung ist genz geben, welcher ebendieses „Richtig“ ohne Verzicht undenkbar. Ohne Anpassung und „Falsch“ definiert. Der Test selbst spie- ist menschliches Zusammenleben kaum gelt folglich lediglich die relative Intelligenz vorstellbar, und das nicht nur in Internaten. des Testkonstrukteurs wider. Das zweite Auch kommen in Internaten immer mal Problem besteht darin, dass Intelligenztests wieder homoerotische Beziehungen vor, so verschiedenartigste Dimensionen erfassen

auch im Thomasalumnat. Tatsache ist aber / POP-EYE BARTILLA und diese reduktionistisch unzulässig ge- auch, dass der großen Mehrheit die Jahre Dichter Biermann mittelt werden. im Thomanerchor nicht geschadet haben, Ehrenvolles Gedenken Michelfeld (Bad.-Württ.) Volker Polo im Gegenteil. Viele sind Mediziner, Musi- ker oder Pfarrer geworden. Es wirkt grotesk, mit welchen Ausreden die In einer kritischen Analyse des „Flynn-Ef- Sommersdorf (Sachs.-Anh.) Ulrich Gastmann Thüringer Linke kommt, wenn es um die fekts“ konnte ich nachweisen, dass wegen Pfarrer i. R. Aufarbeitung ihrer Vergangenheit geht. Zur statistisch-methodischer Schwächen der aus seit 2002 geltenden Landtagsanschrift Jür- den Jahren 1987 und 1994 stammenden Meta- Wir haben als Eltern eines Sohnes im Tho- gen-Fuchs-Straße 1 erklären die Linken, dies analysen von Flynn eine Intelligenzsteige- manerchor erlebt, dass man jegliches Erzie- liege daran, dass sie das alte Abgeordneten- rung um 0,3 IQ-Punkte pro Jahr äußerst frag- hungsrecht, und sei es die Entscheidung über gebäude in der Arnstädter Straße als Post- lich ist. Bei Vergleichsgruppen, die eine Stei- eine ausgewogene Ernährung, mit abgibt. anschrift behalten wollen. Dies ist doch eine gerung der IQ-Werte erbrachten, hatte nicht Welver (Nrdrh.-Westf.) Charlotte Helmstetter erbärmliche Ausrede, die kaschieren soll, etwa die Intelligenz zugenommen, sondern dass sie nicht bereit sind, dem Bürgerrecht- die Erfahrungen im Umgang mit Tests. Engelsstimmen und Mittelmaß schließen ler und Schriftsteller wenigstens nachträg- Auenwald (Bad.-Württ.) Dr. Rudolf H. Weiß sich aus. Also, ihr Thomaner, weiter so: lich ein ehrendes Gedenken zu widmen. Diplom-Psychologe Erleidet die „Hölle“ und schenkt uns dafür Erfurt Michael Panse MdL (CDU) Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit den Himmel. Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek- Pforzheim Cornelia Frech-Becker tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: Biermanns Hass auf „Die Linke“ und die [email protected] Vorzeitig Ausscheidende, aus schulischen, DDR bleibt ihm unbenommen. Aber wie gesundheitlichen, gesanglichen, stimmlichen beurteilt er denn seine eigene politische Bio- In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden sich oder psychischen Gründen, wird es immer grafie? Es war doch Biermann, der uns noch Beilagen der Firmen Stiebel-Eltron GmbH & Co. KG, Holz- geben; aber enttäuschtes Nachtreten? 1976 – bereits im freien Westen angekom- minden, SPIEGEL-Verlag/Abo, Hamburg, sowie eine Ver- Hamburg Prof. Dr. Klaus-Joachim Hempel men – mit der Formel besungen hat: „So legerbeilage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

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NPD den kandidieren“. Hintergrund des Put- SPD sches aus der Provinz ist Voigts Rolle in Putsch aus der Provinz der Finanz-Affäre um Ex-Schatzmeister Linke wollen Aussprache Erwin Kemna (SPIEGEL 49/2008), der n der NPD ist ein Kampf um den Pos- wegen Veruntreuung von Parteigeldern uf der Klausurtagung der SPD-Spit- Iten des Parteichefs entbrannt. „Die zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jah- Aze Anfang Januar droht Parteichef Vorsitzenden der Landtagsfraktionen ren und acht Monaten verurteilt worden Franz Müntefering Ärger mit dem linken in Sachsen und Mecklenburg-Vorpom- ist. Ob Molau die NPD auch für das Flügel. Führende Vertreter fordern in mern, Holger Apfel und Udo Pastörs, bürgerlich-rechtskonservative Lager öff- einem Brief an Müntefering eine Debat- haben sich darauf geeinigt, Andreas nen kann, erscheint zweifelhaft: Noch te über die „Fehler der Vergangenheit“. Molau als Kandidaten für das Amt des 2006 nahm er mit einer Zeichnung am Die acht Unterzeichner, darunter Andrea Parteivorsitzenden vorzuschlagen“, Teheraner Holocaust-Karikaturen-Wett- Ypsilanti und Edelgard Bulmahn, wollen bestätigt NPD-Generalsekretär Peter bewerb teil, die das Berliner Mahnmal noch einmal über die Ablösung von Kurt Marx. Entsprechende Anträge der bei- für die ermordeten Juden Europas als Beck als Parteivorsitzenden diskutie- den Landesverbände für den im März israelisches Raketensilo zeigt. ren, dessen Sturz als Schwächung des geplanten Parteitag sollen linken Flügels gesehen wird. Außerdem folgen. Molau, ein ehema- wollen sie die strategische Ausrichtung liger Waldorf-Lehrer, war Voigt der Partei nicht allein Müntefering über- Leiter des Amtes Bildung lassen. Der Zeitrahmen für die Klausur- beim NPD-Parteivorstand tagung sei viel zu knapp bemessen. „Für und gilt als intellektuelles so wichtige Fragestellungen wie die stra-

SASCHA RHEKER/ATTENZIONE SASCHA Aushängeschild der an- tegische Ausgangslage vor der Bundes- Molau sonsten eher schlichten tagswahl, die Vorbereitung der Wahl- Truppe am rechten Rand. kämpfe oder auch die Position der SPD Der seit gut zwölf Jahren amtierende zur Finanz- und Wirtschaftskrise sind Parteichef Udo Voigt wurde im Vorfeld nach aller Erfahrung gerade einmal der Entscheidung offenbar nicht kon- netto vier Stunden Zeit“, heißt es in dem taktiert. Auch NPD-Bundessprecher Brief. „Es darf auch nicht der sicher Klaus Beier war über die Initiative der falsche Eindruck entstehen, dass eine beiden Landespolitiker nicht im Bilde, ausführliche Diskussion womöglich gar kündigte aber an, Voigt werde „auf alle nicht gewünscht wird“, warnen sie Mün-

Fälle wieder für das Amt des Vorsitzen- KARL-BERND KARWASZ tefering.

DER MÜNCHHAUSEN-TEST

„Das Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL ist bei seiner Bericht- erstattung über die Rolle des BND im Irak-Krieg offenbar einem bezahlten Propagandisten des Pentagon aufgesessen.“ Aus der „Bild“ vom 18. Dezember 2008

DIE FAKTEN hauptet, dass die BND-Männer für die US-Kriegführung von gro- Unter der Überschrift „Erzählte US-General James Marks dem ßer Bedeutung gewesen seien. SPIEGEL nur Murks?“ berichtete die „Bild“ über ein SPIE- GEL-Interview mit dem ehemaligen General. Darin hatte Marks DER TEST auf die Rolle zweier deutscher BND-Agenten in Bagdad hinge- „Bild“ stützt sich bei den Vorwürfen auf einen Artikel der „New wiesen. Deren Arbeit sei von „unschätzbarem Wert“ für die York Times“ vom 20. April 2008. Darin beschreibt der Reporter Kriegführung der Amerikaner gewesen. „Bild“ schrieb, der Ge- David Barstow, wie das Pentagon ehemalige US-Militärs ein- neral habe zu einer geheimen Propagandatruppe des Pentagon setzte, die bei TV-Sendern als vermeintlich unabhängige „mi- gehört, die im Auftrag des damaligen US-Verteidigungsministers litärische Experten“ arbeiten. Diese Fachleute hätten vom Pen- Donald Rumsfeld „gegen Bezahlung Stimmung für den Irak- tagon privilegierte Zugänge zu Militäreinrichtungen und hohen Krieg“ machen sollte. Bundesaußenminister Frank-Walter Stein- Regierungsbeamten erhalten, um damit die Berichterstattung meier argumentierte auf dieser Linie bei seiner Aussage vor zu beeinflussen. Barstow dazu: „In meinem Artikel wird gar dem BND-Untersuchungsausschuss am 18. Dezember: Bei den nicht behauptet, dass General Marks vom Pentagon bezahlt wur- Äußerungen von Marks handele es sich um „vergiftetes Lob von de, um Propaganda für die Bush-Administration zu machen.“ ehemaligen Pentagon-Propagandisten“. Als damaliger Kanzler- Das US-Verteidigungsministerium gibt an, dass Marks nach sei- amtschef war Steinmeier für den Einsatz der BND-Leute in Bag- nem Ausscheiden aus dem Militärdienst keine Bezahlung als dad verantwortlich. Er hatte stets behauptet, die deutschen Agen- vermeintlicher Experte erhalten habe. Nach Angaben von Bar- ten hätten keine „aktive Unterstützung“ von Kampfhandlungen stow, der für seine Recherche Tausende Seiten von Dokumenten betreiben dürfen. Inzwischen haben allerdings auch andere hoch- auswertete, gibt es keine Hinweise, dass Marks an einem jener rangige US-Militärs und ein ehemaliger Pentagonmitarbeiter be- Treffen im Pentagon teilgenommen hat, bei denen das Rumsfeld-

12 der spiegel 1/2009 Deutschland

Lösung für die rund 250 Guantanamo-Häftlinge nur mit deutscher Zustimmung finden können.“ Für Schönbohm steht die Innere Sicherheit auf dem Spiel; es könne „nicht sein, dass wir Häftlinge einreisen lassen, die wir wegen ihrer Gefährlichkeit unter ständiger Beobach- tung halten müssten“. Doch genau dies scheint nötig: Obama-Berater Bruce Riedel von der Brookings Insti- tution in Washington hält etliche der Gefangenen für unberechenbar. „Nach sechs, sieben Jahren in Guanta- namo haben sie ein Motiv, Rache zu üben.“ Für am ehesten geeignet, nach Europa entlassen zu werden, hält Riedel die chinesischen Gefangenen: „Sie sind eine nicht so ernsthafte terroristische Gefahr wie etwa die Jeme- niten.“ Aber selbst die Aufnahme der Chinesen könnte

ANDREW LICHTENSTEIN / POLARIS / STUDIO X / POLARIS STUDIO ANDREW LICHTENSTEIN Berlin in diplomatische Schwierigkeiten bringen. In Häftling in Guantanamo Guantanamo sitzen Angehörige der chinesischen Min- derheit der Uiguren, deren Freilassung ein US-Gericht verfügt AUSSENPOLITIK hatte, die in China aber als Terroristen gelten. Dort würde ihnen Folter drohen. Vertreter der chinesischen Regierung haben Günter Nooke, den Menschenrechtsbeauftragten der Bundes- Intervention aus China regierung, gewarnt, eine Aufnahme von Uiguren würde die deutsch-chinesischen Beziehungen belasten. Das Auswärtige ach dem Vorstoß von Außenminister Frank-Walter Stein- Amt bemüht sich darum, auch Häftlinge anderer Nationalitäten Nmeier (SPD) zur Aufnahme von Häftlingen des US-Gefan- zu sichten. Anwälte von Guantanamo-Häftlingen haben im No- genenlagers Guantanamo gerät die Regierung unter Druck. vember im Kanzleramt dafür geworben, statt der Uiguren zwei Innenpolitiker von CDU/CSU lehnen es ab, die neue US-Re- Syrer, einen Russen und einen Palästinenser aufzunehmen. Wen gierung bei der Schließung des Lagers zu unterstützen. Bran- auch immer die Deutschen bereit wären einreisen zu lassen: Der denburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) wirft Stein- Dank der Obama-Administration ist ihnen gewiss. Berater Rie- meier „blinden Aktionismus“ und einen „nationalen Allein- del: „Die USA brauchen alle Hilfe, die sie kriegen können, um gang“ vor: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die USA eine den Schlamassel von George W. Bush zu beseitigen.“

JUSTIZ Ministerium altgediente Militärs mit ausgewählten Fakten und Klar sucht Anonymität Deutungen fütterte. Allerdings tauche der Name des Generals a. D. vereinzelt in dem Material auf. Laut einem Vermerk vom hristian Klar, einstiges Entlassung aus dem Gefängnis 30. Juni 2006 hätten drei Militäranalysten von CNN, darunter CMitglied der Roten Ar- Bruchsal hielt sich Klar zu- Marks, „unsere Einladung angenommen und bestätigt, dass mee Fraktion (RAF), hat of- nächst im heimatlichen Ba- sie mit uns in den Irak reisen werden“. Die Reise sollte im Juli fenbar keinerlei Interesse, in den-Württemberg auf, will 2006 stattfinden. Marks selbst weist das zurück. „Ich habe die- der Öffentlichkeit zu erschei- sich aber, so hat er Freunde se Reise nicht gemacht und kann mich nicht erinnern, über- nen – weder via Fernsehen wissen lassen, bald in Berlin haupt eingeladen gewesen zu sein“, sagt Marks. „Ich weiß noch auf andere Weise. Falls niederlassen. In der Haupt- nicht, ob andere CNN-Experten geflogen sind, ich bin es jeden- Medien aktuelle Fotos des stadt leben bereits mehr als falls nicht.“ Außerdem wird Marks angeblich als Teilnehmer nach über 26 Jahren zehn ehemalige Mit- von Telefonschaltkonferenzen erwähnt, die das Pentagon orga- aus dem Gefängnis glieder der RAF. Wie nisiert hatte und mit denen ehemalige Militärangehörige mit entlassenen Ex-Terro- Klar will sich auch Informationen versorgt werden sollten. Er habe „an einer ein- risten publizieren soll- Birgit Hogefeld, das zigen Telefonkonferenz teilgenommen“, behauptet Marks, und ten, wird Klars Ham- letzte noch inhaftierte zwar mit US-General David Petraeus. Marks sagt, er habe burger Presseanwalt Ex-RAF-Mitglied, „fünf Minuten zugehört, dann hatte ich anderes zu tun. Es war sofort dagegen vorge- derzeit nicht öffent- eine Null-Veranstaltung“. Der General a. D. bestreitet grund- hen. Klar beanspruche, lich äußern. Das sätzlich, jemals einer wie auch immer gearteten Pentagon-PR- dass seine Resozialisie- Oberlandesgericht

Truppe angehört zu haben: „Ich war nie Teil von ,Rumsfelds rung Vorrang habe. BILD / ULLSTEIN DPA Frankfurt entschied Medien-Experten‘.“ Der renommierte US-Journalist Bob Wood- Der 56-Jährige bekam Klar vor einem halben ward hat sich in seinem Buch „State of Denial“ wiederholt auf vom Oberlandesge- Jahr, dass die 1993 Marks als Zeitzeugen bezogen. „Alles, was Marks richt Stuttgart zur Auflage, verhaftete Hogefeld bis 2011 mir sagte, war vertrauenswürdig“, sagt Woodward. seinen künftigen festen Wohn- in Haft verbringen müsse. sitz und eine mögliche Ar- Bundespräsident Horst Köhler DAS FAZIT beitsstelle mitzuteilen. Er hat hat ihr Gnadengesuch im Mai Es finden sich keine Belege, dass Marks ein „be- Kontakt zu einem Bewäh- 2007 zunächst abgelehnt, doch zahlter Propagandist“ des Pentagon ist. rungshelfer zu halten, kann angekündigt, „zu gegebener aber ansonsten frei reisen, Zeit erneut und von Amts we- auch ins Ausland. Nach seiner gen“ darüber zu befinden.

der spiegel 1/2009 13 Rückblick 2008

AFFÄREN der LGT-Datensammlung er- fasst zu sein. Die Einnahmen, FINANZKRISE Die Gier der die allein der Fiskus Kiebers DVDs zu verdanken hat, be- Reichen laufen sich auf 160 Millionen Das Comeback des Staates Euro. Ebenfalls dreistellig s ist ein unspektakuläres ist schon jetzt der Millionen- ie propagierten die Überlegenheit ungezügelter Finanzmärkte EFoto, es zeigt Klaus Zum- betrag, den gemeinnützige Sund versprachen dauerhaft Traumrenditen von 20 Prozent: Ein winkel, Vorstandschef der Einrichtungen aus den Geld- Jahrzehnt lang beherrschten die Ideologen des Turbokapitalismus Deutschen Post, wie er in Be- strafen und Geldbußen der die wirtschaftspolitischen Debatten der westlichen Welt. 2008 ha- gleitung seines Anwalts und zahlreichen Verfahren erhal- ben sie ihren schwersten Rückschlag seit Jahrzehnten erlitten. Am einer Staatsanwältin seine ten haben. 13. Oktober gaben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundes- Villa in Köln-Marienburg ver- finanzminister Peer Steinbrück die Grundzüge eines 480 Milliarden lässt. Der „Manager des Jah- SCHWARZ-GRÜN Euro schweren Banken-Rettungspakets bekannt – nachdem zuvor res 2003“ hatte einen Teil die USA und Großbritannien noch weiter gehende Maßnahmen be- seines Vermögens bei einer Premiere an schlossen hatten. In den Stammländern des Kapitalismus war die Bank in Liechtenstein ver- Hilfe nicht so freiwillig wie in Deutschland: Dort wurden die Geld- steckt – um die Kapitalerträge der Elbe häuser zwangsweise mit Kapital aus öffentlichen Kassen aufge- am Fiskus vorbei zu kassie- polstert. Seither hat in den Instituten der Staat das Sagen. In der ren. Und weil wie Zumwinkel on Liebesheirat konnte Bundesrepublik dagegen mussten die Politiker vor allem bei den Hunderte weitere deutsche Vnicht die Rede sein, als staatlichen Landesbanken eingreifen, die im weltweiten Finanz- Anleger ihr Geld in Stiftun- in Hamburg CDU und Grün- kasino besonders eifrig mitgespielt hatten. In der Stunde der Ge- gen des Zwergstaats depo- Alternative-Liste (GAL) den fahr zeigte sich die Politik handlungsfähig – auch hierzulande niert hatten, wurde das Foto Bund für vier Jahre schlos- peitschten die Parlamentarier das Paket binnen fünf Tagen durch zum Symbol des bislang größ- sen. Es war die schiere Not, den Bundestag. Entgegen der weitverbreiteten öffentlichen Wahr- ten Steuerstrafverfahrens der die die ungleichen Partner nehmung kann die Demokratie also handlungsfähig sein. Der un- Republik. Die Affäre löste zusammenführte: Zum einen mittelbare Kollaps des Finanz- und damit des gesamten Wirt- eine gesellschaftliche Debatte verlor der smarte Bürger- schaftssystems wurde durch die Maßnahmen verhindert – und über die Gier der Reichen, meister Ole von Beust bei dennoch stehen vor allem der westlichen Welt harte Jahre bevor. über die Gehälter, Boni und den Bürgerschaftswahlen im Februar seine absolute Mehr- heit, zum anderen verhagelte nach der die Kinder künftig der Einzug der Linken eine statt einer vierjährigen rot-grüne Liaison. Und weil Grundschule eine sechsjähri- auch aus Berlin eindeutige ge Primarschule besuchen Signale kamen, die schwarz- sollen, inzwischen weite Teile grüne Option doch mal der Hamburger Elternschaft auszuprobieren, schien Beust in Rage – und die CDU in den GAL-Spitzenpolitikerin- einen schweren Loyalitäts- nen Christa Goetsch und konflikt. Anja Hajduk jeden Wunsch von den Lippen zu lesen. SPD

STEFAN ENDERS STEFAN Inzwischen sind die Koali- CHARISIUS / REUTERS CHRISTIAN Zumwinkel (M.) tionäre im wahren Leben Rasanter Beck gelandet. Umweltsenatorin Abfindungen der Topmana- Hajduk ist mit dem Versuch Machtwechsel gang von Beck als Akt der ger, über Egoismus und Ent- gescheitert, das im Wahl- Befreiung. Obgleich als solidarisierung aus. Aufgeflo- kampf noch als „Klima-Mons- er Brandenburger Ministerpräsident in Rhein- gen waren die Steuersünder, ter“ verteufelte Kohlekraft- DSchwielowsee wird in die land-Pfalz hoch anerkannt, weil ein ehemaliger Mitarbei- werk Moorburg zu verhin- Geschichte der SPD eingehen war es ihm in Berlin nicht ge- ter der liechtensteinischen dern. Bildungssenatorin – als Schauplatz eines rasan- lungen, die Partei auf einen Bank LGT Treuhand dem Goetsch bringt mit ihrer un- ten Machtwechsels. Am 7. klaren Kurs zu führen. Statt- Bundesnachrichtendienst ausgegorenen Schulreform, September traf sich in einem dessen stiftete er selbst immer mehrere DVDs mit detaillier- Wellness-Hotel am Ufer des wieder Unruhe. Seinen größ- ten Kundendaten verkauft Sees der SPD-Parteivorstand ten Schnitzer beging er im hatte: Heinrich Kieber erhielt zu einer Klausurtagung. Ent- Februar, als er kurz vor der rund 4,6 Millionen Euro und nervt vom ewigen Kleinkrieg Hamburger Bürgerschafts- eine neue Identität. Das In- mit seinen Gegnern innerhalb wahl vor Journalisten den vestment des Bundes amor- und außerhalb der Partei ver- Plan von Andrea Ypsilanti tisierte sich rasch: Nach Zum- kündete Parteichef Kurt Beck ausplauderte, mit Hilfe der winkels publicityträchtiger in der Sitzung seinen Rück- Partei Die Linke in Hessen an Überführung zeigten sich tritt. Frank-Walter Steinmeier die Macht zu kommen. Eben- 200 der deutschen LGT-Kun- und Franz Müntefering über- so wie Ypsilanti hatte er vor den selbst an, weitere 330 nahmen das Kommando, der der Hessen-Wahl jede Form Steuersünder meldeten sich eine als Kanzlerkandidat, der der Zusammenarbeit mit der

bei den Finanzbehörden, weil LUX PATRICK andere als Parteichef. Viele in Linkspartei kategorisch aus- sie irrtümlich annahmen, in Goetsch, Beust der SPD empfanden den Ab- geschlossen. Becks Glaub-

14 der spiegel 1/2009 Deutschland

„Koch ist weg“, riefen ihre Anhänger so lange, bis am späten Abend aus dem Sieg bei den ersten Hochrechnun- gen eine knappe Niederlage im Endergebnis geworden war. Die als Außenseiterin ge- startete SPD-Politikerin hatte bei den hessischen Landtags- wahlen rund 3500 Stimmen weniger erhalten als der CDU-Amtsinhaber Roland Koch. Doch Ypsilanti deutete ihren zweiten Platz zum „ge- fühlten Sieg“ um und startete – gegen ihr Wahlversprechen – das Projekt Rot-Grün-Rot. Ihr erster Versuch einer von der Linken tolerierten Min- derheitsregierung führte zu einer Glaubwürdigkeitskrise der Sozialdemokratie über die hessischen Landesgrenzen hinaus – und scheiterte An- fang März am Veto der SPD- Abgeordneten Dagmar Metz- ger. Koch regierte „geschäfts- führend“ weiter. Den zweiten Merkel, Steinbrück Anlauf im Herbst glaubte

RAINER JENSEN / AP RAINER Ypsilanti besser vorbereitet würdigkeit war dahin, in der zehnte: Nach der krachenden hofer doch noch zum Zug. In Partei wuchs die Kritik an Niederlage bei der bayeri- der Partei hat er zwar kaum seiner Führung. Die Versuche schen Landtagswahl im Sep- Freunde, aber die meisten seines Nachfolgers Münte- tember kürte die CSU Horst trauen ihm zu, den endgül- fering und des Kanzlerkan- Seehofer nicht nur zu ihrem tigen Absturz der CSU zur didaten Steinmeier, die SPD Chef, sondern wählte ihn auch Provinzpartei zu verhindern. zu stabilisieren, zeitigten gleich zum neuen Minister- Als erste Amtshandlung hat bislang wenig Erfolg: In präsidenten – einen Mann, Seehofer einen heftigen Steu- den Umfragen liegen die der bisher immer gezeigt erstreit mit Kanzlerin Angela Genossen weiterhin in der hatte, wie wenig er von den Merkel angezettelt. Doch 20-Prozent-Zone. Funktionären seiner Partei seine markigen Worte können

hält. Des Öfteren hatte es kaum darüber hinwegtäu- KROHNFOTO.DE so ausgesehen, als wäre See- schen, dass die Christsozialen Ypsilanti hofers Karriere am Ende. So so schwach sind wie seit etwa vor vier Jahren, nach- Jahrzehnten nicht mehr. In zu haben. Es gab Einzelge- dem er im Streit um die Ge- München müssen sie mit dem spräche, Regionalkonferen- sundheitsprämie die ganze Koalitionspartner FDP regie- zen, eine Probeabstimmung Union gegen sich aufgebracht ren, und mit Seehofer haben in der Fraktion. Die hessische hatte – da warf er seinen sie einen Vorsitzenden, der SPD-Chefin verprellte jedoch Posten als stellvertretender noch beweisen muss, dass er ihren gefährlichsten inner- Fraktionschef im Bundestag den Wandel vom Einzelgänger parteilichen Gegner, den hin. Dann geriet er im Früh- zum Führungsspieler schafft. Netzwerker Jürgen Walter, jahr 2007 im Kampf um den indem sie nicht ihn, sondern

KROHNFOTO.DE CSU-Parteivorsitz ins Strau- HESSEN Hermann Scheer zum Wirt- Seehofer cheln, weil seine außerehe- schaftsminister machen woll- liche Äffäre öffentlich wurde. Ein Wortbruch te. Anfang November stopp- CSU Prompt scharte sich fast die ten dann Walter, Metzger und gesamte CSU um Seehofers und die Folgen die beiden Walter-Vertrauten Seehofers Konkurrenten Erwin Huber. Carmen Everts und Silke Der aber schaffte es nicht, it einem Missverständnis Tesch die Irrfahrt der Andrea später Triumph gemeinsam mit Ministerpräsi- Mbegann es: Ende Januar Ypsilanti. Ihr Nachfolger als dent Günther Beckstein das stand Andrea Ypsilanti auf Spitzenkandidat, Thorsten s war der vorläufige wertvollste Gut zu verteidi- einer kleinen Bühne im über- Schäfer-Gümbel, versucht EHöhepunkt in einer der gen, das die CSU hat: die ab- füllten Sitzungsraum der seitdem, die Scherben weg- verschlungensten Polit-Kar- solute Mehrheit im Bayeri- SPD-Landtagsfraktion und zuräumen – für die Neuwahl rieren der vergangenen Jahr- schen Landtag. So kam See- präsentierte sich als Siegerin. am 18. Januar.

der spiegel 1/2009 15 Titel Jahr der Bewährung Die Wirtschaft schrumpft, die Zahl der Arbeitslosen steigt: 2009 wird das womöglich schwierigste Jahr in der Geschichte der Bundesrepublik. Zu allem Überfluss jagt eine Wahl die nächste.

Werftarbeiter (in Rostock-Warnemünde) BERND WÜSTNECK / DPA BERND WÜSTNECK

16 der spiegel 1/2009 is jetzt sind es nur Zahlen. Aber es schnitt. Ein Brief kommt oder eine Vorla- ten: Die Lehren aus Krieg und Holocaust sind Zahlen, an die sich eine bange dung in die Personalabteilung: Es tut uns sind gezogen, die Bundesrepublik ist ein BFrage knüpft: Wer? leid, aber… Danach ist alles anders, die ordentlicher Staat geworden, die deutsche Wer ist dran, wenn aus Zahlen Men- Zeit dehnt sich, das Geld wird knapp. Einheit ist, alles in allem, eine Erfolgs- schen werden, aus Minuszeichen Schick- Wenn die Zahlen stimmen, werden das geschichte. Tusch, das Buffet ist eröffnet. sale? Das ist eine der großen Fragen für das die Geschichten des Jahres 2009 sein, trau- Das hat bei den vergangenen Jubiläen Jahr 2009, eine Frage für so viele. rige Geschichten, 750000-mal. immer ein bisschen zu selbstgefällig ge- Die Wirtschaft könnte nach den schlimms- Eigentlich sollte es ein fröhliches Jahr klungen, ein bisschen zu rund. Alles gut- ten Szenarien der Forschungsinstitute um werden, eines der großen Feste. 2009 jährt gegangen, der Rest ist Formsache. 2,7 Prozent schrumpfen, die Zahl der Ar- sich die Gründung der Bundesrepublik zum Nun gibt es plötzlich wieder eine Frage beitslosen um eine Dreiviertelmillion stei- 60. Mal, der Fall der Mauer zum 20. Mal. an die Deutschen, an Deutschland: Wie gen. Wen es trifft, für den ist die Krise Für all diese Jubiläen waren Reden vorge- bewährt sich das Land dieses Mal in einer nicht mehr nur ein Wort, sondern ein Ein- sehen, die eine positive Pointe haben soll- schlimmen Wirtschaftskrise? Wie kommen Schwere Bürde für 2009 Deutsche Wirtschaftskennzahlen Auftragseingang in der Industrie Veränderung gegenüber Vorjahr, in Prozent +15 aus dem Inland +10 aus dem Ausland +5 0 –5 –10 –15 –20 –25 2008 J F MAMJ J ASO Industrieproduktion Veränderung gegenüber Vorjahr, in Prozent +8

+6

+4

+2

0

–2

–4 2008 J FMAMJ J ASO Pkw-Neuzulassungen Veränderung gegenüber Vorjahr, in Prozent +4,7 +2,6 3. Quartal Okt. Nov. 1. Quartal 2. Quartal 2008 –3,8

–8,2

Quellen: Bundesbank, KBA –17,7

der spiegel 1/2009 17 gerade die Deutschen, die Demokratie erst über wachsenden Wohlstand gelernt ha- ben, durch schlechte Zeiten? Den Frohsinn können sie jetzt, das hat die Fußballweltmeisterschaft 2006 gezeigt. Zweieinhalb Jahre danach wird ihnen die nächste Probe abverlangt: Können sie cool bleiben in der Krise? Das Jahr 2009 wird Antworten auf diese Frage geben. Es wird ein Jahr der Bewäh- rung, ein Schicksalsjahr. Und das unter den Bedingungen ständigen Wahlkampfs. In Hessen, Sachsen, Thüringen, im Saarland und auf Bundesebene sollen die Bürger ihre Stimme abgeben. Dann kommen eine Euro- pa- und eine Bundespräsidentenwahl. Das würde schon in normalen Jahren für eine hysterische Grundstimmung sorgen. Wie aber wird es in einem Krisenjahr sein, wenn man mit Ängsten Politik machen kann? Weihnachten 2008 haben die meisten Deutschen noch im alten Modus verbracht. Der Tannenbaum war so groß wie gewohnt, der Geschenkehügel darunter wuchs auf vertraute Höhen. Aber die Stimmung war

schon ein wenig anders. Weihnachten 2008 / IMAGO UPI PHOTO war wie die Abschlussparty zum Ende der Künftiger US-Präsident Obama, deutsche Koalitionspartner Merkel, Steinbrück, Steinmeier: Der fetten Jahre. 2009 sehen sich die Bürger in einer politisch-ökonomischen Schlüsselrolle. doppelt so viel wie die Bürger im Rest Wie soll man Mut schöpfen in einer Welt Sie hören, dass sie kaufen, kaufen, kaufen Europas. Die Londoner City lebte von den wie dieser? sollen; nicht sparen, damit die Wirtschaft fabelhaften Gewinnen der Banker, jetzt Vertrauen muss her im Jahr 2009, und nicht vollends einbricht. Aber ihr Gefühl bricht alles zusammen: erst der Immobi- das ist eine Aufgabe der Politik, vor allem sagt, dass sie auf Nummer sicher gehen sol- lienmarkt – die Häuserpreise stürzen ab. von Angela Merkel. Sie will die Bundes- len, Geld horten, falls es schlimm kommt. Und mehr Menschen als je zuvor können tagswahl 2009 als Krisenkanzlerin bestrei- Und die Nachrichten sagen, dass es ganz sich ihre enormen Kredite nicht mehr leis- ten, als die Frau, die Deutschland kühl und schlimm kommen könnte. In den meisten ten, massenhaft stehen Häuser zum Ver- klug durch die schlechten Zeiten gesteuert Autowerken herrscht große Leere, Güter- kauf, tausendfach wird zwangsgeräumt. hat. Aber ihr Auftakt war nicht gut. Sie hat züge schlafen in ihren Depots, fast jeder Weil nun die Weltwirtschaft schrumpft, lange gebraucht, um sich zu einem wuchti- dritte Mittelständler will Stellen streichen. stürzt der Ölpreis. Und mit ihm fällt der Ru- gen Konjunkturpaket durchzuringen. Und Im Ausland sieht es noch schlechter aus. bel, auch Russland taumelt in die Rezession: sie hat mit ihrer Zögerlichkeit die Chance Die amerikanische Notenbank hat ihre Um fast 11 Prozent sank die Industrieproduk- verpasst, Deutschland zum Gestalter euro- Leitzinsen vor wenigen Tagen praktisch tion allein im November gegenüber dem päischer Krisenpolitik zu machen. auf null gesenkt. Zudem wird die Regie- Vormonat. Die Rating-Agentur Standard & Aber nicht mal über Weihnachten ließen rung insgesamt wohl rund acht Billionen Poor’s schätzt, dass die russische Wirtschaft die Fachleute sie in Ruhe: Schon am ersten Dollar in den Markt pumpen, so hat es der im Jahr 2009 um 2,5 Prozent schrumpfen Feiertag nahmen Chefs führender Wirt- US-Ökonom Barry Ritholtz für sein dem- wird, 2010 gar um 4 Prozent. Hunderttau- schaftsforschungsinstitute sie unter Be- nächst erscheinendes Katastrophen-Buch sende Arbeiter verlieren in diesen Tagen schuss. Die Bundesregierung solle „endlich „Bailout Nation“ zusammengerechnet. bereits ihre Jobs, die Menschen bringen ihre aus dem Ernst der Lage Konsequenzen zie- Der Zweite Weltkrieg war damit für Ersparnisse in Sicherheit. Moskaus jüngstes hen“, verlangte Christoph Schmidt, Chef Washington – auf die heutige Kaufkraft Renommierprojekt, der Bau des 600 Meter des Rheinisch-Westfälischen Instituts für umgerechnet – mit 3,6 Billionen Dollar hohen Wolkenkratzers Rossija, wurde erst Wirtschaftsforschung in Essen. Es sei ein po- nicht mal halb so teuer wie nun der Kampf mal abgeblasen. Dort wie auch in China litischer Fehler, notwendige Steuererleichte- gegen den wirtschaftlichen Niedergang. kommt es bereits zu Massenprotesten. rungen auf die lange Bank zu schieben. „Der nächste Schritt wird sein, dass sie Die bisherigen Regierungspläne seien anfangen, Geld zu drucken“, fürchtet Wim Leitzinsen „unzureichend“, mäkelte Thomas Straub- Boonstra, Chef-Volkswirt der niederlän- in Prozent 6 haar, Direktor des Hamburgischen Welt- dischen Rabobank. Kein Wunder also, wirtschaftsinstituts. Und Ulrich Blum, Prä- dass nach den Aktienmärkten auch die USA 5 sident des Instituts für Wirtschaftsfor- Wechselkurse Achterbahn fahren. Seit Ta- Euro-Zone schung Halle, kritisierte Merkels bisheriges gen schmieren Dollar, Pfund und Rubel 4 Nein zu schnellen Steuerentlastungen, das ab; Euro und Yen hingegen werden immer sich noch als „eine ihrer großen Fehlent- stärker, was für die deutsche Exportwirt- 3 scheidungen“ erweisen könne. schaft und die Jobs nur schlecht sein kann. 2,5 Am zweiten Weihnachtsfeiertag legten Hart erwischt es die Briten, die in den 2 Verbandslobbyisten nach. Ludwig Georg vergangenen Jahren ähnlich wie die Ame- Braun, Präsident des Deutschen Industrie- rikaner weit über ihre Verhältnisse gelebt 1 und Handelskammertages, verlangte ra- haben. Die britischen Konsumenten haben Quelle: Europäische Zentralbank, sche Entscheidungen, die langfristig richtig bis pro Kopf in etwa ebenso viele Schulden The Federal Reserve Board 0,25 0 0 seien und kurzfristig wirkten – seine Um- angehäuft wie die Amerikaner – ungefähr 00 02 04 06 08 schreibung für schnelle Steuersenkungen.

18 der spiegel 1/2009 Titel

bei allen Attraktionen, die der neue US- brück endlich beim Krisenmanagement Präsident haben mag, Deutschlands Platz eine Linie finden, mit der sie Vertrauen ist in Europa. Und nur durch Europa kann schaffen. Nichts wäre schlimmer für 2009 es eine Rolle in der Welt spielen. als steigende Arbeitslosenzahlen und dazu Das ist zuletzt etwas in den Hintergrund eine schlingernde Regierung. gerückt. 2009 sollte ein europäisches Jahr Gewiss ist nur, dass es das, was jetzt werden für Deutschland. Aber Merkel wird passiert, so noch nicht gegeben hat. Die mit Obama auch Fragen regeln müssen, Welt erlebt gerade so etwas wie eine öko- bei denen ihr die EU nicht viel helfen nomische Kernschmelze. In jedem großen kann. Es wird um Soldaten für Afghanistan Wirtschaftsraum, gleichgültig ob in Europa, gehen, um gefährlichere Einsätze, womög- Nordamerika oder Asien, drehen sämtliche lich auch im Süden. Es wird klug sein, die- wirtschaftliche Aggregate ins Minus. Und se Fragen nicht nur mit Blick auf die Bun- das mit unfassbarer Geschwindigkeit. deswehr und Afghanistan zu klären. Fatal ist, dass zum ersten Mal seit Jahr- Wenn Obama hält, was er verspricht, zehnten alle Weltregionen gleichzeitig wird sich die Welt 2009 um ihn herum neu vom Abschwung erfasst werden. Wenn sortieren. Es könnte eine neue Finanzord- Deutschland früher in eine Rezession nung entstehen, ein neues Klimaregime, schlitterte, konnte es sich darauf verlassen, und bei der Suche danach werden die Plät- dass Großbritannien, die USA oder Asien ze in der Welt neu verteilt. Es ist klar, dass für Entlastung sorgten. Dieses Muster gilt Länder wie China, Indien oder Brasilien nicht mehr, in dieser Krise leiden alle ge- aufrücken werden. Aber wo bleibt dann meinsam und jeder für sich. Deutschland, das so abhängig ist von sei- Die USA, bis vor kurzem noch Motor nen Exporten? An der Frage, wie viele Sol- des weltweiten Wachstums, taumeln am daten wo in Afghanistan eingesetzt wer- Abgrund. Die neue Regierung Obama

TIM BRAKEMEIER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA / PICTURE-ALLIANCE/ TIM BRAKEMEIER den, hängt dann womöglich sehr viel. plant gigantische Konjunkturpakete, um Eindruck von Orientierung wäre schon schön Es wäre beruhigend, wüsste man, dass den Fall in die Depression aufzuhalten. Die Merkel und Steinmeier eine Strategie für Billion hat die Milliarde als gängige Rechen- Handwerkskammerpräsident Otto Kentz- die neue Weltpolitik haben. Aber bislang einheit abgelöst. Niemand weiß, wann der ler forderte, das zweite Konjunkturpaket deutet wenig darauf hin. Absturz der größten Volkswirtschaft der müsse vor allem die Kaufkraft der Bürger Ebenso beruhigend wäre es, würden Erde gestoppt werden kann. stärken. Am besten noch im Januar. Merkel und Finanzminister Peer Stein- Klar scheint nur, dass die USA in Zu- Insgesamt vermochte Merkel bislang kunft langsamer wachsen werden als in der nicht, was der Berliner Politologe Herfried Vergangenheit. Der Grund: Der Finanz- SPIEGEL-UMFRAGE Münkler für das Wichtigste hält in so einer Veränderungen 2009 sektor, bis vor kurzem Wachstumsbranche Situation: Politiker müssten zeigen, dass Nummer eins, dürfte auch in den nächsten sie „die Herrschaft über das Geschehen“ Jahren weiter schrumpfen. Zum anderen haben. Die werden sie zwar angesichts der müssen die Amerikaner, Staat wie Bürger, Schwere und Undurchsichtigkeit der Krise 64 % wieder sparen lernen. Das dürfte das nie ganz erreichen, aber der Eindruck von Wachstum, traditionell auch vom privaten Orientierung wäre schon ganz schön. aller Befragten glauben, dass Wirtschaft Konsum getrieben, auf Jahre dämpfen. Ein Mann wird für Merkel im kommen- und Politik die Probleme, die die Finanz- Selbst Länder wie Indien und China, bis den Jahr enorm wichtig, und das ist erst krise mit sich gebracht hat, im kommen- vor kurzem noch als unverwundbare Glo- mal nicht Frank-Walter Steinmeier, ihr Kon- den Jahr nicht lösen können balisierungsgewinner angesehen, kommen kurrent bei der Bundestagswahl im Herbst. dass sie die Probleme lösen: 30% ins Straucheln. Die Exportzahlen Chinas Es ist Barack Obama, der am 20. Januar brechen ein, die Unternehmen produzieren Präsident der Vereinigten Staaten wird. Mit auf Halde. Zwar registrieren die Statistiker ihm beginnt eine neue Zeitrechnung in der „Haben Sie persönlich Angst davor, im Jahr noch Wachstumsraten, doch die reichen Krisenpolitik und, wenn nicht alles täuscht, 2009 Ihren Arbeitsplatz zu verlieren?“ nicht mehr aus, um die Probleme zu lösen. die Suche nach einer neuen Weltordnung. Ja, ich habe Angst Für Deutschland überboten sich die Er hat sich ein interessantes Kabinett zu- 18% Wirtschaftsforschungsinstitute kurz vor sammengestellt, er hat große Pläne, und Weihnachten mit Minus-Prognosen. wer mitbauen will an der Welt von mor- Nein Deutschland leidet vor allem darunter, gen, muss mit Obama harmonieren. 74% dass wichtige Absatzmärkte, allen voran Er wird Merkel verziehen haben, dass die USA, aber auch Länder der Euro- sie ihn nicht vor dem Brandenburger Tor Zone, in der Krise stecken. Fast jeder zwei- reden ließ. Trotzdem wird sie womöglich „Wird sich Ihre persönliche wirtschaftliche te Euro wird im Ausland erwirtschaftet, bald in eine pikante Rolle rutschen. Denn Situation im Jahr 2009 verbessern, ver- und weil der Absatz stockt, fahren die Un- der geltungssüchtige Franzose Nicolas Sar- schlechtern, oder wird sie gleich bleiben?“ ternehmen ihre Investitionen zurück, was kozy könnte Obama als Architekt der neu- verbessern die Krise verstärkt. Der Konsum, der in en Weltordnung Konkurrenz machen wol- 11% Deutschland seit Jahren schwächelt, kann len. Deutschland geriete wieder in die be- verschlechtern die Lücke nicht füllen. Ob er sich im Weih- kannte Zwickmühle aus transatlantischer 18% nachtsgeschäft wirklich spürbar belebte, Orientierung und europäischer Heimat. ist trotz der Optimismus-Propaganda des Das wäre dann die wirkliche Bewäh- gleich bleiben Einzelhandels noch nicht ausgemacht. Da rungsprobe von Außenkanzlerin Merkel 70% die Menschen wieder um ihren Arbeits- und Außenminister Steinmeier: den Schul- platz fürchten, werden sie spätestens zum TNS Forschung; 1000 Befragte am 15. und 16. Dezember; terschluss mit Obama finden, ohne vom an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ Jahresbeginn ihr Geld wohl beisammen- französischen Nachbarn abzurücken. Und halten. Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt

der spiegel 1/2009 19 Titel AXEL KOESTER / POLARIS / LAIF (L.); ANATOLI ZHDANOV / UPI LAIF (R.) ZHDANOV / POLARIS LAIF (L.); ANATOLI AXEL KOESTER Zeltstadt für Opfer von Zwangsversteigerungen (in Kalifornien), Unruhen (in Moskau): Taumeln am Rande des Abgrunds sind unausweichlich. Die Zahl der Anmel- sechste – und wahrscheinlich mit weitem ken, er unterstützt Unternehmen. Er fi- dungen von Kurzarbeit hat stark zuge- Abstand die schwerste – in der Geschichte nanziert die Wirtschaft durch die Noten- nommen. Sie schnellte im Oktober im Ver- der Bundesrepublik. presse und flutet die Märkte mit Geld. Zu gleich zum Vorjahresmonat um 42000 auf Mit jeder Krise wuchsen Staatsverschul- vorsichtig vorgegangen zu sein, wird man 57000. Schon in wenigen Wochen dürfte dung und Arbeitslosigkeit. Und doch neh- Bernanke später kaum vorwerfen können. auch die Zahl der Arbeitslosen wieder men sich die Rezessionen der Nachkriegs- Aber reicht das? Was vor knapp 80 Jah- drastisch steigen. Das IfW rechnet für 2009 zeit beinahe lächerlich aus gegenüber dem ren wahrscheinlich gegen die Depression im Schnitt mit 3,7 Millionen Arbeitslosen, Niedergang, den das Deutsche Reich zu geholfen hätte, muss nicht unbedingt auch für 2010 sogar mit knapp 4 Millionen. Beginn der dreißiger Jahre durchlitten hat. heute die Lösung sein. Damals brachen Eine vergleichbare Situation gab es noch Und mit ihm die ganze Welt. erst die Volkswirtschaften zusammen, dann nie nach dem Krieg, die beispiellose Finanz- „Niemals haben sich in der Wirtschafts- die Banken – heute folgt die Rezession der krise und die Konjunkturkrise verstärken geschichte Störungsquellen annähernd glei- Krise der Banken. Damals lebten die Ban- sich gegenseitig. Eine Abwärtsspirale ist in chen Ausmaßes in solchem Umfang gehäuft ker noch in der überschaubaren Welt der Gang gekommen, von der niemand weiß, wie in den anderthalb Jahrzehnten, die seit Wechsel, die Börsenticker spuckten die wann und wo sie endet – und wie sie ge- Kriegsausbruch verstrichen sind“, bemerk- Kurse auf Papierstreifen aus – heute be- stoppt werden kann. Kommt die Welt noch te „Der deutsche Volkswirt“ in seiner Weih- stimmen komplizierte Wetten das globale einmal davon mit einer schweren, aber nachtsausgabe 1931. Heute wird die Finanz- Finanzsystem, und die Nachrichten jagen doch beherrschbaren Rezession? Oder krise im Ton ähnlich dramatisch beschrieben. in Echtzeit um die Welt. droht gar eine jahrelange Depression? Aber ist es wirklich schon so schlimm? Muss Dafür wird heute weit mehr debattiert Es ist nicht das erste Mal, dass sich die der Crash des Jahres 2008 tatsächlich an und abgestimmt. Politiker und Banker deutsche Volkswirtschaft bewähren muss. der Großen Depression gemessen werden? treffen sich auf Gipfeln, man kooperiert in In Wahrheit lässt sich die Geschichte des Kaum jemand hat sich so intensiv mit Institutionen wie der Weltbank und dem Landes auch als eine stete Abfolge ökono- Weltwirtschaftskrisen beschäftigt wie Ben Internationalen Währungsfonds. Niemals mischer Krisen beschreiben. Bernanke, der Chef der US-Notenbank Fede- würde heute ein Notenbankchef der USA, Die erste Rezession überstand die Bun- ral Reserve. Das damalige Drama zu verste- Japans oder von Euro-Land eine wichtige desrepublik 1967. Das Stimmungstief war hen, bekannte er, als er noch als Wirtschafts- Entscheidung treffen, ohne seine Kollegen kurz und mild, aber nach den grandio- professor tätig war, sei „der Heilige Gral vorher zu informieren. Die meisten Staaten sen Wirtschaftswunderjahren reichte ein der Makroökonomik“. Bernankes Lehre aus setzen heute auf Konjunkturprogramme, Wachstumsminus von 0,3 Prozent aus, um der Vergangenheit: Die Zentralbanken müs- um der Krise Herr zu werden. Der Bielefel- die Bürger heftig zu verunsichern. Seitdem sen sich dem Abschwung entgegenstem- der Ökonom Werner Abelshauser empfiehlt sind etwa 500 Monate vergangen, immer- men, auch wenn es unfassbar teuer wird. vor allem kluges Timing: „Die Politik muss hin rund 60 davon verbrachten die Deut- Ende der zwanziger Jahre fehlte den No- einen sachlich ausdifferenzierten und aus- schen im Abschwung. tenbanken diese Freiheit noch. Sie durften gabefertigen Eventual-Haushalt aufstellen, Es folgte die erste Ölkrise 1973, nach die Geldmenge nicht nach Belieben aus- den sie bei Bedarf sofort abrufen kann.“ der die Wirtschaft vier Quartale lang weiten, die wichtigsten Währungen waren an Aktuell bedeute dies: Wenn der Ab- schrumpfte; auch die zweite Ölkrise 1979 den Goldstandard gekoppelt. „Heute ver- schwung heftiger ausfalle oder sich länger machte den Unternehmen zu schaffen. fügt die Wirtschaftspolitik über wesentlich hinziehe als üblich, müsse Berlin handeln. 1993 brach die Konjunktur nach dem Ein- größere Spielräume“, sagt der Mannheimer Bis dahin sollte alles sorgfältig vorbereitet heitsboom ein. Und das Platzen der Inter- Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim. werden, etwa Investitionspläne für die Infra- net-Blase 2001 bescherte dem Land einen Und Bernanke nutzt sie ungehemmt aus: struktur oder für Schulen und Kindergärten. weiteren Abschwung, bevor es 2008 wieder Der Fed-Chef senkt die Leitzinsen so tief Noch sei nicht auszumachen, ob es sich in eine Rezession schlitterte: Es ist die wie keiner seiner Vorgänger. Er rettet Ban- um einen normalen Abschwung handele –

20 der spiegel 1/2009 KEVIN COOMBS / REUTERS (L.); AP (R.) KEVIN COOMBS / REUTERS Von Schließung bedrohter Discounter (in London), protestierende Arbeiter in einer Fabrik (im chinesischen Dongguan): Alles bricht zusammen oder um die Katastrophe. Abelshauser rät, Das änderte sich, als die Börsenblase starten, wenn die Weltwirtschaft in einigen die zweite Möglichkeit ernst zu nehmen: platzte und das junge Kaiserreich in der Monaten wieder anziehen sollte. „Wider- „Alle Voraussetzungen für eine Depres- Rezession versank. Die Regierung von standsfähig“ und „gut gerüstet“, so bewertet sion sind da“, warnt er. Die größte Gefahr Otto von Bismarck führte Schutzzölle ein, der Jahreswirtschaftsbericht den Zustand der sei nun, dass die Volkswirtschaften mit um das Land gegen Importe abzuschotten. heimischen Industrie. Protektionismus reagieren. Und sie versuchte, die Arbeiter mit Sozial- Aus dem „kranken Mann Europas“, der So geschah es bereits während der gesetzen zu befrieden. Damals entstand mit Wachstumsraten nahe der Nulllinie noch Großen Depression, als das Weltwirt- der moderne Interventionsstaat. vor wenigen Jahren als pathologischer Kri- schaftssystem zerbrach. England gab den Die Situation von 1873 ähnelt der heuti- senfall abgestempelt war, ist wieder die Goldstandard auf, um wettbewerbsfähiger gen. Die Industrie litt unter gewaltigen führende Wirtschaftsmacht des alten Konti- zu werden, die USA errichteten Zollmau- Überkapazitäten, die Gewinnmargen der nents geworden. Anders als die USA oder ern, und das Deutsche Reich verordnete Unternehmen wurden dünner und dünner, Großbritannien hat die Bundesrepublik kei- Preissenkungen für Exportwaren. „Solche die Preise verfielen, weltweit und dauerhaft. nen aufgeblähten Finanzsektor gezüchtet, protektionistischen Tendenzen sehe ich Als erste große Depression ging dieser lan- der nun schrumpfen muss. heute wieder“, sagt Abelshauser. ge Abschwung in die Wirtschaftsgeschichte Eine Immobilienblase, wie sie etwa in Die Macht verschiebt sich erneut zum ein. Er hielt zwei Jahrzehnte an und wurde Spanien oder Irland gerade platzt, ist in Staat. Er avanciert zum Retter in der Not, erst überwunden, als neue Industrien wie Deutschland ebenfalls nicht gewachsen. zur letzten Institution, die scheinbar Si- die Elektrotechnik und die Chemie ihren Ein klarer Vorteil in der sich verschärfen- cherheit bieten und den ökonomischen Siegeszug aufnahmen. Es war also die Wirt- den Weltrezession. Notstand überwinden kann. Der Freihan- schaft selbst, die sich aus dem Sumpf zog – Was einst als langweilig und rückständig del dagegen ist auf dem flankiert von günstigen Be- galt, erweist sich im Abwärtstaumel der Rückzug, die Globalisierung Wechselkurse dingungen, die der Staat bot, Finanzkrise als Vorteil. Im Land der Spar- gerät ins Stocken. Ein ganz 0,80 etwa eine vergleichsweise ge- kassen und Genossenschaftsinstitute sind US-Dollar ähnliches Szenario hat es in Euro ringe Steuerlast. In Preußen selbst viele Weltfirmen bis heute nicht an schon einmal in der deut- 0,74 mussten selbst Reiche höchs- der Börse gelistet. Finanziert von oft re- schen Geschichte gegeben. 0,68 tens vier Prozent ihres Ein- gional ausgerichteten Hausbanken und ge- Als im Oktober 1873 der 0,62 kommens abführen. Das Bil- führt als Familienunternehmen, stehen sie Gründerkrach ausbrach, en- J MMJ S N dungswesen genoss Weltruf. häufig solider da als ihre Konkurrenten aus dete eine Blütezeit liberalen Auch heute sind die Rah- Übersee, die im Besitz von Private-Equity- Welthandels. In den zwei Jah- 1,30 menbedingungen eigentlich Gesellschaften oder Hedgefonds sind. ren zuvor waren allein in Preu- nicht übel. Deutschland ist „Viele Mittelständler haben nicht nur ihre 1,20 ßen 500 Aktiengesellschaften Britisches Pfund nach jahrelangen Wirt- Unternehmen erfolgreich auf den Markt aus- entstanden, die Industrien ex- 1,10 in Euro schafts- und Sozialreformen gerichtet, sondern auch gute Aussichten, mit pandierten, Eisenbahngesell- JMMJ SN besser auf den Abschwung einer soliden Bilanz die Rezession zu über- schaften nahmen hohe Kredi- vorbereitet als viele andere stehen“, sagt Uwe Berghaus, Unterneh- te auf, um ihr Netz auszubau- 2,9 Russischer Industrienationen. Die Re- mensexperte der Düsseldorfer WGZ-Bank. en. „Was heute die Immobilien Rubel in Cent gierung hat die Staatskasse Während sich Länder wie Großbritan- sind, waren damals die Eisen- 2,7 halbwegs konsolidiert, so nien oder die USA in den vergangenen Jah- bahnen“, sagt der Frankfurter dass sie den Konjunkturein- ren zunehmend in Dienstleistungsgesell- Wirtschaftshistoriker Werner Quelle: Thomson bruch kontern könnte. schaften gewandelt haben, hat die Industrie 2,5 Financial Datastream Plumpe. Und der Staat hielt Die Unternehmen wären in Deutschland zuletzt an Bedeutung ge- JMMJ SN sich aus allem heraus. in der Lage, sofort durchzu- wonnen – und profitiert nun umso stärker

der spiegel 1/2009 21 Titel von der Globalisierung. Deutschlands Ma- schinen, Chemieprodukte oder Kraftwerke treiben die Industrialisierung in Schwellen- ländern wie China oder Indien an. Auf- wendig produzierte Luxusautos oder High- tech-Küchen made in bedienen die Wünsche einer konsumfreudigen Ober- schicht in Osteuropa oder Nahost. Zwar macht die Rolle als Exportwelt- meister Deutschland anfällig für einen globalen Konjunktureinbruch. Zugleich aber ist das Land in einer erstklassigen Ausgangsposition, wenn die Weltwirtschaft wieder wächst. Dass die heimischen Industriekonzerne robuster dastehen als viele internationale Konkurrenten, hat Deutschland vor allem innovativen Unternehmern und einsich- tigen Gewerkschaftern zu verdanken, die jahrelang auf üppige Lohnerhöhungen ver- zichtet haben. Aber auch die umkämpften Reformen der rot-grünen Agenda-Jahre

haben die Republik fitter gemacht. Aus VERLAG SÜDDEUTSCHER dem konkursreifen Sozialstaat, den Hel- Arbeitslose in Hamburg (1932): „Die Möglichkeit einer Katastrophe ernst nehmen“ mut Kohl hinterließ, ist zehn Jahre später ein stabilisierender Faktor in der Kon- Wochenarbeitszeit gegen entsprechenden men von Walter Riester bis Ulla Schmidt junkturkrise geworden. Lohnverzicht weiter gesenkt werden. haben sich auf den Konten der Alterskas- Noch Ende der neunziger Jahre war der Auch die Arbeitsverwaltung zeigt sich sen gut 16 Milliarden Euro gesammelt. deutsche Arbeitsmarkt einer der unbe- besser gerüstet als in früheren Jahren. Nicht Die Krise verdeutlicht die Erfolge der weglichsten und wachstumsfeindlichsten nur, dass die Behörden inzwischen viele fle- rot-grünen Agenda-Reformen – und legt der Welt. Ein starres Tarifrecht sorgte xible Beschäftigungsformen wie Minijobs zugleich die Versäumnisse Gerhard Schrö- dafür, dass deutsche Jobs millionenfach in oder Zeitarbeit im Angebot führen. Sie ha- ders und seiner Nachfolgerin, Angela Mer- Billiglohnländer verlagert wurden. ben auch Reserven aus dem jüngsten Kon- kel, bloß. Anders als bei Rente oder Ar- Nach den Hartz-Reformen erweist sich junkturboom in Höhe von rund zehn Mil- beitslosenversicherung gibt es bis heute das Beschäftigungssystem nun als erstaun- liarden Euro gehortet. Mit dem Geld kann keine wirksame Finanzreform des Ge- lich krisenfest. Die Tarifverträge der wich- die Berliner Regierung jetzt eine Vielzahl sundheitswesens. Im Gegenteil: Nächste tigsten Industriesektoren sind flexibel ge- betrieblicher Beschäftigungsprogramme fi- Woche setzt die Große Koalition ein Mons- nug, um den Absatzeinbruch zumindest nanzieren, die einen allzu raschen Anstieg ter namens Gesundheitsfonds in die Welt, eine Zeitlang abfedern zu können. Sollte der Arbeitslosigkeit verhindern sollen. das die Abgabenlast der Bürger weiter sich die Rezession verschärfen, haben die Die staatliche Rentenversicherung geht nach oben treiben wird (siehe Seite 46). Gewerkschaften weitere Zugeständnisse ebenfalls gut gepolstert in den Konjunktur- Umso tröstlicher, dass die Regierung angekündigt: Vorübergehend könne die abschwung. Nach den umstrittenen Refor- ihren eigenen Haushalt besser im Griff hat.

Deutsche Krisenjahre Rezessionsphasen – Veränderung des BIP gegenüber dem Vorjahr, in Prozent

Weltwirtschaftskrise Erste Nachkriegs- Erste Ölkrise 1929 rezession 7,5 4,8 4,9 6,0 5,5 5,3 3,3 4,5 2,8

1928 19291930 1931 1932 1933 0,9 –0,5

–1,2 19651966 1968 1969 19731974 1976 1977 –0,3 • AUSLÖSER • AUSLÖSER • AUSLÖSER –0,9 Überproduktion und kreditfinanzierte Ende des Wirtschaftswunder-Booms, Öl-Lieferboykott der Opec-Staaten, Spekulation, Bankenkrise, Einbruch Strukturkrise in der Montanindustrie Erhöhung der Energiepreise der Aktienmärkte, Protektionismus • DAUER Ein Rezessionsjahr • DAUER Vier Rezessionsquartale • DAUER Vier –7,4 • MASSNAHMEN • MASSNAHMEN Rezessionsjahre –7,8 Konzertierte Aktion von Politik und Kreditfinanzierte Ausgabenprogramme, • MASSNAHMEN Tarifpartnern, Verabschiedung des autofreie Sonntage, Zinssenkungen Zunächst staatliche Sparpolitik und Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, der Bundesbank, hohe Lohnabschlüsse Preiskontrollen, nach Machtergreifung zwei Investitionsprogramme der der Tarifpartner massive Erhöhung der Staatsausgaben Bundesregierung

22 der spiegel 1/2009 ger, das neue Geld mache alles teurer. Nicht wenige Ökonomen erwarteten schwerste Verwerfungen, steigende Inflationsraten und einen europaweiten Verschuldungs- wettlauf. Eher früher als später werde die Währungsunion wieder auseinanderfallen, warnten nicht wenige Skeptiker. Bis heute ist nichts davon eingetreten. In der Finanzkrise erweist sich der Euro sogar als Stabilitätsanker, besonders für Deutsch- land. Wirtschaftswissenschaftler sind über- zeugt: Hätte es in den vergangenen Mona- ten in Europa noch nationale Geldsysteme gegeben, wäre es zu Währungsspekulatio- nen, schweren Störungen im Außenhan- del und einer massiven Aufwertung der Mark gekommen. Deutschlands Export- wirtschaft, in der Rezession ohnehin unter Druck, hätte zusätzliche Einbußen im Eu- ropageschäft hinnehmen müssen. Gleichwohl wird die deutsche Wirtschaft nach dieser Krise eine andere sein. Ihre

MANFRED VOLLMER MANFRED alten Strukturen wanken, manche werden Essen während des Sonntagsfahrverbots 1973: Wie bewährt sich das Land? sich völlig auflösen. Die Finanzindustrie beispielsweise wird Vor allem die Mehrwertsteuererhöhung von den, die der Staat für die Rettung des Ban- schrumpfen, nicht so stark wie in den USA 2007 verbesserte die Einnahmebasis von kensektors aufnehmen muss. Alles in allem oder Großbritannien, aber auch sie muss Bund und Ländern dauerhaft, hinzu kamen könnte das Defizit 2009 leicht auf fünf Pro- sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe üppige Steuereinnahmen während des Auf- zent der jährlichen Wirtschaftsleistung stei- konzentrieren: die Volkswirtschaft mit schwungs. Entsprechend günstig ist die gen. In absoluten Zahlen wären das über Geld zu versorgen. Viele der willkürlich Ausgangslage für den heranrollenden Kon- 120 Milliarden Euro, davon rund die Hälf- geschnürten Finanzprodukte sind unseriö- junktur-Tsunami. Schon jetzt ist absehbar, te beim Bund. Das bislang höchste Defizit ser als Pferdewetten, ein erheblicher Teil dass Finanzminister Steinbrück 2009 die des Bundes lag bei knapp 40 Milliarden des Investmentbanking ist überflüssig. höchste Neuverschuldung in der Geschich- Euro. Im internationalen Vergleich stünde Die Autobauer litten schon seit Jahren te der Republik hinnehmen muss. Interne Deutschland mit dem Minus immer noch unter Überkapazitäten. Sie wurden ka- Schätzungen des Finanzministeriums rech- gut da. Frankreich etwa kratzt beim Defizit schiert durch billige Kredite. Dieser Teil nen damit, dass das Staatsdefizit dann auf seit Jahren an der zulässigen Obergrenze des Geschäftsmodells ist tot in einer Zeit, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts von drei Prozent. Die Belastungen der Kri- da selbst Branchenprimus Toyota plötzlich steigt, weil wegen des Abschwungs Steuer- se kommen nun hinzu. Die USA erwarten Verluste melden muss. einnahmen ausbleiben und Mehrausgaben im aktuellen Haushaltsjahr sogar ein Minus In der Vergangenheit verdankte Deutsch- für höhere Arbeitslosigkeit anfallen. von mehr als zehn Prozent. land sein Wachstum vor allem dem Ex- Dabei sind nicht einmal jene zusätzlichen Eine weitere Reform erweist sich ange- port. Ob die Nachfrage in den Ausfuhrlän- Ausgaben eingerechnet, die das angekün- sichts der Weltrezession als segensreich: dern wieder anspringt, hängt nicht nur von digte zweite Konjunkturpaket bringen wird. Europas Gemeinschaftswährung. Als der der wirtschaftlichen Entwicklung ab, son- Ebenfalls unberücksichtigt sind die Milliar- Euro eingeführt wurde, fluchten viele Bür- dern auch von den politischen Bedingun- Zweite Ölkrise Wendekrise New Economy 5,1

3,2 2,8 2,7 2,2 1,9 1,4 1,6 1,2 1,2 0,5 0,8

19801981 1983 1984 19911992 1994 19952000 2001 2002 2004 2005 –0,4 –0,2 • AUSLÖSER • AUSLÖSER –0,8 • AUSLÖSER Hohe Energiepreise infolge der iranischen Ende des Wiedervereinigungs-Booms, Platzen der Internet-Blase an den Revolution und des Iran-Irak-Kriegs hohe Lohnabschlüsse, Zusammenbruch Aktienmärkten, Schock der Terror- anschläge von 2001 • DAUER Vier Rezessionsquartale der Industriestrukturen Ostdeutschlands Drei Rezessionsquartale • MASSNAHMEN • DAUER Vier Rezessionsquartale • DAUER Nach anfänglichem Zögern: kredit- • MASSNAHMEN • MASSNAHMEN finanzierte Ausgabenprogramme, Angebotsorientierte Politik, Steuer- Ausgabenkürzungen bei den sozialen Steuererleichterungen für Unternehmen, erleichterungen für Unternehmen, staat- Sicherungssystemen (Hartz), Vorziehen später Leitzinserhöhung zur Eindämmung liche Ausgabenkürzungen, Lockerung der dritten Stufe der Einkommensteuer- der Inflation des Arbeitsrechts reform, Senkung der Leitzinsen

der spiegel 1/2009 23 OLIVER STRATMANN / DDP STRATMANN OLIVER BUSSE CHRISTOPH Investitionsfelder Schulen, wärmedämmende Altbausanierung, Abwasserkanäle, Straßenbau: Manchen Kommunen fehlt das Geld für die

der Unterricht darf während der Bau- arbeiten nicht gestört werden. „Das dauert, bis man das alles organisiert Langer Vorlauf hat.“ Und nicht selten bremsen auch Lokalpolitiker, die über Baumaßnah- men häufig detailliert informiert wer- Berlin will Milliarden in die Konjunktur pumpen. den wollen und mitunter Um- oder Das Geldausgeben ist gar nicht so leicht. Neuplanungen verlangen. Erst dann können die Kommunen s ist eine naheliegende Idee: Um konnten, bekamen finanzschwache die Aufträge am Markt plazieren, was die Konjunktur flottzumachen, Städte wie Oberhausen oft keinen häufig zu weiteren Verzögerungen Ewill die Bundesregierung vor- Cent: Sie waren nicht in der Lage, führt. Liegt das Bauvolumen über fünf rangig in die marode Infrastruktur von genügend eigenes Geld beizusteuern. Millionen Euro, muss es europaweit Städten und Gemeinden investieren. Soll das geplante Bundesprogramm ausgeschrieben werden. Oft vergehen Mit einem Großteil ihres zweiten Kon- diesmal auch dort ankommen, wo die viele Wochen, bis die Unternehmen die junkturpakets möchte Kanzlerin An- Not am größten ist, dürfen die Finanz- teils mehrere Aktenordner dicken An- gela Merkel republikweit Schuldächer hilfen deshalb nicht an die altbekann- gebote erstellt haben. und Kanalnetze reparieren, Dorfstra- ten Bedingungen geknüpft werden, for- So lange wollen die Berliner Kon- ßen erneuern oder Turnhallen neu ver- dert etwa Oberhausens Oberbürger- junkturpolitiker diesmal nicht warten. glasen lassen. meister Klaus Wehling. Damit ihr Programm rechtzeitig wirkt, Doch so viel es in den Kommunen Der Vorstoß würde auch jenen hoch- will die Regierung die Verfahren be- unzweifelhaft zu tun gibt, so lang ist verschuldeten Kommunen zugutekom- schleunigen. So plant Bundesverkehrs- im föderalen Rechtsstaat der Weg zwi- men, die wie Ludwigshafen oder Offen- minister Wolfgang Tiefensee, die Be- schen einem Beschluss des Bundes- bach unter der Kuratel von Aufsichts- dingungen für die Vergabe öffentlicher kabinetts und dem ersten Spatenstich behörden stehen. „Wir müssen jeden Aufträge zu lockern. Bestellungen bis vor Ort. Manchen Kommunen fehlt das weiteren Kredit vom Regierungspräsi- 50000 Euro dürfen die Kommunen da- Geld für die Planung, andere stehen dium in Darmstadt genehmigen las- nach ohne jede Ausschreibung verge- unter Zwangsverwaltung. sen“, klagt Offenbachs Oberbürger- ben. Liegt der Auftragswert unter einer Ratsbeschlüsse müssen gefasst, Aus- meister Horst Schneider. Investitions- Million Euro, reicht es aus, wenn die schreibungsverfahren ausgewertet, Län- programme hätten nur dann einen Kämmerer drei Angebote einholen. dervorgaben beachtet werden. Es gebe Sinn, wenn sie auf finanzschwache Leichter wird es auch für private in Deutschland zu viele „Blockaden Kommunen ausgerichtet würden. „Am Bauherren, die sich einen Teil ihres zwischen Bund, Land und Kommu- liebsten wäre uns, wenn Bund oder Projekts vom Staat finanzieren lassen. nen“, klagt Unions-Fraktionschef Vol- Land Zins und Tilgung komplett über- Ein Klinikträger beispielsweise, der für ker Kauder. nehmen“, verlangt Schneider. eine Sanierungsmaßnahme öffentliche Nicht wenige Kommunen sind derart Ist das Geld dann endlich vollständig Zuschüsse von mehr als einer Million klamm, dass ihnen nicht einmal die vor Ort angekommen, ist oft eine wei- Euro erhält, muss heute den Staat an zahlreichen Hilfsprogramme von Bund tere Investitionshürde zu überwinden: der Planung beteiligen. Nach Tiefen- und Ländern aus den vergangenen die ausgedehnte Vorbereitungszeit für sees Vorgaben wäre das künftig erst Jahren helfen konnten. Grund war der öffentliche Bauvorhaben. bei Subventionsbeträgen von mehr als sogenannte Eigenanteil, mit dem sich Gerade bei Schulen gebe es oft einen zehn Millionen Euro erforderlich. Städte und Gemeinden an den Projek- langen organisatorischen Vorlauf, bis Auch die Bundesländer wollen Tem- ten beteiligen müssen. die Sanierungs- oder Bauarbeiten be- po machen. Bei einem Treffen mit Was zur Haushaltsdisziplin zwin- ginnen könnten, sagt Michael Damian, Kanzleramtschef Thomas de Maizière gen sollte, hatte einen unerwünschten Referent im Schuldezernat von Frank- in der vergangenen Woche sagten sie Nebeneffekt. Während wohlhabende furt am Main. zu, weitere baureife Projekte bis Anfang Kommunen zum Beispiel Mittel für die Schließlich wollen die Schulen an Januar zu melden. Matthias Bartsch, bessere Wärmedämmung von Kinder- den Bau- und Zeitplänen beteiligt sein, Michael Fröhlingsdorf, Guido Kleinhubbert tagesstätten und Schulen abgreifen sie müssen Ersatzräume beschaffen,

24 der spiegel 1/2009 Titel

Am Ende der Kontrollstraße steht der Sozialismus mit der staatlichen Aufsicht über die Produktionsmittel. Auch das war ein Irrtum, in der DDR etwa, und auch der bundesdeutsche Staat hat versagt bei der Kontrolle der Landesbanken. Deshalb wird 2009 nach einem Maß gesucht, einem Maß für die Freiheit, das den Kapitalismus erhält trotz Zügelung. Deutschland hat ein gutes Modell dafür, die soziale Marktwirtschaft, die zu Unrecht als lahm und rückständig in Verruf geriet. 2009 könnte daher auch ein Jahr der so- zialen Marktwirtschaft werden. Es wird zudem ein Jahr des beinahe per-

T. GRIMM / VARIO IMAGES GRIMM / VARIO T. / DPA THIEME / PICTURE-ALLIANCE WOLFGANG manenten Wahlkampfs. Das heißt: Das Planung, andere stehen unter Zwangsverwaltung Krisenmanagement findet im Zirkus statt; viel Getöse, Clownereien und Gaukelei. gen. Gut möglich, dass viele Länder im ob die geschwächte Wirtschaft solch eine Es sei denn, die Politiker besinnen sich und Zuge der Krise ihre Volkswirtschaften Rosskur übersteht. Und wenn, wäre der Preis nehmen ihre Verantwortung wahr. Das schützen wollen – und Einfuhren erschwe- hoch: eine Welle von Pleiten, ein Heer von hieße: kein Spiel mit Ängsten, keine Dif- ren. Die deutsche Autoindustrie muss sich Arbeitslosen, Millionen vernichteter Exis- famierung des Gegners, die Politik insge- neu erfinden, sie hat sich in der Vergan- tenzen, Armut in großen Teilen der Welt. samt in die Lächerlichkeit zieht. Allen genheit zu sehr auf ihre traditionellen Stär- Das aktuelle Krisenmanagement der müsste bewusst sein, dass es nicht nur um ken verlassen. Jetzt muss sie das Auto der Regierungen und Notenbanken ist eine den Wahlsieg geht, sondern auch um die Zukunft entwickeln – und das kann nur Gratwanderung – immer nahe am Ab- Verteidigung der Demokratie. klimafreundlich sein. Dafür sind neue Part- grund. Es wäre schön, wenn es einen an- Im abgelaufenen Jahr wurde so intensiv nerschaften notwendig, vielleicht auch Fu- deren, sichereren Weg gäbe. wie nie zuvor die Frage diskutiert, ob nicht sionen. Nicht alle Hersteller werden diesen Aber es gibt keinen. der Demokratie allmählich eine Konkur- Strukturwandel überleben. Das gilt auch Jetzt kommt es darauf an, diesen Weg renz erwächst. Autoritäre Staaten wie Chi- für viele Zulieferer. klug zu beschreiten. na, die Vereinigten Arabischen Emirate Es wäre eine Illusion zu glauben, nach Denn es geht nicht nur darum, Arbeits- oder Singapur schaffen zwar Wohlstand dieser Krise gehe es im alten Stil weiter. plätze zu sichern oder neu zu schaffen. Es und Sicherheit, aber nur mit Hilfe von Un- Denn diese Krise ist anders: Sie geht an die geht 2009 auch um eine doppelte Verteidi- terdrückung. Die Krise ist auch ein Wett- Substanz. Was aber können die Verant- gung: die Verteidigung des Kapitalismus kampf um Lösungskompetenzen. Welches wortlichen in Staat und Wirtschaft tun, um und die Verteidigung der Demokratie. System schifft seine Bevölkerung besser das Schlimmste zu verhindern? Der Kapitalismus ist durch Maßlosigkeit um die Klippen? Zunächst: Das Gefährliche ist die Kom- in die Krise gestürzt. Die Investmentban- Die deutschen Spitzenkandidaten Mer- bination von Finanz- und Konjunkturkrise. ker kannten kein Maß für ihre Erfindungen kel und Steinmeier werden 2009 einen Die Banken müssen ihr Geschäft zurückfah- und Deals, es herrschte große Freiheit und ständigen Widerspruch aushalten müssen. ren und ihre Risiken mindern. Deshalb ver- eine beinahe ungezügelte Gier. Und weil Sie werden immer wieder vor der Frage geben sie nur zögernd Kredite – auf die vie- man annahm, dass die Gier des Einzelnen stehen, ob sie einander attackieren sollen, le Unternehmen aber in der derzeitigen gut für die Allgemeinheit ist, ließ man sie um sich als Wahlkämpfer zu profilieren, Lage mehr denn je angewiesen sind. Diese gewähren. Das war ein Irrtum. Jetzt ist oder ob sie weiterhin Geschlossenheit ver- Abwärtsspirale gilt es zu stoppen, die Geld- Kontrolle das große Wort. mitteln, damit das Vertrauen der Bürger versorgung der Wirtschaft muss gesichert werden. Konjunkturmaßnahmen ausgewählter Länder Die Notenbanken tun, was sie können, bisher mit wenig Erfolg. Die Regierungen beschließen weltweit Rettungsprogramme in Rekordhöhe. Sie addieren sich zu aben- teuerlichen Summen, die vor kurzem noch USA Großbritannien Frankreich Deutschland* unvorstellbar waren. Nur: Wer soll das al- • Schaffung oder • Senkung • Infrastruktur- • zinsverbilligte KfW- les bezahlen? Sicherung von der Mehr- projekte Mittelstandskredite Die Krise wurde durch private Schulden 3 Millionen wertsteuer • Investitionshilfen • Gebäudesanierung ausgelöst, nun soll sie durch noch mehr Arbeitsplätzen von 17,5 für Unternehmen • Förderung kommunaler staatliche Schulden bewältigt werden. • Straßenausbau auf 15% • Wohnungsbau Infrastrukturvorhaben Kann das gutgehen?, fragen sich Kritiker • Förderung von • weniger • Sonderzahlung an • befristeter Erlass der weltweiten Billionenprogramme. Umwelttechno- Abgaben sozial Schwache der Kfz-Steuer Tatsächlich sind die Gefahren riesig für logien für Gering- • Verschrottungs- • günstige Abschrei- die Stabilität der Preise und der Wechsel- verdiener prämien für Kfz bungsregelungen kurse. Selbst eine Flucht aus dem Dollar ist 500 bis für Unternehmen nicht auszuschließen – mit verheerenden 600 Mrd. ¤ 27 Mrd. ¤ 26 Mrd. ¤ rund 50 Mrd. ¤ ** Folgen für die Weltwirtschaft. *Maßnahmen des ersten Investitions- ** zusammen mit dem im Januar Aber was wäre die Alternative? Die Maßnahmen zur programms vom November folgenden Maßnahmenpaket Krankheit darf nicht unterdrückt, sie muss Bankenrettung auskuriert werden, damit der Organismus Bürgschaften 270 Mrd. ¤ 320 Mrd. ¤ 400 Mrd. ¤ Kapital- wieder gesundet, sagen die Vertreter der rei- hilfen 500 Mrd. ¤ 50 Mrd. ¤ 80 Mrd. ¤ nen Lehre. Allerdings kann niemand sagen, 40 Mrd. ¤

der spiegel 1/2009 25 STEPHEN JAFFE / IMF GETTY IMAGES JAFFE STEPHEN Teilnehmer des G-20-Gipfels (im November 2008 in Washington): Die Welt wird sich neu formieren in die Kraft der Regierung nicht vollends nicht da, sondern nur Merkel und Glos. Geplant ist, auf Zeit zu spielen. Stein- erlischt. Dann wäre alles am Ende“, rief er in den meier will im Sommerwahlkampf keine Bislang hält ihr Bündnis, trotz kleiner Saal. Koalitionsverträge zwischen SPD und Lin- Tritte, Nickeligkeiten hier und dort. Sie ha- Solche Angriffe wollen Steinmeier und ken kommentieren müssen. Die Länder- ben sich verabredet, den Wahlkampf kurz Müntefering in der zweiten Phase verstär- chefs sollen deshalb Koalitionsverhand- zu halten, ein paar Wochen im Sommer ken. Von Juni an, rund um die Europa- lungen nicht allzu eilig angehen. nur. Für Steinmeier ist das schwerer als für wahl, werde es in der Großen Koalition „In der heißen Phase des Bundestags- Merkel, weil er eigentlich angreifen muss, „auseinanderlaufen“, sagt ein führender wahlkampfs wird es schwierig, Gespräche um sich als die bessere Alternative zur Stratege aus dem Willy-Brandt-Haus. Der zu führen“, sagt der Saarländer Maas. Er Kanzlerin zu präsentieren. Wahlkampf wird eröffnet. In der dritten, hat sich über die Verfassungslage infor- In einer aktuellen Umfrage des Mei- der heißen Wahlkampfphase nach den miert. Es gebe zwar die Pflicht, einen Mo- nungsforschungsinstituts Allensbach muss- Sommerferien, wird Steinmeier den Ton nat nach der Wahl den Landtag zu kon- ten 40 Prozent der Befragten bei der Fra- gegenüber Merkel deutlich verschärfen. stituieren. Doch erst nach vier Monaten ge passen, für welche Ziele Steinmeier Für die Genossen dürfte diese Zeit zu- müsse ein Ministerpräsident gewählt sein. stehe. Um aus der Defensive zu kommen, gleich die heikelste werden. Am 30. Au- „Es wird möglicherweise länger als vier hat sich der Kandidat mit SPD-Parteichef gust, vier Wochen vor der Bundestagswahl, Wochen dauern, zu einem erfolgreichen Franz Müntefering eine Phasenstrategie wird im Saarland, in Thüringen und in Abschluss zu kommen.“ zurechtgelegt. Sachsen gewählt. Spätestens dann wird die Insgesamt wird es wohl ein Wahlkampf In der ersten Phase, die bis zum Früh- SPD wieder mit der alten Frage konfron- der Gehemmten. Steinmeier und Merkel sommer dauern soll, will Steinmeier seine tiert: Wie haltet ihr es mit den Linken? können beide kein großes Feuer entfachen. Rolle als Außenminister und Vizekanzler Parteichef Müntefering betonte kurz Die Bundeskanzlerin hofft, dass die Zah- weiter unzweideutig ausfüllen und den vor Weihnachten erneut, dass er rot-rote len und Fakten für sie sprechen, dass es Eindruck vermeiden, er sabotiere die Ar- Koalitionen in den Ländern nicht ableh- bis zum September erste ökonomische beit der Großen Koalition. Die Bürger sol- ne. Er kann nicht anders, denn die SPD- Hoffnungsschimmer gibt, die ihr nutzen len sehen, dass der Vizekanzler als Regie- Länderchefs lassen sich diese Machtoption würden. rungsmann verlässlich handelt. nicht mehr nehmen, selbst wenn sie damit Dann kommt der Wahltag, und jede Pro- Zugleich will Steinmeier in dieser Pha- dem Kanzlerkandidaten in die Quere kom- gnose wäre angesichts der großen Unwäg- se Freiräume suchen, um als SPD-Kanzler- men. Tatsächlich hat die Partei im Saar- barkeiten des Jahres 2009 unseriös. Mit kandidat ein stärkeres Profil zu entwickeln. land und in Thüringen nur mit der Linken einiger Gewissheit kann man nur sagen, Er wird mehr und mehr seine Vorstellun- eine Chance, die CDU-Regierungen ab- dass es eine Große Koalition geben oder gen für ein künftiges SPD-Regierungspro- zulösen. Guido Westerwelle Minister wird, in einem gramm vorstellen. Steinmeier will sich für Heiko Maas, Spitzenkandidat der SPD schwarz-gelben Bündnis oder in einer Am- Mindestlöhne und Tarifautonomie einset- im Saarland, betont seit langem, dass er pel mit SPD und Grünen. Er wird wohl zen. Er will gegen den Ausstieg aus dem keine Koalition ausschließe. Ein rot-rotes der meistumworbene Mann des Jahres Atomausstieg kämpfen. Er setzt auf Inves- Bündnis ist dort wahrscheinlich. In Thürin- werden. titionen in der Bildung. gen will Christoph Matschie den CDU-Mi- Es wird dann wieder ein Tag der Zahlen Die SPD will auch zeigen, dass sie mit ei- nisterpräsidenten Dieter Althaus aus dem sein, vielleicht sind es nur ein, zwei Pro- nem starken Team gegen Merkel antritt. Amt drängen. Die Linke liegt dort bei 30 zentpunkte, die über die Kanzlerschaft ent- Nach dem Vorbild des Wahlkampfs 1969, Prozent, die SPD bei 18. Eine rot-rote scheiden. Aber egal, wer gewinnt, es ist als die Genossen mit dem Slogan „Wir ha- Mehrheit gibt es also – allerdings wäre die schon klar, welche Hauptaufgabe der Bun- ben die richtigen Männer“ warben, sollen SPD nur der Juniorpartner. deskanzler oder die Bundeskanzlerin ha- vor allem Steinbrück und Müntefering ne- Parteichef Müntefering kann den Flirt ben wird: Die Menschen, denen die sin- ben Steinmeier glänzen. Bei einem Auf- mit den Linken in den Ländern kurz vor kenden Wachstumszahlen zum Verhäng- tritt vor Genossen in Gelsenkirchen gab der Wahl nicht verhindern, nur verwalten. nis wurden, wieder aus der Arbeitslosigkeit Müntefering unlängst die Melodie für den Parteiintern hat man sich darauf geeinigt, zu holen. Clemens Höges, Alexander Jung, Wahlkampf vor: „Stellt euch vor, Stein- die Landtagswahlkämpfe aus dem Willy- Kerstin Kullmann, Dirk Kurbjuweit, Roland Nelles, Christian Reiermann, Michael Sauga meier und Steinbrück wären in der Krise Brandt-Haus heraus eng zu begleiten.

26 der spiegel 1/2009 Deutschland

Mehrmals stand die Uni vor dem Aus. Sponsoring und Bußgelder aus. Die „bilan- UNIVERSITÄTEN Gestartet mit dem Versprechen, ohne zielle Überschuldung“ der Uni, so die Pro- Staatsknete und Studentengeld auszu- gnose, werde sich „noch verstärken“. Jetzt kommen, überlebte sie seit 1995 nur noch sollen neue Prüfer die Finanzen genauer Gordischer mit Zuschüssen vom Land – als einzige der durchleuchten. insgesamt 19 nordrhein-westfälischen Pri- Verschärfend wirkt, dass die Probleme vathochschulen. Die 1200 Studenten zah- der Universität keineswegs beim Geld en- Knoten len heute je nach Fachrichtung zwischen den. Im Sommer 2005 kritisierte der Wis- Die Insolvenz der Uni Witten/Her- 14400 und 45000 Euro fürs Studium. Den- senschaftsrat die Qualität der medizini- noch musste der Fächerkanon, der neben schen Forschung. Die Hochschule bekam decke ist abgewendet. Doch auf Wirtschaft und Medizin auch ein allge- ihre Akkreditierung – das universitäre Gü- Dauer kann nur eine Neuausrich- meinbildendes „studium fundamentale“ tesiegel – erst, nachdem sie erhebliche Re- tung das Überleben der ältesten vorsieht, zusammengestrichen werden. Zu- formen in ihrer Kerndisziplin Medizin zu- Privathochschule im Lande sichern. letzt traf es die Musiktherapie. gesichert hatte. Von diesen Bemühungen, Wann immer der Abgrund nahe war, so Martin Butzlaff, Dekan der medizini- er die Krise nicht sehen wollte, trat ein eilig herbeigezauberter Sponsor als schen Fakultät, könnten auch andere Uni- konnte sie riechen. In kalten Retter der Hochschule auf den Plan. So Bereiche lernen: „Wir brauchen mehr Mut Wgrauen Schwaden krochen ihre sprang 2007 das Düsseldorfer Beratungs- zur Konzentration auf die eigenen Stär- Ausdünstungen in den letzten Dezember- unternehmen Droege International Group ken.“ An der medizinischen Fakultät ist wochen durch das geschwungene Gebäude AG mit dem Versprechen ein, zwölf Mil- das Umsteuern schon ein gutes Stück mit den blaugerahmten Fensterfronten. lionen Euro zu spendieren. Doch Droege gelungen – etwa mit dem Ausbau der Ver- Hinter der Glastür im ersten Stock mit verabschiedete sich bald wieder – weil die sorgungsforschung, bei der der Einsatz wis- der Aufschrift „Präsidium“ huschten ziga- Finanzplanung der Uni undurchsichtig sei. senschaftlicher Erkenntnisse in Arztpra- rettenqualmumhüllte Gestalten von einer Mit ähnlichen Argumenten stoppte auch xen und Krankenhäusern untersucht wird. Sitzung zur nächsten. „Eigentlich sind wir Minister Pinkwart vorvergangene Woche Minister Pinkwart fordert nun eine „kri- ja eine rauchfreie Uni“, gestand eine die Auszahlung von 4,5 Millionen Euro tische Generalrevision“ für Witten/Her- Führungskraft mit dunklen decke. Die Hochschule müs- Augenringen, „aber das se „den gordischen Knoten lässt sich in diesen Zeiten auflösen und schnellstens nicht durchhalten.“ ein stimmiges und nachhal- Dass es in der Chefetage tiges Gesamtkonzept vor- der Privatuniversität Wit- legen“. Dabei sei zu prüfen, ten/Herdecke vergangene ob die Uni genug in Qualität Woche wie in einer Spiel- und forschendes Personal hölle roch, passt ins Bild: Mit investiere. Auch die Studien- hohem Einsatz pokerten alle beiträge, die nur sieben Pro- Beteiligten ums Überleben zent des 31-Millionen-Euro- von Deutschlands größter Etats ausmachten, gelte es und ältester Privatuniver- anzuheben. Dann wolle er sität. Es ging um Etatlücken sich dafür einsetzen, dass in Millionenhöhe, eine chao- das Land 2009 und 2010 tische Finanzplanung, sogar sogar mehr Geld geben um den Vorwurf falscher werde. Rechnungslegung. Und um Damit die Hochschule in den nordrhein-westfälischen der Zwischenzeit nicht in die Wissenschaftsminister An- Pleite steuert, warb der Mi- dreas Pinkwart (FDP), der nister vergangene Woche mit seinem Auszahlungs- höchstpersönlich um Partner

stopp von Landeszuschüssen / DPA SCHEIDEMANN ACHIM für die Uni. In einer Nacht- die Uni zunächst hart an den Studentendemonstration am Düsseldorfer Landtag*: Ohne Moos nix los sitzung im Ministerium si- Rand der Insolvenz brachte, gnalisierten unter anderem dann aber im Hintergrund die Strippen für Landeszuschüssen für das Jahr 2008. Die der Heidelberger Gesundheitskonzern einen Neuanfang zog. Hochschule könne keine ordentliche Ge- SRH Holding, die Darmstädter Software Das Schlimmste scheint abgewendet, schäftsführung nachweisen, auch fehlten AG Stiftung und der Gemeinnützige Ver- doch die nächste Krise folgt gewiss – wenn testierte Wirtschaftspläne für die Jahre ein zur Entwicklung von Gemeinschafts- die Hochschule jetzt nicht die Notwendig- 2009 bis 2011. Zudem fordert Pinkwart nun krankenhäusern Herdecke ihre Bereit- keit erkennt, sich neu zu positionieren. drei Millionen Euro aus 2007 zurück, die schaft zur Hilfe. Auf dem Spiel steht viel: Die Idee einer wegen falscher Angaben der Hochschule So scheint seit vorigem Dienstag die Fra- freien Privatuniversität mit dem Anspruch, zu viel gezahlt worden seien. Die inzwi- ge nicht mehr, ob die Reform-Uni wieder ihre Studenten nicht nur fachlich, sondern schen zurückgetretene Geschäftsführung einmal in letzter Minute gerettet wird, son- auch menschlich umfassend zu bilden. 1982 der Uni wies alle Vorwürfe zurück. dern wie sie danach aussehen wird. „Wir von ambitionierten Gelehrten um den Wie bitter es um Witten/Herdecke steht, wollen einen Kulturwandel hin zu mehr Neurologen Konrad Schily gegründet, folg- zeigt ein interner Bericht der Wirtschafts- Transparenz und Zuverlässigkeit“, gibt te die Alma Mater hohen Zielen: „Zur prüfungsgesellschaft RölfsPartner vom Pinkwart das Ziel vor. Gelingt das nicht, Freiheit ermutigen“ und „nach Wahrheit Oktober. Als erhebliche Wackelposten in dürfte die wichtigste Voraussetzung für streben“ – nicht weniger sollten die Stu- der Finanzplanung bis 2011 macht sie die eine Zukunft der größten Privathochschu- denten in Witten/Herdecke lernen. In den veranschlagten Einnahmen durch Spenden, le der Republik künftig kaum erfüllt wer- letzten Jahren begriffen sie aber vor allem den: hochkarätige Wissenschaftler und Stu- eine banale Lektion: Ohne Moos nix los. * Am 18. Dezember 2008. denten zu halten. Andrea Brandt

der spiegel 1/2009 27 Deutschland HANS-CHRISTIAN PLAMBECK HANS-CHRISTIAN Politikerin Roth: „Selbst die, die mich nicht leiden können, gestehen mir zu, authentisch zu sein“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Meine Tränen kommen von selbst“ Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, 53, über Emotionen in der Politik, den Ärger über die Machos in ihrer Partei und die Einsamkeit der Spitzenpolitiker

SPIEGEL: Frau Roth, wir wollen mit Ihnen ohne. Wie soll ich zum Beispiel Sozialpoli- Roth: Nein, das ist doch einfach nur blöd, über Emotionen in der Politik reden. Vie- tik machen, wenn ich nichts empfinde? das diskreditiert sich selbst. le Ihrer Parteifreunde sagen nämlich: Die SPIEGEL: Wir finden eigentlich, dass ein gu- SPIEGEL: Wiglaf Droste hat Sie mal „intel- Claudia macht Politik noch mit dem Her- ter Politiker seine Gefühle im Griff haben lektuell befreite Zone“ genannt. zen. Stimmt das eigentlich? und einen nüchternen Blick auf die Dinge Roth: Ach, zum Typ Mann à la Droste wür- Roth: Ja, mit Gefühl und Verstand. Aber bewahren sollte. de mir auch viel einfallen, aber das lassen Politik, bei der das Herz wirklich mit dabei Roth: Das muss manchmal sein, ja. Aber im wir jetzt lieber … ist, kann sehr anstrengend sein. Ich selbst Griff haben heißt doch nicht, Gefühle weg- SPIEGEL: Sind Sie empfindlich? wünsche mir manchmal mehr Distanz zu zudrücken oder sie nicht zu zeigen. Aller- Roth: Ich bin nach wie vor wirklich ver- den Dingen. dings ist es kein selbstloser Akt, wenn ich letzbar. Wenn ich es nicht mehr wäre, dann SPIEGEL: Was ist das Anstrengende? mit Leidenschaft fordere: Ich will keinen müsste ich aufhören, dann wäre ich nicht Roth: Empathie ist, wenn sie ehrlich ist, im- Rassismus in diesem Land und keine Dis- mehr Claudia. mer anstrengend. Ich komme ja vom Thea- kriminierung von Homosexuellen und Be- SPIEGEL: Hier ist noch eine schöne Be- ter, Begeisterung vorzuspielen ist weniger hinderten. Es geht nicht um den Gutmen- schreibung: „Eichhörnchen auf Ecstasy“. anstrengend als echte Begeisterung. schen Claudia Roth, nein, ich fühle mich Wissen Sie, wer Sie so genannt hat? SPIEGEL: Im Jahr 2009 stehen zwei Kanz- sonst schlicht nicht besonders. Insofern ist Roth: Das war Harald Schmidt. Das war lerkandidaten zur Wahl, die ziemlich nüch- mein Engagement Egoismus pur. super, bei Schmidt vorzukommen ist doch tern wirken, die selten Emotionen zeigen. SPIEGEL: Viele Bürger nehmen Sie vor al- großartig. Warum ist dieser Politikertypus gegenwär- lem als aufgekratztes Huhn oder als Heul- SPIEGEL: Was macht einen empathischen tig so angesagt? suse wahr. In der „taz“ wurden Sie als Politiker in Ihren Augen besser als einen Roth: Ich glaube, dass viele Bürger eher ir- „existentiell durchlogene Gebrauchtemo- technokratischen Politiker? ritiert sind, wenn ihre Politiker Emotionen tionshökerin“ bezeichnet. Trifft Sie so et- Roth: Ein sehr technokratischer Stil trägt zeigen. Aber bei mir geht es nun mal nicht was? weder zur Glaubwürdigkeit der Politik noch

28 der spiegel 1/2009 zu deren Nähe zu den Menschen bei. Wenn wir Politiker uns von den Bürgern entfer- nen, wenn wir uns einmauern in der Zita- delle der Macht, blutleer wirken, nicht mehr mitbekommen, was bei den Leuten draußen los ist, dann ist das ein großes Problem. SPIEGEL: Emotionsbomben wie Sie sind also gut für die Demokratie? Roth: Das sind Ihre Worte. Mir jedenfalls graust es vor einem technokratischen Stil, weil ich nicht glaube, dass wir damit in Kommunen, wo nur noch wenige zur Wahl gehen, Vertrauen erzeugen. Im Gegenteil, wir erzeugen Verdrossenheit. SPIEGEL: Was ist Ihnen lieber: ein aus tiefs- tem Herzen Konservativer, der Frauen an den Herd zurückwünscht? Oder Angela Merkel, die nüchtern und pragmatisch Po- litik macht? Roth: Mir sind gestandene, klare Konser- vative lieber. Bei denen merkt man wenigs- tens, dass ihre Forderungen von Herzen kommen. Bei Frau Merkel merkt man da- von nichts. SPIEGEL: Vielleicht ist Frau Merkel deshalb Bundeskanzlerin, und Sie sind nur Grünen- Vorsitzende geworden? Roth: Merkel macht eine Scheinpolitik, bei ihr ist nichts Herzenssache. Nehmen Sie die sogenannte Klimakanzlerin. Was hat sie sich für ihr Klimaengagement auf Gip- feln feiern lassen. In diesen Wochen erle-

ben wir, dass da nichts dran war, dass ihr / DDP ROLAND MAGUNIA die wahre Überzeugung, die Leidenschaft Protestaktion in Hamburg (im März 2008): „Moorburg war eine bittere Niederlage“ für das Thema fehlten. SPIEGEL: Und bei Ihnen ist also immer alles wäre ich beispielsweise auch nicht gegan- SPIEGEL: Sie haben auch mal gesagt: „Wer echt und nachhaltig? gen, aber Rock and Roll hat etwas mit mei- verlernt hat zu weinen, ist ein armer, kal- Roth: Ein Satz, den ich oft höre, ist: „Sie sind nem Leben und mit mir als Person zu tun. ter Mensch.“ Andere Politiker sieht man zwar furchtbar – aber wenigstens echt!“ Wie Herr Westerwelle in den Big-Brother- trotzdem nie öffentlich heulen. SPIEGEL: Das freut Sie, als furchtbar emp- Container zu gehen – das würde ich nicht Roth: Die Menschen sind eben verschie- funden zu werden? tun. den, auch Politiker. Viele drücken Emo- Roth: Selbst die, die mich nicht leiden kön- SPIEGEL: Der deutsche Fernsehzuschauer tionen wie Frust, Trauer und Wut in sich nen, gestehen mir zu, authentisch zu sein. hat Sie schon häufig mit Tränen in den Au- hinein, aber so bin ich nicht. Wenn ich wü- Schauen Sie sich die Umfragen zur Binde- gen gesehen. Müssen Sie eigentlich immer tend bin, dann sieht man das – genauso wirkung der Demokratie an: Da wird der gleich weinen? wenn ich fröhlich oder tieftraurig bin. Ansehensverlust von Politik überdeutlich. Roth: Nicht immer, aber manchmal schon. SPIEGEL: Haben Sie schon mal aus Berech- Dass Politiker nicht gerade beliebt sind, Zum Beispiel als ich 1999 als Vorsitzende nung geweint? hat auch mit dem vorherrschenden tech- des Menschenrechtsausschusses des Bun- Roth: Na ja, privat will ich das nicht aus- nokratischen Politikstil zu tun. Politik ist zu destags nach Arizona gereist bin, um bei schließen. Aber nicht in der Politik, nicht wenig authentisch. einer Gnadenanhörung für den deutschen zu politischen Zwecken. SPIEGEL: Wenn man sich ein Leben lang Staatsbürger Karl LaGrand zu plädieren, SPIEGEL: Aus Ihrer Partei hört man häufig nicht verändern darf, das ist doch auch der später hingerichtet worden ist. Ich kam den Vorwurf: Immer wenn es politisch furchtbar. mir vor wie in einem Film, wie in „Dead schwierig wird, lässt die Claudia die Tränen Roth: Ich habe mich selbst ja verändert, Man Walking“. kullern. und trotzdem muss man ein Gespür dafür SPIEGEL: Was hat Sie da so erschüttert? Roth: Das ist Unsinn, das soll mir mal je- behalten, was zu einem passt. Mit meinem Roth: Der Staatsanwalt wurde in Arizona mand ins Gesicht sagen. Natürlich ist Politik Büro gibt es oft Debatten darüber, in wel- nur „Mr. Death“, also Herr Tod, genannt. eine Bühne, da gehören Maske und Kostüm che Fernsehsendung ich gehen soll oder „Die deutschen Hunde haben verdient, dazu. Aber auf Knopfdruck heulen? Nein! nicht. Ein Beispiel: In diesem Jahr habe dass sie gekillt werden“, hat er gebrüllt. Bei mir kommen die Tränen ganz von selbst. ich von RTL eine Einladung zu einer Das waren zwölf Stunden Gnadenan- SPIEGEL: Gehen Männer in der Politik mit Chartshow bekommen, Titel: „Die erfolg- hörung, die nichts mit Gnade zu tun hat- ihren Gefühlen anders um als Frauen? reichsten Rock-Classics aller Zeiten“. ten. Als Karl LaGrand dann hingerichtet Roth: Ganz sicher. Die Politik ist immer SPIEGEL: Sie sind natürlich hingegangen. wurde, stand ich draußen, wo die Kir- noch ein Macho-Betrieb, da gilt das Motto: Roth: Ja, ich fand das spannend. chengruppen sangen und beteten. Damals „Indianer weinen nicht.“ SPIEGEL: Sie gehen immer hin, wenn man liefen bei mir Tränen der Trauer, aber auch SPIEGEL: Tun Ihnen die Indianer deshalb Sie einlädt. Tränen der Wut. Wut über ein System, das leid? Roth: Nein, die meisten Anfragen zu Un- Menschen zu Tode verurteilt, ohne ihnen Roth: Manchmal schon. Schauen Sie sich terhaltungsshows sagen wir ab, zur Chart- ein faires Verfahren zu geben. Wer kann da Leute wie Michael Glos an, den Wirt- show „Die erfolgreichsten Sommerhits“ nichts empfinden? schaftsminister. Jeder sieht, wie er an sei-

der spiegel 1/2009 29 Deutschland nem Amt leidet. Aber er muss immer wei- SPIEGEL: Und dann war da noch das ge- SPIEGEL: Wenn die Grünen moralisch ter funktionieren, er darf nicht raus aus plante Kohlekraftwerk in Hamburg-Moor- höherwertig sind, warum arbeiten dann so seiner Männlichkeitsrüstung. Armer Glos. burg. Die Hamburger Grünen haben mit viele ehemalige Grüne in Lobbyisten- SPIEGEL: Grüne Männer scheinen weniger dem Versprechen im Wahlkampf gewor- büros? Probleme mit Gefühlsausbrüchen zu ha- ben, es zu verhindern. Jetzt sitzen sie in Roth: Viele? Jetzt übertreiben Sie aber. ben. Otto Schily oder Joschka Fischer ha- der Regierung – und Moorburg wird ge- SPIEGEL: Uns fallen auf Anhieb drei ehe- ben zwar nicht geweint, aber sie waren baut. malige Bundestagsabgeordnete ein: Mat- eruptiv wie Vulkane. Roth: Moorburg war eine bittere Niederla- thias Berninger verdient jetzt sein Geld Roth: Ach, beim Otto hatte das nun wirk- ge für uns. Die Grünen in Hamburg waren beim Schokoriegelhersteller Masterfoods, lich nichts mit Gefühlen zu tun. Der schrie überzeugt, man könnte das Kraftwerk über Margareta Wolf macht PR für Atomstrom, rum, weil er niemanden für ebenbürtig das Umweltrecht verhindern. Das ging und Marianne Tritz ist jetzt Geschäftsfüh- hielt. Das war schon so, als ich 1985 Pres- letztlich leider nicht. rerin der Zigarettenlobby. sesprecherin der Bundestags- Roth: Schön ist das nicht. Aber fraktion wurde. Der Otto hat das fällt vor allem auf die Leu- einfach kein Benehmen, da te zurück, die solche Jobs an- darf man sich von Krawatte nehmen, nicht auf die Partei. und Taschenuhr nicht täuschen SPIEGEL: Haben Sie es jemals lassen. bereut, in die Politik gegangen SPIEGEL: Auch Fischers krawal- zu sein? liges Auftreten ist legendär. Roth: Nein. Aber das Leben als Roth: Klar, der Joschka war ein Politiker hat einen Preis, keine Macho, wie die meisten 68er. Frage. Schauen Sie doch nur die Bil- SPIEGEL: Welchen? der von damals an. All die Ty- Roth: Es war nicht mein Le- pen und dazwischen Uschi benstraum, kinderlos zu blei- Obermaier mit ihren nackten ben. Aber vor 20 Jahren war es Brüsten. Das sollte revolutionär verdammt schwierig, Politik aussehen, auf mich wirkte es und Kinder unter einen Hut zu wie ein Bild aus dem Playboy- bringen. Kalender. SPIEGEL: Sind Sie manchmal SPIEGEL: Wie konnte ein Mann neidisch auf Ursula von der wie Fischer so lange die Grü- Leyen und ihr Familienglück? nen dominieren, die doch an- Roth: Frau von der Leyen hat- geblich feministisch und basis- te nun wirklich eine andere demokratisch sind? Ausgangssituation, sie konnte Roth: Klar wollte Joschka Chef sich schon damals die Verein- sein, aber bei uns hat es immer barkeit von Familie und Beruf

eine offene Debatte gegeben. REUTERS leisten, sie konnte Kindermäd- Mit einem einfachen „Basta, so Grünen-Frau Roth (in Arizona)*: „Wer kann da nichts empfinden?“ chen und Rund-um-die-Uhr- wird’s gemacht“ kam selbst Betreuung bezahlen. Joschka nicht durch, das wusste er auch. SPIEGEL: Ihre hehren Grundsätze scheinen SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, Ihr Privat- So was funktioniert nur bei der SPD. immer an der bösen Realität zu scheitern. leben sei keine „Erfolgsstory“. Was mein- SPIEGEL: Sie haben mal gesagt: „Die Grü- Roth: Ich hab nie gesagt, dass wir keine ten Sie damit? nen stehen für eine moralische Politik.“ Ist Kompromisse machen müssen. Roth: Es ist sehr schwer, als Politiker über- das nicht anmaßend? SPIEGEL: Sie kommen aber so daher, als haupt ein vernünftiges Privatleben zu ha- Roth: Wir stehen für eine wertebasierte käme man in der Politik ohne Kompro- ben. Sie stehen dauernd im Scheinwerfer- Politik und gehen nicht den einfachen misse aus. Müssten Sie nicht langsam mal licht. Das habe ich selbst gewählt, da be- Weg. Wir sind nicht wie die Konservativen, erklären: Die Grünen sind auch keine bes- klage ich mich nicht. Aber manchmal fühlt die das C im Parteinamen führen und dann seren Menschen, auch wir sind gezwun- man sich verdammt einsam, gerade wenn Kinder abschieben oder einen gesetzlichen gen, kleine schmutzige Geschäfte zu ma- sie von vielen Menschen umringt sind. Mindestlohn verhindern. chen, um an die Macht zu kommen. SPIEGEL: Weil Sie niemandem vertrauen SPIEGEL: Wirklich? Sie haben 1995 gesagt: Roth: Nein, so was werden Sie von mir können? „Wir wollen eine Außenpolitik, die rein zi- nicht hören. Wir sind nicht die FDP, die Roth: Nein, weil ich zwangsläufig auch oft vil ist.“ Dieselbe Claudia Roth stimmte sagt, Hauptsache regieren, egal, was dabei allein bin. Abends, wenn ich im Hotelzim- 1999 dem ersten Kriegseinsatz der Bun- rauskommt. mer bin, ist keiner da. Hinzu kommt: Als deswehr zu. Ist das die moralischere Poli- öffentlicher Mensch kann man sich nicht tik, von der Sie sprachen? benehmen, wie es einem gerade passt. Du Roth: In den achtziger Jahren habe ich mir darfst nicht einfach grantelig sein, wenn nicht vorstellen können, dass deutsche du gerade schlecht gelaunt bist, du darfst Soldaten jemals wieder einen Fuß auf aus- nicht schweigen, weil du in dem Moment ländischen Boden setzen. Dass Militär ei- gerade mundfaul bist. Du musst schon nen Beitrag zur Konflikteindämmung und auch deine Rolle erfüllen, ohne dich des- Friedenserhaltung leisten kann, war ein halb zu verbiegen. Veronica Ferres hat schmerzhafter Lernprozess für uns Grüne kürzlich gesagt, wenn sie an einer Flug- und für mich selbst. hafenkontrolle stehe und die Menschen sie anstarrten, dann fühle sie sich oft allein

HANS-CHRISTIAN PLAMBECK HANS-CHRISTIAN und ungeschützt. Dieses Gefühl kenne ich. * Oben: vor der Hinrichtung von Karl LaGrand im Febru- Roth, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: ar 1999; unten: Markus Feldenkirchen und René Pfister im Frau Roth, wir danken Ihnen für Berliner Kunsthaus Radialsystem. „Das Leben als Politiker hat einen Preis“ dieses Gespräch.

30 der spiegel 1/2009 NOWOSTI / ULLSTEIN BILD BILD / ULLSTEIN NOWOSTI PLAMBECK HANS-CHRISTIAN Rotarmisten in Brandenburg (1945), Heimatforscher Ucksche: In der DDR galten sie als Befreier

von Sowjetsoldaten im Frühjahr 1945 wa- lehrer Helmut Päpke, 74 – früher bei der JUSTIZ ren tabu. In Treuenbrietzen wurde den- SED, heute bei der Partei Die Linke –, hält noch verbreitet, die Russen hätten nach sich an die Sterberegister des Standes- der Eroberung der Stadt Hunderte Män- amts. Darin fänden sich nur 88 Menschen Späte ner erschossen. Einen Einheimischen, der mit dem Zusatz „erschossen“ registriert. 1960 bei der Armee einem Kameraden von „Höchstens 200“ seien es gewesen, erklärt den Exekutionen erzählt hatte, holte die er in dem makabren Streit um Zahlen. Bemühungen Stasi ab. Er saß über ein Jahr im Zucht- Päpke hat auch eine Erklärung für das Erstmals ermitteln deutsche haus. Massaker: Ein SS-Mann habe zuvor aus Als Wolfgang Ucksche nach der Wende seinem Haus auf den Stab der Roten Ar- Staatsanwälte gegen Ex-Rotarmisten Zeitzeugen befragen konnte, wurden ihm mee geschossen und mindestens drei Rus- wegen Kriegsverbrechen. Die die Greueltaten des 23. April 1945 vielfach sen getötet. Die Massenexekution sei die Soldaten sollen im April 1945 bei bestätigt. Was er nicht hörte, war eine Vergeltung dafür gewesen. Potsdam Zivilisten erschossen haben. schlüssige Erklärung für diesen Exzess, der Solche Hypothesen zu überprüfen ist für die Rote Armee nicht typisch war. nun die Aufgabe der Potsdamer Staats- ie Gräber sind in drei Reihen ange- Unstrittig ist: Am 21. April 1945 besetz- anwaltschaft. Sie wurde aktiv, nachdem ein ordnet und mit Efeu bedeckt. „Ge- te das 51. Gardepanzerregiment, das zur Aktivist des „Forums zur Aufklärung und Ddenkt der Toten“ heißt es auf dem 1. Ukrainischen Front gehörte, Treuen- Erneuerung“ – ein Verein von Stalinismus- kleinen Friedhof am Rande des branden- brietzen nahezu kampflos. Die Rotarmis- Opfern – Strafanzeige wegen Kriegsver- burgischen Städtchens Treuenbrietzen. Im ten machten daraufhin mit ihren Standard- brechen und Verbrechen gegen die Mai 1945 wurde er angelegt. Auf den Mar- parolen „Uri, Uri“ und „Frau komm mit“ Menschlichkeit gestellt hatte. Da diese mortafeln sind auch „20 unbekannte Sol- die Stadt unsicher und feierten ordentlich. Delikte im deutschen Strafgesetzbuch daten“ verzeichnet; und „10 unbekannte In den Morgenstunden des 23. April nicht existieren, eröffneten die Staatsan- Zivilisten“. erlebten die Sowjets jedoch eine böse wälte ein Ermittlungsverfahren „gegen un- Wolfgang Ucksche, 52, der Vorsitzende Überraschung. Soldaten der Wehrmacht, bekannte Angehörige der Roten Armee des Heimatvereins Treuenbrietzen, kam verstärkt durch frisch rekrutierte Mitglie- wegen Mordes zum Nachteil deutscher schon als Junge auf seinem Schulweg an der des Reichsarbeitsdienstes und Hitler- Zivilpersonen“. den Grabstätten vorbei: „Ich habe mich jungen vom „Gauschwarm Berlin“ erober- Ob die Potsdamer für die strafrechtliche immer gefragt, warum bei so vielen als ten große Teile von Treuenbrietzen zurück. Verfolgung überhaupt zuständig sind, ist Sterbedatum der 23. April 1945 angege- Es dauerte bis in den Nachmittag, ehe die indes unsicher. Ein Experte des Bundes- ben ist.“ Nach 1990 begann der Hobby- weit überlegenen Rotarmisten die Stadt justizministeriums teilte ihnen lediglich historiker, der zu DDR-Zeiten die örtli- wieder unter Kontrolle hatten. mit, dass die Rechtslage diffus und unklar che Minol-Tankstelle leitete, eine Antwort Wenig später forderten Sowjetsoldaten sei. Zeitzeugen hat die Staatsanwaltschaft zu suchen. Heute glaubt er sie zu kennen. die Bewohner des nördlichen Teils der noch nicht befragt; die Ermittler schrieben In den Gräbern liegen, so Ucksche, die To- Stadt auf, diesen zu räumen. Die Rotarmis- zunächst die militärhistorischen und zeit- ten eines „schlimmen Massakers durch die ten waren gereizt und aggressiv. Am Rand geschichtlichen Institute in Deutschland Rote Armee“. eines Waldes selektierten sie die Zivilisten: an. Diese erklärten jedoch mit Bedauern, Der Fall beschäftigt auch die Staats- Frauen und Kinder durften weiterziehen. dass sie für die Rote Armee nicht zustän- anwaltschaft im nahen Potsdam – womit Die Männer mussten nach rechts heraus- dig seien. erstmals eine deutsche Behörde gegen treten – und wurden erschossen. Mitte November sandten die Ermittler ehemalige Soldaten der Siegermächte des Die Schätzungen darüber, wie viele im Rahmen des „Rechtshilfeverkehrs in Zweiten Weltkriegs wegen Kriegsver- Deutsche die Sowjetsoldaten an diesem strafrechtlichen Angelegenheiten“ ein brechen ermittelt. Mitte November baten Tag umbrachten, klaffen weit auseinander. Schreiben an den russischen General- die Potsdamer den Generalstaatsanwalt Heimatforscher Ucksche geht von 800 bis staatsanwalt. Darin fragten sie, welche Ein- der Russischen Föderation um Rechtshilfe. 1000 Menschen aus. Ein Mann, der bei der heiten und Kommandeure für die Er- Die späten Bemühungen um Aufklärung Beerdigung der Opfer in den Massen- schießungen verantwortlich gewesen sein sind ein ebenso einmaliger wie heikler gräbern mitgearbeitet hatte, habe ihm be- könnten. Vorgang. richtet: „Bei 721 haben wir aufgehört zu Nun bleibt den Staatsanwälten in Pots- In der DDR galten die Rotarmisten zählen.“ dam und den Heimatforschern in Treuen- als Befreier und Waffenbrüder. Massen- Im Ort gibt es jedoch auch andere Be- brietzen nichts als zu warten – auf Post aus vergewaltigung und andere Verbrechen rechnungen. Ucksches einstiger Geschichts- Moskau. Michael Sontheimer

der spiegel 1/2009 31 Deutschland

KRIMINALITÄT Der Staatsanwalt und die Phantome Als letzten Ausweg vor der Insolvenz begeben sich manche Unternehmer in die Hände illegaler Firmenbestatter. Ein Ermittler aus Gera, der die Machenschaften aufdeckte, eckte bei Kollegen und Vorgesetzten an – und wurde versetzt. Von Bruno Schrep

immer 207, gelegen im zweiten Stock der Staats- Zanwaltschaft Gera, ist kein Büro zum Vorzeigen. Der graue Teppichboden ist ver- schlissen, das Mobiliar marode. Zwischen Leitz-Ordnern ein- geklemmt steht ein Kinder- foto, nicht weit daneben eine Pappflasche mit der Aufschrift „Gourmet-Frühstücksdrink“. Ansonsten Berge von Akten. Akten in den Regalen. Auf dem Schreibtisch. Auf dem Fußbo- den. In Kartons gezwängt. In beschrifteten Müllsäcken ver- packt. „Das hier ist nur der letzte Rest“, sagt Staatsanwalt Frank Erdt und macht eine kreisende Handbewegung: „Die meisten Akten lagern längst im Ge- richt.“ Der 47-jährige Ermittler, ein großer blonder Mann im korrekt sitzenden dunkelgrau- en Anzug, redet schnell und in kurzen, knappen Sätzen. Ja, über 2000 Strafverfahren habe er in dieser Sache eingeleitet. Staatsanwalt Erdt in seinem Büro, Hafen von Marbella, Zeitungsanzeige: Oben Drahtzieher, in der Mitte Nein, der Fall sei ihm nicht über den Kopf gewachsen. Doch, er würde es nannte Erdt das Betrugskartell „Marbella- schleppung und Bankrott, trauern Gläubi- genau wieder so machen. „Man musste Connection“. ger ihrem Geld nach. sich eben reinknien in diese Sache.“ Aufgenommen hatte Erdt die Spur im Weil einige Fälle auch im Raum Gera Diese Sache, das ist einer der großen Jahr 2001, sie beginnt als kleiner Betrugs- spielen, fordert Erdt bei Kollegen anderer Wirtschaftskrimis der Bundesrepublik und fall der Bauunternehmerin Franziska H. Staatsanwaltschaften die Ermittlungsakten das umfangreichste Strafverfahren des Die Geschäftsfrau wehrt sich vehement an – sie werden gern geschickt. Erstens, weil Landes Thüringen. Es geht um viele Mil- gegen den Vorwurf, ihre Gläubiger be- jeder Einzelfall für sich allein eher gering- lionen Euro Schaden, um Tausende ge- humst und die Insolvenz ihrer Firma ver- fügig erscheint. Zweitens, weil komplizier- lackmeierter Gläubiger und Dutzende Pro- schleppt zu haben. Sie sei nicht mehr Ge- te Wirtschaftsverfahren viel Wissen und fiteure. Und um ein Delikt, das in Zeiten schäftsführerin, behauptet sie vor Gericht, noch mehr Zeit erfordern, meist schwer be- von Wirtschaftskrisen und zunehmender habe den Betrieb längst an einen Investor weisbar sind und oft genug mit Freispruch Pleiten deutlich Konjunktur hat: die ille- in Spanien verkauft. Mit den blöden oder Einstellung enden. Drittens, weil mit gale Liquidierung zahlungsunfähiger Un- Schulden habe sie deshalb nichts mehr zu der Thematik überforderte Ermittler froh ternehmen. Dafür gibt es inzwischen ei- tun. Hier sei die neue Adresse, bitte sehr. sind, den Kram loszuwerden. nen eigenen Begriff: „Firmenbestattung“. Ermittler Erdt, in Gera zuständig für Erdt dagegen, aufgewachsen im nieder- Diese Sache, das ist aber auch die Ge- Wirtschaftskriminalität, wird stutzig. Er rheinischen Moers, hat im bayerischen Pas- schichte eines engagierten Staatsanwalts, vergleicht den Namen des Firmenkäufers sau nicht nur Jura studiert, sondern auch der sich die unerbittliche Verfolgung einer mit Handelsregisterlisten, die er sich aus Marketingvorlesungen besucht. Er versteht Betrügerbande zur Lebensaufgabe machte, dem Internet zieht – und siehe da: Der etwas von Wirtschaft, kann Bilanzen lesen. dem sein Jagdeifer allerdings kein beruf- neue Gesellschafter und Geschäftsführer Fortan brütet er 12 bis 14 Stunden täglich, liches Glück brachte. der maroden Baufirma hat gleich 50 Pleite- auch an den Wochenenden, über Akten aus Die Spur, die Staatsanwalt Erdt so hart- firmen aufgekauft, quer über die Bundes- ganz Deutschland. Stößt auf neue Namen, näckig verfolgte, führte ihn vom grauen republik verteilt. In Villingen und Ravens- auf neue Verbindungen, rekonstruiert Zu- Gera ins spanische Marbella, das Domizil burg, in Stadthagen und Darmstadt, in sammenhänge. Erkennt, dass die verschie- vieler gutsituierter Bundesbürger. Nach Hildesheim und Dortmund. Überall dort denen Puzzleteile aus allen Ecken der dem noblen Badeort an der Costa del Sol laufen Verfahren wegen Insolvenzver- Republik ein großes Ganzes ergeben: die

32 der spiegel 1/2009 Marbella-Connection, eine straff geführte Euro – Geld, das die Verkäufer schwarz Pro Firma kassiert der Nigerianer, der kriminelle Organisation mit klarer Aufga- zu ihren maroden Betrieben dazulegen. auch unter den Namen Darren Henry benteilung. Oben die Drahtzieher, in der „Weg mit Schaden“, so heißt das Motto. Francis und Cole Cici Noel auftritt, 500 Mitte die Abwickler, unten die Indianer. Offiziell wird der jeweilige Betrieb zu Euro in bar – leichtverdientes Geld. Denn Als Boss ortet Erdt den früheren Han- einem imaginären Preis verkauft, der nie als neuer Geschäftsführer kümmert er delsschullehrer Herbert Elders. Der grau- gezahlt wird. Nach der Kontaktaufnahme sich weder um Schulden noch um Außen- bärtige Jaguar-Fahrer, ein resoluter Mitt- tauchen die Repräsentanten nicht mehr auf. stände, wie er es laut Gesetz müsste, prüft sechziger, residiert in einer Luxusvilla in Den Rest erledigen Strohmänner. Sie be- keine Buchführungsunterlagen, erstellt den Bergen von Marbella und hat eine gleiten die alten Firmeninhaber zum Notar, keine Bilanz, er lässt sich bei der gerade mehrköpfige Führungsriege um sich ge- schließen die Kaufverträge ab und lassen erworbenen Firma nicht mal blicken. Sein schart: seine Ehefrau, den früheren sich als neue Geschäftsführer im Handels- Job endet mit der Übernahme. Das Unter- Rechtsanwalt Claus Krause aus Kleve und register eintragen. Oft kreuzen sie zu den nehmen ist mausetot. So tot wie etwa die Baufirma JBH im sächsischen Cunners- dorf. Die Arbeiter, die bis heute auf ihren Lohn warten, bekamen den neuen Eigentümer nie zu sehen. Ihr alter Chef teilte nur mit, dass er den Betrieb an den seriösen Herrn Cole Cici Noel veräußert habe, der die Rück- stände sicher schnell begleichen werde. Als Letztes hinterließ er die neue Firmenanschrift „Apto. 138, Marbella, Spain“. Doch Briefe an diese Adresse kamen mit dem Hinweis zurück: „Nicht zustellbar“. Die Connection ver- fügte über einen entsprechen- den Poststempel. Der Schaden, den Firmenbe-

MARTIN JEHNICHEN (L.); JON ARNOLD IMAGES / IFA-BILDERTEAM (M.); SPIEGEL TV (R.) / IFA-BILDERTEAM IMAGES JEHNICHEN (L.); JON ARNOLD MARTIN statter Jahr für Jahr anrichten,

Abwickler, unten Indianer

Norbert G., der sich gern als „Professor“ Notarterminen mit gefälschtem vorstellt. Pass und unter falschem Na- Die Vorgehensweise der Bande ist im- men auf. Drogenabhängige mer gleich. Von Marbella aus schalten sind darunter, hochbetagte Senioren, sogar ist beträchtlich. „Pro Fall kommen locker Elders, der sich als Steuerberater ausgibt, Hausfrauen, die einen Nebenverdienst su- 100 000 Euro zusammen“, schätzt Matthias und seine Komplizen reihenweise Anzei- chen. Erdt bezeichnet die Strohleute mit Marzluf, Anwalt einer großen Mannhei- gen in großen deutschen Tageszeitungen der falschen Identität als „Phantome“. mer Wirtschaftskanzlei. Marzlufs Büro ver- und im Internet. „Statt Konkurs: GmbH- Donald A. aus Wiesbaden ist so ein tritt rund 120 von Bestattern reingelegte Verkauf“ locken knallige Überschriften, Phantom. Der Nigerianer avancierte in- Gläubigerfirmen, die Forderungen sum- oder noch unmissverständlicher: „Bringen nerhalb kurzer Zeit zum Geschäftsführer mieren sich auf 12 Millionen Euro. „Geht Sie Ihre Schäfchen ins Trockene“ und von über 150 Unternehmen, verteilt auf das man von 1000 Fällen in ganz Deutschland „Schulden ade“. Im Text wird den In- gesamte Bundesgebiet. Meist legte er ei- aus, ist man schon bei 100 Millionen“, rech- teressenten nahegelegt, sich ihrer Firma nen Ausweis vor, der auf den Namen Kim- net der Anwalt vor. „mit einer einfachen Sitzverlegung nach belyn Obi ausgestellt ist. Obwohl das Pass- Große Konzerne versichern sich meist Spanien zu entledigen, damit niemand an foto erkennbar einen anderen Schwarz- gegen solche Forderungsausfälle; kleine den Rest Ihres Vermögens kommt“. afrikaner zeigt, protokollierten allein in Handwerksbetriebe hingegen geraten oft Wer sich meldet, und das sind Hunderte Wiesbaden über 20 Notare anstandslos die selbst in einen tödlichen Sog: „Ich musste klammer Firmenchefs, die Angst vor der Kaufverträge. Sie störten sich auch nicht sieben Leute entlassen und mein Erspar- Zwangsvollstreckung, vor der Einsetzung daran, dass der Nigerianer, der nur gebro- tes opfern“, berichtet Uwe Schulze, Ge- eines Insolvenzverwalters oder vor ihren chen Deutsch spricht, an manchen Tagen schäftsführer eines Cottbusser Malerbe- Gläubigern haben, bekommt Besuch von innerhalb einer Stunde gleich mehrere triebs. Im Auftrag eines großen Bauträgers sogenannten Repräsentanten – alerten Kapitalgesellschaften auf einmal kaufte, hatten seine Männer die Fassaden zweier Vermittlern, die kurz mal in die Bücher manchmal fünf, sechs beim selben Termin. Mietshäuser saniert, zum Festpreis von gucken und dann um die Konditionen „Hier hat es an Sorgfalt beim Notar ge- 100000 Euro. feilschen. Pro Firmenübernahme kassiert fehlt“, moniert Staatsanwalt Erdt, „das Als Schulze sein Geld fordert, wird er an die Connection zwischen 5000 und 15000 kann man sich an drei Fingern abzählen.“ Jutta S. verwiesen, wohnhaft in Spanien,

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Strohfrau der Marbella-Connection. Die Der Kampf gegen die Bande an der geht, mit der man garantiert nicht in die Deutsche hatte sich gegen Honorar als Costa del Sol ist dem Staatsanwalt zur Pas- „tagesthemen“ kommt, bei der es auch neue Geschäftsführerin ins Handelsregister sion geworden. Er hat über Jahre recher- keine Prominenten zu überführen gibt. eintragen lassen; eine Funktion, die sie be- chiert, jede Verästelung des Betrügernetzes Und es klingt nach einem Beamten, der reits bei über 40 weiteren maroden Unter- ausgeleuchtet, er hat Verfahren auf Ver- alsbald befördert wird. nehmen ausübte. Kurz vor dem Deal hatte fahren eingeleitet, Haftbefehle beantragt, Doch es kam ganz anders. Frank Erdt ist der Eigentümer der Bauträgergesellschaft Dutzende Anklageschriften verfasst, man- frustriert. Mitte Dezember hat er das letz- noch schnell seinen Maschinenpark ver- che sind Hunderte Seiten lang. te Urteil gegen ein Mitglied der Marbella- kloppt und den Gewinn beiseitegeschafft – Zwischen 2004 und 2008 wurden auf- Connection erwirkt; der Angeklagte Ro- eine typische Insolvenzstraftat. grund von Erdts Anklagen 24 Beschuldigte land B. bekam zwei Jahre auf Bewährung. Die Gesetzeslage ist klar: Droht einem verurteilt, 7 davon zu Freiheitsstrafen ohne Die Connection ist zwar erledigt, aber Unternehmen die Zahlungsunfähigkeit, Bewährung, 16 zu Strafen mit Bewährung. längst gibt es neue Fälle. muss binnen drei Wochen ein Insolvenz- Ein Notar aus Jena, der reihenweise dubio- Auf Anweisung seines Behördenleiters antrag gestellt werden. Geschieht dies, prüft se Kaufverträge protokollierte, kam mit ist Erdt jedoch für Wirtschaftsstrafsachen ein Insolvenzverwalter, ob noch Vermögen einer Geldstrafe davon. „Ohne Frank Erdt nicht mehr zuständig. Rolf Mundt lobt zwar vorhanden ist, ob die Firma eventuell wei- wäre kein Strippenzieher je zur Rechen- Engagement und Fleiß seines Untergebe- tergeführt werden kann oder dichtgemacht schaft gezogen worden“, betont der Geraer nen, dieses „besessenen Spezialisten“. Er werden muss. Geschieht dies nicht, macht Richter Friedrich Franke, der viele der Pro- sagt jedoch auch: „Diese Verfahren sind sich der Geschäftsführer strafbar. zesse gegen die Firmenbestatter geführt hat. viel zu groß für uns, sprengen jeden Rah- Doch die Folgen einer Pleite fürchten Franke schickte den Nigerianer Do- men. Wir sind überfordert.“ viele Geschäftsleute weit mehr als den nald A., der als Kimbelyn Obi und als Cole Jahrelang hat Mundt die Klagen der Staatsanwalt: Nicht nur, dass neben dem Cici Noel so viele Notare genarrt hatte, für Justizwachtmeister gehört, die täglich restlichen Firmenkapital oft der Verlust des knapp drei Jahre hinter Gitter. Einen Erdts Aktenberge zu schleppen hatten; Privatvermögens droht, manchmal sogar 70-Jährigen, der mit zwei falschen Pässen der Sekretärinnen, die sich über massen- das Eigenheim unter den Hammer kommt. durch Deutschland reiste, verurteilte er gar weise Schreibarbeit beschwerten; der Gefürchtet wird auch der Gesichtsverlust zu vier Jahren Gefängnis. Staatsanwälte, die sich fragten, warum vor Geschäftspartnern und Angehörigen, Zur Farce geriet der Prozess gegen Erdt sich Strafverfahren aus Hamburg, die Schande, als Verlierer dazustehen. Hin- Marbella-Boss Herbert Elders und seinen Dortmund oder Frankfurt aufhalse – und zu kommt, dass mit dem Malus einer In- Komplizen Norbert G. vor dem Land- sie dessen ortsnahe Fälle mit übernehmen solvenz jeder Neuanfang schwerfällt. gericht Mühlhausen. Der Richter ließ die müssten. Kurzum: Frank Erdt hat den reibungslosen Ablauf in einer deutschen Behörde ge- stört. Deshalb soll er sein enormes Wissen über die Tricks von Firmenbestattern künftig bei Vorträgen in der Republik vermitteln, aber nicht mehr in der Praxis an- wenden. Erdt wird künftig Umweltsünder verfolgen und, wie früher schon einmal, Ein- brecher, Diebe und Schwarz- fahrer anklagen, und zwar jene, deren Nachname mit den Buchstaben U, V, W, X, Y oder Z beginnt.

SPIEGEL TV JEHNICHEN MARTIN Dabei werden Spezialisten Connection-Boss Elders, letzter Marbella-Angeklagter B.*: „Diese Verfahren sind zu groß für uns“ wie Erdt womöglich bald dringender gebraucht als je Die Neigung, sich aus der Verantwor- Verlesung von Erdts 750 Seiten dicker zuvor. Um mehr als 15 Prozent könnten tung zu stehlen, ist die Gelegenheit der Anklageschrift abbrechen. Dieses Werk, die Firmenpleiten im kommenden Jahr zu- Firmenbestatter. Mit ihrer Hilfe gelingt begründete er seinen ungewöhnlichen nehmen, befürchteten etwa die Fachleute es vielen Pleitiers, ungeschoren davon- Schritt, sei viel zu kompliziert, für die Pro- beim 1. Münchner Symposium von Insol- zukommen: Ist die Firma erst einmal zessbeteiligten nicht zu verstehen und des- venz- und Sanierungsexperten. verkauft, sind die Gläubiger auf die fal- halb nicht zumutbar. Um Schwindel wie den der Marbella- sche Fährte gelockt, wird es immer schwie- Stattdessen wurde ein Deal ausgehan- Connection wenigstens zu erschweren, hat riger, Manipulationen und Tricksereien delt. Ermittler Erdt ließ 1200 seiner 2000 der Gesetzgeber reagiert: Seit dem 1. No- zu rekonstruieren, an beiseitegeschaff- Anklagepunkte fallen, die Beschuldigten vember muss bei Firmenverkäufen auch tes Vermögen heranzukommen, einen gestanden den Rest. Bandenchef Elders, eine deutsche Geschäftsadresse ins Han- Vorsatz nachzuweisen. „Den größten der stets geleugnet hatte, sagte nur drei delsregister eingetragen werden. Ob diese Schaden richten die betrügerischen Alt- Worte: „Ja, es stimmt.“ Und erhielt fünf Regelung jedoch wirklich reicht, nicht eigentümer an“, folgert Ermittler Frank Jahre Knast, wegen Verletzung der Buch- durch fingierte Angaben leicht ausgehe- Erdt, „die Bestatter machen den Sarg- führungspflicht und Falschbeurkundung. belt werden kann, wird unter Juristen deckel zu.“ Mittäter G. kassierte dreieinhalb Jahre. skeptisch betrachtet. Der Geraer Richter Das klingt nach Happy End, nach einer Franke sieht die Aussichten für Firmen- Strafverfolgungsbehörde, die mit viel Be- bestatter weiter günstig: „Für die ist die * Links: 2005 in seinem Jaguar in Marbella; rechts: am 12. Dezember 2008 mit seiner Verteidigerin vor dem Amts- harrlichkeit einen Sumpf austrocknet; die Finanzkrise doch ein Konjunkturpro- gericht Gera. einer Sorte Wirtschaftskriminalität nach- gramm, da hilft kein Gesetz.“

34 der spiegel 1/2009 AUSLÄNDER Warme Worte Als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung hat Maria Böhmer versagt – das Amt in der von ihr geführten Form ist überflüssig.

ie hatte sich am Morgen das hellrote Jackett ausgesucht, dazu passte die SAnsteckblume und ein wenig Schmin- ke. Dann war sie ins Kanzleramt gefahren. Um zwölf sollte sie die Festrede halten, ein Grußwort, im Grunde eine Geburtstags- rede für ein Amt, das Amt der Beauftrag- ten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Ihr Amt. 30 Jahre alt ist es kürzlich geworden. Seit drei Jahren hat Maria Böhmer (CDU) den Job. Bei dem Festakt im Kanz- leramt sprach Böhmer, wie sie schon vor

ein paar Wochen beim sogenannten Inte- DPA ARNO BURGI / PICTURE-ALLIANCE/ grationsgipfel gesprochen hatte. Wie sie Staatsministerin Böhmer (in Berlin): Sie erklärt den Menschen, was die Regierung will eigentlich immer spricht. Sie verwendete warme, freundliche Worte, die gut zur Art Wortführer der Migranten-Apo, ein Mehr als 15 Millionen Menschen in sanften mintgrünen Teppichware passen, nicht sonderlich ernst gemeintes Symbol Deutschland haben einen sogenannten die vermutlich auf Anraten eines konflikt- des guten Willens. Aber zumindest ein Migrationshintergrund. Maria Böhmer scheuen Innenarchitekten im Kanzleramt Symbol. hätte ihnen eine Stimme am Kabinetts- verlegt worden ist. Sie sagte: „Deutschland Liselotte Funcke, FDP, die von 1981 bis tisch geben können, so wie der Landwirt- ist auf einem guten Weg.“ Kürzlich hieß es: 1991 im Amt war, wurde von vielen „Mut- schaftsminister den Milchbauern eine Stim- „So viel Integration wie in diesem Jahr ter der Türken“ genannt. Ihre Nachfolgerin me verleiht und der Wirtschaftsminister war noch nie.“ Vielleicht findet Maria Böh- Cornelia Schmalz-Jacobsen kam ebenfalls den Unternehmen. Böhmer hat das nicht mer wirklich, dass es ein gutes Jahr gewe- von den Liberalen. Sie war sieben Jahre getan, viele Migranten nehmen ihr das sen ist. Ausländerbeauftragte. Helmut Kohl bat sie übel. Das Jahr 2008 begann mit Roland Kochs nicht ein einziges Mal zu einem offiziellen „Ich denke nicht, dass Frau Böhmer sich Wahlkampf in Hessen, den viele als offen Gespräch über Ausländer. Und die Vor- als Obhutsfrau der Migranten versteht“, ausländerfeindlich bezeichnet haben. Der gängerin von Maria Böhmer, die Grüne sagt Lale Akgün, Islambeauftragte und ehemalige CDU-Innenminister Rudolf Sei- Marieluise Beck, ließ keine Gelegenheit stellvertretende migrationspolitische Spre- ters hat in diesem Jahr Teile des neuen Zu- aus, Otto Schilys Zuwanderungspolitik zu cherin der Sozialdemokraten im Bundes- wanderungsrechts als zu restriktiv kriti- kritisieren. tag. Kenan Kolat, der Vorsitzende der Tür- siert. Und im bayerischen Wahl- Maria Böhmer hat mit dieser kischen Gemeinde in Deutschland, glaubt: kampf sagte der ehemalige Tradition gebrochen. Sie erklärt „Sie sagt uns, dass sie sich intern für unsere Staatsminister Erwin Huber zum Es ist schwer, nicht der Regierung, was die Belange einsetzt, aber es wäre schön, wenn Einbürgerungstest: „Es genügt unter Migran- Migranten wollen. Sie erklärt man davon etwas in der Öffentlichkeit mit- nicht, das Wort Sozialhilfe zu ten jemanden den Migranten, was die Regie- bekäme.“ Und der Holtzbrinck-Manager kennen.“ zu finden, der rung will. Walid Nakschbandi, der Teilnehmer der Maria Böhmer ist 58 Jahre alt, glaubt, dass Nun zeigt sich, was Angela Islamkonferenz war, sagt: „Maria Böhmer trägt gern Blazer in mutigen Far- Böhmer für sie Merkel meinte, als sie nach der lässt eine Menge bunter Broschüren ben, ist Vorsitzende der Frauen- Bundestagswahl das Thema In- drucken, besucht Moscheen und glaubt, Union und seit der Bundestags- kämpfe. tegration zur Chefsache mach- etwas für die Integration zu tun. In dieser wahl Integrationsbeauftragte. te. Der Posten des Integrations- Form braucht dieses Amt wahrlich kein Das Amt der „Ausländerbeauftragten“ beauftragten wurde in den Rang eines Mensch.“ Es ist schwer, unter Migranten wurde zu einer Zeit eingeführt, als es noch Staatsministers gehoben. Maria Böhmer, jemanden zu finden, der glaubt, dass Böh- Gastarbeiter gab, als Deutschland noch die sich bis dahin kaum mit dem Thema mer für sie kämpfe. keine gebildeten Kräfte brauchte, nur un- Integration beschäftigt hatte und offenbar Dabei kämpft sie bisweilen sogar, aller- gebildete Kräftige. Maria Böhmer hat in lieber Kulturstaatsministerin geworden dings nicht für die Ausländer. Sie ver- den drei Jahren, die sie Integrationsbeauf- wäre, bekam einen neuen Posten und ein teidigt so gut wie jede Verschärfung des tragte ist, etwas sehr Bemerkenswertes er- schönes Büro im Kanzleramt zugewiesen, Zuwanderungsrechts. Den von vielen als reicht. Sie hat aus einem schwachen Amt mit breiter Terrasse und Blick auf den überflüssig und zu anspruchsvoll bezeich- ein überflüssiges gemacht. Reichstag. Zum ersten Mal saß die Inte- neten Einbürgerungstest hat sie verteidigt. Lange Jahre schien klar zu sein, was ein grationsbeauftragte am Kabinettstisch. Die- Das Optionsmodell, das in Deutschland Ausländerbeauftragter tut. Der Amtsträ- se Veränderungen wurden als Aufwertung geborene Kinder ausländischer Eltern ger bekam kaum Mitarbeiter, kaum Macht, der Integrationspolitik verkauft. In Wahr- zwingt, sich für eine Staatsangehörigkeit dafür wurde toleriert, dass er sich ener- heit war es die Stilllegung eines institutio- zu entscheiden, verteidigt sie ebenfalls: gisch für die Belange der Ausländer ein- nalisierten Unruheherds. Merkel mag kei- „Es ist auch eine Identifikation mit diesem setzte und die Regierung kritisierte. Eine ne Kritik. Böhmer hat für Ruhe gesorgt. Land.“ Und als ihr Parteifreund Koch in

der spiegel 1/2009 35 seinem Wahlkampf das Thema kriminelle ausländische Jugendliche für sich ent- deckte, hörte man von Maria Böhmer kaum etwas. Kochs Kampagne nennt sie bis heute verniedlichend „Zuspitzung“. Vielleicht ahnt Maria Böhmer nicht, wie viel diese regelmäßig vor Wahlterminen wiederkehrenden „Zuspitzungen“ kaputt- machen. Gerade wenn dieselben Politiker regelmäßig fordern, dass man sich als Einwanderer mit diesem Land identifizie- ren soll. Vor ein paar Tagen saß Maria Böhmer in ihrem Büro im Kanzleramt. Eine nette, freundliche Frau, die auch nach einem langen Gespräch nicht vergisst, dass sie mit einem Journalisten redet. Wenn man sie fragt, was sich seit ihrem Amtsantritt in Sachen Integration ver- ändert hat, kommt sie auf den Nationalen

Integrationsplan zu sprechen. „Er ist das SOLCHER BERTRAM Herzstück“, sagt Böhmer. Operation an der Hüfte, Röntgenaufnahme eines künstlichen Hüftgelenks: „Es klirrte, als ob eine Man kann sich die Integrationspolitik der Bundesregierung in zwei Teilen vor- stellen. Das Fordern und das Fördern. Zum MEDIZIN Fordern gehören Dinge wie der Einbürge- rungstest, der Sprachtest beim Ehegatten- Nachzug, die Regelung, sich für eine „Wie ein Stromschlag“ Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Das Fordern ist in Gesetzen geregelt. 400 000 künstliche Gelenke werden jährlich implantiert, doch immer Das Fördern steht im Nationalen Inte- grationsplan. Dort sind rechtliche Rege- wieder kommt es zu Materialfehlern. Die Patienten lungen nicht vorgesehen. Der Plan enthält bleiben ahnungslos ihrem Schicksal überlassen – bis das Metall bricht. Absichtserklärungen. Im Grunde ist der Plan eine Auflistung von 400 teilweise seit alf Siegel wollte an diesem Morgen Schließlich hatte der Hersteller Eska Im- langem existierenden Selbstverpflichtun- wie gewohnt in seine Schuhe glei- plants Teilstücke des bei Siegel implantier- gen von Bund, Ländern, Gemeinden und Rten. Mit der linken Hand hielt er sich ten Hüftmodells bereits im Herbst 2005 verschiedenen Organisationen. Jugend- am Kleiderschrank fest, mit der rechten vom Markt genommen – wegen einer er- clubs, Nachhilfeeinrichtungen für Migran- dirigierte er einen wadenlangen Schuh- höhten Rate von Problemfällen, so das tenkinder, solche Sachen. Vieles gab es löffel. Die Methode hatte er sich angeeig- Bundesinstitut für Arzneimittel und Me- schon lange vor dem Nationalen Integra- net, um sein Hüftgelenk zu schonen. dizinprodukte. Das Unternehmen tauschte tionsplan. Doch diesmal machte es „knack“. Sie- damals alle Produkte, die noch im Lager „Es gibt auch sehr konkrete Dinge“, sagt gel, 37, sackte das Bein unter dem Körper waren, gegen andere Modelle aus. Dass Böhmer. „Wir haben die Integrationskurse weg. Ein stechender Schmerz durchzog sei- auch die Artikelnummer 11 671 001, sein quantitativ und qualitativ verbessert. Bis ne rechte Seite. frisch eingepflanztes Hüftgelenk, betrof- 2012 wird die Quote der Schulabbrecher Vor gut vier Jahren war dem Berliner fen war, erfuhr Siegel nicht. halbiert. Außerdem müssen 2012 alle Kin- Kaufmann ein künstliches Hüftgelenk im- Er hätte es auch nie erfahren, eine Be- der bei der Einschulung Deutsch beherr- plantiert worden. „Ich habe geweint vor nachrichtigung ist in solchen Fällen in schen.“ Freude“, erinnert sich Siegel, „als der Arzt Deutschland schlicht nicht vorgesehen. Das Sie kündigt auch an, dass bis dahin mir anbot, meine kaputte Hüfte durch eine erscheint absurd, weil bei jedem fusselnden die schulischen Leistungen der ausländi- künstliche zu ersetzen.“ Und tatsächlich Pullover und jedem defekten Wasserko- schen Schüler denen der deutschen ent- konnte er nach der Operation wieder ein cher die Produzenten ihre Kunden über sprechen sollen. Mit anderen Worten, in normales, schmerzfreies Leben führen, die Medien informieren. Wenn es aber um gut drei Jahren will Maria Böhmer das Tischtennis spielen, mit seinen Kindern lebenswichtige Medizinprodukte geht, wer- erreichen, was jahrzehntelang in der Bil- toben. „15 bis 20 Jahre“, so hatte man ihm den die Verbraucher dumm gehalten. dungspolitik nicht gelungen ist. Das hal- versprochen, sollte das Implantat halten. Die Folge: Viele Patienten haben keine ten nicht wenige für einen sehr ambitio- Weit gefehlt. Der fingerdicke Metallstift, Ahnung, dass ihre Prothese jederzeit bers- nierten Plan. der Siegels Becken mit dem Oberschenkel ten kann. Experten gehen von einigen Nachdem Maria Böhmer bei der Feier- verband, brach im vergangenen Mai. Siegel hundert fehlerhaften Implantaten aus; stunde im Kanzleramt ihre Rede beendet bewahrt das Bauteil, einen Konusadapter schließlich sind nicht nur Produkte von hatte, kam der Integrationsbeauftragte des mit der Artikelnummer 11671001, in einer Eska Implants auffällig geworden, auch WDR ans Mikrofon, Gualtiero Zambonini, weißen Dose auf. Es ist das entscheidende Gelenkteile der Falcon Medical oder von ein freundlicher Mann. „Wissen Sie, was Beweisstück jener Klage gegen seinen Braun Aesculap haben versagt. ich sage, wenn man mich fragt, was ich Arzt, die Siegel vor zwei Wochen einge- Für die Patienten bedeuten die neuen in meinem Amt erreichen möchte? Ich reicht hat. Operationen nicht nur erhebliche Schmer- möchte, dass mein Amt irgendwann über- Dabei geht es nicht um den Material- zen. Das Brechen der Implanate kann zu- flüssig ist.“ fehler als solchen – er ist unstrittig. Es geht dem enorm gefährlich werden, wenn dies Maria Böhmer hat das schon erreicht. darum, dass Siegel nicht schon vor drei etwa beim Radfahren oder Wandern ge- Juan Moreno Jahren informiert und gewarnt wurde. schieht. „Diese Leute müssten eigentlich

36 der spiegel 1/2009 der Hersteller später vom Markt nahm. Im Austausch von Hüft- Oktober stand Warnke dann auf seiner Wei- prothesen und ihren de in der Lüneburger Heide und fütterte Komponenten 2007 seine Schafe, als es ihn „wie ein Strom- in Deutschland: schlag“ durchzuckte. Warnke ging zu Bo- 21782 den. Er brüllte über eine halbe Stunde um Hilfe, bis ihn endlich seine Tochter fand. Steigerungsrate Vier Tage musste Warnke im Kranken- gegenüber 2003 haus auf seine Revisionsoperation warten, rund 100 % weil den Ärzten das geeignete Werkzeug Quelle: www.bqs-outcome.de fehlte und bei Braun Aesculap an dem Freitag niemand mehr zu erreichen war. Erst am darauf folgenden Dienstag stan- den das Equipment und gleich auch ein Mitarbeiter des Prothesenherstellers be- reit, der die Operation beobachten wollte. Das defekte Implantat nahm er gleich mit. Braun Aesculap räumte nach der Ope- ration einen Materialfehler ein und bot Warnke 10000 Euro Schmerzensgeld an.

OKAPIA Doch das ist dem Bauern nicht genug. Vier Tasse auf dem steinernen Boden zerspringt“ Tage lag er bis zur Operation im Bett fixiert, die Rehabilitationsmaßnahmen er- unverzüglich über die Probleme der Pro- Warum sich die Hersteller gegen „ein streckten sich über Wochen; noch heute dukte informiert werden“, mahnt der Ber- Prothesenregister als Frühwarnsystem“ kann Warnke nicht ohne Krücken laufen. liner Anwalt Jörg Heynemann, der eine stemmen, wie es der Kieler Professor Has- Selbst wer die Tortur eines zweiten Ein- Vielzahl Hüftgeschädigter vertritt. „In senpflug verlangt, erklärt sich aus einem griffs überstanden hat, muss nicht außer Deutschland werden jährlich rund 400 000 spektakulären Urteil des Berliner Landge- Gefahr sein. Hans-Joachim Bölitz, 64, hat künstliche Gelenke eingesetzt, 3,5 Mil- richts von Anfang Dezember. Dem Rent- diese Erfahrung jedenfalls gemacht. Beim liarden Euro werden dafür ausgegeben, ner Kurt Gerhardi, heute 61, wurde 2003 Walking auf dem Sportplatz war sein Im- aber die Herstellerqualität endet oft vor der Hüftschaft Varicon des Herstellers Fal- plantat vor vier Jahren zerbrochen. „Es der Krankenhaustür“, kritisiert der Kieler con Medical implantiert. Im Januar 2005 Joachim Hassenpflug, Vizepräsident der nahm die Firma das Produkt vom Markt. Deutschen Gesellschaft für Orthopädie Eine Untersuchung des Bundesamts für und Orthopädische Chirurgie. Seine For- Materialforschung hatte ergeben, dass derung: die Einrichtung eines Implantat- durch Korrosion auf der Schaftoberfläche Registers. Kerben entstehen können, die in verein- Als Vorbild dienen die Zulassungslisten zelten Fällen Schwingungsbrüche auslös- des Flensburger Kraftfahrt-Bundesamtes ten. Rund 60 dieser Implantate sind bis heu- (KBA). Entdeckt ein Autohersteller einen te in Deutschland gebrochen. Gerhardis immer wiederkehrenden Schaden, kann er Hüftschaft könnte das nächste sein. über die KBA-Datei alle betroffenen Fahr- „Ich traue mich kaum noch ohne Krü- zeughalter informieren und in die Werk- cken aus dem Haus“, sagt Gerhardi. Eine stätten rufen. erneute Operation mit den damit verbun- Auch bei Implantatskunden wären die denen Risiken scheut der Rentner aller- Voraussetzungen gegeben. Im sogenann- dings auch. Deshalb soll er sich jetzt alle ten Prothesenpass sind der Hersteller, alle sechs Monate in der Klinik kontrollieren

Bauteile mit Artikelnummer sowie das Da- und röntgen lassen, damit Schäden am Im- KOALL CARSTEN tum des Einbaus vermerkt. Doch was etwa plantat frühzeitig entdeckt werden können. Patient Siegel, zerbrochenes Gelenkteil in Schweden schon seit Jahrzehnten exis- Gerhardi hat Falcon Medical trotzdem „Angst ist mein ständiger Begleiter“ tiert, ein Gesetz und die entsprechende verklagt, weil er andauernd Angst habe. landesweite Sammelstelle, scheitert in „Wie fühlen sie sich denn, Herr Gerhar- klirrte, als ob eine Tasse auf dem steiner- Deutschland bislang am Datenschutz und di?“, fragte ihn der Richter. „Wie auf einem nen Boden zerspringt“, erinnert sich der an den Kosten. angesägten Stuhl“, antwortete Gerhardi. Lohnbuchhalter, der gleich in beiden Hüf- „Das ist unverantwortlich“, klagt Ralf Das verstand das Gericht. Es verurteilte ten Implantate der Firma Eska Implants Siegel. Wäre der Metallstift in seiner Hüf- Falcon Medical in erster Instanz zu 7000 eingepflanzt bekommen hat. Die rund vier te fünf Minuten später durchgebrochen, Euro Schmerzensgeld. Zentimeter große Kugel, die als Gelenk- dann hätte der Berliner in dem Moment Der Kläger sei nicht nur „in seinem Le- kopf auf dem Metallstift sitzt, war in un- sein Motorrad durch den Innenstadtver- bensgefühl, sondern auch faktisch dadurch zählige Stücke zersplittert. So was passie- kehr gelenkt – ein Unfall mit unabseh- eingeschränkt, wenn er besondere Vorsicht re nur in einem von 1000 Fällen, erklärten baren Folgen wäre wohl unvermeidlich ge- beim Auftreten und der Belastung des die Ärzte – und ersetzten das Gelenk wesen. Hüftimplantats walten lässt“, meinten die durch das gleiche, inzwischen aus dem Ver- Siegel hat das Vertrauen verloren in den Richter. Zudem müsse er sich „Strahlen- kehr gezogene Modell. Hersteller, in Ärzte, selbst in sein neues belastungen unterziehen“. Von dem Serienschaden erfuhr Bölitz Implantat. „Ich habe Angst, dass es jeder- Wie wichtig die Aufklärung der Betrof- erst vor zwei Wochen, per Zufall aus der zeit wieder passieren könnte“, sagt er, „die fenen wäre, zeigt der Fall Willi Warnke. Zeitung. Nun grübelt er über einen erneu- Angst ist mein ständiger Begleiter gewor- Dem 64-Jährigen wurde 2006 eine Prothe- ten Austausch: „Aber woher weiß ich den.“ Nicht einmal seine jüngste Tochter se der Reihe Metha-Kurzschaft von Braun denn, dass das neue Modell keinen Mate- nimmt er noch unbefangen auf den Arm. Aesculap implantiert; auch ein Modell, das rialfehler hat?“ Ulrike Demmer, Udo Ludwig

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UNTERNEHMEN Deutsches Prickeln Der Sekt, die Krise und die Weinberge des Ostens – die Firma Rotkäppchen startet nervös ins Jubiläumsjahr des Mauerfalls. Von Matthias Matussek

ar nichts kann da schiefgehen für die Rotkäppchen-Kellerei, möchte Gman meinen. Sekt ist eine tod- sichere Nummer. Wer feiert, trinkt ihn. Wer traurig ist, muss sich damit trösten. Die Firma gewinnt auf beiden Seiten. Allerdings ist der Verbraucher ein merk- würdiges Wesen. Und so rattert die mo- derne Abfüllanlage im Freyburger Stamm- haus hoch über der Unstrut zwar voll aufs Silvestergeschäft zu, 20000 Flaschen pro Stunde, schlupp, schlupp, schlupp, drei Schichten am Tag, aber sie rattert in einen dicken Nebel gesamtwirtschaftlicher Un- wägbarkeiten hinein. Niemand kann sagen, ob der Handel das alles loswird in Zeiten wie diesen. Abge- rechnet wird im neuen Jahr. Im deutschen Jahr also, dem Jubiläumsjahr zum 20. Jah- restag des Mauerfalls, dem Schicksalsjahr, in jeder Beziehung. Auch Rotkäppchen ist ja mehr als nur ein Sekt. Jede Flasche ist wie ein kleines Ausrufezeichen hinter einer deutsch-deutschen Erfolgsgeschichte. Rotkäppchen und Freyburg, beide zu- sammen haben bewiesen, dass der Wieder- aufbau und blühende Landschaften tat- sächlich möglich sind – sogar in Sachsen- Anhalt, dem Reißbrett-Bundesland der Rechtsradikalen, der Arbeitslosen und der stillgelegten Chemiegiganten. Mittlerweile ist das Unternehmen der größte gesamt-

deutsche Sekthersteller und Freyburg PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT ein Tourismusjuwel. Grund zum Jubel. Ein Kanzlerin Merkel, Model*: Romantisches Signal aus dem ideologischen Nirgendwo

tiefer Schluck aus der patriotischen Pulle die Firma, aber schlecht für Freyburg, denn wäre hier fällig, oder? jetzt fällt wegen der Schuldendienste erst Im November hatte man bereits Anlauf mal die Gewerbesteuer aus. genommen, allerdings nicht exakt am Tag Der blutrot leuchtende Schriftzug „Rot- des Mauerfalls, sondern zwei Tage später, käppchen“ über den Dächern ist in solchen zu Karnevalsbeginn. Die Freyburger wa- Momenten sehr weit weg. Früher war die ren so gut wie möglich aus dem Häuschen. Firma den Freyburgern näher. „Man hatte Glühwein, Bratwurst, gesteppte Ano- ja alles dem Erdboden gleichgemacht“, sagt raks, viele Alte. Freyburg lebt von den ein Alter, als wäre die Stilllegung der Gift- Alten, die Seniorenheime am Ort sind der schleudern in Leuna und Bitterfeld ein größte Arbeitgeber. Als dann der junge Bombenangriff gewesen. Rotkäppchen aber Bürgermeister bei der Schlüsselübergabe hielt durch, gemeinsam mit Freyburg. Die ans närrische Volk gutmütig reimte: „Mei- Firma also ist das neue Deutschland. Nur: ne leere Kasse bekommt ihr gleich mit wie damit umgehen, wenn man ein so dazu / werdet glücklich und gebt endlich flüchtiges Gut produziert wie Sekt? Ruh“ – da wusste jeder, wer gemeint war. Der ist zunächst ja nichts anderes als Dass die Stadtkasse leer ist, liegt frivo- eine Mischung aus Grundweinen, Hefe, lerweise auch an Rotkäppchens Zukäufen Zucker und viel Phantasie. Materialistisch von Marken wie Mumm, an der Ausdeh- gesprochen: Er flüchtet von der Basis fast

PETER ENDIG / PICTURE-ALLIANCE/ DPA PETER ENDIG / PICTURE-ALLIANCE/ nung in den Westen also, die gut ist für vollständig in den Überbau, und das in Firmenchef Heise zarten Perlenschnüren. Karl Marx würde Triumphgeschichte im Weltenwechsel * Beim 150-Jahre-Firmenjubiläum in Freyburg im Mai 2006. von seinem „Fetischcharakter“ sprechen,

38 der spiegel 1/2009 in der Firma nennt man es das „kleine menschen“. Nicht gerade Marsmenschen, Glück“. aber außerirdisch sah das wohl schon aus, Sekt jedenfalls ist ein labiles Geschäft, was dann durch die Grenzbarrieren brach. das in erster Linie aus Verheißungen und Nicht wenige schwenkten Rotkäppchen- Bildern besteht. Er soll billig sein, aber Flaschen. nicht so wirken, soll Emotionen wecken, Ost-Lange dagegen sah seine Welt zu- möglichst schöne – er ist ständig gefährdet. sammenbrechen. Sie war zwar ohne Hoff- Wohl daher ist zum Gespräch im rus- nung, aber er wusste, „die neue wird erst tikalen Restaurant des Hotels „Unstruttal“ mal nicht das Schlaraffenland“. Lange hat- gleich eine kleine Delegation aufgezo- te ein historisches Schicksal, Claußen al- gen, als ob es um Abrüstungsverhandlun- lenfalls ein ästhetisches Problem. JOERG GLAESCHER / LAIF Blick von den Weinbergen auf Freyburg: Sekt ist ein labiles Geschäft gen ginge. Dabei geht es um Ernsteres: Lange gehörte zu denen, die aus dem Image. einst Volkseigenen Betrieb (VEB) die ost- „Wir haben nichts Besonderes geplant deutsche Triumphgeschichte im Welten- zum Jubiläumsjahr“, sagt Peter Claußen. wechsel machten. Zwei harte Jahre waren „Der Mauerfall ist kein Kommunika- damals zu überstehen. Rotkäppchen, die tionsthema.“ Er ist rosig unter silberweißer Bonzenbrause, das Gute-Laune-Getränk zu Föhnfrisur. Dunkelblauer Anzug, gestärk- Jugendweihe und Staatsbesuch, hatte zum ter Hemdkragen, rote Satinkrawatte. Frü- Mauerfall noch kurz aufgeschäumt und war her war Claußen bei Nestlé, sehr Westen. dann jäh zur Ladenhüterplörre geronnen, Neben ihm sitzt Lutz Lange im Tweed, die selbst der Osten nicht mehr wollte. Chef der Abteilung Qualitätsmanagement, Die Produktion, zu DDR-Zeiten 15 Mil- ein Mann mit Alterskerben, kariertes Fla- lionen Flaschen, brach ein auf 1,8 Millio- nellhemd, bedächtig, sehr Osten. „Natür- nen. Von 364 Angestellten mussten 298 ge- lich ist es ein Freudentag“, sagt Lange. Der hen. „Die Briefe haben wir persönlich agile PR-Stratege aus Frankfurt, Main, nicht überreicht, wir kannten ja jeden“, sagt Oder, der jetzt die Pressearbeit für die Fir- Lange. Da der Großhandel weggebrochen ma regelt, sagt nichts, nickt nur vage. war, verkauften die Mitarbeiter ihren Sekt West-Claußen hat den Mauerfall im auf Märkten von der Ladefläche ihrer Lie- Fernsehen erlebt. Er bügelte Hemden in ferwagen herunter. Düsseldorf, als er die ersten Bilder sah. „Wir schufteten bis zum Umfallen“, sagt DDR war weit weg, „wie Orson Welles’ Lange. „Und als die Treuhand uns die Note Radiosendung von der Landung der Mars- Zwei gab, wussten wir, wir haben eine

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Chance, uns zu beweisen.“ Mit dem tech- Monaten ist die Legitimationskrise, die vor nischen Direktor Gunter Heise und vier 20 Jahren dem Ostsystem vorbehalten war, weiteren Geschäftsführern sowie dem mit im Westen angekommen. 40 Prozent beteiligten Großinvestor und Neuerdings sind es kapitalistische Gau- Likörfabrikanten Harald Eckes-Chantré nereien, die die Wirtschaft lähmen. Der aus Nieder-Olm bei Mainz übernahmen sie Boden schwankt, auch für „Deutschlands den Betrieb vor 15 Jahren. Haus aus Sekt“, wie sich die Firma nun Damals war Lange Marketingchef. „Ich nennt. Ob nicht nun auch Rotkäppchen, das hab mir erst mal ein Buch besorgt dar- doch endlich so triumphal im Kapitalismus über.“ So hat er gelernt, was ein „Kom- angekommen war, Umsatzeinbußen be- munikationsthema“ ist. Die Umsatzsteige- fürchten muss? „Ich glaube nicht“, sagt rungen lagen in den Folgejahren um die Claußen. Er zögert. „Das kleine Glück gönnt 70 Prozent. Dann war Rotkäppchen wieder sich doch jeder, oder?“ Lange dagegen wiegt angekommen im Osten. den Kopf. Man spürt, in ihm arbeiten sich Doch plötzlich war der ostdeutsche nun altgelernte Einstellungen durch, die Stallgeruch gleichzeitig das Handicap im plötzlich neu überzeugen. „Die Zeltstädte in Westen. Rotkäppchen wurde zum Abbild Nevada“, sagt er, „das sind ja fürchterliche der deutsch-deutschen Psychoblockade. Bilder.“ Könnte es sein, dass nun Lange wie- Hier kam Peter Claußen an der Vorsprung hat, weil er ka- Bord. Lange ist die Generation tastrophenerfahrener ist? des Aufbaus, Claußen die des Die Rotkäppchen- Die beiden sind bemüht, Ausbaus. Mumm-Sekt- den Mentalitätsgraben des Langes historische Mission kellereien 2007 Misstrauens zwischen Ost und war erfüllt, als Claußens be- West ständig zu überspringen. gann. Er hob Maria aus der UMSATZ: 709,5 Mio.¤ Besonders Claußen ist da zu Taufe, die jung-brünette Re- +8,9% gegenüber Vorjahr jeder Konzession bereit und klamephantasie mit dem roten erzählt einen Witz, den ei- Satinkleid und dem tiefen MARKTANTEIL deutscher Markt gentlich Lange erzählen sollte: Rückendekolleté, die ihren Sekt Spirituosen „Warum haben westdeutsche Freund am Bahnhof mit einer 39,1% 9,3% Gymnasiasten ein Schuljahr Flasche Rotkäppchen emp- mehr? Es ist das Extrajahr für fängt. In der Werbung stand Schauspielunterricht.“ ein Dampfzug in einem Bahn- Natürlich ist der Witz schon hof. Schnaubend. Damit SEKT immer falsch gewesen: Langes schied jede ICE-Realität zwi- Rotkäppchen Anpassungsleistung war we- schen Düsseldorf und Leipzig Mumm sentlich größer als die von von vornherein aus. Es war ein Geldermann Claußen, vor dem Mauerfall Bahnhof im ideologischen Nir- MM Extra und hinterher. Ein heilloses gendwo und zugleich ein ro- Kloss & Foerster Kuddelmuddel aus guten Ab- mantisches Signal, das auch an sichten und Missverständnis- West-Tankstellen verstanden SPIRITUOSEN sen. Doch in diesem einen wurde. Prickelnde Laune für Echter Nordhäuser Punkt bleibt Claußen kom- die kleinen Leute, egal, wo sie Chantré promisslos: „Der Mauerfall ist wohnen. Mariacron kein Sektereignis“, insistiert der „Prickelnd“ ist das Rot- Eckes Edelkirsch Westler. „Sekt ist jung, Sekt ist käppchen-Wort schlechthin. Zinn 40 frisch, wir gucken nach vorn.“ Seither wird Rotkäppchen ent- Die Deutsche Einheit ist ostet. Doch die gleichzeitige kein „Kommunikationsthe- Eroberung des Westens gerät zum Etiket- ma“. Nicht für Rotkäppchen, das wie kei- tenschwindel. Mit der Übernahme der ne andere Firma dafür steht. Konkurrenzfirmen, besonders aber der In der Geschichte des Unternehmens sei Eckes-Spirituosen, gelang der Freyburger die DDR übrigens doch nur ein kleines Ka- Firma ein kapitalistischer Spiegeltrick. Auf pitel. Claußen sagt nicht „Fußnote“, wie es den ersten Blick sah es so aus, als habe der Historiker Hans-Ulrich Wehler genannt hier der Osten den Westen geschluckt, also hat. Dennoch zuckt Lange jetzt zusammen. Rotkäppchen den bösen Wolf. Auf den Immerhin war die DDR der größte Teil zweiten Blick hat der West-Eigner Eckes seines Lebens. Er will nicht in einer Fuß- seinen Einfluss vergrößert. note gelebt haben. „Als Deutscher bin ich Seither sitzt die Geschäftsführung auch stolz auf diesen Tag, auf die Wiederverei- im rheinischen Eltville. Auf den Visiten- nigung“, sagt er, und er scheut das Pathos karten ist Freyburg heute nur noch eine nicht. Das Geschäft eint sie dann wieder. von zwei Firmenadressen, doch beide Sei- Schon vormittags um elf perlt Rotkäpp- ten kennen ein Ziel, das sie eint: das Ziel, chen Rosé vorm Stammhaus auf der An- den Absatz zu vergrößern. höhe in den schlanken Gläsern, die von Die Rotkäppchen-Mumm-Familie pro- Hostessen herumgereicht werden. Zwei duziert nun 130 Millionen Flaschen Sekt Busse stehen auf dem Parkplatz, aus dem pro Jahr. 82 Millionen davon sind die Fla- Rheinland und aus Halle. schen mit der roten Kappe. Nun aber wird Die Gruppen warten auf die Führung, es spannend, denn in den vergangenen aber vor allem die aus Halle hat Sinn für

40 der spiegel 1/2009 geschichtliche Pointen. „Dass das sowje- das große, dunkle Fass von 1896 im Dom- tische Brudervolk nun Island unter die keller gleich daneben, „25 Eichen wurden Arme greift, und dann noch ausgerechnet dafür gefällt, es fasst 120000 Liter“ und ist mit Geld …“, sagt eine Touristin aus der mit Biederem verziert: Arbeit ist des Bür- Halleschen Schulverwaltung. Die anderen gers Zierde / Segen ist der Mühe Preis / lachen. Die Welt hat sich schon wieder ge- Ehrt den König seine Würde / Ehret uns dreht, man kommt gar nicht mehr mit, na der Hände Fleiss. Prosit aufs kleine Glück! So schrecklich-deutsch hallt Schillers Die muntere Frau Kaiser organisiert die- bürgerstolze „Glocke“ durch Rotkäpp- se Touren für rund 110000 Besucher jähr- chens Geschichte. Nach einer derartigen lich. Sie beginnt vor einer Ansicht des Führung lässt es sich nicht vermeiden, Stammhauses aus dem Gründungsjahr doch noch einmal kurz über die gute 1856, führt dann durch die historischen alte Zeit zu reden, bevor sie sich ganz Weinkeller mit den Riesenfässern, vorbei verflüchtigt hat. Ein schmuckloser Raum, an Etiketten und Plakaten und Vitrinen, Tische, Stühle, reine Formsache, eine Art und endet an der modernen Abfüllanlage. kapitalistischer Gesinnungstest. „Waren Sie Sie konzentriert sich eher auf Anek- eigentlich in der Partei, Frau Kaiser?“ dotisches, weniger geschichtlich als ge- „Ja“, sagt sie, ein wenig aufgeregt. „Man mütlich. Aber so viel lässt sich sagen: Rot- konnte ja sonst nichts werden.“ Der PR- käppchen hat sich ideologisch schon ein Mann sitzt am Nebentisch und versucht, paarmal im Wald verirrt, weit häufiger als leer irgendwo hinzugucken. Früher hätte andere Marken. man gesagt: Er sieht aus wie einer von der Die Firmengründer Kloss & Foerster aus Firma. Die beiden protestieren lachend. Freyburg wurden mit ihrem Sekt – einst Frau Kaiser fährt fort: „Mir war klar, dass Antwort auf den traditionsreicheren fran- die DDR völlig an der Natur des Menschen zösischen Champagner – so erfolgreich, vorbeiging.“ Erleichterung beim PR-Men- dass sie 1870 bereits schen, das wäre ge- Weine aus der Cham- schafft. pagne importieren „Es geht nicht, mussten. Der sanften dass Leute faul sind Landnahme folgt die und erwarten, man kriegerische. Nach stopft ihnen gebrate- dem Sieg über Frank- ne Tauben ins Maul.“ reich und der Reichs- Das wäre dann die gründung wurden die Zugabe, schon leicht Flaschen mit der ro- neoliberal. Kein Zwei- ten Kappe gegen die fel, Frau Kaiser ist an-

französische Konkur- DER SPIEGEL gekommen im neuen renz durch Schutzzöl- Rotkäppchen-Angestellte Claußen, Lange Deutschland. le preiswert gemacht. „Der Mauerfall ist kein Sektereignis“ Dabei gibt es auch Die leinengebundene in Freyburg Verlierer, Jubiläumsschrift der Firma formuliert: das weiß hier jeder. Sie hängen am Imbiss „Ganz oben macht man sich für deutsches ab, in der Nordstadt, bei den 400 Platten- Prickeln stark.“ bauwohnungen, die im Jahr des Mauerfalls Mit den anderen Sektkellereien taumelt fertig wurden. Freyburgs Arbeitslosenanteil Rotkäppchen durch die Geschichte. Infla- liegt bei gut 13 Prozent, etwa im Landes- tion und Weltwirtschaftskrise lassen die schnitt. Frau Kaiser hat ihre Kinder, durch- Absätze einbrechen, die Nazis sorgen für aus nach Schiller, „zu Ehrlichkeit und Fleiß“ neue Absatzrekorde, weil sie die Sektsteu- erzogen, das in erster Linie. „Wer will“, sagt er abschaffen. Nach dem Krieg jedoch sie eifrig und mittlerweile völlig entostet, trennen sich die Wege. Die Westfirmen be- „der kriegt auch Arbeit, man muss nur nach gleiten beschwingt das westdeutsche Wirt- vorn schauen, ich bin so’n Typ.“ schaftswunder, Rotkäppchen wird nach Freyburg ist längst nicht mehr nur Rot- Enteignung und Umwandlung in einen käppchen. Als Bundespräsident Horst VEB ausgenüchtert. Sekt ohne Firlefanz, Köhler durchs Städtchen geführt wurde Prickeln nach Plansoll. vom Bürgermeister, rühmte er die „Toska- Die Kellerei erhält eine „Forschungs- na des Ostens“. Lieber ist ihnen hier „Tos- und Entwicklungsstelle“, die Schüttelroste, kana des Nordens“. Das klingt tourismus- in denen die Flaschen kopfüber stecken, freundlicher. Allein im vergangenen Jahr werden durch Bottiche ersetzt, das „kleine hatten die Kanetzkys aus dem Hotel „Un- Glück“ wird buchstäblich vom Kopf auf struttal“ – totale Einheit: er aus Freyburg, die Füße gestellt. Rotkäppchen ist konkur- sie aus Freiburg – 20 Prozent mehr Gäste. renzlos und wird Musterbetrieb im real Früher, wenn der Wind aus Nordost kam, existierenden Sozialismus. hatte man in der Pendlerstadt der mittel- „Wir verschweigen die DDR-Geschichte deutschen Braunkohlereviere Blei auf der nicht“, sagt Ilona Kaiser irgendwann vor Zunge – und kein einziges Hotelbett. Jetzt der Vitrine mit den vielen Medaillen. Aber sind es 400, und die Rotkäppchen-Schrift viel schöner und eindrucksvoller findet sie auf dem Hügel ist tatsächlich lesbar, Tag dann doch, finden eigentlich alle Besucher, und Nacht. Prosit, auf das kleine Glück. ™

der spiegel 1/2009 41 Trends Wirtschaft

VERBRAUCHERSCHUTZ Verbot von Risikopapieren? erbraucherverbände kritisieren die VMaßnahmen, mit denen die Regie- rung Bürger beim Kauf von Finanz- produkten besser schützen will, als nicht weitreichend genug. „Die Vorschläge können allenfalls ein erster Schritt sein“, sagt Lars Gatschke, Finanzexperte beim Verbraucherzen- trale Bundesverband. So müsse vorge- schrieben werden, dass Kunden beim Erwerb von Aktien oder Fondsanteilen Techniker bei Qimonda ein Infoblatt über das Risiko ihres In-

NORBERT MILLAUER / DDP MILLAUER NORBERT vestments bekommen. Außerdem solle der Verkauf von hochriskanten Papieren QIMONDA wie etwa Zertifikaten an Kleinanleger verboten werden. Notwendig sei zudem, nicht nur Fondsberater unter die Kontrol- Gnadenfrist bis zum Sommer le der Bundesanstalt für Finanzdienst- leistungsaufsicht zu stellen, sondern as vor gut einer Woche verkündete Rettungspaket für den Münchner Spei- auch Kreditvermittler. „Nur so können Dcherchip-Hersteller Qimonda verschafft dem notleidenden Hightech-Unter- wir den schwarzen Schafen der Branche nehmen nur kurzzeitig Luft. Bleibt der Markt für Standardspeicher im ersten Halb- Paroli bieten“, sagt Gatschke. Verbrau- jahr 2009 weiter unter Druck, was Branchenkenner erwarten, muss der einstige Sie- cherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) mens-Ableger spätestens im kommenden Sommer erneut Finanzhilfen vom Staat hatte jüngst angekündigt, den Schutz und seiner Mutter Infineon erbetteln – oder doch noch Insolvenz anmelden. Die von Privatanlegern durch verschärfte jetzt bewilligten Darlehen in Höhe von 325 Millionen Euro nebst Bürgschaften rei- Haftungsregeln für Banken zu stärken. chen nach Berechnungen von Konzern-Insidern gerade aus, um den Betrieb ma- ximal sechs Monate weiterzuführen. In dieser Zeit will das Qimonda-Management die Produktion schrittweise auf eine neue, leistungsfähigere Technik umstellen, die Wettbewerber teils in ähnlicher Form schon anwenden. Bis die Fertigung komplett modernisiert ist und die Investitionen sich rechnen, dürfte es bei Qimonda allerdings erneut eng werden – und die nächste Sanierungsaktion anstehen. Bereits für das jetzt beschlossene Hilfspaket zahlt die Konzernführung einen hohen Preis. Da sich auch Portugal daran beteiligt, um rund 2000 Jobs in einem Chip-Werk nahe Porto zu sichern, kann Qimonda diese einfacheren Tätigkeiten im Gegensatz zu vielen

Konkurrenten künftig nicht mehr komplett nach Asien verlagern. SCHULZ / KEYSTONE VOLKMAR Beratungsgespräch

INSOLVENZEN 2009 wohl mehr Insolvenzverfahren ge- Neben Automobilzulieferern wird das ben, aber gleichzeitig verschlechtern sich wohl verstärkt der Handel sein. „Die Gefahr die Aussichten für die Fortführung und SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass den Verkauf von Unternehmen drastisch, auch gesunde Unternehmen in den wächst lautlos“ weil es immer weniger Investoren gibt. Strudel geraten? Statt finanzstarker Geldgeber werden Jaffé: Groß – und das macht die Situa- Insolvenzverwalter mehr Glücksritter unterwegs sein. tion so bedrohlich. Waren es früher Michael Jaffé, 45, über SPIEGEL: Was werden die Gründe für die meist Managementfehler und damit das steigende Pleite-Ri- Firmenpleiten sein? einhergehend ein schleichender Krisen- siko 2009 und die Frage, Jaffé: Zentrale Ursache werden Liqui- prozess, der irgendwann mit der Insol- weshalb auch gesunde ditätsprobleme sein. Risikokapital ist venz eskaliert ist, so haben wir heute Firmen bedroht sind BRENNINGER/SÜDD.VERLAG kaum mehr verfügbar, die Kreditverga- eine ganz andere Dynamik, die Unter- be durch Banken ist deutlich schwieriger nehmen in kürzester Zeit erodieren SPIEGEL: Die Weltwirtschaft droht 2009 geworden. Was die Zahl der Firmenplei- lässt. Gesunde Unternehmen sind dramatisch einzubrechen, die Zahl der ten zusätzlich hochtreiben kann, sind besonders gefährdet, wenn sie entweder Firmenpleiten dürfte ansteigen. Sind Dominoeffekte aus dem Zusammen- durch starke Umsatzrückgänge unter Insolvenzverwalter die Krisengewinner? bruch größerer Unternehmenseinheiten. der Gesamtkrise leiden oder aufgrund Jaffé: Niemand kann sich unter diesen SPIEGEL: Welche Branchen wird die starker Abhängigkeiten von einzelnen Umständen freuen, wenn die Zahl der Krise besonders treffen? Abnehmern oder Lieferanten durch Firmenpleiten sprunghaft zunimmt, auch Jaffé: Strukturell trifft sie vor allem Un- diese mitgerissen werden. Diese Gefahr ein Insolvenzverwalter nicht. Es wird ternehmen, die hochverschuldet sind. wächst lautlos.

der spiegel 1/2009 43 Rückblick 2008 Das große Zittern A BIS Z DES KRISENJAHRES 2008

vertreter im Aufsichtsrat und Ackermann, Josef führende Gewerkschafter wie Chef der Deutschen Bank, Ver.di-Chef Frank Bsirske. lag mit seinen Prognosen Offen ist, wer den Auftrag für über den Anfang vom Ende diese beispiellose Bespitze- der Finanzkrise stets dane- lung gab. Und welche Rolle ben, forderte aber als Erster dabei der frühere Konzern- einen generellen Schutz- chef Kai-Uwe Ricke und der schirm für die angeschlagene ehemalige Aufsichtsratsvorsit-

Bankenbranche. Trotz Mil- zende Klaus Zumwinkel spiel- / AP ZALUBOWSKI DAVID liardenabschreibungen glaubt ten. Als ob das noch nicht Ausverkauf bei einem Chevrolet-Händler (in Colorado) Ackermann noch immer dar- genug wäre, kamen noch etli- an, dass sein Haus die Finanz- che andere Affären ans Licht, krise aus eigener Kraft über- meist ging es um geklaute leben kann. Weil er sich für und unsichere Kundendaten. staatliche Hilfsgelder schä- men würde und das in einer Energiepreise internen Veranstaltung der liefen 2008 vollkommen aus Bank auch sagte, fiel er bei dem Ruder. Der Ölpreis stieg der Regierung in Ungnade. bis Mitte des Jahres, angetrie- ben von Spekulanten und Blessing, Martin einem vermeintlich langan- Chef der Commerzbank, ver- haltenden globalen Wachs- kündete kaum hundert Tage tum, um 55 Prozent auf fast nach seinem Amtsantritt die 150 Dollar pro Barrel. Als Übernahme der Dresdner sich die ersten Anzeichen ei- Bank, musste dann aber un- ner Rezession zeigten, zogen ter den Schutzschirm flüchten sich auch die Spekulanten

und lässt sich damit die zurück. Der Ölpreis fiel wie FOCUS / AGENTUR CHRIS MALUSZYNSKI geplante Fusion indirekt vom ein Stein. Ex-Notenbankchef Greenspan Steuerzahler finanzieren. Dafür gilt er als neuer Lieb- Fed vor kurzem nur Insider kann- wie Goldman Sachs und lingsbanker der Regierung. (Federal Reserve): US-Noten- ten. Das hat sich nach Ret- Morgan Stanley. bank, die unter ihrem lang- tungsaktionen geändert. Seit- Boni jährigen Chef Alan Green- her ist auch der Regierung Kapitalismus Extrem hohe Gehaltsbestand- span die Wirtschaft mit billi- klar, dass die Finanzkrise Wirtschaftsform, die auf pri- teile vor allem für Invest- gem Geld flutete und damit keine rein amerikanische vatem Eigentum basiert mentbanker, die sich am wesentlich zur Blase auf den Angelegenheit ist. Die HRE und – je nach Spielart – dem kurzfristigen Erfolg orientie- Finanz- und Immobilien- bekam 50 Milliarden Euro Markt mehr oder weniger ren und damit extrem risiko- märkten beitrug. Liquiditätshilfen, die in- freien Lauf lässt. In der Ver- reiches Verhalten fördern. zwischen durch weitere gangenheit dominierte der fi- Gelten als eine der Ursachen General Motors Bürgschaften ergänzt werden nanzmarktgetriebene Turbo- für die Finanzkrise. (kurz: GM), Ford und Chrys- mussten (siehe Seite 54). kapitalismus, nun könnte die ler: US-amerikanische deutsche soziale Marktwirt- CDS, CDOs Autohersteller, die jahrzehn- Investmentbanker schaft sogar zum Vorbild wer- Unverständliche Abkürzun- telang die Entwicklung mo- galten als die Treiber des an- den. Der Staat wird künftig gen für unverständliche, aber derner Automobile verschlie- gloamerikanischen Turboka- wieder mehr Regeln setzen angeblich innovative Finanz- fen und deshalb jetzt zig pitalismus. Sie erfanden jene und versuchen, zügelnd ein- produkte, die Risiken aus Milliarden Dollar von der Finanzprodukte, die jetzt die zugreifen. Kredit- und Versicherungs- Regierung fordern. Eine Krise auslösten, und machten geschäften in Wertpapiere Pleite von GM könnte auch mit immer weniger Kapital- Keynes, John Maynard verpackten und handelbar die deutsche Tochter Opel einsatz immer größere Ge- (1883 bis 1946): Britischer machten. So sollten Risiken mit in den Abgrund reißen, schäfte – bis das Kartenhaus Ökonom, der im abgelaufe- angeblich gestreut werden, tat- was der deutsche Staat zusammenfiel. Damit endete nen Jahr ein außergewöhn- sächlich wurden sie versteckt. mit einer Bürgschaft verhin- die Ära der Investment- liches Comeback erlebte. dern soll. banken. Sie gingen pleite wie Wenn in der Wirtschaft Deutsche Telekom Lehman Brothers, wurden nichts mehr läuft, weil die Bonner Konzern, der rund 60 Hypo Real Estate aufgekauft wie Merrill Lynch Firmen nicht mehr investie- Personen ausspähte, darunter (kurz: HRE): Deutscher Im- oder verwandelten sich in ren und die Verbraucher Journalisten, Arbeitnehmer- mobilienfinanzierer, den bis normale Geschäftsbanken nicht mehr konsumieren,

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nicht nur in der Finanzbran- Dollar geschätztes Privat- che vorkommen. Wurde da- vermögen angehäuft hat. bei nur noch von der Deut- schen Telekom übertroffen. Rating-Agenturen Einst mächtige Institutionen, Liechtenstein die auch windigste Finanz- Steuerparadies, das 2008 er- produkte mit hohen Bonitäts- heblich an Attraktivität ein- noten versahen – und damit büßte. Der Bundesnachrich- das Billionenspiel erst mög- tendienst hatte für 4,6 Millio- lich machten. Banker und nen Euro mehrere DVDs mit ihre Kontrolleure berufen den Namen von Hunderten sich heute darauf, sie hätten Kunden der Liechtensteiner sich auf diese Bewertungen LGT Treuhand erworben. Di- verlassen. verse deutsche Steuersünder – unter anderen Klaus Zum- Soffin

CHRIS HONDROS / AFP winkel, bis dahin Chef der (Sonderfonds Finanzmarkt- Mitarbeiter von Lehman Brothers am 15. September in New York Deutschen Post – bekamen stabilisierung): Verwaltet die Besuch von Steuerfahndern. von der Regierung zur Ret- tung der Banken bereitge- Merckle, Adolf stellten 480 Milliarden Euro. Schwäbischer Unternehmer Der Andrang hielt sich (Ratiopharm, HeidelbergCe- allerdings in Grenzen, weil ment), verzockte mit Börsen- das Gesetz keine Zwangs- spekulationen (siehe VW- beglückung der Banken mit Aktien) einen dreistelligen Staatsgeldern, dafür aber Millionenbetrag, brachte so harte Auflagen vorsieht. sein Lebenswerk in Gefahr und bat den Staat (vergebens) VW-Aktien um eine Bürgschaft. Heißeste Spekulation des Jahres. Über raffinierte Nokia Finanzgeschäfte baute der Finnischer Handy-Hersteller, Sportwagenhersteller Por- zog als Letzter der Branche sche seinen Einfluss auf den die Produktion aus Deutsch- Autobauer Volkswagen aus

FRANK AUGSTEIN / AP AUGSTEIN FRANK land ab. Die Schließung des und erwischte dabei Speku- Affären-Konzern Telekom Werks in Bochum führte zu lanten, die auf fallende Kurse wochenlangen Protesten, die gesetzt hatten, auf dem dann, so Keynes, muss der lediglich einen verbesserten falschen Fuß. Zeitweise Staat einspringen. Die Idee Lehman Brothers Sozialplan für 2300 betroffe- schoss die VW-Aktie auf über kam in Misskredit, weil sie in Amerikanische Investment- ne Arbeitnehmer brachten. tausend Euro. Verlierer sind der Nachkriegszeit bei jedem bank, die von der US-Regie- Hedge- und andere Fonds Rezessiönchen als Rechtferti- rung aus pädagogischen Ökonomen sowie Spekulanten wie der gung für ein staatliches Aus- Gründen nicht aufgefangen Wissenschaftler, die hinterher Unternehmer Merckle mit gabenprogramm herhalten wurde. Ein folgenschwerer immer genau erklären kön- Verlusten von mehreren Mil- musste. Fehler: Keine Bank galt plötz- nen, weshalb eine Wirt- liarden Euro. Gewinner war lich mehr als sicher, die Kre- schaftskrise unvermeidlich der „Hedge-Fonds namens KfW ditinstitute liehen sich kein war, obwohl sie kurz zuvor Porsche“ („FAZ“), dessen (Kreditanstalt für Wiederauf- Geld mehr, verunsicherte noch stattliche Wachstums- Jahresgewinn den eigenen bau): Staatliche Förderbank, Bürger zogen ihre Ersparnisse zahlen prophezeiten. Waren Umsatz übertraf. die als „Deutschlands dümms- ab, immer mehr Banken von der Dramatik des te Bank“ („Bild“) verspottet kamen in Bedrängnis. Durch Konjunktureinbruchs ebenso Zumwinkel, Klaus wird, weil sie noch am Mon- großangelegte staatliche überrascht wie Politiker, So steil ist noch kein deut- tag, 15. September, 320 Mil- Schutzschirme konnten die Manager, Journalisten und scher Manager abgestürzt. lionen Euro an Lehman Regierungen Europas und der andere Laien. Vor laufenden Kameras Brothers überwies – und nicht USA eine Kernschmelze der wurde der Post-Chef und bemerkt hatte, dass am Finanzmärkte verhindern. Paulson, Henry „Hank“ Aufsichtsratsvorsitzende der Wochenende Meldungen über Seither gibt es in der Finanz- US-Finanzminister, der erst Telekom an einem Februar- den Konkurs der US-Bank branche eine neue Zeit- Lehman pleitegehen ließ und morgen abgeführt. Er soll kursierten. Zuvor hatte die rechnung: die Ära vor und dann ein gigantisches Ret- Millionen vor dem deutschen KfW schon acht Milliarden die Zeit nach Lehman. tungspaket für die Finanz- Fiskus in Liechtenstein ver- Euro verloren, weil sie als Ge- branche durchfocht. Paulson steckt haben. Im Januar be- sellschafter der Mittelstands- Lidl bestreitet, dass ihm dabei vor ginnt der Prozess, auch in der bank IKB beispringen muss- Discounter, der seine Mit- allem das Wohl seines alten Telekom-Affäre wird gegen te, die zu viele der angeblich arbeiter von Detektiven Arbeitgebers Goldman Sachs ihn ermittelt. 2008 war für innovativen US-Finanzpro- überwachen ließ und damit am Herzen lag, als dessen Zumwinkel ein hartes Jahr – dukte in den Büchern hatte. bewies, dass Schweinereien Chef er ein auf 700 Millionen es könnten härtere folgen.

der spiegel 1/2009 45 Notfalltransport ins Krankenhaus: Funktioniert die Versorgung von 70 Millionen Kassenpatienten? ANDREAS FECHNER / LAIF

REFORMEN Nicht besser, aber teurer Der Gesundheitsfonds wird noch kostspieliger als befürchtet. Die Kassenbeiträge steigen auf Rekordniveau, zugleich kommen auf Millionen Versicherte Extragebühren zu. Selbst der zuständige Behördenchef warnt vor schwerwiegenden Mängeln im System.

as Bundesversicherungsamt in Bonn spielhaft voran. Er kommt frühmorgens Der Druck, der auf dem Behördenchef gilt unter Beamten neuerdings als und bleibt abends lang. Mittagspausen be- lastet, ist groß. Kanzlerin Angela Merkel Dbesonders anstrengender Arbeits- trachtet er als Zeitverschwendung. und Bundesgesundheitsministerin Ulla platz. Für einige Referate wurde faktisch Heckens Mission ist die Reform des Schmidt (SPD) haben den Gesundheits- eine Urlaubssperre verhängt. In manchen Krankenkassenwesens, die am 1. Januar in fonds gegen massiven Widerstand aus den Büros brennt gar am Wochenende Licht. So Kraft tritt. Hecken ist damit der Herr über eigenen Reihen durchgesetzt und zum was hat es früher nur selten gegeben. den Gesundheitsfonds. „wichtigsten Projekt dieser Legislaturperio- Schuld an der Hektik ist Josef Hecken, Mehr als 165 Milliarden Euro laufen da- de“ (Merkel) erhoben. 49, der neue Präsident der Behörde. Vor mit über sein Konto bei der Deutschen Nun soll nichts schiefgehen, zumal im sieben Monaten bezog der CDU-Politiker Bundesbank, Kontonummer 50401699. Es Jahr der Bundestagswahl. Doch selbst Mer- und frühere saarländische Sozialminister ist das Fünffache des Verteidigungsetats, kels wichtigster Gesundheitsmanager ist von das Chefbüro im vierten Stock, seither ist eine schwindelerregende Summe. Von He- der Innovation nicht überzeugt. Kaum eine das Arbeitsaufkommen im Hause gewal- cken und seinen Leuten hängt letztlich Woche verging bislang, ohne dass Heckens tig gestiegen. Hecken, ein hagerer Mann ab, ob Ärzte und Krankenhäuser pünktlich Experten auf Ungereimtheiten und Proble- mit grauer Haut, der sein Sprechtempo al- ihr Geld bekommen und die Versorgung me bei der Umsetzung stießen. Merkels lenfalls drosselt, um sich eine von täglich von 70 Millionen Kassenpatienten funk- Fonds-Beauftragter ist inzwischen sicher: bis zu 60 Zigaretten anzustecken, geht bei- tioniert. Das System wird so nicht funktionieren.

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Für die Versicherten bedeutet der Ge- lichen Krankenversicherung ihre Beiträge sundheitsfonds, dass zunächst nichts besser, wie bislang bei der Krankenkasse ab. Zum aber alles teurer wird. Experten aller Cou- ersten Mal hat dabei die Regierung die Hö- leur halten das neue Krankenkassensystem he des Beitrags festgelegt. Er liegt regulär für „falsch“ (Deutscher Gewerkschafts- bei 15,5 Prozent des Bruttolohns. Das ist bund), „fehlkonstruiert“ (Bundesvereini- deutlich mehr als der Satz, den die meisten gung der Deutschen Arbeitgeberverbände) Versicherten bislang zahlen mussten. und „in Teilen“ für „Schwachsinn“ (Öko- Anschließend müssen die Krankenkas- nom Bert Rürup). sen das Geld sofort an Heckens Gesund- Ausgerechnet jetzt, da die Konjunktur heitsfonds weiterleiten. Dort werden die wegzubrechen droht, entzieht die Bundes- Beiträge wieder auf die Kassen zurückver- regierung den Deutschen zusätzliche Kauf- teilt, und zwar nach einem komplizierten kraft in Höhe von mehreren Milliarden Schlüssel, der sich am Gesundheitszustand Euro. In der Großen Koalition findet man der Mitglieder orientiert. Für einen Durch- außer Merkel und Schmidt niemanden schnittsversicherten bekommt eine Kasse mehr, der das Projekt gelungen nennen knapp 200 Euro im Monat, für einen chro- würde – im Gegenteil. nisch kranken Dialysepatienten mit kaput- Mehrere Regierungsmitglieder denken ter Niere hingegen mehr als 4000 Euro. aktuell darüber nach, einen zusätzlichen Kommt eine Kasse mit den Zuweisungen Milliardenbeitrag aus Steuergeldern ins nicht aus, muss sie von ihren Mitgliedern Gesundheitssystem zu pumpen, um die eine Extraprämie verlangen. Lage zumindest optisch etwas aufzuhellen. Hecken ist optimistisch, dass bei der Andere würden die verkorkste Reform am Umstellung auf das neue System zunächst liebsten einstampfen. Ministerin Schmidt noch alles glattgeht. „Egal, wie man zum

Er befürchte einen „Rückfall in eine PLAMBECK HANS-CHRISTIAN Gesundheitsfonds insgesamt oder zu ein- Staatsmedizin à la DDR“, sagt Bayerns zelnen Regelungen steht: Wir müssen das Gesundheitsminister Markus Söder. Dass handwerklich und technisch sauber um- Keine Erholung 153,6 seine Partei, die CSU, während der Aus- Ausgaben der Gesetzlichen setzen“, sagt er. Und: „Wir haben das so arbeitung für einige besonders faule Kom- Krankenversicherung, hinbekommen, dass alles klappt.“ promisse verantwortlich war, hat er erfolg- in Milliarden Euro 150 Doch er kennt auch die Konstruktions- reich verdrängt. fehler des Fonds. Beim politischen Ge- Tatsächlich wird die Reform die Versi- schacher um das Projekt haben sich Union cherten und Patienten weit teurer kom- und SPD meist auf den kleinsten gemein- men als ohnehin schon befürchtet. Obwohl 140 samen Nenner geeinigt. Ob das Konzept der Gesundheitsbeitrag im neuen Jahr auf für die Praxis taugt, war weniger wichtig. ein neues Rekordniveau steigt, drohen Da gibt es zum Beispiel die Vorschrift, Extragebühren auf breiter Front. 130 dass der Zusatzbeitrag, den eine Kasse Für den CDU-Politiker Hecken wird die maximal verlangen kann, die Versicherten Einführung des Gesundheitsfonds zu ei- nicht überfordern darf. Kein Bürger muss nem Belastungstest ganz besonderer Art. demnach mehr bezahlen als ein Prozent Wenn er seine Arbeit gut macht, hat der 120 seines Einkommens. Erdacht wurde die Vertraute der Kanzlerin beste Aussichten Sozialklausel von der SPD, die ohnehin auf einen Ministerposten. Er ist ehrgeizig 117,4 von einer Bürgerversicherung träumt. genug, den auch zu wollen. Die Union wiederum hat festschreiben Hecken galt mal als das Supertalent der 110 lassen, dass der Gesundheitsfonds nur deutschen Sozialpolitik. 1991 beförderte 95 Prozent aller Ausgaben abdecken muss. ihn der damalige Bundesarbeitsminister 1994 2000 2005 Quelle: BMG Die fehlenden 5 Prozent könnten über Zu- Norbert Blüm zum Büroleiter und Chef satzbeiträge von den Versicherten extra seines Leitungsstabs, da war Hecken 31 bezahlt werden. Die CDU sah darin den Jahre alt. Einstieg in das von Merkel angestrebte Mo- Doch dann kam Rot-Grün an die Macht. dell einer Gesundheitsprämie. Und Heckens Karriere in der Bundespoli- Hecken hat lange darüber nachgedacht, tik nahm ein jähes Ende. wie sich die beiden Vorschriften in Ein- Die neue Regierung schickte den CDU- klang bringen lassen – ohne Erfolg. „Wir Nachwuchsstar mit der Besoldungsgruppe alle wissen, dass die Begrenzung des Zu- B 9 in den einstweiligen Ruhestand. Er ar- satzbeitrags das Ergebnis eines politischen beitete ein knappes Jahr beim Handels- Kompromisses ist, der schon auf mittlere konzern Metro und landete als Politiker Sicht nicht tragen wird“, sagt er. „Mittel- dann im kleinen Saarland, erst als Staats- fristig kann das System mit dieser Decke- sekretär, dann als Landesminister für Jus- lung nicht funktionieren.“ tiz, Soziales und Gesundheit. Er weiß überdies, dass sich der Pfusch Als Chef des Gesundheitsfonds katapul- nur für eine begrenzte Zeit kaschieren tiert er sich mit einem Schlag zurück ins lässt. Fast alle Krankenkassen sind per Ge- Zentrum der Macht. Merkel höchstpersön- setz dazu verpflichtet, dem Bundesversi- lich hat ihn mehrmals angerufen und drin- cherungsamt ihren Haushaltsplan vorzu- gend gebeten, den Job zu übernehmen. legen. Die Beamten können ausrechnen, Im Detail sieht das System, das Hecken wann die ersten Kassen im neuen Sys- nun zum Erfolg führen soll, so aus: Zu- Amtsleiter Hecken tem in Geldnot geraten. Hecken prognos-

nächst liefern alle Mitglieder der gesetz- CHRISTOPH-PAPSCH.COM tiziert, dass bereits nach einem halben

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Jahr die ersten Extragebühren fällig sind: „Ich rechne damit, dass dann etwa 20 Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben AFFÄREN werden.“ Betroffen seien „etwa sechs Prozent der Versicherten“. Heckens Prognose bedeu- Wahn und Wirklichkeit tet, dass kurz vor der Bundestagswahl mehr als vier Millionen Kassenpatienten Wird Bernard Madoff der Kapitalverbrecher des Jahrzehnts? schon wieder eine schlechte Nachricht von ihrer Krankenkasse bekommen werden. Eine Milliardenlüge und vier Schlussfolgerungen. Entsprechend wichtig ist Merkels Mann für die Volksgesundheit der Hinweis, dass m Ende schrumpfte die große Fi- So soll es gewesen sein. Bisher. Recht- er zwar der Verwalter des Fonds ist, aber nanzkrise auf Kleinstformat. Genau zeitig zum Jahresende lieferte Madoff den nicht dessen Erfinder. „Ich habe das jetzt Agenommen auf 22 Quadratmeter in Krimi zur weltweiten Rezession – quasi zu vollziehen“, sagt er. New City, einer Kleinstadt bei New York. das Drehbuch zu den allgegenwärtigen Trotzdem hat er sich mitunter schon Hier, in einem engen Ladenlokal mit der Finanz-Gewittern. Es wurde ein Meister- gefragt, ob sein Job in Wahrheit darin Anschrift 337 North Main Street, residieren werk an der Grenze von Wahn und Wirk- besteht, den Sündenbock zu geben. Tat- die Wirtschaftsprüfer Friehling & Horo- lichkeit, mit Hauptfiguren und Hand- sächlich gab es Fälle, in denen sich die witz. Unauffällig sind Umfeld und Adresse: lungssträngen, die kein Hollywood-Autor Bundesregierung in die Geschäfte des Ver- Nebenan finden sich ein Kieferchirurg, ein hätte besser ersinnen können. Der Clou: sicherungsamtes eingemischt hat. Kinderarzt und ein Wellness-Institut. Madoffs Geschichte ist wahr. Der Wissenschaftliche Beirat etwa trat Nur bei Friehling&Horowitz ist kaum Steven Spielberg gehört ebenso zu geschlossen zurück, weil er den „Spagat was los. Zum Personal gehören eine Se- den Opfern des New Yorkers wie die zwischen den politischen Zielen einer- kretärin, ein Buchhalter und ein sehr alter Schweizer Bank UBS – und um mehrere seits und wissenschaftlicher Begründbar- keit andererseits“ nicht länger mitmachen wollte, wie der Chef des Beirats wissen ließ. Politisch geschachert wurde auch bei der Frage, wie hoch der Krankenkassenbeitrag ausfallen muss, um das Gesundheitssystem solide zu finanzieren. Die dafür maßgeb- lichen Experten sollen die zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben sorgfältig vor- hersehen, so steht es in der Satzung des Schätzerkreises. Die Vorsichtigen unter ihnen kamen zu dem Schluss, dass der Bei- trag im nächsten Jahr bei 15,8 Prozent lie- gen müsse. Die Große Koalition aber wollte den Beitrag möglichst niedriger ansetzen. So behaupteten die von Bundesgesundheits- ministerin Schmidt in die Expertenrunde entsandten Leute, ein Beitragssatz von 15,5 Prozent reiche vollkommen aus. Das Gre- mium verfasste ein gespaltenes Votum – und ging im Streit auseinander. Für Hecken bedeutet das: Sein Gesund- heitsfonds kommt die Bürger nun zwar

teuer, zumal die Bundesregierung den Ärz- / REUTERS SHANNON STAPLETON ten und Krankenhäusern üppige Hono- Finanzmanager Madoff: Vertrauen war gut, blindes Vertrauen war besser rarzuschläge versprochen hat. Aber der Beitrag ist trotzdem zu knapp kalkuliert. Kanzleipartner, der vorwiegend in Florida Ecken auch deutsche Fondskunden. Die Das Gesundheitsministerium selbst hat lebt. Das Kleinbüro ist so gut wie aus- Stiftung von Elie Wiesel, dem Holocaust- jetzt zugegeben, dass 2009 eine Finanzie- gestorben, nur manchmal, berichten Nach- Überlebenden und Friedensnobelpreis- rungslücke von 440 Millionen Euro droht. barn, kommt für zehn Minuten ein Mit- träger, verlor ihr gesamtes Vermögen. Ins- Je nachdem, wie die Wirtschaftskrise auf arbeiter vorbei. gesamt 50 Milliarden Dollar könnten dank den Arbeitsmarkt durchschlägt, können Doch der Minibetrieb hatte bis vor kur- „Onkel Bernie“ verpufft sein. Vergangene daraus auch zwei oder drei Milliarden Euro zem einen wichtigen Kunden: Seit Jahr- Woche nahm sich ein New Yorker Fonds- werden. zehnten kümmerte sich die Kanzlei um die manager und Madoff-Opfer offenkundig Hecken weiß, dass es nicht die Gesund- Bilanzen von Bernard Madoff, den Freun- das Leben. heitsministerin oder die Kanzlerin sein de und Vertraute ehrfurchtsvoll „Onkel Aufs US-Publikum hat der Fall Madoff werden, die am Ende die Verantwortung Bernie“ nannten. Wachsende Millionen- geradezu kathartische Wirkung: Monate- für derlei Missmanagement übernehmen und Milliardenbilanzen wurden hier ge- lang war die Finanzkrise eine merkwürdig wollen. Nüchtern stellt er schon mal fest: prüft und für korrekt befunden. Alles abstrakte Gefahr. Jetzt gibt es endlich „Wenn bei der Einführung des Gesund- stehe „im Einklang mit den Buchhaltungs- einen echten Kriminellen, handfesten heitsfonds etwas schiefgehen sollte, wird regeln der Vereinigten Staaten“, beschei- Betrug, Anekdoten von gutgläubigen man natürlich mir die Schuld geben.“ nigten Friehling & Horowitz dann ihrem Investoren aus besten Kreisen und viel Alexander Neubacher Großkunden und der Welt. Spott über ein schlichtes Schneeballsystem.

48 der spiegel 1/2009 Erst hatte Madoff sein „Geschäftsmodell“ nen Jahren mit Erträgen von 20, 30 oder nalisierten und auf Effizienz trimmten, ver- den eigenen Söhnen gebeichtet, die darauf- 40 Prozent prahlten, gab es bei Madoff nur körperte Madoff noch die Tugenden alt- hin die Polizei riefen. Schon wenige Tage rund 10. Doch dafür waren Madoffs Aus- modischer Privatbankiers. Ein Mann, ein später gilt Madoff bereits als Kapitalverbre- schüttungen faktisch so gut wie garantiert – Wort. Vertragsabschluss per Handschlag. cher des Jahrzehnts, sein Fall als Höhepunkt über viele Jahre hinweg. In guten wie in Über Geld sprach man nicht, vor allem in einer an düsteren Rekorden reichen Zeit. schlechten Zeiten. Es war gerade diese bie- nicht bei gesellschaftlichen Anlässen, nicht Vier Schlussfolgerungen liegen auf der Hand. dere Verlässlichkeit, die den Mann mit den beim Golfturnier, beim Dinner im Palm zurückhaltenden Umgangsformen so beliebt Steakhouse auf Long Island oder gar beim 1. Globales Kapital bedeutet machte; nicht zuletzt in der jüdischen Ge- Besuch auf Madoffs Yacht „Bull“. globales Verbrechen meinde von Manhattan, deren Angehörige Vertrauen war gut, blindes Vertrauen war besonders gern bei Madoff investierten. besser. Wen sollte es da noch stören, dass Schneeballsysteme oder finanzielle Ket- Als „jüdischer Bundesschatzbrief“ wur- statt etablierter Wirtschaftsprüfungsgesell- tenbriefe waren in der Vergangenheit stets den seine Geldanlagen dort liebevoll ver- schaften die Minifirma Friehling& Horo- lokale Veranstaltungen. Charles Ponzi bei- spottet, weil sie sicher schienen wie witz Madoffs Milliardenbilanz beglaubigte? spielsweise hatte 1920 die Bürger von Bos- Staatsanleihen, nur etwas lukrativer. „An- ton mit hohen Renditeversprechen ver- lagen, die solche Gewinne Jahr für Jahr 4. Dummheit ist überall führt. Ponzi zahlte die alten Gläubiger bald garantieren, existieren ganz einfach nicht“, nur noch mit den Einlagen der neuen aus, urteilt nun die „New York Times“. Selbst mächtige Finanzinstitutionen fielen bis das Gebilde zusammenbrach. 40 000 auf den New Yorker herein, Banken, Ver- Kunden hatte Ponzi so verprellt – sein 3. Exklusivität ist gefährlich sicherungen und Staatsfonds vertrauten Name ist in den USA seither Synonym für Madoff kritiklos ihr Vermögen an. Schneeballsysteme. „Man konnte Madoff nicht einfach so tref- Beispiel Abu Dhabi Investment Autho- Madoff ist der Erste, der dieses Prinzip fen. Er war wie ein Popstar“, sagt ein Ban- rity: Der Staatsfonds aus den Emiraten ließ im globalen Maßstab angewendet hat. Erst ker, der mit ihm zu tun hatte. Genau dar- gut 400 Millionen Dollar von Madoff ver- walten. Die Korea Life Insurance lieferte 30 Millionen, weitere Mittel kamen vom taiwanischen Versicherer Cathay Life. Selbst die Münchner Allianz AG ließ sich von „Onkel Bernie“ verlocken. Aber nur wenige vertrauten ihm so viel Geld an wie die Manager der Bank Medi- ci; ein Traditionshaus aus Wien, das – laut Eigenwerbung – „genau wie Mozart Genie mit harter Arbeit verbindet“. 2,1 Milliarden Dollar steckten die Österreicher über ihre Fonds Herald USA und Herald Luxemburg in Madoffs Imperium. Noch im November belegten sie Platz eins beim „Germany’s Hedgefund-Award“. Die Produkte seiner Bank, erklärte Medi- ci-Vorstand Peter Scheithauer dazu voller Stolz, sollten vor allem für eines stehen: „Sicherheit und Gewinn sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten“. Wenige Wochen später war es mit die- sem Selbstbewusstsein vorbei. Die ganze Madoff-Geschichte sei „eine echte Tragö- die“, murmelt der Bankmanager heute. Investoren wie der Medici-Banker und

PETER FOLEY / DPA Tausende Privatanleger in den USA glau- Händler (an der New Yorker Börse): Geldanlage als exklusive Tupperparty ben im Fall Madoff, gar nicht viel verkehrt gemacht zu haben. Sie dachten, sie hätten gewann er seine Kunden auf dem Golf- in bestand die Attraktivität des Finanzma- über Madoffs Firma in ein breit aufgestell- platz und in Country Clubs im Umfeld von nagers: Wer investieren wollte, brauchte tes und gut abgesichertes Depot von Ak- New York. Dann tauchte er in die gesell- Empfehlungen. Madoff Securities schalte- tien und Optionen investiert – und sehen schaftlichen Kreise von Palm Beach in Flo- te keine Werbung, die Firmenfonds waren sich jetzt als Opfer eines wohl gigantischen rida ein. Zuletzt war sein Name von Genf für Neulinge geschlossen – eigentlich. Betrugssystems. bis Singapur ein Begriff. Sie alle vertrauten „Ich kenne Bernie, ich kann dich da Es ist dieses Gefühl tiefen Misstrauens, seinem vermeintlichen Riecher für gute reinbringen“, lautete deshalb der Schlüssel aus dem heraus in den USA nun ernsthaf- Aktiengeschäfte. Immerhin war Madoff zum Glück. Dass auch reiche Investoren te Selbstzweifel erwachsen, die viel stärker einst gar Chef der New Yorker Technolo- gelegentlich abgewiesen wurden, dass sind als nach dem Zusammenbruch elitärer giebörse Nasdaq. manchmal Kunden aus dem inneren Zirkel Investmentbanken wie Lehman und Bear verstoßen wurden – all das erhöhte die An- Stearns. Und selbst das marktfreundliche 2. Selbst Beständigkeit ist riskant ziehungskraft nur. Rund um Madoff ent- „Wall Street Journal“ macht wegen „Onkel stand ein Netz gesellschaftlich gutverdrah- Bernie“ neuerdings auf Untergangsstim- Riskant an Madoffs Investmentclub war teter, informeller Produktmanager. Geld- mung: „Die Leute fühlen, dass alle Wege nicht die Höhe seiner Gewinnversprechen, anlage wurde zur exklusiven Tupperparty. nach unten führen, dass Amerikas Aufstieg sondern gerade deren Beständigkeit. Wäh- Während Investmentbanken und Hedge- vorbei ist und die besten Tage hinter uns rend manche Hedgefonds in den vergange- fonds die Vermögensverwaltung professio- liegen.“ Frank Hornig

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Welt hat viel zu sehr auf Pump gelebt“ Hasso Plattner ist Multimilliardär. Im Jahr 2008 hat auch er sehr viel Geld verloren. Dennoch verteidigt der SAP-Mitbegründer das System – den Kapitalismus, den Aktienmarkt und sogar die hohen Manager-Boni.

gesagt – bisher nicht ausgerechnet. Ist aber nicht schwer. Und es ist sicher viel. SPIEGEL: Deutlich mehr als eine Milliarde Euro. Plattner: Zum Glück sind das ja erst mal nur Papierwerte. Die meisten Sorgen ma- che ich mir in solchen Momenten um mei- ne Stiftung … SPIEGEL: … die hier in Potsdam ein kom- plettes Universitätsinstitut trägt mit meh- reren hundert Millionen Euro. Weil sie mit SAP-Aktien unterfüttert ist? Plattner: Ja, und natürlich verliert die Stif- tung einfach Kapital, wenn die Kurse ein- brechen. Auf diese Weise verschwinden eben doch ganz reale Werte. SPIEGEL: Jemand, der so viel Geld hat wie Sie, wird es zumindest nicht selbst anlegen. Plattner: Ich habe einen Vermögensberater, der nur für mich arbeitet. Und ich habe ihn in den vergangenen Monaten auch mal ge- fragt, ob wir zum Beispiel Derivate besit- zen. Wir hatten sie nicht. Ich verstehe die

CARSTEN KOALL / VISUM (L.); KOALL CARSTEN TIM WEGNER / LAIF (R.) nämlich nicht. Das ganze Geschäftsmodell. Investor Plattner, SAP-Zentrale in Walldorf: „Gehechel nach Wachstum“ Das habe ich sogar mal im Konzern ge- sagt, als das Thema dort aufkam. Da haben Die zwei Gesichter des Hasso Plattner Kunstsammlung loben, liefert sich mit manche noch gelächelt. zeigen sich nirgends so anschaulich wie seinem Intimfeind, Oracle-Boss Larry SPIEGEL: Sie wollen noch wissen, wie ein in Potsdam. Am einen Ende des Univer- Ellison, wilde Segelduelle – und kehrt Geschäft funktioniert? sitätscampus steht das nach ihm be- doch immer wieder nach Potsdam zurück. Plattner: Vor vielen Jahren habe ich mal nannte und von ihm finanzierte High- Es ist ein schmutzig-nasser Mittag. Unten Geld in Immobilien angelegt, die ich gar tech-Institut. Am anderen Ende liegt sei- auf dem Parkplatz schimmert Plattners nicht kannte. Das ging ziemlich schief. Und ne Risikokapitalfirma, mit der Plattner silbergrauer Ferrari, dessen Scheiben mor- wissen Sie was: Ich war selbst schuld. Ich sich an neuen, Zukunft und Gewinn ver- gens immer furchtbar beschlagen seien, hätte mich ja vorher besser informieren sprechenden Firmen beteiligt. erzählt er in Hemd und dickem Pullover. können. Der Unterschied zwischen Rekla- Dort der Wohltäter Plattner, hier der Zurzeit sucht er eine Wohnung in der mefotos im Prospekt und der Realität kann Kapitalist. Mal Spender, mal Investor. In Nähe. Er will nicht immer im Hotel sitzen, verdammt groß sein. Aber meinem Vater beiden Fällen muss er Abenteurer sein. wenn er im Großraum Berlin zu tun hat. erging es da noch schlimmer. Einer wie Plattner hat für beide Seiten Ein paar Tage später fliegt er wieder auf SPIEGEL: Erzählen Sie! Geld, viel Geld. Der gebürtige Berliner die Bermudas. Dort ist wenigstens das Plattner: Er hat mal ein Grundstück in gehört zu den fünf Gründern des Soft- Wetter besser. Die Wirtschaftskrise holt Florida gekauft. Gesehen hatte er es nur ware-Giganten SAP und ist damit einer ihn ohnehin überall ein. bei Ebbe. Bei Flut stand es unter Wasser, der wenigen Deutschen, die es innerhalb und ab und zu schwamm ein Krokodil nur einer Generation zu Milliardenver- SPIEGEL: Herr Plattner, wir wollen mit vorbei. mögen, aber auch zu weltweiter Reputa- Ihnen über Geld reden. SPIEGEL: Haben Sie selbst sich schon mal tion gebracht haben. Seit seinem Rücktritt Plattner: Hm. richtig verzockt – wie etwa der Ratio- als SAP-Chef verbringt Plattner, 64, einen SPIEGEL: Ein für die Weltwirtschaft dra- pharm-Besitzer Adolf Merckle, der erst mit Großteil des Jahres in den USA oder in matisches Jahr geht zu Ende. Wissen Sie, vielen Millionen Euro gegen die VW-Aktie Südafrika, wo er ein Golf-Hotel betreibt. wie viel Sie persönlich 2008 verloren gewettet hat und am Ende sogar dreist Der frühere IBM-Manager ist ein Freund haben? Staatsbürgschaften forderte? schneller Autos, lässt sich schon mal von Plattner: Was allein meine SAP-Aktien Plattner: Das ist schon eine besondere Art Microsoft-Gründer Bill Gates für seine heute weniger wert sind, habe ich – ehrlich des Spekulierens. Und ich kann für Herrn

50 der spiegel 1/2009 Merckles Verlust kein Bedauern aufbrin- als Vorstandschef gelegentlich vorkommen chen und Schattenseiten des Systems. Wo- gen … wie ein Gladiator im Kolosseum. Die joh- hin kommunistische Planwirtschaft führt, SPIEGEL: … weil jemand, der auf fallende lende Menge von einst sind die Analysten hat man in der DDR gesehen. Das reden Kurse setzt, ein Unternehmen schlicht von heute, die den Daumen heben oder sich manche mittlerweile schön. schlechtredet? senken. Und natürlich hat SAP eine hohe SPIEGEL: Zum Beispiel der „Tatort“-Kom- Plattner: Nicht unbedingt. Andere sagen, Rendite, die auch nicht kleiner ausfallen missar Peter Sodann, der sagte: „Ich lasse mit Methoden wie diesem sogenannten darf, weil sonst die Aktionäre sauer sind. mir die DDR nicht nehmen.“ Shortselling würde man Unternehmen ja Aber wer das Spiel spielt, muss sich an die Plattner: Das gehört für mich in die Abtei- auch kontrollieren, denn nur die anfälligen Regeln halten. Und es ist ein Spiel, das lung Kuriositätenkabinett. Andererseits ist reagieren auch darauf. Letztlich ist aber weltweit gespielt wird. Wir sollten uns da der Mann immerhin Kandidat für das Amt jede Spekulation eine Wette. Akzeptiert keinen Illusionen hingeben. des Bundespräsidenten. man die Spekulation, muss es auch egal SPIEGEL: Manchmal ein böses Spiel. Im Jahr SPIEGEL: In Umfragen halten immer weni- sein, ob auf fallende oder steigende Kurse 2005 hat Deutsche-Bank-Chef Josef Acker- ger Bundesbürger die Demokratie für die gesetzt wird. Nur: Wenn ich dabei Geld mann quasi im gleichen Atemzug eine beste Staats- und den Kapitalismus für die verzocke, kann ich nicht nach dem Staat 25-prozentige Rendite für sein Institut pro- sinnvollste Wirtschaftsform. rufen wie Herr Merckle. klamiert und zugleich den Abbau von Plattner: Das entsetzt mich auch. Da hilft SPIEGEL: Aktuell ist der SAP-Kurs ziemlich mehr als 6000 Jobs verkündet. nur, sich mal in der Welt umzuschauen, hart abgestürzt. Die übliche ungerechte Plattner: Sachlich hatte er völlig recht. Sei- beispielsweise auf Kuba. Flattrigkeit des Marktes? ne Bank brauchte diese Rendite, um global SPIEGEL: Eine der Ursachen der Finanz- Plattner: Keine Ahnung. Vielleicht war die konkurrenzfähig zu bleiben. Er hat es nur und Wirtschaftskrise war doch auch die SAP ja in früheren Jahren überbewertet. unglücklich ausgedrückt. Fast überall auf ewige Gier nach immer höheren Renditen. SPIEGEL: Haben Sie sich jemals gewünscht, der Welt wird das auch verstanden, nur in Plattner: Es gibt diese Gier. Aber entschei- dass Sie Ihr Unternehmen nie an den Ak- Deutschland nicht, wo einem mitunter eine dender war: Die Akteure sind unüber- tienmarkt gebracht hätten? eher wirre Sozialromantik begegnet. schaubare Risiken eingegangen. Übrigens Plattner: Ach wissen Sie, insgeheim spielt SPIEGEL: Was ist daran sozialromantisch, alle: Banker, Politiker und Analysten, man solche Gedanken gelegentlich mal wenn man sich eine gerechte Gesellschaft Rating-Agenturen, amerikanische Haus- durch. Aber das Unternehmen ist ja nicht wünscht? besitzer wie europäische Kleinanleger. Wer deshalb an die Börse gegangen, weil es Plattner: Ist die deutsche Gesellschaft denn nicht weiß, was ein Lehman-Zertifikat be- Geld für Investitionen brauchte. nicht gerecht? Seit dem Wirtschaftswun- deutet, sollte sich keines kaufen. Schuld SPIEGEL: Das ist doch in der Regel der wich- der eines Ludwig Erhard stehen wir Deut- an der Krise hat vor allem die Intranspa- tigste Grund für so einen Schritt. schen zwar inmitten eines kapitalistischen renz der Risiken auf allen Ebenen. Die Plattner: Schon, aber wir haben unser Wirtschaftssystems, haben ihm aber zu- wenigsten wussten noch, was sie eigent- Wachstum eigentlich immer aus der eige- gleich den Mantel „Soziale Marktwirt- lich gekauft haben. So konnten diese ge- nen Kasse zahlen können. Ohne den Bör- schaft“ übergestülpt … fährlichen Papiere unbemerkt den ganzen sengang wäre die SAP allerdings sicher SPIEGEL: … die wir vernünftig finden, weil Planeten infizieren. Als die Krankheit aus- nicht so schnell weltweit populär ge- sie die Folgen eines extremen Kapitalis- brach, war es schon zu spät. worden. mus mildert. SPIEGEL: Wann wurde Ihnen das erste Mal SPIEGEL: Der ewige Renditedruck kann Plattner: Völlig einverstanden. Aber es gibt klar, dass diese Krise größer ist als alle vor- einem Unternehmen aber auch die Luft so eine Stimmung im Land, dass wir Kapi- hergehenden Konjunkturschwankungen? abschnüren. talismus eigentlich gar nicht mehr wollen, Plattner: Zuerst sah ich im Fernsehen die Plattner: Natürlich gibt es dieses Gehechel sondern was anderes, Netteres. Es existiert Menschenschlangen vor den Filialen der nach Wachstum. Natürlich kann man sich aber nichts Besseres, trotz vieler Schwä- britischen Bank Northern Rock. Die Leu- te hatten plötzlich Angst – vor dem Miss- management ihrer Banker. Später war ich in der Karibik auf Martinique, wo Ameri- kaner gern Urlaub machten. Auf einmal waren die verschwunden. Schließlich sah man überall die Bilder von Amerikanern, die ihre Häuser verlassen mussten, weil sie ihre Kredite nicht mehr bedienen konn- ten. Ich finde das bis heute unfassbar, denn es bringt ja auch den Banken nichts, wenn die Häuser unbewohnt sind. Die kriegen sie ja eh nicht los. Also könnten sie wenigs- tens den Leuten das Drama ersparen, kein Dach mehr überm Kopf zu haben. SPIEGEL: Ist das nicht typisch für diese ex- treme Spielart des Kapitalismus? Erst wol- len alle das große Geschäft machen. Dann rennen alle weg. Plattner: Ich habe einen Amerikaner ge- kannt, der plötzlich krank wurde. Es stell- te sich raus, dass er nicht krankenversi- chert war. Solange man in den USA einen Job hat, sagt man sich: Dann zahl ich die Kosten eben privat, wenn mal was ist. Die- ser Mann verlor seinen Job, sein Haus, am

RAINER UNKEL RAINER Ende sein Leben. Da fing ich endgültig an, Börse (in Frankfurt am Main): „Unbemerkt den ganzen Planeten infiziert“ über die Fehler im System nachzudenken.

der spiegel 1/2009 51 Wirtschaft HENNING SCHACHT / ACTION PRESS / ACTION HENNING SCHACHT Deutsche-Bank-Chef Ackermann, zur Zwangsversteigerung ausgeschriebenes Haus (in Kalifornien), Kundenschlange vor Northern-Rock-Filiale

SPIEGEL: Was war das Ergebnis? Wurde den Autopilot in einem Flugzeug. Ohne ihn heit schaffen. Schauen Sie sich an, was welt- Amerikanern das Leben auf Pump einfach geht es nicht. Aber allein kann er auch weit mit dem Trendthema Biosprit passiert zu leicht gemacht? nicht fliegen. ist! Anfangs legten viele Staaten gewaltige Plattner: Sie wurden in die Schulden ge- SPIEGEL: Wenn alle die gleiche Software Förderprogramme auf, um aus Getreide trieben von den US-Banken. Die verspra- benutzen … Kraftstoff herzustellen. Plötzlich schlug die chen sich ein Geschäft von den Krediten, Plattner: … verhalten sich alle gleich … Uno Alarm, weil sich die Preise für Grund- die sie an immer ärmere Menschen ver- SPIEGEL: … wie Lemminge. nahrungsmittel verdoppelt hatten. gaben. Es war ein wahnsinniger Reklame- Plattner: Wenn aber schon all diese klugen SPIEGEL: Auch dieses Problem wurde von druck dahinter. Immer hieß es: Du bist Mathematiker und Statistiker mit all ihrer Spekulanten befeuert. doch blöd, wenn du bei den niedrigen Zin- Software und ihren Berechnungsmodellen Plattner: Mag sein. Aber plötzlich hatte sen nicht dein Haus beleihst, das ja immer am Ende so ein Desaster modellieren – man ein weltweites Hungerproblem. Letzt- im Wert steigen wird. So begann die Mas- dann ist der Ruf nach mehr Überwachung lich zeigt das Beispiel nur: Auch Staaten senverschuldung in Amerika. Vielleicht ist und Regulierung die falsche Reaktion. sind begrenzte Einzelakteure, Fähigkeit zum das eine Frage der Kultur – oder der Gene- SPIEGEL: Einspruch! Das freie Spiel des Irrtum inklusive. Wie Individuen machen ration. Ich selbst bin so erzogen worden, Marktes hat doch ganz offensichtlich ver- sie Fehler. Transparenz hilft, solche Fehler dass ich nie Schulden gemacht habe. sagt. Deshalb rufen nun alle Akteure nach schneller zu erkennen. SPIEGEL: Das klingt, als würden Sie die Staatshilfe. SPIEGEL: Sind die USA nur Teil des Pro- Hauptverantwortung gar nicht bei den Plattner: Und? Die private Verschuldung blems oder auch der Lösung? Banken sehen, sondern bei den dummen wird in eine öffentliche ausgetauscht. Das Plattner: Natürlich beides. Sie haben uns Kleinsparern. Problem wird nur verschoben. Natürlich die Krise zwar eingebrockt, aber ich bin Plattner: Alle haben mitgemacht, nicht nur brauchen wir akute Finanzhilfen, auch mir sicher, dass sie auch die Ersten sind, die Banken. Die Amerikaner waren bereit, wenn mir nicht ganz einleuchtet, weshalb die daraus gestärkt hervorgehen werden. mit Schulden zu leben. Warum kauften die jetzt ausgerechnet die als Erste Geld vom Übrigens haben Amerikaner auch keine zum Beispiel völlig überdimensionierte Staat bekommen sollen, die am schlechtes- Probleme damit, jemanden für 25 Jahre Autos, die zudem weit schneller fahren ten gewirtschaftet haben. ins Gefängnis zu stecken, wenn er nach- können, als es auf ihren Highways erlaubt SPIEGEL: Sind sie gegen Staatshilfen für weislich gelogen und betrogen hat wie ist? Es war ja nicht nur die Industrie, die Banken und Unternehmen? etwa der Worldcom-Gründer Bernie Eb- verführte. Die Menschen wollten sich auch Plattner: In der augenblicklichen Lage mag bers. Was nicht funktioniert, das ändern verführen lassen. Ich glaube, das Spiel wäre es ohne Überbrückungskredite nicht gehen. sogar noch eine ganze Weile weitergegan- Banken und Unternehmen benötigen Zeit gen, wenn die USA nicht zugleich noch zur Anpassung. Aber grundsätzlich sind zwei große Kriege hätten finanzieren müs- Subventionen problematisch. Besser sind sen. Kriege, die sie letztlich genauso auf Investitionen in die Zukunft, in Infrastruk- Pump bezahlten wie ihre Bürger den Haus- tur und Bildung. kauf. Dadurch wurde alles noch schlimmer. SPIEGEL: Und wieso ist der Ruf nach schär- SPIEGEL: Vielleicht hätte an der Wall Street ferer Regulierung die falsche Reaktion? auch einfach mal jemand seinen gesunden Plattner: Klar, man muss neue Grenzen zie- Menschenverstand einschalten sollen, statt hen. Aber letztlich bleibt es eine Frage der das Handeln von sturen Computerpro- Transparenz. Die Märkte brauchen deshalb grammen beherrschen zu lassen. vor allem Gesetze, die genau diese Offen-

Plattner: Sie haben ja recht. Das Denken / VISUM KOALL CARSTEN Plattner (M.), SPIEGEL-Redakteure* wurde teils den Algorithmen der Compu- * Thomas Tuma und Klaus-Peter Kerbusk in Plattners ter übertragen. Es ist ein bisschen wie der Potsdamer Firma. „Beängstigende Schnelligkeit“

52 der spiegel 1/2009 MARK AVERY / REUTERS (M.); REX FEATURES (R.) (M.); REX FEATURES / REUTERS AVERY MARK (am 17. September 2007 in London): „Alle haben mitgemacht, nicht nur die Banken“

die Amerikaner schnell und mitunter mal die erfolgsverwöhnte SAP kann mehr hart. klare Prognosen abgeben für 2009. SPIEGEL: Die Boni für die Manager waren Plattner: Schlimmer als schlechte Aussich- doch auch ein Teil des Übels. Allein die ten sind gar keine. Es herrscht totaler Ne- US-Investmentbank Goldman Sachs hat in bel. Wir haben keine Ahnung mehr, wie es den vergangenen Jahren etliche Milliarden weitergeht. an Boni ausgeschüttet. SPIEGEL: Selbst SAP spart nun bei Ge- Plattner: Das mag für unsere Phantasie schäftsreisen, Dienstwagen und Ähnlichem. Wahnsinn sein. Aber Amerika tickt da an- Plattner: Ach, das ist Pillepalle. Da wur- ders. Dort sagen mir sogar unsere eigenen den jetzt ein paar Dinge gestrichen. Das Topleute: Du hast SAP vielleicht gegründet, war vielleicht etwas hölzern kommuniziert. aber wir entwickeln es nun fort und liefern SPIEGEL: Ist es denn üblich, dass Sie als dir den Gewinn. Also wollen wir auch ein Aufsichtsratschef den Stimmungsmacher Stück vom Kuchen haben. Und wissen Sie bei einer Betriebsversammlung geben? was? Ich finde, dass die recht haben. Plattner: Es ist zumindest nicht ungewöhn- SPIEGEL: Die Boni sind an Kriterien wie die lich, dass ich dort mal auftauche. Und die Entwicklung des Aktienkurses geknüpft. momentanen Umstände sind ja wirklich So was verführt zu Bilanzkosmetik und außergewöhnlich. Aber das größte Pro- atemlosem Aktionismus. blem der SAP sind nicht wir, sondern die Plattner: Umgekehrt wird ein Schuh dar- Analysten, die Zahlen verlangen. aus: Steigende Unternehmensgewinne be- SPIEGEL: Welche Lehren ziehen Sie per- feuern den Aktienkurs. In der Folge stei- sönlich aus der aktuellen Wirtschaftskrise? gen auch die Boni. Plattner: Neulich lief im deutschen Fernse- SPIEGEL: Es gab in den vergangenen Mo- hen „Domino Day“. Man sah die Steine in naten Banker, die erst ihre Institute an die einer rasenden Geschwindigkeit fallen. Un- Wand fuhren und als Dank noch fette Ab- erbittlich. Mit der gleichen unerbittlichen findungen kassieren konnten. Konsequenz fällt nun in der Wirtschaft Plattner: Das mag man den Leuten schwer Stein um Stein in beängstigender Schnel- erklären können. Aber diese Abfindungen ligkeit. Ich habe aber nicht den Eindruck, und Boni sind ja nur noch ein Echo auf alte dass wir so viel schlauer sind als in der Erfolge, Rest-Gagen für frühere Jahre. Sie Weltwirtschaftskrise vor fast 80 Jahren. Die können den Managern diese einmal ge- Welt hat viel zu sehr auf Pump gelebt – währten Gehaltsbestandteile auch nicht und tut es noch. einfach vorenthalten. Schließlich gibt es SPIEGEL: Inwiefern? Verträge. Finden Sie mal einen, der einen Plattner: Wenn man sich anschaut, wie wir Vertrag unterschreibt mit – sagen wir – ein- Menschen unsere Umwelt ausbeuten, dann jähriger Laufzeit! Ich finde es schon ver- kann man nur zu dem Schluss kommen: rückt, dass wegen exorbitanter Gagen im- Wir alle leben weit über unsere Verhält- mer nur auf Manager eingedroschen wird. nisse – und merken es nicht mal. Wenn Eigentümer werden da selten belangt. uns da mal die Rechnung präsentiert SPIEGEL: Die Finanzkrise hat die reale Wirt- wird … schaft unglaublich schnell erreicht. Viele SPIEGEL: Herr Plattner, wir danken Ihnen Konzerne erwägen Entlassungen. Nicht für dieses Gespräch.

der spiegel 1/2009 53 Wirtschaft

wahren Zustand des Unternehmens ge- lerweile geschasst. Der erst im Oktober an- BANKEN täuscht haben. Die Münchner Staatsan- geheuerte neue Bank-Boss Axel Wieandt, waltschaft bestätigt zudem, dass sie bereits 42, trennte sich gerade von zwei weiteren seit Februar unter anderem wegen des Ver- Vorständen – und kündigte an, die Bank Verheerende dachts auf Insider-Handel ermittelt. Laut müsse bis 2011 mehr als die Hälfte ihrer 1800 mehreren Strafanzeigen sollen HRE-Ma- Mitarbeiter nach Hause schicken. Was nager oder deren Angehörige und Freunde bleibt, ist ein riesiger Scherbenhaufen – und Lücke noch vor der ersten Alarmmeldung am eine Vielzahl offener Fragen. Die Fast-Pleite der Immobilienbank 15. Januar im größeren Stil HRE-Aktien So war die übergeordnete HRE-Holding abgestoßen haben. Mittlerweile ist das bisher nur teilweise dem Gesetz für das Hypo Real Estate könnte Papier zum Ramschwert verkommen. Kreditwesen unterstellt. Die zuständige sich zur größten Wirtschaftsaffäre Die Schieflage des Unternehmens sei Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- 2009 auswachsen – „letztendlich“ erst dadurch „verursacht“ aufsicht (BaFin) wachte zwar über die die teuerste ist sie jetzt schon. worden, dass der Vorstand rechtzeitige deutschen Bankentöchter und mit ihren Umstrukturierungen versäumt habe, heißt irischen Kollegen über die Depfa in Dub- ie kamen frühmorgens, traten in es in dem Durchsuchungsbeschluss weiter. lin. Eine Gesamtschau hatte indes offenbar Mannschaftsstärke an und fielen in Ein HRE-Sprecher will zu den Vorwür- niemand. So tat sich eine verheerende Si- Setlichen Büros und Privatwohnungen fen nicht Stellung nehmen. Andere Mana- cherheitslücke auf: „Finanzholdings konn- gleichzeitig ein. ger nehmen die Führung in Schutz, weil sie ten bislang nicht umfassend beaufsichtigt Mit einer großen Razzia begann im No- angeblich mangelhaft informiert wurde. werden“, bestätigt eine BaFin-Sprecherin. vember 2006 die Siemens-Korruptions- Der alte Vorstandschef, Georg Funke, 53, Zwar handelt der Gesetzgeber nun: Laut affäre, die erst vor wenigen Tagen mit ei- wurde nebst anderen Top-Managern mitt- jüngster Novellierung des Pfandbriefgeset- ner Milliarden-Geldbuße einen ersten zes können sich die Firmen dem Re- Schlusspunkt fand. gelwerk künftig freiwillig unterwer- Fast zeitgleich mit dem Siemens- fen, um entsprechende Risikosysteme Urteil in den USA leitete eine ähnlich zu installieren. Fachleute fordern aber spektakuläre Durchsuchungsaktion strengere Auflagen. die nächste große deutsche Wirt- „Was für die Amerikaner der Ver- schaftsaffäre ein. Wieder kamen Dut- sicherungskonzern AIG, ist für die zende Fahnder und schlugen an vielen Deutschen die HRE“, sagt ein promi- Orten gleichzeitig zu. Doch diesmal nenter Banker. Beide galten lange als geht es nicht um Korruption, sondern stille Größen und entpuppen sich nun um Spekulation und Marktmanipula- für die Branche als schwarze Löcher, tion, um Untreue und Täuschung, In- in denen ständig neue Rettungsmil- sider-Tipps und Inkompetenz gieriger liarden verschwinden. Dabei war die Finanzmanager bei der Hypo Real Hemdsärmeligkeit der HRE-Führung Estate (HRE). Und es geht schon jetzt schon länger augenfällig. „Du hast kei- um weit mehr Geld als bei Siemens. ne Zeit, dir jeden einzelnen Schuldner Bereits vor fast drei Monaten haben genau anzuschauen“, gestand Micha- Regierung, Bundesbank und mehrere el Thiemann, Manager der HRE-Toch- Kreditinstitute 50 Milliarden Euro an ter Collineo, noch im Mai 2007. Kurz Liquiditätshilfen zugesagt, um die darauf verkauften Collineo und die Pleite der HRE und damit eine Ket- Citigroup ein gewaltiges Paket forde- tenreaktion zu verhindern. Zuletzt rungsbesicherter Wertpapiere in Höhe musste die öffentliche Hand weitere von 2,2 Milliarden Dollar. Fast die Hälf- Garantien abgeben, für zusätzliche 30 te davon bestand aus giftigen Darlehen Milliarden Euro. an klamme US-Hausbesitzer. Der Münchner Immobilienfinan- Sorglosigkeit, Draufgängertum und zierer samt seiner 2007 übernomme- Gier kennzeichnete auch die Truppe nen irischen Tochter Depfa hat mit ris- um Gerhard Bruckermann. Der leite-

kanten US-Immobilienpapieren und PETER KNEFFEL / DPA te schon früher die Depfa, eine Ge- anderen waghalsigen Geschäften ge- HRE-Chef Funke (im März 2008): Riesiger Scherbenhaufen sellschaft irischen Rechts zur Finan- waltige Summen verbrannt – und die zierung staatlicher Projekte, und ver- Dramatik offenbar verschleiert. Davon Protokoll eines Rettungsversuchs kaufte sie im Sommer 2007 an die gehen zumindest die Staatsanwälte HRE. Wichtige Teile des vermeintlich aus, die nun laut Durchsuchungsbe- 6. OKTOBER 21. NOVEMBER grundsoliden, aber riskant geführten schluss wegen „unrichtiger Darstel- Staatsfinanzierers hatte Bruckermann Bundesbank, Bundesregie- Der Soffin gewährt der lung“, „Marktmanipulation“ und „Un- rung und beteiligte Finanz- schon fünf Jahre vorher in Steuer- treue“ gegen Alt- und Noch-Vorstände HRE einen Garantierahmen oasen verlegt – um Steuern zu sparen. institute sichern der Hypo von 20 Mrd.¤, der am ermitteln. In dem sechsseitigen Papier Real Estate (HRE) eine Liqui- Für so viel Kreativität hatte der Ma- gehen die Ermittler die Manager hart 9. DEZEMBER nager sich und seinem Vorstand 2003 ditätshilfe von 50 Mrd.¤ zu. an. Die hätten die dramatische Lage eine 100-prozentige Gehaltserhöhung um weitere 10 Mrd.¤ des Unternehmens „bewusst unrich- 12. NOVEMBER gegönnt – auf dann 20 Millionen Euro. auf 30 Mrd.¤ aufge- tig dargestellt“, sich des „bewussten HRE veröffentlicht für das dritte stockt wird. Gespräche Ein glückliches Händchen hatte er Verschweigens“ vieler Informationen Quartal einen vorläufigen Vor- mit dem Soffin über fortan vor allem, wenn es um sein per- schuldig gemacht und ihre „Vermö- steuerverlust von 3,1 Mrd.¤; umfassende Kapital- sönliches Vermögen ging: An dem gensbetreuungspflicht verletzt“. darunter Abschreibungen auf die unterstützung werden HRE-Deal soll er 100 Millionen Euro Über ein Jahr lang soll der alte Depfa in Höhe von 2,5 Mrd.¤ weitergeführt. verdient haben. Beat Balzli, Vorstand die Öffentlichkeit über den Dinah Deckstein, Jörg Schmitt

54 der spiegel 1/2009 Rückblick 2008

Steiner in Peking Was war da los, Herr Steiner? Der Gewichtheber Matthias Steiner, 26, über sein trauriges Glück

„Über die Lawine, die ich im August in Peking auslöste, bin ich heute noch erstaunt. Das Foto meiner verstorbenen Frau Susann habe ich während einer unserer Spaziergän- ge im Odenwald gemacht. So fröhlich wie auf dem Bild, so war sie. Als ich es am 19. August während der Siegerehrung in Peking hochhielt, wollte ich gar nichts Bestimmtes damit bezwecken. Viel Schönes habe ich seitdem erlebt, ich habe tolle Menschen kennengelernt, wurde zum Sportler des Jah- res gewählt, und die vielen Gespräche, die ich plötzlich über den tragischen Unfalltod meiner Frau führen musste, haben mir dabei geholfen, den Verlust zu verarbeiten. Dafür bin ich dankbar. Aber jetzt bin ich froh, dass das Jahr zu Ende geht. Von 2009 an werde ich mich voll und ganz auf den Sport kon- zentrieren. Mit meiner Trauer möchte ich

ALVIN CHAN / REUTERS ALVIN dann wieder allein sein.“

TOTER DES JAHRES Sicher, er hatte Knut, wie er AUFTRITT DES JAHRES der Show. Es sei eine Frage das Bärenjunge nannte, die von nationalem Interesse Licht im Herzen Flasche gegeben, wochenlang Ein Lied für China gewesen. Chen: „Wir wollten auf einer Pritsche neben sei- das perfekte Bild schaffen.“ atürlich wusste er selbst ner Kiste geschlafen und ihm s war einer der großen Dieser Versuch wird wohl so Nam besten, wie aberwit- Elvis-Lieder auf der Gitarre EMomente während der nicht wieder unternommen zig der ganze Rummel war. vorgespielt. Aber im Unter- Eröffnungsfeier der Olympi- werden. Das chinesische Er tue doch nur seine Arbeit, schied zu den Knut-Fans schen Spiele in Peking. Ein Kultusministerium erwägt, versicherte Thomas Dörflein überall auf der Welt vergaß kleines Mädchen im roten heißt es, solche Schummel- immer wieder. Es half nichts. Dörflein nie, dass Knut ein Kleid schwebt hinab in das auftritte zu untersagen. Seit Dörflein, Tierpfleger im Eisbär war und dass ihre Be- Stadion, die chinesische Flag- Berliner Zoo, sich eines von ziehung würde enden müssen, ge wird hereingetragen, und der Mutter verstoßenen Eis- sobald Knut erwachsen wäre. das Kind stimmt glockenklar bär-Babys angenommen hat- Dass die Menschen tatsäch- und hell die „Ode an das te, wurde er von einer Zu- lich beide liebten, Knut und Vaterland“ an. Der Name neigung überrascht, die ihn seinen Pfleger, lag womöglich des Mädchens ist Lin Miaoke, bald zu erdrücken drohte. an Dörfleins Biografie. Selbst sie ist neun Jahre alt, wurde Vater von drei Kin- innerhalb weniger Minuten dern, zwei eigenen weltberühmt – doch wie am und einem Ziehsohn, Tag danach bekannt wurde, sah es so aus, als inte- sang sie gar nicht selbst. griere er das Eisbären- Sie bewegte ihre Lippen nur Baby einfach in seine gekonnt zum eingespielten Patchwork-Familie. Lied, das von einem anderen Seit Dörflein am Mädchen gesungen worden 22. September einem war. Das Mädchen heißt Yang / REUTERS XINHUA Herzinfarkt erlag, Peiyi, war sieben Jahre alt 44 Jahre alt, pilgerten und nach Meinung eines Tausende an sein Mitglieds des Politbüros Grab. „Die Lichter im ungeeignet für den Auftritt Zoo werden eines als das Gesicht Chinas: Sie Tages verloschen sein“, erschien dem Mann zu dick, schrieb eine Frau ins zu hässlich, die Zähne zu Kondolenzbuch, „aber schief. So berichtete es am AP STEFFEN KUGLER / DPA KUGLER STEFFEN er hat eins in meinem Tag nach der Feier Chen Qi- Dörflein mit Knut Herzen angezündet.“ gang, der musikalische Leiter Lin, Yang

56 der spiegel 1/2009 Gesellschaft

ERZIEHUNGSBUCH kommen, denn sie sind früh- DES JAHRES kindlich narzisstisch gestört. SPIEGEL: Warum? „Mein Kind soll Winterhoff: Die Gesellschaft bietet keine Sicherheit, An- mich lieben“ erkennung, Perspektive mehr. Die Menschen brauchen das Der Kinder- und Jugend- aber, und viele kompensieren psychiater Michael Winter- unbewusst über die Kinder: hoff, 53, über den richtigen Wenn mich da draußen kei- Erscheinungstermin eines ner liebt, soll mein Kind mich

DANIEL DEME / DPA DANIEL Bestsellers lieben. Mills SPIEGEL: Herr Win- SPIEGEL: Herr Win- terhoff, wie hat sich SCHEIDUNG DES JAHRES einen anderen Menschen: terhoff, Ihr Buch Ihr Alltag verän- neue Zähne, neue Anzüge, „Warum unsere Kin- dert? Can’t buy me love neues Selbstbewusstsein. der Tyrannen wer- Winterhoff: Viele Doch damit entfiel die den“ hat sich mehr Eltern, die zu mir echs Jahre waren Paul Grundlage, warum man die- als 300000-mal ver- kommen, haben SMcCartney und Heather sen Paul Potts lieben sollte. kauft. Hat der Erfolg das Buch bereits ge- Mills verheiratet, zwei Jahre Diese Grundlage war nicht Sie überrascht? lesen, da muss ich davon verbrachten sie im allein das Unglück, das man Winterhoff: Ja. Aber keine Überzeugungs- Scheidungskrieg, und im ihm angesehen hatte, das das heißt auch, dass arbeit mehr leisten. Frühjahr, als der Richter das Schicksal des Klassendicken die Analyse stimmte. Das hat die Arbeit Paar trennte, war Heather mit den schiefen Zähnen. Die Gesellschaft in der Praxis

Mills zur Unperson gewor- Und es war auch nicht nur selbst hat bemerkt, / BREUELBILD MAYBERG sehr viel leichter den. Sie hatte den Rosenkrieg die alles durchdringende dass etwas schief- Winterhoff gemacht. verloren, vor allem aber den Sehnsucht, die man seiner läuft. Wäre das Buch PR-Krieg. Geldgierig, kalt, Art zu singen anmerkte. Es ein paar Jahre früher er- Zitate 2008 berechnend sei sie, so hieß es, war beides, gleichzeitig. Wie schienen, wäre es wohl nicht womöglich sogar ein Ex-Por- viel Sehnsucht in einem Men- so verstanden worden. „Die Braut war in Weiß, no-Modell. Ganz anders Sir schen stecken kann und wie SPIEGEL: Hatten Sie es denn sie war wunderschön, Paul: Er hatte noch im Januar die Musik ihm hilft, sein Un- schon vorher fertig? wie immer. Der seiner Frau eine teure Uhr glück zu überwinden. Potts, Winterhoff: Es lag drei Jahre in Gatte war auch nicht zum Geburtstag überreichen aufgewachsen in Fishponds der Schublade. Damals gab schlecht.“ lassen und dafür gesorgt, dass bei Bristol, sein Vater Bus- es vor allem pädagogische Der Pariser Bezirksbürgermeister die Welt von dieser Geste er- fahrer, die Mutter Kassiererin Bemühungen, die Auffällig- François Lebel zur Trauung von fuhr. Ein Lehrstück über die im Supermarkt, war schon keiten der Kinder in den Griff Nicolas Sarkozy und Carla Bruni Instrumentalisierung von Me- 36, als er zum zweiten Mal zu bekommen. Lerntheorien, dien war die Scheidung, und geboren wurde, bei einer Therapien. Diese Konzepte „Ehe jetzt einer im darin war Paul einfach besser. Talentshow, bei der er prä- reichten zwar nicht aus, den- destiniert schien, sich zu noch war ich überzeugt, dass 20. Stock sitzt und den STIMME DES JAHRES blamieren. Er stand vor dem mir in der Phase keiner zu- ganzen Tag nur fern- Mikro ebenso hilflos wie wür- gehört hätte. Dann kam Herr sieht, bin ich schon fast Dickes Wunder devoll und rührte das Publi- Bueb mit dem „Lob der Dis- erleichtert, wenn er kum zu Tränen durch seine ziplin“ und wurde nicht ver- ein bisschen schwarz- er Telekom-Werbespot Arie aus „Turandot“. Dank prügelt für seine Ansichten. arbeitet.“ SPIEGEL: Dmit ihm war ein Hit, in YouTube verbreitete sich der Sind Sie mit ihm auf Thilo Sarrazin (SPD), der Berliner Max-Schmeling- Auftritt um die Welt – Beginn einer Linie? Finanzsenator Halle löste er Begeisterungs- eines neuen Lebens für Paul Winterhoff: Nein, und ich bin stürme aus, in der Hambur- Potts. Der echte Potts, der in dieser Hinsicht übrigens „Auch wir als Unter- ger Color-Line-Arena wurde Sänger jener drei Minuten im oft missverstanden worden. nehmen werden sein Konzert zu einem Fest britischen Fernsehen, lebt nur Mir geht es weder um Gren- getroffen. Wir bekom- von Tränen und Ergriffenheit noch im Internet, für immer. zen noch um Disziplin – ich men negative Publicity. – ja, es war sein Jahr, bin ja kein Pädagoge, sondern das Jahr, in dem er die Psychiater. Keiner mag uns.“ Ernte einfuhr, in dem SPIEGEL: Was ist das Phäno- Olli-Pekka Kallasvuo, Chef des er Berühmtheit in Ver- men, aus kinderpsychiatri- Handy-Konzerns Nokia, vor der kaufszahlen verwandel- scher Sicht? Schließung des Bochumer Werks te; und gleichzeitig war Winterhoff: Auffällige Kinder es für alle der Abschied sind nicht mehr die Ausnah- „Ich kriege auch von ihm. Der Abschied me. Und ihre Eltern gehören ein Kilo Hackfleisch von Paul Potts, wie man nicht zur Unterschicht, son- in die Charts.“ ihn kannte. Seine Blitz- dern sind gebildet. Obwohl Dieter Bohlen, Musiker und karriere machte aus ihm die Kinder also erzogen sind, Produzent, über seinen Einfluss fehlen ihnen die Vorausset- auf die Musikszene Potts GAVIN SMITH / PICTURE PRESS / PICTURE SMITH GAVIN zungen, in der Schule klarzu-

der spiegel 1/2009 57 Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wo immer sie haltmacht, tritt sie auf, tanzt, singt, spielt – und sammelt im Gegenzug Träume. Erzählte und aufge- schriebene. Es kommen Tausende zu- Ans Ende der Welt sammen. Manon will sie am Südpol im Eis versenken. Vielleicht für immer, Warum eine junge Frau mit dem Traktor zum Südpol fahren will vielleicht veröffentlicht sie die Träume irgendwann – sie weiß es noch nicht. ie Frau sitzt in blauer Latzhose Natürlich gab es Schwierigkeiten. Sie und abgeschnittenen Hosenbei- Ossevoort war bereits im Kosovo, als sie erfuhr, Dnen am Strand von Kapstadt, sie dass sie aus Griechenland nicht nach lässt die Füße ins Wasser baumeln und Ägypten übersetzen kann. Also diesel- erzählt. Und so, wie sie redet, leicht- te sie wochenlang zurück ins italieni- hin und charmant und unaufdringlich, sche Genua. Nach einem Jahr, sie hat- klingt, was sie hinter sich hat, ganz te gerade Ägypten erreicht, befiel sie normal. Und was sie vor sich hat, klingt Heimweh. Noch ein weiteres Jahr auf auch ganz leicht. dem Traktor? Es erschien ihr unvor- Dabei ist es Wahnsinn. Beides; was stellbar. Südlich von Ägypten stieß, wie sie getan hat, was sie tun will. verabredet, zu ihrem Schutz ein Team Manon Ossevoort ist mit einem Trak- in Begleitfahrzeugen dazu. Doch Ma- tor von den Niederlanden ans Kap der non war zu langsam, und das Team er- Guten Hoffnung gefahren. Das allein schwerte den sonst so unbefangenen wäre schon mehr als ungewöhnlich. Kontakt zu den Menschen. Man trenn- Aber Manon will weiter. te sich nach wenigen Wochen. „Ja, ich will an den Südpol“, sie Stecken blieb sie nie mit ihrem Trak- lacht, sie pustet die Haare aus der Stirn. tor. Im Gegenteil, sie half den Gestran- Drei Jahre und vier Monate war sie auf deten. Im Sudan zog sie einen hava- ihrem Trecker unterwegs, durch zwei rierten Bus 140 Kilometer weit bis nach Kontinente, 22 Länder, 38000 Kilometer Khartum. In Simbabwe traf sie tief in hat sie zurückgelegt, sie ist jetzt 32 Jah- der Provinz auf eine Hochschwangere. re alt. Im südafrikanischen Kapstadt, Die Wehen hatten eingesetzt, das Baby wo sie vor kurzem angekommen ist, lag falsch im Bauch der Mutter, bis zum macht sie ein Jahr lang Pause. Im ant- nächsten Krankenhaus waren es 60 Ki- arktischen Sommer soll es weitergehen, lometer. Manon sagte, ich bin sehr lang- an den Südpol. sam. Die Frau sagte, nimm mich trotz- Warum? Das ist die Frage, die alle dem mit. Manon und der Traktor gaben stellen. Als Antwort erzählt Manon ihr alles und brauchten dennoch fünf Stun-

Leben. SELANDER TOBY den. In der Klinik musste sie für 48 Sie kommt vom Land, aus einem Dollar Medikamente kaufen. Sie fluch- kleinen Dorf bei Almelo, unweit der te – und sie bezahlte. Zwei Stunden spä- niederländisch-deutschen Grenze. Ihre ter war das Baby da, die Mutter taufte Eltern sind Landwirte, man redet nicht es Manonika. zu viel in diesem Teil der Welt, man Nun sitzt sie in Kapstadt am Strand, lebt und arbeitet im Rhythmus der Jah- wo der Sommer gerade Einzug hält. Sie reszeiten. Auffällig ist Manon nicht als blickt nach Süden. 4000 Kilometer See- Kind, vielleicht hat sie ein bisschen weg sind es bis zum antarktischen mehr gelesen, ein bisschen mehr ge- Schelfeis. In einem Jahr, wenn am Süd- träumt als ihre Zwillingsschwester und pol Sommer ist und die Temperaturen ihr jüngerer Bruder. Sie macht Abitur, auf minus 40 bis null Grad ansteigen, sie studiert Kleinkunst und Tanz, legt Aus der „Süddeutschen Zeitung“ soll es weitergehen. Eine erfahrene Füh- das Diplom an Amsterdams berühmtes- rerin für den 1700 Kilometer langen Trip ter Theaterschule ab. Sie ist 24, als in ihr Sie ist 27, als sie mit den Vorberei- hat sie schon, einen kältefesten Mecha- die Idee einer Reise ans Ende der Welt tungen beginnt, und sehr naiv. Sie weiß niker sucht sie noch. Dazwischen lie- zu reifen beginnt, ad finem terrae. Ein nichts über Afrika, sie weiß nicht, dass gen ein Wintertraining in Kanada und Traktor, das scheint das passende Fahr- ihr Traktor, Jahrgang 1975, so langsam die Suche nach Sponsoren. Sie braucht zeug dazu, schließlich kommt sie vom und der Tag am Äquator so kurz ist. 300000 Euro, um den Traktor auf Rau- Land. „Einen richtigen Traum hast du Dass Diesel am Südpol als Treibstoff pe umrüsten zu lassen, um den Diesel- nur, wenn du das Maximale für dich unbrauchbar ist. motor auszutauschen gegen einen selbst erreichen willst.“ Manon lässt sich einen überdachten Kerosinmotor, um die Versicherung zu Als sie den Eltern im heimischen Aufbau hinter dem Sitz konstruieren. bezahlen – falls der Traktor liegen bleibt Wohnzimmer ihre Pläne vorträgt, Fürs Gepäck, aber auch, um dort zu und geborgen werden muss. herrscht minutenlanges Schweigen. schlafen. Damit sie gleich losrollen Zur Not will sie zu Fuß weiterziehen, „Lass uns nicht darüber reden“, sagt kann, falls Gefahr droht. Es drohte in sagt sie und lächelt, und es klingt ver- der Vater schließlich. „Wenn du es ma- den 40 Monaten nicht ein einziges Mal rückt, aber andererseits auch ganz nor- chen willst, mach es.“ Gefahr, sagt sie. mal. Horand Knaup

58 der spiegel 1/2009 Gesellschaft

Ein später Tod Ortstermin: Im sächsischen Zschopau wartet der Motorradhersteller MZ, eine Ikone der DDR, auf sein Rettungspaket.

ünf Millionen Euro sind eigentlich nen in guten Momenten glauben, dass der Das Schlechte an einem Hobby ist, dass nicht viel, sagt Steffen Dögnitz, der Weltstandard vielleicht doch nicht so weit man es, anders als Zahnbürsten, Hosen FBetriebsratschef. „Oder?“ entfernt ist. Und war man jung, dann war oder Waschmaschinen, eigentlich nicht Die Frage schwebt unbeantwortet in der eine MZ das Lässigste, was man kriegen braucht. Nicht unbedingt. Ein Hobby lebt kleinen Küche, dann steht Dögnitz auf und konnte, damals in der DDR. vom Überfluss, weniger von der Notwen- füllt Wasser in die Kaffeemaschine. Vor Das ist die Geschichte. Sie hat mit der digkeit. Und im Osten, dem alten MZ- dem Küchenfenster liegen Schneereste, Gegenwart nicht mehr viel zu tun. Von Markt, beschränkte man sich nach der Dögnitz trägt Jeans und Hemd. Seit ein ehemals 3200 Beschäftigten sind rund 30 Wende sehr auf das Notwendige. paar Tagen ist er zu Hause. Dögnitz ist übrig geblieben. 2006 wurde die Entwick- „Das Image war natürlich auch ein Pro- arbeitslos, mehr oder weniger. „In so ’ner lungsabteilung geschlossen, das Gehirn von blem“, sagt Dögnitz. Im Westen klang MZ Art Schwebezustand“, sagt er. MZ. Mitte der siebziger Jahre betrug die noch immer nach DDR. Nach Zweitakt- Am 12. Dezember, einem Freitag, hatten Jahresproduktion über 92 000 Stück. Im motor. Nach viel Blei. Grau statt Grün. Dögnitz und die verbliebenen rund 30 vergangenen Jahr, 2008, baute man bei MZ Jahrelang versuchte man in Zschopau die- Werksmitarbeiter ihren letzten Arbeitstag. noch 500 Motorräder, schätzt Dögnitz. ses Image abzustreifen wie einen verlaus- Es gab noch eine kleine, traurige Weih- „Wenn’s hochkommt.“ ten, alten Mantel. „Das war dann irgend- nachtsfeier, der Personalchef sag- wann ein noch größeres Pro- te ein paar Worte, dann fuhren blem“, sagt Dögnitz. alle nach Hause. Man kappte die Ost-Wurzel. „Fünf Millionen nur“, sagt Die Tradition, die man hatte. Die Dögnitz und stellt den Kaffee auf Identität. Man produzierte zum den Tisch. „Für ein ganzes Werk, Teil immer aufwendigere Ma- die Marke, die Geschichte.“ schinen, die im Osten kaum noch Es klingt nach einem guten jemand bezahlen konnte und im Geschäft. Man bekommt viel. Westen niemand bezahlen woll- Und zahlt wenig. Aber bisher hat te. MZ ist dort nur MZ. Und MZ sich noch niemand gefunden, der ist nicht BMW oder Yamaha. Die fünf Millionen auf den Tisch Zahlen blieben rot. In 19 Jahren legen und die „Motorrad- und Kapitalismus verlief sich MZ am Zweiradwerk GmbH“ in Zscho- Ende zwischen Ost und West. pau, kurz MZ, übernehmen will. Zwischen dem, wo man her- Und langsam wird die Zeit kommt. Und dem, wo man dach- knapp. Bis zum 31. Dezember te hinzumüssen. Eine deutsch-

muss sich ein Käufer finden. FOCUS DOERING / AGENTUR SVEN FOTOS: deutsche Geschichte. Ansonsten wird der malaysi- Betriebsrat Dögnitz: Volkseigener Betrieb ohne Sozialismus Vor ein paar Tagen war Dög- sche Konzern Hong Leong Indu- nitz beim Arbeitsamt. Es sieht stries, dem MZ heute gehört, das Werk Dögnitz ist ein ruhiger, leiser Mann. nicht richtig schlecht aus, sagt er. Aber schließen. Eigentlich kein Betriebsratstyp. Sein Ge- auch nicht gut. Dögnitz wird bald 51. Dögnitz, der Betriebsrat, kann nichts sicht ähnelt dem von Hans Eichel. Seit 1999 Manchmal, sagt Dögnitz, denke er jetzt an mehr tun – nur warten. Auf den Mann mit ist Dögnitz im Werk, verantwortlich für Verstaatlichung. „Ist doch eine Alternati- den fünf Millionen. Den Retter von MZ. die Computertechnik. Dögnitz weiß nicht ve.“ Vor einem Jahr hätte das noch seltsam 19 Jahre dauerte der Kampf von MZ genau, warum sie es nicht geschafft haben. geklungen. Nach VEB nur ohne Sozialis- um einen Platz im Kapitalismus, und es Sie haben es versucht, aber es fand sich ir- mus. Die Finanzkrise brachte den Ver- bleibt die Frage, wie man es schaffte, so gendwie kein Platz in den neuen Zeiten. staatlichungsgedanken dann plötzlich zu- lange durchzuhalten. Und andererseits nie 1990 kommt die Treuhand. Aus dem rück. In Amerika verstaatlichen sie jetzt richtig anzukommen. Nun sieht es fast VEB Motorradwerk Zschopau wird die MZ sogar Banken. „Warum dann nicht auch aus wie ein später letzter Tod eines Stück- GmbH. Sechs Jahre später meldet man MZ?“, sagt Dögnitz. chens DDR. Konkurs an. Aber es gibt einen Retter: Der Vermutlich wird sich kein Staat finden. Es gab Zeiten, da war MZ unsterblich. Konzern Hong Leong aus Malaysia wird Dögnitz sagt, mit zwei privaten Investoren Die Motorräder aus Zschopau, einer klei- der neue Eigentümer. Geld wird investiert. werde noch immer verhandelt. „Aber man nen Stadt im Erzgebirge, versorgten ein Aus DDR-Motorrädern werden gute Mo- muss auch realistisch sein.“ Dögnitz schaut ganzes Land. Sie hielten es mit mobil. Die torräder. West-Standard, wenn man so will. durch das Küchenfenster auf die Schnee- MZ gehörte zur DDR wie der Wartburg MZ gewinnt Designpreise, hat Erfolg im reste im Garten. Die Zeiten sind nicht gut. und der Barkas. Ein Volksmotorrad, falls es Motorradrennsport. Aber das reicht alles Banken brauchen Rettungspakete. Auto- so etwas gibt. Eine robuste, einfache Ma- nicht. Die Zahlen sind rot. Der Markt ist konzerne brauchen Rettungspakete. Ret- schine. Auf eine MZ musste man nicht so schwierig. Die Menschen fahren immer tung und Retter sind gerade sehr gefragt. lange warten. Eine MZ war nicht aus Pap- weniger Motorrad. Im Osten war ein Mo- Dögnitz hofft dennoch, dass es jemand pe wie der Trabant, nicht so erkennbar torrad ein Fortbewegungsmittel. „Heute“, bis nach Zschopau schafft. Osten wie ein Wartburg. Eine MZ ließ ei- sagt Dögnitz, „ist es ein Hobby.“ Jochen-Martin Gutsch

der spiegel 1/2009 59 Gesellschaft

ZEITGESCHICHTE Die letzten Tage des Saddam H. Was hat der irakische Diktator in amerikanischer Haft erzählt, was passierte auf dem Weg zum Galgen? War der Massenmörder ein Psychopath oder ein kaltblütiger Machtmensch? Einem FBI-Agenten, den Töchtern und seinem Lieblingsanwalt vertraute Saddam Hussein noch in der Todeszelle überraschende Geheimnisse an.

addam grüßt. Gnädig auf das Volk hin- Hier in Audscha am Ufer des Tigris kei- abblickend, von seinem Präsidenten- neswegs – da wirkt Saddam Hussein le- Sbalkon. Saddam grinst. Triumphierend bendig, gespenstisch lebendig; hier in sei- eine dicke Zigarre in den Mundwinkel ge- nem Geburtsort, der auch seine Begräb- schoben. Saddam droht. Fixierend den kal- nisstätte ist, 160 Kilometer nördlich von ten Blick auf einen unsichtbaren Feind. Bagdad – da lebt die Saddam-Hussein- Die ganze Wand ist vollgepflastert mit Legende und gedeiht und wuchert mög- Fotos des Diktators. Dazu noch andere Er- licherweise zu einem neuen Geschwür. innerungsstücke: seine Gebetskette, ein ge- Vielleicht liegt es auch daran, dass sein schnitzter Adler, von Verehrern für ihn an- Anblick im heutigen Irak ansonsten ganz gefertigt. Zwei Wärter, ganz in Schwarz, und gar verschwunden ist. Nach einer Ver- den Mundschutz bis zu den Augenwinkeln ordnung der Besatzungsmacht, übernom- hochgezogen, patrouillieren mit Kalasch- men von den nachfolgenden mehr oder nikows im Anschlag an seinem Grabmal. weniger souveränen irakischen Regierun- Saddam Hussein al-Tikriti hat 24 Jahre gen, bleibt es im gesamten Land verboten, lang den Irak mit unvorstellbarer Grau- Statuen oder Bilder des gestürzten Staats- samkeit regiert und unter seiner Knute zu- chefs aufzustellen. sammengezwungen, er hat Chemiewaffen Die Ausnahme: das alte Empfangszen- gegen sein eigenes Volk und gegen Iran trum der Saddam-Familie in Audscha. Auf eingesetzt und den ganzen Nahen Osten einem 20 mal 20 Meter großen Areal hat mit seinem Angriff gegen den Nachbarn noch der Kreis seiner Verwandten und Kuwait in Angst und Schrecken versetzt. Günstlinge das Sagen – exterritoriales Ge- Die dramatischen Bilder seiner Ent- biet sozusagen. „Märtyrerhalle“ nennen machtung haben sich ins kollektive Ge- die Saddamisten den bescheidenen Bau, dächtnis der Menschheit eingebrannt und in dem, blumenumkränzt und von zwei den Irak, aber nicht nur ihn, für immer irakischen Flaggen mit der Aufschrift „Gott verändert: das Bombenfeuerwerk über ist groß“ bedeckt, der Sarg in den Stein- Bagdad, der Sturz der riesigen Saddam- fußboden eingelassen ist. Darüber hängt Statue, der Widerstand und Terror gegen ein riesiger Kristall-Lüster. die unfähigen fremden Herren, die läh- Draußen vor der Tür, im kleinen Hof, mende Suche und schließlich die bizarre, sind zwischen verdorrten Sonnenblumen von amerikanischen Kameras dokumen- und gackernden Hühnern die Saddam- tierte Gefangennahme des Flüchtigen – Söhne Udai und Kussai begraben, wegen das „Pik-Ass“ unter den Gesuchten im ihrer Brutalität und ihres Größenwahns Kartenspiel der Sieger, Kopfprämie 25 Mil- gefürchtet wie der Vater; beide gefallen im lionen US-Dollar –, triumphierende Sol- Schusshagel der Amerikaner, ebenso wie daten zerren Saddam aus einem engen Kussais 15-jähriger Sohn. Daneben beer- Erdloch. In einem umstrittenen Gerichts- digt: der Vizepräsident und zwei andere verfahren, wesentlich von Washington mit- hochrangige Regierungsvertreter, die wie bestimmt, wurde der Tyrann zum Tode ihr Boss zum Tode verurteilt und gehängt verurteilt und dann am 30. Dezember 2006 wurden. Man habe aber darauf geachtet,

durch den Strang hingerichtet. 69 Jahre dass die Köpfe aller Leichname Richtung SCHARF / ENEMY OF THE STATE AND MICHAEL P. MICHAEL A. NEWTON wurde er alt. Alles längst vergangen, vergessen, ver- Gefangener Saddam in Bagdad (2003) drängt? 25 Millionen Dollar Kopfprämie

60 der spiegel 1/2009 der spiegel 1/2009 61 FOTOS: AFP FOTOS: Saddam-Grabstätte in seinem Heimatort Audscha, Diktator Saddam bei einer Kundgebung (1991): „Wir tilgen die Schmach“

Mekka gerichtet seien, sagt ein Wärter. Auf din, die er stets anderen, von der schiiti- gierungen des Westens in Atem gehalten dem Tisch in der Halle liegt eine Art Kon- schen Mehrheit des Irak bewohnten Lan- hat, präsentiert sich schillernd – mal über- dolenzbuch aus. Hunderte haben sich ein- desteilen vorgezogen hat, bleibt er ohnehin lebensgroß in seinen weltpolitischen Bluffs, getragen. „Mit Gottes Willen tilgen wir die ein Wohltäter. mal unterirdisch kleinkariert in seiner Schmach, die dir angetan wurde“, schreibt Was hat Saddam Hussein al-Tikriti wirk- beschränkten, bösartigen Vorstellungswelt. ein Saddam-Fan. „Du bist für ewig Held lich angetrieben? Warum hat er die Welt Und abgrundtief entlarvend in seinem aus und Vorbild – aus den Klauen der Zionis- mit Prahlereien über angebliche Massen- der Zelle geschmuggelten Vermächtnis an ten und ihrer Lakaien schwören wir, die vernichtungswaffen getäuscht (wobei US- die Nachwelt. Heimat zu befreien“, dichtet ein anderer. Präsident George W. Bush und Vize Ri- Wallfahrtsort ist Audscha nicht gewor- chard Cheney ihm nur allzu gern Glauben itte Dezember 2003, in den Tagen den. Noch nicht. Die Straße von Bagdad schenkten)? Wie hat er sich bei der Er- Mnach seiner Gefangennahme: Da in die Provinzhauptstadt Tikrit – von der greifung durch die Amerikaner gefühlt, tapst und torkelt ein Wesen wie von ei- Saddams Heimatort nur drei Kilometer was hat er nach dem Todesurteil in seinen nem anderen Stern durchs Bild der Fern- entfernt liegt – galt lange als eine der finalen Wochen gemacht und gedacht, wel- sehanstalten, völlig desorientiert. gefährlichsten im ganzen Irak. Selbst- che Lebensbilanz gezogen? Jedes kleinste Detail bis zur persön- mordattentate und Bombenanschläge der Bis jetzt gab es über die letzten Monate lichen Überwachung von Folter und Tot- Aufständischen waren hier an der Tages- des Saddam Hussein in Haft bis hin zu sei- schlag in seinem Land hat Saddam Hussein ordnung. Eine Reise zum Saddam-Grab nem Gang zum Schafott nur bruchstück- früher selbst bestimmt, durch und durch war lebensgefährlich; im Herbst 2007 hafte Informationen. Der SPIEGEL hat in ein Kontroll-Freak. Jetzt lässt er alles über kam im Schnitt nur eine Handvoll Besu- zahlreichen Gesprächen von Washington sich ergehen. Teilnahmslos und willfährig, cher pro Tag nach Audscha. Ironischer- bis Bagdad, von Amman über Kairo und als stünde er unter Drogen, öffnet er den weise könnte nun gerade die verbesserte Sicherheitslage einen Boom auslösen, die Besucherzahlen haben sich im Vergleich „Meine Mutter hat extra für Sie zum Vorjahr jedenfalls fast verzehnfacht – Kekse gebacken“, sagt der FBI-Agent womöglich droht ein Saddam-Revival, eine bei der Vernehmung zu Saddam. politische Wiedergeburt. Manche Iraker sehen ihren ehemaligen Staatspräsidenten inzwischen in einem er- Tunis versucht, diese Zeit möglichst genau Mund, lässt sich von amerikanischen Mi- staunlich milden Licht. Unter seiner Herr- zu rekonstruieren und bei Advokaten und litärärzten das Gebiss inspizieren, die zer- schaft hatten wir wenigstens Elektrizität Augenzeugen, Verwandten und Verneh- zausten und verdreckten Haare auf Läuse und konnten unsere Kinder ohne Terror- mern, Gefängniswärtern, Saddam-Anklä- durchsuchen. Und sich dabei filmen. „Wie angst in die Schule schicken, sagen sie, ver- gern und Saddam-Apologeten recherchiert. eine Ratte“, sagt Muwaffak al-Rubai, da- schweigen und vernachlässigen den Horror Der zuständige FBI-Agent hat zuerst ge- mals schon im Dunstkreis der neuen Bag- der Verfolgung unter dem Gewaltherrscher. genüber dem amerikanischen Autor Ro- dader Herren und heute als nationaler Si- Den tausendfachen Gifttod, den er über die nald Kessler und dem Fernsehsender CBS cherheitsberater eine große Nummer. Kurden brachte. Die gnadenlos verheizten ausgesagt, die ehemalige US-Brigadegene- Viele Menschen in Nahost, darunter Soldaten in zwei Angriffskriegen gegen ralin Janis Karpinski und der ägyptische auch vehemente Saddam-Kritiker, finden die Nachbarn Iran und Kuwait. Den per- Saddam-Anwalt Mohammed Munib spra- das amerikanische Vorgehen entwürdi- sönlich begangenen Mord an Vizepremier chen – wie zahlreiche andere Betroffene – gend; eine gelungene und notwendige Adnan Hamdani, den er so kommentierte: zum ersten Mal ausführlich mit dem Machtdemonstration und Manifestation „Ein Mann, der seinen besten Freund op- SPIEGEL über ihre Saddam-Eindrücke. der Saddam-Niederlage ist es in den Augen fern kann, hat keine Schwächen.“ Die Aussagen fügen sich zu einem anderer. Vor diesem Mann, sollen die Bil- Für seine Anhänger hier in der sunni- Mosaik mit überraschenden Details. Der der vermitteln, muss keiner mehr Angst tisch geprägten Heimatprovinz Salahud- Mann, der den Nahen Osten und die Re- haben.

62 der spiegel 1/2009 JEROME DELAY / AP (L.); CBS / LANDOV (R.) / AP (L.); CBS / LANDOV JEROME DELAY Sturz der Tyrannenstatue in Bagdad (am 9. April 2003), amerikanischer FBI-Vernehmer Piro: „Kalt und hasserfüllt“

Die Demütigung hat Methode – wie pass auf, wir müssen etwas äußerst zureizen versucht, abwartet und austariert, aber weiter vorgehen? In Washingtons Wichtiges besprechen, und eines schon nichts zugibt, sich bedeckt hält. Es beginnt Machtzentralen tobt ein erbitterter Kampf mal vorweg, Neinsagen ist für dich keine ein psychologisches Kammerspiel, in dem hinter den Kulissen; das Weiße Haus, das Option …“ sich die ungleichen Kontrahenten in einem Außenministerium, der Geheimdienst CIA fensterlosen Raum gegenübersitzen, zwei und die Bundespolizei FBI streiten sich um George L. Piro, schneeweiße, ebenmäßige Schachspieler, die sich belauern, und gele- den richtigen Umgang mit dem Häftling. Zähne, volles schwarzes Haar mit sorg- gentlich wohl auch belügen. Saddam Hussein ist ihre einzige Trumpf- fältig getrimmtem Bart, drahtig, aber Über seine konkreten Vorbereitungen karte, ihre Insel in einem Meer von Kata- nicht bullig gebaut, ist diese merk- auf den Job darf Piro nicht alles verraten – strophennachrichten. Statt der von den würdige Mischung, die es eigentlich gar er dürfte aber viele Stunden mit CIA-Pro- Exil-Irakern versprochenen Blumen für die nicht geben dürfte, weil sie so ziemlich filern wie dem ehemaligen Professor Jer- US-Soldaten lauern am Wegesrand überall alle denkbaren Gegensätze in sich ver- rold Post von der George-Washington-Uni- Sprengfallen. Einen solchen Trumpf will eint: Er ist amerikanischer Patriot und versität verbracht haben. Diese Experten man nicht leichtfertig aus der Hand geben. arabischer Weltbürger; jovialer Smalltal- erstellen ein Persönlichkeitsbild ausländi- Die amerikanischen Stellen einigen sich ker und knallharter Agent; Schwieger- scher Staatschefs und versuchen, deren schließlich, Saddam unter amerikanischer muttertraum und Latin Lover – ein Schwächen auszuloten. Bei Saddam ist das Verwahrung in Bagdad zu halten, ihm von Schuss Pierce Brosnan, eine Prise Enri- laut Professor Post besonders seine Ego- irakischen Richtern den Prozess machen que Iglesias und viel Bond, James Bond. manie, beruhend auf dem unbedingten zu lassen. So fair wie möglich soll die Willen, sich – vaterlos und verarmt auf- „Mutter aller Gerichtsverfahren“ werden, Geboren ist er in Beirut. Seine Eltern gewachsen – mit allen Mitteln nach oben um der Welt Rechtsstaatlichkeit zu de- entfliehen dem libanesischen Bürgerkrieg, zu boxen; dazu noch sein Größenwahn, monstrieren; so kontrolliert, wie nach An- als er gerade zwölf ist, Richtung USA. Er basierend auf seiner uneingeschränkten sicht Washingtons nötig. spricht damals kein Wort Englisch, findet Macht und der ihm entgegengebrachten Von entscheidender Bedeutung wird aber schnell Anschluss. Mit 20 meldet er Ehrerbietung. Sie haben ihn verblendet nach Einschätzung aller Top-Verantwort- sich bei der Air Force zum Pilotentraining, und, in seinen eigenen Augen, zum legiti- lichen der „Debriefer“ sein, der Verneh- arbeitet dann als Polizist und macht in men Nachfolger des historischen Über- mer Saddam Husseins. Gesucht wird ein Abendkursen den Abschluss, der ihm den Landesvaters Nebukadnezar II. gemacht. Amerikaner mit arabischen Eltern, aber Eintritt zu FBI und CIA verschafft. Piro geht betont selbstbewusst zum ers- über alle Loyalitätszweifel erhaben; gleich- Gleich nach dem Einmarsch in Bagdad ten Treffen mit dem Gefangenen in die zeitig fließend im Arabischen und vertraut erhält Piro seine erste Chance, die Ver- provisorische Zelle des amerikanischen mit irakischer Mentalität. Einer, der Sad- hältnisse im Irak zu studieren: Er sammelt Hochsicherheitstrakts am Bagdader Flug- dam Husseins Vertrauen gewinnen und Nachrichten, was und wo genau ist „clas- hafen. Er spricht sein Gegenüber als „Mis- letzte, möglicherweise brisante Geheimnis- sified“. Jedenfalls erledigt er seine Auf- ter Saddam“ an, respektvoll, aber ohne se herauskitzeln und entschlüsseln kann. gaben so professionell und so sensibel, dass Titel; er stellt sich vor als „Mister George“. FBI und CIA einigen sich überraschend ihm die Dienste auch das Saddam-Debrie- Der Ex-Präsident fragt nicht nach dem schnell auf einen Kandidaten. fing zutrauen – eine steile Karriere, nach Rang seines Vernehmers, geht aber offen- Am Vorabend des Weihnachtsfestes 2003 noch nicht einmal sechs Jahren Agenten- sichtlich davon aus, dass dieser ein hoch- vibriert irgendwo in Kalifornien ein immer erfahrung, mit damals gerade 36 Jahren. rangiger Agent mit direktem Zugang zum auf Empfang gestellter Blackberry. Der An- Anfang Januar 2004 fährt Piro zurück US-Präsidenten ist. Piro verstärkt diesen rufer heißt Frank Battle und ist Chef einer in den Irak. Sechs Monate lang – bis zur Eindruck, indem er den Wachen immer amerikanischen Antiterrorismus-Einheit. Anklage-Erhebung – wird er Saddam Hus- wieder im Kasernenton Anweisungen zu- Er kommt gegenüber seinem verblüfften sein fast täglich sehen. Der Häftling hat brüllt und diese sie – wie vorher verabre- Gesprächsempfänger, der gerade in einer sich nach seinen ersten derangierten Tagen det – augenblicklich befolgen. Einkaufspassage Festtagsgeschenke für die längst gefasst, ist wieder zum großen Ma- „Ich bin künftig für jeden Aspekt ihres Eltern aussucht, sofort zur Sache: „George, nipulator geworden, der seine Karten aus- Lebens verantwortlich“, erklärt der Agent

der spiegel 1/2009 63 Gesellschaft dem Gefangenen; er werde sich um alles Saddam lässt über Piro der amerikanischen Hat der Vernehmer die „klassischen“ kümmern, das Saddam fehle, das Saddam Krankenschwester, die ihm Blut abnahm, Mittel eingesetzt, einen Gefangenen zu wünsche, etwa Essens- oder Kleidungs- ausrichten, sie sei „niedlich“. Generell aber brechen? Hat er Schlafentzug, Dauer- wünsche, Hafterleichterungen. findet er Amerikanerinnen zu selbständig, geräusche, extreme Kälte verordnet – oder Und dann diskutiert Piro mit seinem sie könnten, anders als junge Irakerinnen, gar die sonst bei der CIA ja nicht unge- Gegenüber die glanzvolle Geschichte Me- „ohne Männer auskommen“. wöhnliche Foltermethode des Schein-Er- sopotamiens. Nicht über Saddams Politik Gegenüber den USA verrät der Ex-Dik- tränkens, des „Waterboarding“? sprechen sie am ersten Tag, sondern über tator eine seltsame Hassliebe. Er verachtet Nein, behauptet Piro, das verstoße ge- die Historie des Irak, über Saddams Poesie, Washingtons Politiker, vor allem Bush gen FBI-Vorschriften. „Bei jemandem wie seine vier Romane, die saddamischen Ver- senior und junior – Ausnahme Ronald Rea- Saddam Hussein, der lebenslang Angst- se. Der Ex-Diktator testet die Macht und gan, der sei ein „Ehrenmann“ gewesen; er freiheit demonstriert hat, ist ein Angst- die Möglichkeiten seines Gegenübers, ver- bewundert die „normalen“ amerikani- szenario sowieso nicht vielversprechend“, langt Schreibpapier, das er sofort erhält – schen Menschen. Seine Kenntnisse über sagt Piro zum Fernsehsender CBS. und Baby-Feuchttücher. Mit denen, von die Lebensverhältnisse in den USA bezieht Seine Geheimwaffe sei die Langeweile Piro ebenfalls im Handumdrehen herbei- der Iraker, der über den Nahen Osten nie des Delinquenten gewesen – und die Zeit, geschafft, wischt sich Saddam Hussein im- hinausgekommen ist, hauptsächlich aus Fil- er habe immer die Zeit kontrolliert. Weder mer wieder über Hand und Gesicht. Er men; „Der Pate“ ist sein liebster. Don Cor- Saddam noch den Wachen ist es erlaubt, fürchtet Viren. leone, rücksichtsloser Aufsteiger, domi- Armbanduhren zu tragen. Piro aber trägt Das erste Treffen ist ein Erfolg. Piro hat nierender Mafia-Boss, bei ihm entgegen- einen übergroßen Chronometer. Auf den nach eigener Einschätzung sein Hauptziel gebrachter bedingungsloser Loyalität auch starrt der Delinquent, und immer wieder erreicht: Saddam ist bereit, weiter mit ihm fürsorglicher Gönner und Beschützer – mit fragt er, zwanghaft fast, wie spät es sei. zu reden. In den nächsten Tagen geht es diesem Mann kann sich Saddam identifi- Saddam, der desorientierte Häftling, be- um die neuen Liebesgedichte, die er ge- zieren. ginnt mit George, dem freundlichen In- schrieben hat und die der Vernehmer mal Langsam, vorsichtig, immer noch nicht quisitor, zu sympathisieren. Und erzählt vorsichtig kritisiert, mal überschwenglich konfrontativ, tastet sich Piro an die Ver- bei einer der Endlossitzungen dann voll- lobt. Man unterhält sich auch über Frauen. brechen des Tyrannen heran. mundig von seinen Heldentaten, von der AZZAMAN / DPA Saddam-Aufzeichnungen, offizielles US-Polizeifoto von Saddam: „Dann wird der Irak zur Leiche“

dem Koranvers „Bismillah al-rahman eures Aufstands plötzlich dem einen al-rahim“, „Im Namen Gottes, des Gnä- oder anderen Lager ihre Gunst erwei- digen, des Barmherzigen“. Beim iraki- sen und sie durch ihre Lakaien becir- „Ich biete schen Ex-Präsidenten handelt es sich cen. Keiner der Gläubigen soll davon entweder um eine späte Hinwendung ausgehen, dass sie (die Invasoren) es zum Glauben oder – was wahrschein- nur auf die Staatsführung abgesehen meine Seele“ licher ist – um einen Versuch, der isla- haben. Ihre Absichten zielen auf den Das Saddam-Testament aus mischen Welt zu imponieren. Geist des Irak, auf seinen Glauben, sei- Auszug aus den geheimen, ursprüng- ne Hoffnungen, seine Wachsamkeit, sei- der Todeszelle – ein Vermächtnis lich von US-Soldaten beschlagnahmten ne Entschlusskraft, seine Ehre – sein von Pomp und Größenwahn Saddam-Papieren: „O Söhne unserer Arabertum. Wenn es ihnen gelingt, dem ruhmreichen Nation, Männer unserer Irak all das zu nehmen, dann wird er zu utzende Seiten Original-Sad- Streitkräfte, o du geliebte Baath(-Par- einer Leiche, zu einem Staat, der von dam, wenige Wochen vor seiner tei), lasst euch zu nichts verleiten, was seiner Geschichte und seiner Kultur iso- DHinrichtung geschrieben, zeigen den Besatzern zustattenkommt. Ver- liert lebt. Ich biete meine Seele Gott als zunächst einmal: Dieser Mann brauch- gesst niemals den Hauptverbrecher ein Opfer an …“ te keinen Papierkorb. Nur einige Zeilen (Bush), der zuvorderst Verantwortung Und so weiter. Saddams letzte Wor- sind durchgestrichen und neu formu- trägt für das vergossene Blut. Ihr seid te strotzen von Gemeinplätzen, eitler liert. Grafologen konstatieren in einem ein waches, bewusstes Volk. Haltet an Selbstbespiegelung und historischer solchen Fall des klaren Schriftbilds eurem Glauben fest und steht in einer Fehleinschätzung. Sie sind ein Versuch, Selbstvertrauen – der Schreiber ist mit Front zusammen. Die Besatzer wollen, sich nach dem physischen Sturz des rie- sich im Reinen. Saddam Hussein ver- dass ihr euch untereinander bekämpft, sigen Denkmals in Bagdad ein „ewiges“ sieht sein Vermächtnis mit seinem Na- tut das auf keinen Fall … Denkmal zu bauen: in den Geschichts- menszug und seiner Position: „Raïs“ Lasst euch nicht von ihren Win- büchern. Auch dieser Versuch ist wohl („Führer“). Außerdem jede Seite mit kelzügen täuschen, wenn sie inmitten zum Scheitern verurteilt.

64 der spiegel 1/2009 Religionen und Ethnien im Irak 100 km Zahlen geschätzt Mossul

Kirkuk Geburtsort Saddams: Tikrit Audscha Dudschail Bagdad IRAK IRAN

Tigris Christen Euphrat Sunnitische 3 Sonstige Kurden 16 1 Sunnitische Araber % Basra 20 Schiitische Araber KUWAIT 60 OZTURK / SIPA PRESS / SIPA OZTURK Kurdische Opfer eines von Saddam befohlenen Giftgasangriffs in Halabdscha (1988): „Kein Hauch von Reue“

„wagemutigen Flucht“ aus Bagdad nach tator seine Macht ab. Er sammelte seine Als zweites Geschenk hat Piro Blumen- dem missglückten Coup gegen seinen Vor- engsten Vertrauten um sich und befahl, samen mitgebracht; gemeinsam geht man gänger. Durch die reißenden Wasser des Gerüchte über einen von ihnen inszenier- in den kleinen Vorgarten, zu dem der Häft- Tigris will er geflohen sein, immer ein Mes- ten Staatsstreich zu streuen und um Sad- ling gelegentlich Zugang hat. Saddam ser im Mund, dann durch wilde Schluchten dam-Gegner zu werben. Wer immer auch wühlt in der Erde und plaziert die Samen, geritten – Wahrheit und glorifizierende Le- nur darüber nachdachte, sich den angeb- deckt sie zu und fragt sich laut, ob er noch gende verschwimmen. lichen Putschisten anzuschließen, den ließ das Sprießen erleben wird, ob der Boden Saddam Hussein aufgreifen und stand- überhaupt fruchtbar genug ist: der Mas- ach und nach entsteht zwischen Ver- rechtlich erschießen. Er stellte gegenüber senmörder, der ohne Rührung so viele Le- Nnehmer und Vernommenem ein Ver- den Palastangestellten, dem Militär und ben ausgelöscht hat, als rührender Gärtner. trauens-, vielleicht sogar ein Abhängig- seinen Ministern anschließend klar, dass Seine eigenen Söhne hätten ihn nicht so keitsverhältnis. Piro nutzt das und be- ihre Loyalität so jederzeit wieder getestet gut gekannt wie „Sie, Mister George“, schränkt sich nach den ersten Wochen des werden konnte. Saddam behauptet, er schmeichelt „Mister Saddam“. Und dann Abtastens nicht mehr auf freundliches habe sich nie bei öffentlichen Reden von springt der Ex-Präsident laut Piro von Zuhören und Stichwortgeben: Der Herr der Doppelgängern vertreten lassen, wie so oft Tabuthema zu Tabuthema und erzählt Zeit kann auch anders. Er will den Dikta- in der westlichen Presse kolportiert. „Das Dinge, die wenig schmeichelhaft für ihn tor mit Reizthemen aus der Reserve locken, hatte ich nicht nötig.“ sind. Dass er einen taktischen Irrtum be- ihn „zornig machen“, ihn zu Unvorsichtig- Selbst seinen Söhnen, als seine Nachfol- ging, als er nach der Invasion Kuwaits sei- keiten veranlassen. Zu Geständnissen. ger vorgesehen und aufgebaut, vertraute ne Bodentruppen zusammenzog und ame- Piro jagt Saddam durch eine Achterbahn der Emotionen. Zeigt Bilder der neuen Regierung, negative Presseberichte über Saddam hat in der Todeszelle Angst den Ex-Diktator. Und schließlich auch vor Viren, verlangt nach amerikanischer das Video der gestürzten Saddam-Statue: Schokolade und Feuchttüchern. „Ich dachte, dein Volk liebt dich, so hast du mir’s jedenfalls gesagt, aber sieh mal, sie trampeln jubelnd auf deinem Kopf her- der Diktator nicht. „Man sucht sich seine rikanischen Luftangriffen aussetzte. Dass um …“ Als er dann noch andeutet, der Kinder nicht aus, man ist mit seinem er nicht an die Invasion von 2003 glaubte, Präsident könnte auch schon zu Amtszei- Nachwuchs geschlagen“, sagt er zu Piro. weil er die Wirkung der Terrorangriffe vom ten den Überblick verloren und nicht mehr Die einzige Person, auf die Saddam Hus- 11. September 2001 auf die US-Politik un- gewusst haben, was im Irak so vor sich sein nie etwas kommen lässt, ist die Mutter. terschätzte – und die „Perfidie mancher in ging, läuft Saddam Hussein rot an, „seine Für seine manipulative Meisterleistung Washington“, ihn, Saddam, den Säkula- Augen wurden kalt und hasserfüllt“. hält der FBI-Agent die Geburtstagsüber- ren, mit al-Qaida und dem weltweiten Ich hatte immer alles unter Kontrolle. raschung, die er Saddam Hussein bereitet. islamistischen Terror in Verbindung zu Ich gab immer die Befehle. Sagt Saddam. Der 28. April, der Geburtstag des Präsi- bringen. „Ich hatte nie irgendwelche Kon- Auch den Befehl zum Giftgasangriff denten, galt als nationaler Feiertag. „Wir takte zu Osama Bin Laden. Man kann re- gegen die Kurden, der in Halabdscha Tau- sollten feiern, sonst tut es im ganzen Land ligiösen Fanatikern nicht trauen“, sagt der sende grausam sterben ließ? ja keiner“, sagt Piro zu Saddam und legt Iraker zu Piro. Saddam will nicht in die Details gehen. lässig Zeitungen auf den Tisch, die den Ex- Zu guter Letzt: die Massenvernich- Aber er antwortet dann doch. „Das waren Diktator und dessen Jubiläum nicht einmal tungswaffen, der offizielle Kriegsgrund meine Anweisungen. Das mussten meine erwähnen. Dann holt der Vernehmer ein für die von US-Streitkräften angeführte Leute machen, weil ich ihnen sagte, der Päckchen mit Keksen aus der Tasche. „Von Invasion. Angriff sei nötig. Und das war er auch.“ meiner libanesischen Mutter geschickt und Fünf Monate nach der ersten Verneh- Nicht nur mit grausamer Härte, sondern extra für Sie gebacken“, lügt er. „Nach ei- mung kommt laut Piro auch hier der auch mit Bauernschläue sicherte der Dik- nem alten arabischen Rezept.“ Durchbruch. Saddam Hussein schreibt in-

der spiegel 1/2009 65 zwischen jeden Tag ein Gedicht, zeigt sei- nem Vernehmer stolz seine Werke. Der lobt ihn, lügt etwas von „literarischer Größe“. Der Geschmeichelte prahlt damit, ja auch alle Reden als Staatschef selbst ge- schrieben zu haben. Das greift der Ameri- kaner auf. Nicht alle, sagt er. So, welche denn nicht, fragt Saddam verblüfft zurück. Na, die im Juni 2000, als Sie sagten, der Irak werde nicht abrüsten. Diese Rede über im Irak existierende Massenvernich- tungswaffen – die war doch nicht ernst ge- meint? Ach, die meinen Sie, entgegnete Sad- dam nach kurzem Zögern. „Auch das war meine eigene Rede, aber gleichzeitig ein Trick, um die Welt zu täuschen.“ Und dann enthüllt Saddam Hussein in dürren Sätzen, dass die meisten Massen- vernichtungswaffen schon in den Neunzi- gern von den Uno-Inspektoren zerstört worden seien. Und die wenigen verbliebe- nen anschließend vom irakischen Regime. Warum dann die Scharade mit den ABC-Waffen, warum hat er mit seinen Be- hauptungen die Existenz der Nation, sein persönliches Leben aufs Spiel gesetzt? Piro hat dafür eine Erklärung: „Er glaubte, nur durch die Behauptung, über solche Waffen zu verfügen, den iranischen Feind auf Distanz und sich selbst an der Macht hal- ten zu können.“ Saddam hat demnach Teheran gefürchtet, nicht Washington –

jedenfalls nicht, bis sich der Truppenauf- / REUTERS KAREN BALLARD marsch am Golf so massierte, dass eine Beschuldigter Saddam auf dem Weg zur Anhörung (2004): „Perfidie Washingtons“ Fehleinschätzung offensichtlich wurde. Am 1. Juli 2004, nach sechs Monaten Er konnte charmant sein, er hatte Charis- hervorragenden Bewertungen und ho- fast täglicher Treffen, führt Piro seinen Wi- ma, er war höflich, und er hatte Sinn für hem Können bei Auslandseinsätzen in derpart zur Anklageerhebung des Sonder- Humor – ich sag’s ungern, aber man konn- Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabi- tribunals. Ab jetzt soll Saddam Husseins te ihn mögen.“ schen Emiraten und Deutschland nach Schicksal zumindest formaljuristisch in ira- George L. Piro, in einer geheimen Ze- oben gedient, bis zum Rang einer Bri- kische Hände übergehen, auch wenn der remonie von den US-Diensten für seine gadegeneralin. Fast von Anfang an ist sie Ex-Diktator physisch in US-Gewahrsam Leistung ausgezeichnet, ist – wie er sei- dabei im Irak-Einsatz, befehligt als rang- bleibt. Zeit für den FBI-Mann, sich zu ver- nem Freund Ronald Kessler anvertraut hat höchste Frau der U.S. Army im Jahr 2003 abschieden und seine Erkenntnisse für die – befördert worden. Er leitet die Sonder- acht Bataillone. Und die damals gerade Chefs in der Heimat aufzuschreiben; der einheit zur Terrorismusbekämpfung in der 50-Jährige ist darüber hinaus zuständig 700-Seiten-Bericht bleibt bis heute geheim. Hauptstadt. Der arabische Amerikaner ist für die Gefängnisse in Bagdad. Natürlich Vor dem letzten Treffen kauft Piro auf der Hauptverantwortliche dafür, dass Wa- auch für den Delinquenten Nummer eins einem Bagdader Suk zu sechs Dollar das shington vor einem Terroranschlag der in amerikanischem Gewahrsam: für Sad- Stück zwei kubanische Cohiba-Zigarren, Qaida bewahrt bleibt. dam Hussein. die Lieblingsmarke des Irakers. Die rau- chen sie gemeinsam. Dann sagen sie nach s gibt noch jemanden, der Saddam Sie will ihn kennenlernen. Organisiert arabischer Tradition goodbye: mit Küssen EHussein besucht, bevor der Prozess be- sich einen Termin. Das Erste, was ihr in der auf beide Wangen. ginnt – eine Frau, deren Schicksal und Kar- Zelle auffällt, ist seine Größe und seine Das ungleiche Paar – der junge Ameri- riere der Irak-Krieg für immer prägen sportliche Figur, seine bis in die Spitzen kaner vor einem Karrieresprung, der da- wird, zunächst von der amerikanischen Re- schwarzen Haare und dass er Sandalen an mals 67-jährige Iraker vor seinem un- gierung als Vorbild gefeiert, dann schmäh- den Füßen trägt. Das Zweite: Was für ein rühmlichen Lebensende – wird sich nicht lich degradiert. So gemischt ihre Gefühle Gentleman er ist, jedenfalls auf den ersten wiedersehen. Der Diktator wirkt nach- sind, wenn sie an Bagdad zurückdenkt, so Blick, „liebenswürdig, zuvorkommend“. denklich, nicht so zynisch wie sonst, als klar ist ihre Erinnerung an eine ganz be- Sie nennt ihren Namen und führt sich sie sich verabschieden. Der FBI-Agent gibt sondere Begegnung. An ihr gespenstisches mit ihrem militärischen Rang ein. Er glaubt heute zu Protokoll, nie habe er vergessen, Treffen mit dem Ex-Diktator. ihr nicht, vermutet, sie sei eine CIA-Agen- was für ein teuflischer Mensch dieser Sad- tin in Verkleidung: „Sind Sie sicher, dass dam Hussein war, sich allerdings seiner Janis Karpinski, konservativ, dynamisch, Sie einen Generalsrang haben?“, fragt er. Persönlichkeit nicht ganz entziehen kön- ehrgeizig: eine Dame immer auf der Und stellt sich selbst vor – als Präsident nen. „Seine Verurteilung und die Hinrich- Überholspur, wie geschaffen für eine des Irak. Seine gegenwärtige Situation sei tung empfinde ich als gerecht. Und doch: Karriere beim US-Militär. Sie hat sich mit „von temporärer Natur“. Karpinski spricht

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Arabisch. Sie zitiert einen Ausspruch des den teilt. Für ihn ist dienstags immer Sad- Skandal von Abu Ghuraib, mit den von Propheten Mohammed, der dem Schuldi- dam-Time. US-Soldaten geschossenen Folter-Fotos, gen Vergebung verspricht, so er denn sei- Er beobachtet den Ex-Diktator beim die das Ansehen der USA weltweit so ka- ne Taten eingesteht und bereut. Könnte Schlafen, beim Duschen, beim Essen, beim tastrophal beschädigen. Sie zeigen, wie ge- das nicht vielmehr eine Anregung für Sad- Rasieren, beim Schreiben. Keine Sekunde fesselte irakische Gefangene von Kampf- dam sein? darf er ihn aus den Augen lassen. Als hunden malträtiert werden, wie sie an der Er kommentiert das nicht, macht ihr sein „Babysitter“ habe er sich empfunden, Hundeleine gehalten werden, wie sie ge- aber Komplimente für die Kenntnis des Is- erzählt O’Shea, um Gottes willen nichts zwungen sind, sich nackt zu Menschen- lam. Dann beklagt er sich über Augenpro- passieren soll dem Gefangenen in US-Ge- pyramiden zu türmen und sich sexuell an- bleme – er könne nicht richtig lesen, es wahrsam. Und dann rutscht Saddam ein- einander zu vergehen. Im April 2005 stuft müsse etwas mit seiner Lesebrille falsch mal unter der Dusche aus, verliert das Be- US-Präsident George W. Bush die für das sein. Später erfährt die Generalin, dass die wusstsein. Voller Panik tragen ihn seine Gefängnissystem im Irak Verantwortliche Stärke der Gläser von den US-Vernehmern Wächter auf das Bett – und atmen Sekun- in den Rang eines Obersten zurück, Janis absichtlich verändert worden ist. Um Sad- dam zu verunsichern, ihn für die Verhöre „weichzuklopfen“, wie Karpinski glaubt. „Ein Mann, der seinen besten Freund Sie hält das für albern – einem Diktator opfern kann, hat keine Schwächen“, vom Kaliber des Irakers, glaubt sie, sei so sagt Saddam nach einem Mordbefehl. nicht beizukommen. Der Gefangene begegnet der Generalin mit ausgesuchter Höflichkeit, beklagt sich den später erleichtert auf, als klar wird, Karpinski muss das Zweistromland ver- nicht über Haftbedingungen, bittet ledig- dass Saddam nur in eine momentane Ohn- lassen. lich um Früchte („Aber bitte keine Äpfel, macht gefallen ist. Sie fühlt sich bis heute als Sünden- sondern Aprikosen und Bananen“). Insge- Der Soldat und seine Kollegen werden bock. Die immer so fanatisch Disziplinier- samt: ein Massenmörder als Charmeur. vom Ex-Diktator auf die Probe gestellt. Sie te sagt, sie verabscheue die Übergriffe. Sie Nach ihrem Besuch fragt sich Karpinski, ob wissen nicht so recht, ob sie die bestehen: schäme sich für ihre Leute. Sie habe nichts wohl die jungen Soldaten, die Saddam be- Scherzt der Mann, verstellt er sich, will er davon mitbekommen – die Befehle, bei wachen, gefeit sind gegen den manipula- sie verunsichern? „Ihr Jungs seid mir wie den Verhören besonders brutal durchzu- tiven Zauber des Tyrannen. Söhne“, sagt Saddam einmal. „Ich zeige greifen, seien offensichtlich von US-Ver- Zu denen, die sich im Alltag um den euch später mal mein Land. Der Irak ist teidigungsminister Donald Rumsfeld selbst Gefangenen Nummer eins gekümmert ha- jetzt nicht gerade in einem schönen Zu- gekommen. ben, gehört Specialist Sean O’Shea von der stand, aber er wird es sein, wenn ich wie- Verantwortlich für die Schande von Abu Pennsylvania National Guard. 19 Jahre ist der an der Macht bin.“ Und dann: „Ich Ghuraib ist also allein die US-Regierung? der Mann aus der Stadt Scranton, als er werde euch mit eurer Erlaubnis in meinen „Ja, ohne Zweifel.“ Sie selbst hat gar Saddam Hussein zum ersten Mal in der Memoiren erwähnen. Und wenn ihr wie- keine Schuldgefühle? „Doch, natürlich. Zelle sieht und von ihm per Handschlag der zu Hause seid, erzählt ruhig, dass ihr Die Verantwortung der Gefangenen lag ja begrüßt wird. Der Soldat hat Order: Höf- mich kennt, erzählt eure Geschichte mit formal bei mir. Ich hielt so etwas nicht für lich, aber strikt soll er sein, Unterhaltungen mir, verkauft sie für teures Geld!“ möglich.“ nicht suchen, ihnen aber auch nicht direkt Specialist O’Shea kehrt im Herbst 2005 Heute lebt die degradierte Generalin ausweichen; auf keinen Fall von seiner Fa- in die USA zurück, mit einem schriftlichen Karpinski gemeinsam mit ihrem Mann, ei- milie in der Heimat erzählen, Terroristen Sonderlob der Armeeführung. Für Janis nem US-Diplomaten, auf der Prominen- könnten zuschlagen. 298 Tage lang dauert Karpinski wird der Irak dagegen zum teninsel Hilton Head, South Carolina. Sie O’Sheas Gefangenenbetreuung, die er mit großen Knick in ihrer Karriere: Auf ewig privatisiert. Über sich selbst und ihre ge- einem halben Dutzend anderer Kamera- wird ihr Name verbunden sein mit dem scheiterte Karriere spricht sie nicht gern. Über Saddam Husseins Schuld, seine ge- rechte Strafe, sagt sie, müsse man nicht diskutieren. Sie ist gerade von einer langen Safari in Südafrika zurückgekommen. Sie foto- grafiert gern – und konnte deshalb auch damals, im Gefängnis, nicht widerstehen. Sie hatte ihre kleine Digitalkamera mit, um für sich selbst ein Bild von Saddam Hussein zu schießen, zur Erinnerung. Er posierte gern. Das Dokument hat sie noch.

m 1. Juli 2004 wird Saddam Hussein Abei der Verlesung der Anklage zum ersten Mal dem Richter vorgeführt. In Wahrheit aber hat das Verfahren schon Monate vorher angefangen – auf bizarren Umwegen, an seltsamen Schauplätzen. Entgegen den Wünschen vieler interna- tionaler Politiker hat sich Washington ge- gen ein internationales Gerichtsverfahren unter Beteiligung der Uno entschieden und will ein irakisches Gericht unter „ameri-

VAN DER STOCKT LAURENT / GAMMA / LAIF (L.); KURT MARKUS (R.) MARKUS / LAIF (L.); LAURENT / GAMMA KURT DER STOCKT VAN kanischer Beratung“ über Saddams Ver- US-Generalin Karpinski (2003), US-Specialist O’Shea: Bizarre Besuche in der Todeszelle brechen richten lassen. Dazu schaffen die

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Besatzer extra ein irakisches Tribunal, des- sen neuernannte Richter zu wochenlangen geheimen Trainingskursen nach Großbri- tannien geschickt werden. „Jeden Morgen brachten sie fünf ande- re Coachs und mich vom Vier-Sterne- Hotel Crowne Plaza gemeinsam mit den 42 Irakern in abgedunkelten Minibussen zum obersten Stockwerk eines Regie- rungsgebäudes mit wunderbarem Blick auf Big Ben“, erinnert sich der amerikanische Rechtsprofessor Michael Scharf**. Abends geht man gemeinsam bei Harrods einkau- fen oder besucht ein Musical – der US- Kongress stellt für das Bagdad-Tribunal Gelder zur Verfügung. Die Lehrmeister veranstalten einen Pro- beprozess. Heimlich, und ausgerechnet in der Geburtsstadt des für seinen zaudern- den Rächer Hamlet berühmten William Shakespeare, in Stratford-upon-Avon: Sein oder Nichtsein, das wird für die Richter in den nächsten Monaten mehr als eine theo- retische Frage sein. So erhalten die Männer aus Mesopotamien, immerhin Nachfahren des berühmten babylonischen Königs und Gesetzgebers Hammurabi, den letzten ju- ristischen Schliff. Den westlichen Schliff. Währenddessen verkündet ein irakischer Regierungssprecher, etwas anderes als ein Todesurteil komme ohnehin nicht in Frage. Aber Saddam Hussein spielt nicht mit wie geplant. Er versucht vom ersten Tag an, den Prozess zur Farce zu machen. Wei- gert sich, das Gericht anzuerkennen, nennt den Vorsitzenden einen „Lakaien der Lan- desfeinde“. Präsentiert sich – nein, nicht als Ex-Präsident, sondern als „gewählter Gemälde mit Saddam als Erbe König Nebukadnezars II.*: „Wenn ich gehen muss, werde ich als und im Amt befindlicher Präsident“. Macht sich über das, wie er sagt, „angeb- Neben dem irakischen Juristen Chalil Munib seufzt. „Das ist eine lange Ge- lich Irakische“ des Sondertribunals lustig: al-Dulaimi ist der wichtigste Beistand schichte“, sagt der Mann, dessen Frau und „Sie wollen von Saddam unterzeichnete Saddam Husseins ein Ägypter, der Einzige, Tochter ebenfalls Juristinnen sind – und Gesetze gegen Saddam anwenden?“ der von dem Angeklagten persönlich um erzählt dann die halbe Nacht. Mehr als ein Dutzend persönlicher die Verteidigung gebeten wird. Saddam ist Die Anklage konzentriert sich auf ein Rechtsanwälte leistet er sich, deren Koor- zutiefst beeindruckt von der Brillanz des nach Meinung der Staatsanwaltschaft be- dinierung und Finanzierung übernehmen Mannes, dessen Land ebenfalls auf eine sonders gut dokumentiertes Beispiel Sad- seine Frau Sadschida in Katar und seine große Vergangenheit zurückblickt. damscher Mordlust. Es ist ein im Verhält- Tochter Raghad in Amman. Es sind Juris- nis zu seinen monströsen Verbrechen, die ten aus dem Irak, aus Jordanien, Ägypten, Mohammed Munib, 50, sitzt in seinem Büro ihm vorgeworfen werden, eher bescheide- Tunesien, auch einer aus den USA, der in der Altstadt von Kairo, wischt sich den ner Fall: In Dudschail, auf halbem Weg frühere US-Justizminister Ramsey Clark – Schweiß von der Stirn, wieder einmal ist zwischen Bagdad und Tikrit gelegen, sind und eine Frau, die Libanesin Buschra Cha- der altersschwache Aufzug ausgefallen, nach einem missglückten Attentat auf den lil (die allerdings nach wenigen Monaten kein Luftzug, nicht einmal um elf Uhr Staatspräsidenten vom Sommer 1982 als vom Verfahren ausgeschlossen wird, sie abends. Hinter seinem Schreibtisch sieht Vergeltung 148 Dorfbewohner hingerich- bringt das Gericht gegen sich auf, als sie man auf einem Bild die Göttin Justitia tet worden. Saddam Hussein wies seine Saddams Taten mit denen der Amerika- mit der Waage. Aber Munib, ein hemds- Truppen an, auch alle Felder zu zerstören, ner in Abu Ghuraib gleichsetzt und das ärmliger, vor Energie sprühender Koloss, die Bäume abzuhacken, die Häuser zu de- mit Fotos „belegt“). ist keiner von den Ausgewogenen, den molieren – Tabula rasa, keiner sollte an Wie riskant die Anwälte leben, zeigt sich Sich-nach-allen-Seiten-Absichernden: Er dem Ort der Aufsässigkeit mehr eine Le- bald nach der Eröffnung der Hauptver- bekennt sich zur Parteilichkeit. Er will bensgrundlage finden. handlung Mitte Oktober 2005. Zwei Ver- immer auf der Seite der Schwächeren ge- 148 Menschenleben, für Saddam ist das teidiger werden in Bagdad ermordet, of- gen die Übermacht sein – so gehören vier kaum der Rede wert. „Wo liegt das Ver- fensichtlich von Kräften, die Saddam so wegen Gefährdung der Staatssicherheit brechen?“, fragt er kühl während der Ver- hassen, dass sie es frevelhaft finden, ihm ju- angeklagte Chefredakteure ägyptischer handlung. Das sind dann die Momente, ristisch beizustehen. Und mehrere nahe Oppositionszeitungen zu seinen Klienten. Verwandte von Richtern und Staatsanwäl- * Im nordirakischen Thar, enthüllt zum 62. Geburtstag des ten sterben durch Attentate; angeblich soll Wie passt da Saddam Hussein ins Bild, Diktators 1999. ** Michael A. Newton/Michael P. Scharf: „Enemy of the Saddam selbst eine „Todesliste“ aufgestellt der Schlächter von Bagdad? Wie verliefen State“. St. Martin’s Press, 320 Seiten. Aus dem Buch haben. ihre mehr als ein Dutzend Treffen? stammt auch das Saddam-Foto auf Seite 60/61.

86 der spiegel 1/2009 Amerikaner könnten ihm über verun- gezerrt, die sie für die Fernsehaufnahmen reinigte Kleidung die tödliche Immun- präpariert hätten. Immer noch unter schwäche anhängen. Dann beklagt er sich Drogeneinfluss, sei er unfähig gewesen, über die Höhe einer Stuhllehne, den viel „mannhaft“ zu reagieren. zu kleinen Garten, den verletzten Vogel, Sympathisant Munib neigt dazu, der den er mit Brotkrumen aufpäppele. Lobt Story zu glauben: „Sie würde seinen ver- den Geschmack amerikanischer Schoko- wirrten Zustand in den Stunden nach sei- ladenriegel. Und wechselt anschließend ner Ergreifung erklären.“ wieder zur Problematik von Krieg und Saddam zieht vor Gericht alle Register. Frieden. Mal macht er sich über die Staatsanwalt- Iran ist und bleibt für ihn der große schaft und den Richter lustig, denen gele- Feind, weit vor „den Zionisten“ und den gentlich die Kontrolle entgleitet: „Ich will Amerikanern. Er erinnert sich wehmütig Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber Sie „Ich hatte nie irgendwelche Kontakte zu Osama Bin Laden – man kann religiösen Fanatikern nicht trauen.“

an die Waffenunterstützung durch die wissen doch, dass das alles ein Theater- Amerikaner, die ihm erst den Angriffskrieg stück unter der Regie des Kriminellen gegen die Iraner 1980 ermöglichte. Die Bush ist.“ Mal schaut er gelangweilt in die Empörung der US-Regierung unter Bush Luft, auch wenn Zeugen erschütternde Ge- senior in Sachen Kuwait-Feldzug 1990 schichten von Folterungen und Massen- versteht er nicht. Er habe doch der ameri- gräbern erzählen. Mal studiert er die Ak- kanischen Botschafterin April Glaspie in ten ganz penibel und nimmt einige der 56, Bagdad vorher erzählt, dass der Straf- teilweise aus Sicherheitsgründen hinter angriff sein müsse, wegen kuwaitischen Vorhängen verborgenen Zeugen selbst ins „Erdöldiebstahls“ und der nationalen Wür- Kreuzverhör, was ihm erstaunlicherweise de: „Ich habe unsere historischen Rechte gestattet ist. gegenüber diesen Hunden wiederherge- Gelegentlich verweigert er seinen Auf- stellt, ich habe die Ehre des Irak vertei- tritt vor Gericht. Er wird zwangsvorge- digt, nachdem Kuwaits Emir unsere Frau- führt, tritt wegen angeblich schlechter en vor Zeugen als Zehn-Dollar-Huren be- Haftbedingungen seiner Mitangeklagten schimpft hat.“ und offensichtlich aus der Luft gegriffe-

DPA Zweimal am Tag unterrichtet der US-fi- ner Foltervorwürfe in den Hungerstreik. Märtyrer abtreten“ nanzierte Sender Sawa den Delinquen- Der Prozess gleitet mit seinen Schrei-Or- ten über das Neueste. Der Mann, der in gien, der mehrfach wechselnden Beset- in denen auch dem Saddam-Geneigtesten, Präsidentenzeiten mehrere Geheimdienste zung des juristischen Personals und den und zu denen zählt Munib, die Sprache gründete und mit ihren Desinformatio- geballten Einsprüchen der Verteidigercrew wegbleibt. nen gegeneinander arbeiten ließ, glaubt immer mehr ins Chaos, wird zu absurdem Der ägyptische Anwalt lernt den Ange- nichts, was er da hört. Er bleibt gefangen Theater. klagten in allen Gemütsverfassungen ken- in seiner Welt – und in der dreht sich alles Das Dudschail-Verfahren – Anklage- nen. Locker und Witze reißend, fast alle nur um einen, um Saddam Superstar. punkt ist ein Verbrechen gegen die Mensch- auf Kosten der „tumben Amerikaner“; Um den Mann, der keinen Fehler gemacht, lichkeit, nicht Genozid – soll nach dem zornig auf die irakischen Richter, die er keine Demütigung erlitten haben kann, Willen der Amerikaner und der irakischen abwechselnd eine „illegale Bande“ und den Mann, der Arabiens großer Führer „verachtenswerte Büttel der Besatzungs- und Einiger gegen den Rest der Welt ist, truppen“ nennt. Nur verzweifelt ist er nie: Wiedererbauer des babylonischen Groß- Er glaubt, laut Munib, die „Farce“ des Pro- reiches. zesses unbeschadet zu überstehen. Die Geschichte mit dem Erdloch, aus Saddam Hussein erzählt seinem Rechts- dem sie ihn herausgeholt haben, ohne dass beistand, er sei fest davon überzeugt, die er sich wehrte? „Alles Erfindung“, sagt Amerikaner brauchten ihn noch. „Sie ha- Saddam seinem Anwalt – und erzählt eine ben einmal die rein militärische Option, verblüffende Geschichte, wie aus Tausend- die wird sich wegen der Aufständischen undeiner Nacht. nicht verwirklichen lassen. Dann die Mög- Der Ex-Diktator will auf der Flucht vor lichkeit, sich mit der zweiten Garnitur der den US-Streitkräften jeden Tag seine Blei- Baath-Partei zu arrangieren. Das wird den be gewechselt und eines Nachts bei einem Widerstand aber auch nicht bremsen. Also Stammesältesten Unterschlupf gefunden benötigen sie die alten Spitzenkader, und haben. Er habe seine Pistole neben sich vor allem mich, den Präsidenten.“ gelegt und sei dann aufgewacht, als ihn et- Die Gespräche zwischen Anwalt und was am Kopf berührte – die MPs zweier Mandant reichen von großer Politik bis amerikanischer Soldaten. Das Haus war zu Alltagsbanalitäten. Saddam erzählt, er nach Saddams Worten umstellt, ihm wur-

wasche seine Kleidung lieber selbst, in den Mittel verabreicht, so dass er das Be- GETTY IMAGES einer seiner Aufzeichnungen spricht er wusstsein verlor. Und dann hätten ihn ir- Saddam-Anwalt Munib von Angst vor Aids; er befürchtet, die gendwelche Menschen aus einer Erdhöhle „Der Prozess war eine Farce“

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Regierung zügig zu Ende gebracht wer- tator auf die Exekution vorzubereiten. miers Nuri al-Maliki will es schnell hinter den. Aber es dauert dann doch 13 Monate, Saddam fegt den Gedanken daran mit sich bringen. bevor das Sondertribunal am 5. Novem- einer Handbewegung zur Seite, so wie Der Ex-Präsident zieht sich langsam an, ber 2006 gegen den Hauptangeklagten er auch verärgert Überlegungen seiner Anzug, weißes Hemd, den schwarzen, tail- das Urteil fällt: Tod durch Erhängen. Die Anwälte weggewischt hat, die ihm zwi- lierten Wintermantel gegen die schneiden- Verteidiger haben die Schlussstunden der schenzeitlich eine Prozess-Strategie mit de Kälte der Nacht. Das Thermometer „Farce“, wie sie das Verfahren nennen, dem Ziel eines Geständnisses und einer zeigt Minustemperaturen an diesem vor- boykottiert. Immer massiver hat die iraki- lebenslänglichen Haftstrafe vorlegten: letzten Tag des Jahres 2006. Ein letzter sche Regierung eingegriffen; zwei der fünf „Wenn ich gehen muss, werde ich als Händedruck für die Wachhabenden und Richter, die gegen ein Todesverdikt zu Held meines Volkes, als Märtyrer aller die betreuenden Mediziner, die sich außer- stimmen drohten, wurden schnell noch Araber abtreten. Ich laufe nicht davon – halb des Camp Cropper versammelt ha- ausgewechselt. „Wir sollten am Ende nur noch Stunden vor dem Angriff der Ameri- ben. Saddam Hussein dankt für die „Be- noch ein Standgericht legitimieren“, sagt kaner hat mir der König von Katar Exil treuung“. Munib. Er geht gemeinsam mit seinen Kol- legen in die Berufung. Es läuft noch das umfassendere Verfahren gegen Saddam „Sie wollen von Saddam unterzeichnete wegen Völkermords; kaum einer glaubt, Gesetze gegen Saddam verwenden?“, dass Saddam bald hingerichtet wird. fragt der Angeklagte das Gericht. Die amerikanischen Juraprofessoren Newton und Scharf sprechen in ihrer Ge- samteinschätzung des Tribunals von einem angeboten, auch daran war ich nicht inter- Der Helikopter vom Typ Black Hawk „Triumph des Gesetzes über die Tyrannei“ essiert.“ hebt ab zum Zehn-Minuten-Flug in den und verweisen auf die Transparenz des Niemand ahnt, welche Bühne die iraki- Norden der Hauptstadt. Dort, im alten Verfahrens. Trotz „einiger Mängel und schen Behörden dem Ex-Diktator bieten Istichbarat-Gefängnis, am Sitz des Mi- unübersehbarem Chaos“ hat sich ihrer werden, um sich einen ebenso dramati- litärischen Geheimdienstes, wo so viele Meinung nach die britische Vorübung, der schen wie eindrucksvollen Abgang zu ver- Saddam-Gegner gefoltert worden sind, Scheinprozess von Stratford, gelohnt. schaffen. wartet das irakische Empfangskomitee. Mit Die Menschenrechtsorganisation Human Was sich im Hinrichtungsraum inner- der physischen Übergabe verspielen die Rights Watch, die während des Prozesses halb von weniger als drei Minuten an Wür- Amerikaner ihre letzte Chance, Einfluss einen ständigen Beobachter vor Ort hat, delosigkeit und blinder Rachsucht abge- auf den Zeitpunkt und die Art der Hin- wirft dem Gericht dagegen eine „funda- spielt hat, ist dazu angetan, das Vertrauen richtung zu nehmen. mentale Unfairness“ vor; der kanadische in einen positiven Neuanfang des Zwei- Buchstäblich bis zu dieser Minute hat Jurist William Wiley, ein von der Uno be- stromlandes zu zerstören – so sieht es die ein harter Kampf getobt, zwischen den US- stellter Berater der Verteidigung, ist eben- ganze Welt, nur einer gratuliert „aus vol- Offiziellen und den Irakern, auch zwischen so desillusioniert, er nennt das Verfahren lem Herzen“ zu den „die Demokratie för- den Amerikanern untereinander. Das eine „betrügerische Posse“ und fragt: „Wa- dernden Ereignissen“ und liefert so einen Weiße Haus plädierte nach Informationen ren wir naiv, an einen fairen Prozess zu weiteren Beleg für seine Instinktlosigkeit der „New York Times“ für einen Aufschub glauben?“ Anwalt Munib sieht „Sieger- und seinen fatalen Hang zur Fehleinschät- der Exekution bis zum Ende der zentralen justiz“ am Werk. zung: George W. Bush. Gerichtsverhandlung über die Kurdistan- Auch nach dem Verdikt denkt Saddam Massaker. Und dann war da noch aktuell Hussein noch an einen Deal mit den Ame- n dem Tag der Tage, als ihn amerika- das Id al-Adha, im islamischen Kalender ei- rikanern. Jeden Tag vibriert seine Zelle Anische Militärs um 3.55 Uhr morgens ner der höchsten Feiertage. Das Opferfest von den Bomben der Aufständischen, hört wecken, ahnt Saddam Hussein, dass es fiel in diesem Jahr auf den 30. Dezember. er die nahen Detonationen. Nur er, glaubt zu Ende geht. Ein Satz, von einem US-Of- Jemanden an diesem Tag, dessen Morgen- Saddam in seinem Größenwahn, in seiner fizier gesprochen, genügt dafür: Er werde röte um 7.06 Uhr errechnet war, hinzu- narzisstischen Selbstüberschätzung, kön- jetzt in irakischen Gewahrsam überstellt. richten: Das könnte als Sakrileg gelten. ne die Aufständischen beruhigen. Die Exekution ist formal eine irakische An- Seit wann seid ihr denn so religiös-sen- Sein ägyptischer Rechtsbeistand ist in gelegenheit, die US-Behörden wollen da- sibel, sagten die Iraker. Warum denn die dieser Beziehung viel skeptischer, realisti- mit nichts zu tun haben. Und die von Schi- plötzliche, unnötige Hast, das riecht nach scher. Jurist Munib versucht den Ex-Dik- iten dominierte Regierung des neuen Pre- Rache, sagten die Amerikaner. Jetzt fangt DPA (L.);DPA (R.) / DPA ZAKLIN STEFAN Festnahme des flüchtigen Diktators bei Tikrit (im Dezember 2003), US-Soldat bei der Inspizierung des Erdlochs: Unter Drogen gesetzt?

88 der spiegel 1/2009 Beschuldigter Saddam, Mitangeklagte vor dem Gericht in Bagdad (2005): „Wo liegt das Verbrechen?“ DAVID FURST / AFP bloß nicht an, eure Hände vom Blut zu spenstische Szene wieder. „Haben Sie mal Noch einmal ein Zwischenruf gegen waschen, entgegneten die zunehmend ge- keine Angst, sagte Saddam – so, als würde Saddam, da legen die Henker schon letzte reizten Maliki-Leute: Saddam ist unser ich hingerichtet und nicht er.“ Rubai fällt Hand an: „Lang lebe Mohammed Bakir Mann, Iraker, und wir machen das nach keine Antwort ein. al-Sadr!“ Gemeint ist der von Saddams unseren irakischen Vorstellungen. „Rückt Das Urteil wird noch einmal verlesen, Schergen ermordete Großajatollah, Groß- ihn jetzt endlich raus“, hatte vorher ein Saddam kommentiert es mit einem lauten onkel des Milizenführers. Offizieller den Amerikanern zugerufen. Ruf: „Lang lebe die irakische Nation!“ Ei- Der Delinquent antwortet nun nicht Und so geschieht es denn. ner der Wächter ruft: „Du hast den Irak mehr. Er spricht das islamische Glaubens- 5.21 Uhr. Abschied per Handschlag von zerstört!“ Darauf Saddam, unbelehrbar bis bekenntnis: „Ich bekenne, es gibt keinen seinem Übersetzer, einem anderen Arzt, zum Letzten: „Ich habe aus diesem rück- Gott außer Gott, und Mohammed …“ den US-Bewachern. Neun Minuten später ständigen Land eine fortschrittliche und „... ist der Gesandte Allahs“, kann der übernehmen die Iraker. Saddam, so be- blühende Nation gemacht.“ Mann im schwarzen Mantel mit dem grau- richten Augenzeugen, sei ernst, aber spöt- Ein Moment des Schweigens. Jemand en Bart, der mit ruhiger Stimme gespro- tisch gewesen. Er betritt den Todestrakt, murmelt ein Gebet. Saddam Hussein wer- chen hat, nicht mehr sagen. Die Henker einen schlecht beleuchteten, kalten Ze- den die Hände zusammengebunden. Auf haben die Falltür geöffnet. Der Körper fällt mentblock hinter dem Hauptgebäude, Ort eine Augenbinde hat er ausdrücklich ver- in die Tiefe. Die Halswirbel brechen. Es Tausender Exekutionen unter Saddam zichtet. Die Vermummten führen ihn zum ist 6.10 Uhr. Husseins Herrschaft. Galgen, legen seinen Kopf in die Schlinge. „Gott möge ihn verfluchen!“, ruft einer Die kleine Exekutionskammer mit dem Was gedacht war als der ernste Vollzug in der Kammer. Der Imam will für die Galgen ist kalt, ein fauliger Geruch liegt in eines Gerichtsurteils, entwickelt sich nun Seele des Verstorbenen beten. „Was, für der Luft. Ein gutes Dutzend Menschen zu einem Spektakel, das zu allem Über- so einen willst du beten!“, schreit ein an- drängen sich aneinander, irakische Wäch- fluss und völlig gegen jedes Gesetz von ei- derer. ter, bestellte Zeugen, eine offizielle Kame- nem Handy-Besitzer, aus dem Nebenraum Und dann geht es weiter im Zwist, nun ra-Crew, irakische Regierungsvertreter, ein aufgetaucht, als Video aufgenommen wird. allerdings wieder auf hoher irakisch-ame- Imam – und drei Maskierte, die Henker. „Muktada! Muktada!“, ruft einer, ge- rikanischer Politikerebene. Die Leiche Die Tür zu einem Nebenraum steht einen meint ist offensichtlich der militante Schi- Saddams wird von einem Helikopter vom Spaltbreit offen, was zunächst keinen in- itenführer Muktada al-Sadr. Geheimdienstgebäude in die Green Zone teressiert. „Muktada, ruft ihr, und zeigt so euren geflogen, zum Regierungssitz, der nahe der Saddam sieht Muwaffak al-Rubai, er Mut als Männer?“, gibt Saddam zurück. US-Botschaft liegt. Die Amerikaner haben kennt den nationalen Sicherheitsberater „Fahr zur Hölle“, ruft der Nächste. Angst davor, den Körper zu berühren, sie der Regierung. Rubai gehört zu den weni- „In die Hölle, die der Irak heute ist?“, fürchten einen Aufruhr. gen „Neuen“, mit denen er schon einmal bellt Saddam zurück. Der Mann, der noch im Tod die Nation ein Wort gewechselt hat. „Er versuchte zu Ein Staatsanwalt sagt leise: „Bitte nicht, spaltet und in ein einfaches weißes Tuch scherzen“, gibt der Politiker später die ge- dieser Mann wird hingerichtet!“ gehüllt ist, wird schließlich auf einer Bah-

der spiegel 1/2009 89 re vom Hubschrauber zu einem Ambulanzwagen getragen. Si- cherheitsberater Rubai muss selbst mit Hand anlegen, im Laufschritt transportiert er ge- meinsam mit einigen anderen die Last: „Wir wollten das ganz schnell hinter uns bringen.“ Die Leiche bleibt dann die nächsten 17 Stunden in dem Wa- gen, auf dem Parkplatz hinter dem Regierungssitz. So lange nämlich verhandelt der Ministerpräsident mit dem Chef des Hussein-Clans, der den Körper ausgehändigt haben will. Maliki weigert sich. Im iraki- schen Fernsehen wird die offi- zielle Version der Hinrichtung gezeigt, auf den Straßen der Hauptstadt kommt es spontan zu wütenden Demonstrationen. Die Amerikaner intervenieren ein letztes Mal in Sachen Ex-

Diktator, aber in Wahrheit, um PRESS / SIPA SAADOUN der ansonsten doch so Washing- Saddam-Clan in Bagdad*: „Man ist mit seinem Nachwuchs geschlagen“ ton-nahen Regierung – und sich selbst – ein weiteres Fiasko zu ersparen. Sie reichs streng bewachten Haus. Der Stadt- Raghad und Rana müssen sich mit poli- fliegen eine Delegation aus Saddams Hei- teil Abdun gilt als Viertel der Besserge- tischen Meinungsäußerungen zurückhal- matstadt Tikrit nach Bagdad, beknien den stellten. Die beiden Witwen schicken ihre ten, wollen sie nicht ihren Flüchtlingsstatus Premier. Der gibt schließlich nach. Dann Kinder – Raghad hat fünf, Rana vier – in gefährden. Gegenüber ihrer Bekannten transportiert ein amerikanischer Helikop- die britische Christ Community School Hala Jaber aber haben sie sich offen ter Saddam Husseins Überreste von der und in die Modern Orient School. Die geäußert, sie durch ihre Wohnungen ge- „Landing Zone Washington“, wie der Jugend trifft sich im nahen italienischen führt. Familienbilder in Silberrahmen ste- Hubschrauberlandeplatz in der Green Restaurant „La Cucina“, die Saddam- hen in den Wohnzimmern der beiden Wit- Zone offiziell heißt, nach Tikrit. Von dort Töchter gehen praktisch nie aus. Immer wen. Rana trägt immer eine Goldkette mit geht es per Pick-up weiter ins Saddam- wieder werden sie von den jordanischen Saddams Porträt um ihren Hals. Raghad Dorf Audscha. Behörden vor Killerkommandos aus Bag- hat ihn in einem Amulett am Herzen. Nicht „Ich war niemals an seinem Grab“, sagt dad gewarnt. verwunderlich, wenn Töchter mit ihrem Va- Anwalt Mohammed Munib. „Im Nachhin- ter durch dick und dünn gehen und an ihm ein kommt mir der ganze Prozess surreal Gegen Raghad liegt seit Monaten ein nichts Schlechtes erkennen wollen. Ver- vor, wie ein Märchen aus anderen Zeiten.“ Such-Ansinnen von Interpol vor, ein so- blüffend aber schon, wenn man bedenkt, Heute kämpft der Jurist wieder mit den genannter Roter Vermerk. Der irakische dass dieser Vater den Befehl zur Ermor- schlimmen, aber weniger spektakulären Premier Maliki will sie wegen „Volksver- dung ihrer beider Ehemänner gegeben hat. Menschenrechtsverletzungen in Ägypten. hetzung und Unterstützung von Terroris- Im Jahr 1995 versuchen Generalleutnant „Wie man Saddam Hussein auch bewer- ten“ vor Gericht stellen, angeblich hat sie Hussein Kamil Hassan (verheiratet mit tet“, sagt Mohammed Munib, für den die Kontakte zu sunnitischen Widerstands- Raghad) und sein Bruder Saddam Kamil irakischen Opfer rätselhafterweise so wenig gruppen; Amman liefert die Saddam-Töch- Hassan (verheiratet mit Rana) den Prä- zählen, „er hat den Nahen Osten für im- ter nicht aus, stellt aber Bedingungen für sidenten davon zu überzeugen, auf die mer verändert.“ das gewährte Asyl: keine Kontakte zur Forderungen der Uno-Resolutionen ein- Presse und zu ausländischen Diplomaten. zugehen. Die beiden gehören zum inne- er Diktator, der Kriegstreiber, der Ein- bis zweimal im Jahr reisen Raghad, ren Zirkel der Macht und sind alles ande- DMenschenzerstörer – wie war er wohl Rana und die Saddam-Enkel ins König- re als lupenreine Demokraten. Aber sie als Familienvater? Wie reagieren die nächs- reich Katar. Dort lebt, unter dem Schutz wollen dem Volk unnötiges Leid ersparen ten Angehörigen auf die Exekution? Was des Herrscherhauses, ihre Mutter Sadschi- und sehen wohl auch die Gefahr ihres wurde aus dem Saddam-Clan mit all seinen da mit Saddam-Tochter Nummer drei, Machtverfalls. Saddam hört aber eher Verzweigungen? Hala, 29. auf seinen skrupellosen und mächtigen Ihre Welt ist nach dem Tod des Familien- Cousin Ali Hassan al-Madschid („Chemie- Raghad Hussein, 40, die Organisatorin oberhaupts, nach der Flucht aus dem Irak Ali“ genannt, wegen Massenmordes und seiner Verteidigung, ist ihrem Vater von klein geworden. Wie sehr Saddam das Verbrechen gegen die Menschlichkeit seinen drei Töchtern am ähnlichsten, Leben seiner Kinder bestimmt hat, wie un- später in zwei Verfahren zum Tode ver- bestimmend, zielstrebig, manchmal auf- vorstellbar brutal er auch mit ihnen umge- urteilt). brausend: „Little Saddam“ lautet ihr gangen ist und dass sie trotzdem nichts auf Als die Schwiegersöhne merken, dass Spitzname. Rana Hussein, 39, gilt als die ihn kommen lassen, bis zuletzt für ihn sie den Machtkampf verlieren, fliehen sie Sanftere. Beide leben heute in der jorda- kämpften – das gehört zu den erstaunlichs- mit Kind und Kegel nach Jordanien. Sie nischen Hauptstadt Amman, in einem ten Geschichten aller Zeiten, aller Welten. bieten sich Exil-Irakern und der CIA als In- weißen, von der Straße durch einen klei- formanten an. Doch die geben sich er- nen Vorgarten getrennten, von Spezial- * Mit Ehefrau Sadschida, Söhnen, Schwiegersöhnen, Töch- staunlich desinteressiert. Enttäuscht – und einheiten des Haschemitischen König- tern und Enkeln, um 1990. von einem Versöhnungsangebot Saddam

90 der spiegel 1/2009 Gesellschaft MOHAMMAD ABU GHOSH / AP MOHAMMAD AFP Hinrichtung des Tyrannen in Bagdad (am 30. Dezember 2006), Tochter Raghad in Amman (2007): „Einen Vater kann man nicht ersetzen“

Husseins angelockt – kehren die Abtrün- geführt wird – ähnlich wie ihr Vater. Als Was aber dachte er, der Über-Vater? nigen mit ihren Frauen und Kindern zu- die Anwälte sie nach der Bestätigung Was mag Saddam Hussein al-Tikriti, als rück in den Irak. des Urteils Ende Dezember 2006 darauf sie die Schlinge um seinen Hals legten, Saddam Hussein empfängt seine Töchter hinweisen, nun könne es bald passieren, vor seinem inneren Auge gesehen haben, und umarmt sie; er macht ihnen aber meiden sie die Fernsehnachrichten. Dann in diesen letzten Momenten, von denen klar, dass er auf einer Trennung von ihren ist die Nachricht von der Exekution auf viele glauben, sie ließen die wichtigs- Männern bestehe, die hätten ihn blamiert. allen Kanälen, die Töchter brechen in ten Stationen des Lebens noch einmal Raghad und Rana gehorchen. Was Saddam Tränen aus. im Zeitraffer vorbeiziehen? Das Gesicht Hussein mit seiner Unversöhnlichkeit Viele ihrer Freunde seien ins Haus ge- des Opfers seines ersten Mordes, den er meint, erfahren die beiden schon bald, kommen, um ihrem Vater die Ehre zu noch als Jüngling wohl im Auftrag des On- nachdem sie die Scheidungspapiere ein- erweisen, erzählen die beiden. Raghad kels erledigte? Den ungläubigen Blick des gereicht haben. Es ist der Tag drei ihrer spricht einige Tage später bei einer Trau- langjährigen Freundes und Kabinettskol- Rückkehr: Bewaffnete stürmen den Fami- erfeier in der jordanischen Hauptstadt vor legen, als er den Abzug seiner Pistole lienbesitz der Schwiegereltern und töten etwa tausend Zuhörern und nennt ihren drückte? Die Kinder von Halabdscha, die die Kamil-Brüder. „Es musste zur Abschre- Vater einen „Märtyrer“. Es ist ihr bisher elendig starben auf dem Schulweg, beim ckung einfach sein“, soll Saddam gesagt letzter öffentlicher Auftritt. Spielen, beim Einatmen des tödlichen Ga- haben. Die Tat durfte, wie vom Staatschef Was erträumt sie sich für ihre Kinder, ses? Die eigenen, von ihm vaterlos ge- „gebeten“, der Familienclan vollziehen. denen ihr Vater den Vater nahm? Wo sind machten Enkel? Die Großen der Welt, die ihm am Anfang seiner Regierungszeit schmeichelten, damals, als er noch im Sin- „Fahr zur Hölle“, ruft jemand ne des Westens die Iraner bekriegte, allen Saddam Hussein unter dem Galgen zu. voran ein US-Sonderbotschafter namens „Du hast dieses Land zerstört.“ Donald Rumsfeld? Waren es die Triumphe des selbster- nannten Neo-Nebukadnezar, die ihn ein Raghad erzählt, sie habe damals lernen die Millionen und Abermillionen geblie- letztes Mal berauschten? Oder überwogen müssen, persönliche Gefühle zurückzu- ben, die Saddam Hussein angeblich außer dann doch, in den Sekunden der Todesge- stellen, ihre Trauer zu verdrängen. Natür- Landes schaffen ließ, die Goldbarren? wissheit und im Angesicht des von ihm so lich habe sie Mühe gehabt, die Entschei- Raghad Hussein lässt dem SPIEGEL die oft beschworenen Schöpfers und göttlichen dung ihres Vaters zu akzeptieren. Ge- Mitteilung zukommen, sie habe vom Va- Richters, die Angst, der Schrecken, die genüber ihrer Bekannten Hala Jaber fügt ter „keinen einzigen Dollar Zuwendung“ Niederlage? Womöglich die Erkenntnis sie hinzu: „Man kann immer noch neue bekommen, der ganze Prozess sei eine von Schuld? Kinder haben, aber ein Vater ist etwas Ein- „bösartige amerikanische Inszenierung“ „Reue hat er bei unseren Gesprächen maliges, den kann man nicht ersetzen.“ gewesen. Sie wünscht sich für die Nach- nicht einmal im Ansatz gezeigt“, sagt FBI- Auch für Rana ist Saddam Hussein ein kommen ein „normales Leben“ und dass Mann Piro. „Kein Hauch von Reue“, sagt „Held, so einen wird keine Mutter für lan- sie nie vergessen sollten, was Macht und Ex-Generalin Karpinski. „Er glaubte nicht, ge, lange Zeit gebären“. Gier auf der Welt anrichten. Wenn sie in irgendetwas bereuen zu müssen“, sagt Über die Briefe, die der Vater ihnen aus die Politik gehen wollten, würde sie ihnen Anwalt Munib. „Das Konzept von Reue dem Gefängnis geschrieben hat, wollen sie das „verbieten“, sagt sie. Und dass sie gehörte nicht in die Vorstellungswelt mei- nichts erzählen. Nur so viel: Liebevoll sei- nie aufhören könne, an ihren Vater zu nes Vaters“, sagt Tochter Raghad. en sie gewesen. Bis zum Schluss glauben denken, er präge ihr Leben bis ans Ende Erich Follath, John Goetz, sie nicht daran, dass das Todesurteil aus- aller Tage. Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand

der spiegel 1/2009 91 Panorama Ausland

TÜRKEI „Größtes Tabu“ Professor Baskin Oran, 63, Politikwissen- schaftler in Ankara, über seine Kampagne, sich zur Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern zu bekennen

SPIEGEL: Seit dem Start Ihrer Unterschriftenaktion im Internet haben sich mehr als 25000 Türken für die osmanischen Kriegs- verbrechen im Ersten Weltkrieg entschuldigt. Damals kamen über eine Million Armenier ums Leben. Ist das der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?

Oran: Die Türken, die sich jetzt entschuldigen, sind nicht ver- (R.) BILD / ULLSTEIN (L.); ARCHIV GERSTENBERG AKAD AYTUNC antwortlich für die Sünden von 1915. Es gibt kein kollektives Armenier auf der Flucht (um 1915) Verbrechen, aber es gibt ein kollektives Gewissen. Mit unserer Aktion rütteln wir am größten Tabu in der Türkei. Aber eigent- ausdrücklich von Genozid sprechen. Sie fürchten, dass wir mit lich kommt die Kampagne Jahrzehnte zu spät. der Entschuldigung armenische Reparationsforderungen durch- SPIEGEL: Türkische Nationalisten behaupten, dass Sie das natio- kreuzen könnten. Für diese Leute sind wir nur Lakaien des tür- nale Ansehen beschädigen. Davon ist auch Ministerpräsident kischen Staates. Erdogan überzeugt. SPIEGEL: Welche Reaktionen bekommen Sie von den türkischen Oran: Nein, ich glaube, unser Ansehen wird in der internatio- Bürgern? nalen Öffentlichkeit sogar steigen. Außerdem geht es um die En- Oran: Leider überwiegend schlechte. Ich selbst erhalte jeden Tag kel der Armenier, die endlich eine Entschuldigung hören müs- an die 200 Hassbriefe. Viele sagen, ich hätte das türkische Volk sen – in einem Land wie der Türkei, wo es keine „Kultur des beleidigt. Aber man muss bedenken: Jedes Kind lernt hier Entschuldigens“ gibt. schon in der Schule, dass Armenier früher Muslime getötet ha- SPIEGEL: Welche Auswirkungen wird die Aktion auf das tür- ben. Unserer Erziehung haben wir es zu verdanken, dass das kisch-armenische Verhältnis haben? Land unter einer kollektiven Amnesie leidet. Im Osten der Oran: Die Mehrheit der Armenier begrüßt unsere Initiative. Türkei haben früher allerdings tatsächlich viele Menschen un- Aber es gibt auch Hardliner, die verurteilen, dass wir nicht ter armenischen Racheaktionen gelitten.

SOMALIA NAHOST Angriffspläne ist die kompromisslose Haltung der Hamas-Führung in den ver- Neue Truppen Schwindender Rückhalt gangenen Wochen. Vor allem die mode- rate palästinensische Fatah-Bewegung für Mogadischu ffiziell verurteilt die arabische Welt wäre dankbar für ein wenig Schützen- Odie von Israel angekündigte Mi- hilfe. Die von Präsident Mahmud Abbas ngesichts der dramatischen Lage litäroperation gegen die im Gaza-Strei- geführte Fatah wurde im Gaza-Streifen Awollen Burundi, Uganda und Nige- fen herrschende Hamas. Tatsächlich vor anderthalb Jahren von der Hamas ria jeweils ein Bataillon Soldaten in das aber ist das Interesse einiger arabischer aus den Ämtern geputscht und wartet seit 17 Jahren krisengeschüttelte Land Führer groß, die Herrschaft der Islamis- seitdem auf die Gelegenheit zur Revan- schicken. Die Uno hatte dringend um ten in dem Küstenstreifen zu beenden. che. Auch Ägyptens Präsident Husni Verstärkung gebeten, weil Äthiopien Wenn die israelische Armee gezielt Ha- Mubarak äußerte bei einem Treffen mit seine Truppen zurückzuziehen beginnt mas-Führer ins Visier nähme und die Israels Außenministerin Zipi Livni am – Addis Abeba hatte die somalische Zivilbevölkerung schone, sagen auch vergangenen Donnerstag in Kairo Ver- Übergangsregierung bislang maßgeblich viele Bewohner von Gaza, sei ein Mi- ständnis für Jerusalems Position. Muba- gestützt. Doch die neuen Kräfte werden litärschlag durchaus akzeptabel. Grund rak ist verärgert, weil die Hamas alle den Vormarsch der Islamisten nicht für die heimliche Freude über Israels ägyptischen Vermittlungsbemühungen stoppen können. Deren Kämpfer haben boykottiert. Weder in den Ver- weitere Geländegewinne gemacht. Die handlungen mit der Fatah über radikal-islamischen Schabab-Rebellen, eine innerpalästinensische Ver- die schon die Hafenstädte Kismayo und söhnung noch in den Gesprächen Merka erobert hatten, sollen nun auch über die Freilassung des entführ- die Kontrolle über Hobyo übernommen ten israelischen Soldaten Gilad haben. Hobyo galt bisher als eine Hoch- Schalit zeigte sich die radikal- burg somalischer Seeräuber – die hätten islamische Organisation kompro- somit einen wichtigen Rückzugsort ver- missbereit. Trotz anhaltenden loren. Währenddessen hat die deutsche Raketenbeschusses hatte Israel Marine zu Weihnachten ihren ersten am Freitag die Blockade vorüber- Anti-Piraten-Einsatz mit EU-Mandat gehend gelockert, um Lebens-

absolviert und einen Angriff auf einen / REUTERS AMR DALSH mittel und Treibstoff nach Gaza ägyptischen Frachter vereitelt. Livni, Mubarak (in Kairo) transportieren zu lassen.

der spiegel 1/2009 93 Rückblick 2008

ROBERTO SAVIANO Markenartikel wider Willen anchmal bereut er, das Buch geschrieben zu haben. Aber Mes gibt kein Zurück mehr. Nicht für ihn, den 29-jährigen Autor aus Neapel, und nicht für Italien. Roberto Saviano hat in klaren Sätzen aufgeschrieben, was alle wussten, aber keiner wahrhaben wollte: die völlige Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Camorra-Kriminalität in weiten Teilen Süditaliens mit Fäden bis nach China, Südamerika, Deutsch- land. Sein Buch „Gomorrha“ hat sich allein in Italien über eine Million Mal verkauft und ist bereits in 42 Sprachen über- setzt. Der gleichnamige Film wurde zuletzt beim Festival von Cannes ausgezeichnet und für den Oscar nominiert. Saviano könnte es sich längst leisten, nie wieder zu schreiben. Aber er sehnt sich zurück nach der Zeit, als er sich in seiner Heimat, un- bekannt und unverdächtig, in kleinen Web-Medien oder großen Zeitungen zu Wort melden konnte. Er hat das ganze Jahr un- ter höchster Sicherheitsstufe gelebt, bewacht von Zivilpolizis- ten, bedroht von seinen Feinden, beargwöhnt von manchen Freunden. Roberto Saviano ist zur Anti-Mafia-Ikone geworden.

Er reist um die Welt, sitzt auf Podien, spricht mit Salman / POLARIS LAIF PIGNATELLI DARIO Rushdie, Nobelpreisträger wie Günter Grass und Orhan Pamuk Saviano solidarisieren sich mit ihm. Er ist Teil des globalen Intellek- tuellen-Netzwerks, ein Markenartikel wider Willen. Sein Name worden, für einige Zeit ins Ausland zu gehen, vielleicht nach steht auf Mauern gesprüht, sein Kopf ist zum Logo geworden New York. „Gomorrha“ – das ist das System ökonomischer – und zur Zielscheibe. Ein Kronzeuge hat ausgesagt, der Casa- Allmacht des Verbrechens in Süditalien, Savianos Buch hat lesi-Clan habe einen Sprengstoffanschlag auf Saviano in Auftrag daran bislang nichts geändert. Aber etwas ist anders: Man weiß gegeben. Dem Schriftsteller ist von den Behörden nahegelegt nun Bescheid. Die Augen sind geöffnet.

BJÖRGOLFUR GUDMUNDSSON Vereinsboss war Haupt- ter Traditionsclubs bedroht, LI FANGPING aktionär des zweitgrößten is- wenn deren Existenz abhän- Ein teurer ländischen Geldinstituts gig ist von Oligarchen, Anwalt gegen die Landsbanki und Milliardär. Scheichs oder internationalen Hammer Knapp 200 Millionen Euro Finanzmagnaten wie Gud- Obrigkeit investierte er in seinen Kauf mundsson. Als das isländische igentlich wollte er dem und anschließende Transfers, Bankensystem Anfang Okto- ur wenige Juristen gibt es ELondoner Fußballclub ein neuer Trainer und neue ber zusammenbrach und die Nin China, vielleicht zwei West Ham United nur wieder Topspieler kamen. Doch statt Regierung die Landsbanki Dutzend in diesem Riesen- jenen Glanz verleihen, von für Erfolg steht der Name verstaatlichte, verlor ihr reich, die sich immer wieder dem die Fans seit über 40 Jah- Gudmundsson nun als Sinn- Hauptaktionär um die 300 mutig einsetzen für jene, die ren träumen: als die „Ham- bild dafür, dass die globale Fi- Millionen Euro. West Hams sich mit der Obrigkeit anle- mers“ für England 1966 den nanzkrise bis ins internationa- Trikotsponsor, der Reisever- gen: Bürgerrechtler, von ihrer WM-Titel gewannen. Es wa- le Fußballgeschäft reicht und anstalter XL Leisure, bei dem Scholle vertriebene Bauern, ren West Hams Kult-Kicker die Existenz hochverschulde- der Isländer Teilhaber ist, Aids-Aktivisten, entlassene Martin Peters und Geoff meldete Konkurs an. Sein Arbeiter, verfolgte Pfarrer. Li Hurst sowie die britische Fuß- Club muss Investitionen auf Fangping, 34, ist so einer, der ball-Legende Bobby Moore Eis legen und womöglich so- sich engagiert für den Schutz als Mannschaftskapitän, die gar Spieler verkaufen. „Die von Regime-Opfern. „Wir ihr Nationalteam im Finale Ereignisse hemmen unsere wollen, dass China sich öff- zum 4:2-Erfolg gegen Möglichkeiten“, ließ Gud- net, wir wollen die Bürger- Deutschland führten und den mundsson gewunden er- rechte stärken“, sagt der ha- Ostlondoner Verein zum klären, erste Verkaufsgerüch- gere Mann mit der randlosen Markenzeichen des interna- te machen schon die Runde. Brille und der makellosen Fri- tionalen Fußballs machten. Auf einer sportlichen Spitzen- sur und sieht dabei eher aus Dahin wollte der Isländer position rangieren die stark wie ein linientreuer Nach- Björgolfur Gudmundsson, 67, abstiegsgefährdeten Hammers wuchskader. Seine jüngste West Ham zurückbringen, als derzeit nicht. Lediglich im Mission sieht er darin, den er den Club 2006 kaufte. Und Ranking der offenen Bankver- Opfern des Milchpulverskan- noch vor einem Jahr war er bindlichkeiten liegen sie vorn: dals zu helfen. Viele Firmen sich sicher: „Wir haben jetzt Mit geschätzten rund 150 Mil- hatten mit Melamin vergiftete

alles, was wir dafür brau- SUEMORI / AP AKIRA lionen Euro Schulden steht Babynahrung in den Handel chen.“ Vor allem Geld. Der Gudmundsson der Club dort auf Platz fünf. gebracht, woraufhin fast

94 der spiegel 1/2009 Ausland

300000 Kinder erkrankten, MARIELA CASTRO Sexualkunde fiel schon im- mindestens sechs Kleinkinder mer auf im Kreis der Nomen- starben. Die Justizverwaltung Madonna der klatura. Sie hat drei Kinder und die offizielle Anwalts- von drei verschiedenen Män- kammer sind an einem stillen Schwulen nern, ist derzeit mit einem Ende der Affäre interessiert, Italiener verheiratet und sie setzen Anwälte – auch Li ie gilt im Macho-Staat doziert als freier Geist un- – unter Druck, die Gerichte SKuba als Rebellin, denn bekümmert über das Tabu- nahmen bisher keinen Fall sie rührt an ein jahrzehnte- thema Aids. Jüngst lancierte an. „Sie warten auf Anwei- altes Tabu: Die Tochter des sie unter dem Titel „Puber- sung von oben“, sagt der An- amtierenden Staatschefs Raúl tät“ eine achtteilige Zeichen- walt, der für seine Courage Castro und Nichte des legen- trickserie für Jugendliche im schon einen hohen Preis zah- dären Comandante Fidel staatlichen TV-Programm, in len musste: Drohungen, setzt sich für die Rechte der sexuelle Probleme junger Hausarrest, Bespitzelung. Homosexueller ein. Im Mai Kubaner behandelt werden. Staatlich angeheuerte Schlä- hissten Schwule erstmals die Auch in Briefen an ihren Va- ger prügelten ihn auf dem bunte Regenbogenfahne in ter bringt sie das Thema zur

Havanna. Mariela Castro, die Sprache. Nur am Wochenen- JOHN SPINK / AP „Madonna der Schwulen und de, wenn sich die Sippe zum Cooper Lesben“, hatte ihnen aus- Mittagessen versammelt, sind drücklich Mut gemacht. „Wir Marielas Themen tabu – Papa mal eine Generation nach wollen, dass die sexuelle Aus- Raúl ist ein Familienmensch, dem Ende der Sklaverei ge- richtung jedes Einzelnen re- der Sonntag ist ihm heilig. boren worden, zu einer Zeit, spektiert wird“, so die Se- in der keine Autos auf den xualwissenschaftlerin, die ANN LOUISE NIXON COOPER Straßen und keine Flugzeuge auch Mitglied der Kommunis- am Himmel waren. Als je- tischen Partei ist. Und das ist Ein Jahrhundert mand wie sie aus zwei Grün- durchaus revolutionär für das den nicht wählen durfte: weil Revolutionsregime. Noch in Amerika sie eine Frau war und wegen den sechziger Jahren wurden ihrer Hautfarbe.“ Diesmal Schwule in Arbeitslager ge- hre Eltern starben jung, war alles anders. Cooper hat- steckt, Homosexualität galt Iund so wuchs sie auf einer te sich zu ihrem Wahllokal lange als Krankheit, gleich- Tabakplantage im Bundes- fahren lassen, war im Roll- geschlechtliche Liebe geziem- staat Tennessee bei ihrer Tan- stuhl an den Computer gerollt te sich für echte Revolutionä- te Joyce auf, die selbst noch und hatte geholfen, den ers- re nicht. Heute gehen man- als Sklavin geboren wurde. ten schwarzen Präsidenten che Schwule Hand in Hand Am 9. Januar 2009 wird Ann der USA zu wählen. „Ich hät-

TEH ENG KOON / AFP TEH ENG KOON auf Havannas Straßen, Trans- Louise Nixon Cooper aus At- te nie gedacht, dass wir das Li sexuelle können auf Staats- lanta im Südstaat Georgia 107 erleben würden“, sagte sie kosten Geschlechtsumwand- Jahre alt. Anhand ihrer Vita später, „ich bin stolz.“ Coo- Weg zum Prozess kranken- lungen vornehmen lassen – erklärte der neue Präsident per heiratete 1922 in Atlanta hausreif, als er 2006 den blin- Mariela Castros Aufklärungs- Barack Obama in der Wahl- einen Zahnarzt und bekam den Bürgeradvokaten Chen arbeit zahlt sich langsam nacht Millionen Landsleuten mit ihm vier Kinder. In Geor- Guangcheng verteidigen woll- aus. Die attraktive Chefin und der Welt die Vergangen- gias Hauptstadt hatten es te – der hatte auf illegale des Staatlichen Instituts für heit Amerikas. „Sie ist gerade Schwarze damals nicht leicht. Zwangsabtreibungen in seiner Im Bus musste sie hinten sit- Heimatstadt Linyi aufmerk- zen, „weiße“ Restaurants sam gemacht. Chen wurde zu durfte sie nicht betreten. vier Jahren und drei Monaten Doch die schwarze High So- Gefängnis verurteilt, „völlig ciety ging in ihrem Haus ein gesetzwidrig“, wie Li sagt. und aus. Die Jazz-Legende Nicht mit rechten Dingen Nat King Cole kam zu ihren ging es auch im Prozess ge- Partys, auch den Bürgerrecht- gen den Bürgerrechtler Hu ler Martin Luther King kann- Jia zu, den ein Pekinger Ge- te sie gut. Sie gründete einen richt für dreieinhalb Jahre Club für schwarze Mädchen hinter Gitter brachte. Vertei- und brachte Analphabeten diger Li, Absolvent der re- das Lesen bei. Es dauerte fast nommierten Akademie für bis zu ihrem Rentenalter, bis Sozialwissenschaften, und sei- die Rassentrennung endlich ne Kollegen versuchten ver- abgeschafft wurde. Nun will gebens, vor Gericht zu argu- sie unbedingt persönlich zu mentieren und zu plädieren – Obamas Amtseinführung in immer wieder schnitt ihnen Washington kommen. „Ich der Richter das Wort ab oder werde dort sein“, sagt sie,

erklärte Einwände für „irrele- / REUTERS ENRIQUE DE LA OSA und sie fragt sich schon: „Was vant“. Castro ziehe ich bloß an?“

der spiegel 1/2009 95 Ausland

Touristenziel Kapstadt: Kaum irgendwo auf der Welt ist der Unterschied zwischen Arm und Reich größer

SÜDAFRIKA Ein Land als Beute Jacob Zuma will im Frühjahr Staatspräsident werden. Doch sein Afrikanischer Nationalkongress, der seit fast 15 Jahren in Pretoria regiert, gilt inzwischen als selbstgefällig und korrupt. Jetzt bedroht eine Gruppe von Dissidenten die Monopolstellung der alten Anti-Apartheid-Partei.

er Kandidat ist da, und das Fuß- zeigen.“ Todesstrafe? „Wenn eine Mehr- zenloser Populismus, rustikale Leutselig- ballstadion von Langa in Kapstadt heit dafür ist – warum nicht?“ Verwahrlos- keit, Machtinstinkt. Dist gut gefüllt. Vor der Arena liegt te Kinder? „Wenn die Jugend noch den Den hatte er zuletzt Ende September die älteste Wellblechsiedlung, dahinter die Respekt hätte, den mir meine Eltern bei- unter Beweis gestellt, als er Mbeki, seinen größte Müllhalde der Stadt. gebracht haben, hätten wir keine Straßen- Vorgänger beim ANC, ins politische Aus Es ist Sonntagmittag, und immerhin: Auf kinder und keine Kriminalität.“ und Kgalema Motlanthe, einen profillosen die Organisation der Partei ist noch Ver- Jacob Zuma, 66, hetzt durchs Land. Er Kaderpolitiker, übergangsweise ins Amt lass. Die Busse sind pünktlich, Trans- schüttelt Hände, klopft an Türen in den des Staatspräsidenten beförderte. parente und T-Shirts rechtzeitig ausge- Townships, er trifft Wirtschaftsleute, Indu- Bis dahin lief es gut für Zuma, sein Auf- teilt, Vorredner haben die Stimmung auf strielle, Verlagsmanager. Seit einem Jahr ist stieg schien unaufhaltsam. Ein Richter hat- Temperatur gebracht, und aus den Laut- er Präsident der Regierungspartei ANC, te eine Korruptionsklage gegen ihn für sprechern plärrt der Kampfgesang der im kommenden Frühjahr will er Staats- nichtig erklärt, die Gerüchte über seine ruhmreichen Kameraden: „Bringt mir oberhaupt werden. Und dann erneut eine Beteiligung an einem Waffendeal waren mein Maschinengewehr.“ Es ist die Wahl- Wende im Land einleiten. verstummt. Und es sah so aus, als habe er kampfhymne des Kandidaten Jacob Zuma. Zuma will Südafrika das zweite Mal be- auch andere skandalöse Auftritte vor Ge- Im Stadion von Langa ist die Welt noch freien, aber diesmal geht es um die Folgen richt unbeschadet überstanden. in Ordnung, Zumas Welt. Es gibt Schwarz der neunjährigen Amtszeit von Thabo Da war etwa der Vorwurf, er habe einst und Weiß, Gute und Böse und griffige Lö- Mbeki, einem Mann, der viel versprochen eine Frau vergewaltigt – gegen den er sich sungen: horrende Kriminalität? „Die Re- und nicht ganz so viel gehalten hat. Zumas mit dem Hinweis verteidigte, als stolzer gierung muss den Verbrechern die Faust Rezept auf dem Weg an die Spitze: gren- Zulu könne er keine Frau abweisen. Gegen

96 der spiegel 1/2009 Wahlkämpfer Zuma Ein stolzer Zulu kann keine Frau abweisen

der Kommunisten, er will der Wirtschaft entgegenkommen, gleichzeitig verspricht er den Armen bessere Zeiten. Aber er denkt in Freund-Feind-Kategorien. Beim Parteitag im Dezember 2007 brüll- ten Zuma-Getreue die Mbeki-Anhänger nieder. Kaum war Zuma gekrönt, verloren Hunderte von Mbeki-Leuten ihre Jobs und die Plätze auf den Wahllisten. In die Rolle des verbalen Schlagetot schlüpfte Julius Ma- lema, Chef der ANC-Jugendliga. „Wir sind vorbereitet, für Zuma zu töten“, rief er auf einer Kundgebung. Es war nicht die einzige Entgleisung des Feuerkopfs, der sich nicht bremsen muss, weil sein Vorbild ebenfalls kaum Zurückhaltung übt. Zuma diffamiert die politische Konkurrenz gern schon mal als „Hunde“, Mbeki bezeichnete er kurz vor dessen Rücktritt als „tote Schlange“. Diese Sprache, diese Arroganz kehrt sich jetzt gegen die Partei Nelson Mande- las. Die Südafrikaner wollen keine Schlag- worte mehr, sondern Lösungen für die dringendsten Probleme, Strategien gegen Armut und Kriminalität. Der ANC hat große Verdienste im Kampf gegen die Dik- tatur der Weißen, aber er hat sich das Land auch zur Beute gemacht. Wer sich ein vom Staat finanziertes

RIPANI MASSIMO / BILDAGENTUR HUBER (L.); / BILDAGENTUR MASSIMO RIPANI / AFP JANTILAL (R.) RAJESH Häuschen wünscht, kommt an einem ANC-Apparatschik nicht vorbei. Wer von die Gefahr einer HIV-Infektion habe er sich Südafrika der Landreform profitieren will, hat es mit geschützt, indem er gleich nach dem Sex Offiziellen aus der Partei zu tun. 30000 unter die Dusche gegangen sei. Zuma be- Bevölkerung ...... 48,5 Mio. Beamte müssen sich derzeit verantworten, streitet diese Aussage heute. All diese Ka- Pro-Kopf-Einkommen im Monat weil sie bei der Zuteilung der staatlichen priolen hatten seinen Aufstieg nicht ver- Häuser mitverdient haben sollen. Gerade hindern können. Seit September aber steht der ärmsten zehn Prozent ...... 103 Euro erst wurde Mnyamezeli Booi, der auf es nicht mehr so gut um den Kandidaten. der reichsten zehn Prozent ...... 9844 Euro Staatskosten Freunde übernachten und im Führende ANC-Leute, darunter Mbekis Flugzeug reisen ließ, zum Fraktionschef Arbeitslosigkeit (offiziell) Verteidigungsminister Mosiuoa Lekota, 60, ernannt. Gegen den ehemaligen Premier und der frühere Premier des Großraums in der weißen Bevölkerung ...... 3,8% der Limpopo-Provinz, Ngoako Ramatlho- Johannesburg und Pretoria, Mbhazima Shi- di, wird ermittelt, weil er umgerechnet in der schwarzen Bevölkerung ...... 26,8% lowa, 50, haben sich losgesagt von Zumas 370000 Euro unterschlagen haben soll. ANC und eine Partei der Abtrünnigen ge- Kriminalität Fälle je 100000 Einwohner In den halbstaatlichen Sender SABC re- gründet: „Cope“ (Congress of the people). giert die ANC-Führung hinein, als wäre er Mord und Totschlag...... 38–40 Cope wird nun zum Sammelbecken der die PR-Abteilung der Partei. Es gibt ehe- Unzufriedenen, jener Leute, die mit der zum Vergleich: Deutschland...... 3 malige ANC-Spitzenleute wie Tokyo Selbstgefälligkeit des ANC nicht mehr zu- Raubüberfälle ...... 136 Sexwale und Cyril Ramaphosa, die millio- rechtkommen. Und weil der Volkskongress zum Vergleich: Deutschland ...... 64 nenschwere Vermögen angehäuft haben. nicht im Verdacht steht, eine Partei der Stand: 2007 Als ehrbare Kaufleute gelten sie nicht. Weißen zu sein, könnte es ihm gelingen, „Die Parasiten von heute sind oft die Hel- die Stellung des ANC zu schwächen. den von einst“, sagt die Literatur-Nobel- AFRIKA Ganz Afrika schaut nach Süden, wenn SIMBABWE preisträgerin Nadine Gordimer. im März oder April 2009 am Kap gewählt Kaum irgendwo auf der Welt ist der Un- wird. Südafrika hat die stärkste Ökonomie terschied zwischen Arm und Reich größer des Kontinents, es hat die Apartheid eini- BOTSWANA MO- als in Südafrika. Mehr als 18000 Morde jähr- SAM- germaßen gewaltfrei überwunden, und der Pretoria lich sichern in den entsprechenden Rankings 97 Jahre alte ANC, die älteste Partei des BIK einen zuverlässigen Spitzenplatz – „Killing Kontinents, gilt noch immer als Vorbild. NAMIBIA Johannesburg SWASI- field“ nennt sogar der Sicherheitsminister Wenn am Kap etwas schiefläuft, so fürch- LAND sein Land. Die inoffizielle Arbeitslosigkeit ten viele, gerät das ganze südliche Afrika rangiert bei über 30 Prozent, die Lebenser- LESOTHO in Turbulenzen. wartung liegt bei 49 Jahren, deutlich unter Jacob Zuma ist einen langen Weg ge- dem gesamtafrikanischen Durchschnitt. Die SÜDAFRIKA gangen, seit er sich mit 17 Jahren dem HIV-Verbreitung liegt weit darüber. ANC anschloss. Er gilt als links, er hat die Kapstadt 500 km 2007 glaubten noch 44 Prozent der Süd- Unterstützung der Gewerkschaften und afrikaner an eine bessere wirtschaftliche

der spiegel 1/2009 97 Zuma sei der Letzte, der diese neuen Werte vertreten könnte. Verryn hat ihm 2004 einen Auftritt in seiner Kirche unter- sagt: „Es gibt einen latenten Rassismus, und Zuma fördert ihn. Ich kann die, die das Land verlassen, gut verstehen.“ Hout Bay ist eines der besseren Viertel von Kapstadt. Die Investmentbankerin Lara Ellis, 36, lebt hier, gemeinsam mit ihrem Mann, einem ehemaligen Berufssol-

FOTOS: TOBY SELANDER TOBY FOTOS: daten, der für den ANC in Townships ge- Architekt Holmes, Dissident Shilowa: Tiefe Ernüchterung arbeitet hat. Zwei Kinder, Garten, Pool, Hunde – es sieht nach einem sorgenfreien Leben aus. Ellis gehört zu jener aufgeklärten Schicht von Weißen, die einmal große Hoffnungen in den ANC setzten. Die sich von Nelson Mandela mitreißen ließen – und dann bitter enttäuscht worden sind. Jetzt sitzt sie auf gepackten Koffern. „Der ANC wollte die Einheit des Landes“, sagt Ellis. „Und was passiert? Genau das Ge- genteil.“ Von Zuma erwarte sie gar nichts. Ihr sei rätselhaft, wie der überhaupt ANC- Präsident werden konnte. Vor allem aber macht ihr die mangelnde Sicherheit zu schaffen. Das war der Grund, warum sie mit ihrem Mann bereits von Jo- hannesburg nach Kapstadt umgezogen ist. Aber auch in Hout Bay, so sagt sie, seien regelmäßig Schüsse zu hören. Und seit vor einigen Monaten ein Einbrecher vor der Glasveranda im Wohnzimmer stand, will sie nur noch weg: „Ich habe es so satt.“

SIPHIWE SIBEKO / REUTERS SIPHIWE SIBEKO Auch der preisgekrönte weiße Karika- Krawalle gegen Ausländer bei Johannesburg (im Mai 2008): „Latenter Rassismus“ turist Jonathan Shapiro hat mit dem ANC abgeschlossen. Während des Apartheid- Zukunft innerhalb von zwei Jahren, 2008 und die eigenen Bafana-Kicker haben we- Regimes unterstützte er den Befreiungs- sind es nur noch 26 Prozent. Gesund- nig Chancen, die Vorrunde zu überstehen. kampf. Doch als er Anfang September eine heitssystem, Kriminalität, Bildungssystem, Aber Jacob Zuma, der Kandidat, tut so, Karikatur veröffentlichte, auf der zu sehen Landreform – bei keiner dieser Herausfor- als ob ihn das alles wenig anginge. Er tanzt war, wie die Chefs von Gewerkschaften, derungen vermittelt die Regierung den Ein- im Stadion von Langa, und seine Anhänger Kommunisten und ANC-Jugendliga Jus- druck, dass sie die Lage im Griff hat. jubeln ihm zu. „Wir sind die älteste Partei titia wie zur Vergewaltigung festhalten und Auch beim Thema Fußball-Weltmeister- im Land. Wir haben Spitzenleute, und Zuma mit geöffneter Hose vor ihr steht, schaft 2010, die zunächst als Wachstums- wir haben Helden. Und wir hatten nicht erfuhr Shapiro, wie es die Parteikader mit projekt gefeiert wurde, herrscht tiefe wenige in unseren Reihen, die für die Frei- der Toleranz halten. Ernüchterung. Zwar gebe es keinen ande- heit gestorben sind.“ Die Vergangenheit Die Zeichnung war eine Anspielung auf ren Ausrichter und „keinen Plan B“, wie ist das Letzte, was der ANC noch zu bie- den massiven Druck, den Zumas Helfer Fifa-Chef Sepp Blatter dieser Tage erneut ten hat. auf die Justiz ausübten, als ihm im Sommer versicherte, auch die Stadien würden wohl In Johannesburg downtown, dort, wo ein Prozess gemacht werden sollte. Tage- rechtzeitig fertig. Doch die Preise sind ex- sich Weiße kaum noch hintrauen, hat lang war Shapiros Karikatur Thema Num- plodiert, die Bauunternehmen diktieren Methodisten-Bischof Paul Verryn seine mer eins im Land. „Er soll in der Hölle die Spielregeln, die Kosten drücken auf Kirche. Seit elf Jahren ist er dort, in einem verrotten“, riefen Parteileute auf öffent- Haushalte und Stimmung. unscheinbaren Hochhaus, eine Anlaufstelle lichen Veranstaltungen. „Es kam schnell Der Mönchengladbacher Robert Hol- für Flüchtlinge, Arbeitslose, Kranke. Sie und brutal“, sagt Shapiro, „ich habe so et- mes, 34, organisiert für das deutsche Ar- übernachten in der Kirchenhalle, sie kam- was noch nicht erlebt.“ Zuma hat ihn jetzt chitektenbüro gmp den Stadionbau in Kap- pieren auf den Fluren, es riecht nach auf etwa eine halbe Million Euro verklagt. stadt. 68000 Zuschauer werden dort Platz Schweiß und manchmal auch nach Urin. Ibuyisuue Swartbooi würde schon sehr haben. Aber was wird sein, wenn das Vier- „Die Politiker reden über Armut“, sagt viel weniger Geld helfen. Sie ist Lehrerin Wochen-Spektakel vorüber ist und die Be- Verryn, „aber sie haben keine Vorstellung an einer Grundschule im Kapstadter Ar- triebskosten auf dem Budget lasten? von der Verzweiflung, die hier jeden Tag menviertel Khayelitsha. 1000 Schüler, „Braucht Südafrika überhaupt solche hereinkommt.“ Gerade hat er sich per Te- große Klassen, kleine Räume – und ihre Stadien?“, fragt nicht nur Holmes. In Kap- lefon für einen simbabwischen Flüchtling Schule gehört noch zu den besseren in stadt und Johannesburg könnte man sich eingesetzt, der in die Mühlen der Verwal- Khayelitsha: Backsteingebäude und in den immerhin große Konzertveranstaltungen tung geraten ist. Es gebe bei den einfachen Klassenzimmern Tafeln, Bänke und Stüh- vorstellen. Aber in Port Elizabeth oder in Leuten „eine blinde Gefolgschaft für den le, das ist nicht schlecht für ein Township. Durban? Ein Sommermärchen wie in ANC“, sagt Verryn, „aber es gibt auch ein Und doch fehlt es am Elementarsten. Deutschland ist 2010 nicht zu erwarten: großes Bedürfnis nach neuen politischen Viele Kinder steigen morgens hungrig Gespielt wird im südafrikanischen Winter, Werten“. aus dem Bus und müssen erst einmal Früh-

98 der spiegel 1/2009 Ausland stück bekommen. „Wenn wir schreiben, haben viele keine Stifte“, sagt Swartbooi, „und für 40 Schüler gibt es nur 16 Bücher.“ Entsprechend sind die Lernergebnisse. Nicht einmal 30 Prozent der Grundschüler schaffen den Primarschulabschluss. „Ich hatte zu Apartheid-Zeiten eine viel besse- re Bildung“, sagt Swartbooi. Die mit dem ANC Unzufriedenen sam- meln sich um den früheren Verteidigungs- minister Mosiuoa Lekota und Ex-Provinz- Premier Shilowa. Sie sind es, die „Cope“ aus der Taufe gehoben haben, sie besitzen unter den Intellektuellen, den Städtern und im Mittelstand viele Sympathisanten. Rund 430000 Mitglieder wollen sie seit Ok- tober gewonnen haben. Nachzuprüfen ist die Zahl nicht, aber sie stürzt den ANC in eine Krise, wie er sie noch nicht erlebt hat. „Die Genossen des ANC waren nur noch auf den eigenen Vorteil bedacht“, sagt Nyameko Pityana, viele Jahre lang Mitglied der südafrikanischen Menschen- rechtskommission und Vizekanzler der Universität Pretoria. Vom Anhänger des ANC ist er zu dessen Kritiker geworden, und wohl deshalb taxiert er das Wähler- potential von Cope auf gut 20 Prozent. Das ist eine Zahl, die den ANC unter die 50-Prozent-Grenze drücken könnte, und das wäre der größte anzunehmende Unfall für die Traditionspartei. „Wir brauchen Leute an der Spitze, die moralische Glaub- würdigkeit mitbringen“, sagt Pityana. Ob die Cope-Leute dazu taugen? Einzug der Rebellen Castro (M.), Matos (r.) in die Hauptstadt, 1959: „Die Revolution in eine Mbhazima Shilowa, ein massiger Typ mit breitem Gesicht, hat sich in einen eierschalfarbenen Anzug gezwängt, er KUBA trägt dazu ein rosa Hemd. Mann des Volkes wird man mit solch feinem Outfit nicht. Für Shilowa jedoch spricht, dass es Nächstes Jahr in Havanna gegen ihn, wie auch gegen Lekota, aktuell keine Bestechungs- und Bereicherungs- Vor 50 Jahren feierten sie die Revolution – ein Rebellenführer, vorwürfe gibt. Das ist selten bei Spitzen- leuten des ANC. ein Journalistensohn und ein Kind deutscher Einwanderer. Ansonsten ist die programmatische Aus- Weil ihre Hoffnungen trogen, kehrten sie der Insel den Rücken. schau eher vage: „Wir sind eine Partei mit Aber sie wollen zurück, nach Fidel Castros Tod. egalitärem Ansatz“, eine sozialdemokrati- sche, die auf Wachstum setze und die Ar- as Bild ging um die Welt: Fidel Lomnitz, 18, Sohn eines Unternehmers, mut bekämpfe, behauptet Cope. Der Kon- Castro, siegreicher Anführer der der aus Deutschland eingewandert ist, und gress wolle den Mittelstand, auch die DRebellenarmee, steht auf einem der Gymnasiast Carlos Alberto Montaner, Weißen, ansprechen. Konkret wird Shilowa offenen Geländewagen. Zur Linken hat er 15, Sohn eines Journalisten, der – trotz nur, wenn es um den ANC geht. Der habe den Kommandeur der Neunten Kolonne Zensur – in seinen Artikeln die Ideen des „seine Prinzipien verloren“, sagt er. Und der Aufständischen postiert, mit schussbe- jungen Anwalts Castro verteidigt hat. Ma- wie Thabo Mbeki behandelt wurde – „das reiter Maschinenpistole. Huber Matos soll tos, Lomnitz und Montaner kennen sich war ein Putsch. Er wurde abserviert“. ein Attentat während der Einfahrt nach nicht. Wie Castro aber bejubeln alle drei Die Programmatik mag unklar sein, die Havanna verhindern. den Sieg der Revolution. Inszenierung jedoch ist brillant. Alle zwei Drei Stunden lang bahnt sich die Kara- 50 Jahre später ist von dieser Euphorie bis drei Tage präsentiert Cope einen wane der bärtigen Revolutionäre am 8. Ja- nichts geblieben. neuen prominenten ANC-Überläufer, und nuar 1959 den Weg durch die Menschen- Sein früherer Kampfgefährte Fidel habe dann gibt es neue Schlagzeilen. Der ANC massen der Hauptstadt. „Wir haben den die Revolution in eine „Prostituierte ver- aber reagiert nach dem üblichen Muster: Frieden erobert“, ruft Fidel, als er schließ- wandelt“, sagt Ex-Guerillero Matos heute. Er beordert seine Mitglieder zu Cope-Ter- lich auf der Tribüne in der Columbia- Er ist inzwischen 90 und sitzt in seinem minen und sprengt die Veranstaltungen. Kaserne steht und sich eine abgerichtete bescheidenen Haus in South West Miami, Auch ein Mitarbeiter Lekotas wurde weiße Taube auf seine Schulter setzt. Eine USA – einer von drei Millionen Kubanern, jüngst von Unbekannten verprügelt und Million Menschen hören ihm zu, trunken die in aller Welt verstreut sind. Ob es zu mit dem Hinweis nach Hause geschickt: vor Freude und vom Rum. diesem Jahrestag etwas zu feiern gebe? „Sag deinem Chef, er ist der Nächste.“ Irgendwo in der Menge feiern zwei „Ja“, sagt Matos: „Fidel ist nur noch ein Horand Knaup Jugendliche mit: der Jurastudent Federico lebendiger Leichnam. Ich werde noch mit-

100 der spiegel 1/2009 zeug bestiegen, das ihn in die Dominika- nische Republik brachte. Federico Lomnitz, der Sohn deutscher Einwanderer aus Berlin, war zu der Zeit Student im ersten Semester. Er hatte sich in dieser Nacht entschieden, nicht zu Hause zu feiern, im vornehmen Viertel Kohly mit Blick auf die Bucht von Havanna, sondern mit seinen Freunden im noblen Biltmore- Club. Oberschüler Carlos Alberto Montaner war auf keine der öffentlichen Partys ge- gangen. Castros Untergrundbewegung

JENNIFER SENS / WPN / AGENTUR FOCUSJENNIFER SENS / WPN AGENTUR „26. Juli“ hatte die Parole ausgegeben, dass Exil-Aktivist Matos (2006) Feiern in den Casinos und Luxushotels un- „Die Werte der Republik predigen“ patriotisch sei. Montaner ließ das Jahr im Elternhaus seiner Verlobten Linda aus- Jahre zuvor war Castro mit 81 Mitstreitern klingen. Er kam gerade nach Hause zu- auf der Insel gelandet, 200 Kilometer von rück, als bei der Journalistenfamilie das Santiago entfernt. Telefon läutete: „Batista ist weg“, hörte er. Nur kurz legt sich Matos in jener Neu- Fidel Castro hatte in den Jahren zuvor jahrsnacht ins Bett. Er schien vor dem Ziel. oft bei den Montaners verkehrt, einmal Für seinen „patriotischen Traum“ hatte er hatte er sogar mit Frau Mirta und seinem seine Frau und die vier Kinder ins Exil kleinen Sohn Fidelito bei ihnen logiert. Da nach Costa Rica geschickt, seinen Beruf war Carlos Alberto selbst ein kleiner Jun- aufgegeben und die Reisplantage im Stich ge gewesen. Er sieht Fidel Castro noch vor gelassen. sich: wie er Zigarre raucht und viel Milch- Grundschullehrer war er gewesen, in kaffee trinkt. der Kleinstadt Manzanillo in der Provinz Der 15-Jährige fühlt sich am Neujahrs- Oriente, und Mitglied der nationalistisch- morgen 1959 glücklich wie nie zuvor. „Es sozialistischen Orthodoxen Partei, als der war eine Freude, die ich mit meiner Fami- frühere Präsident Fulgencio Batista kurz lie, den Nachbarn und meinen Freunden vor der Wahl 1952 geputscht hatte. Zur teilte.“ Mit dem Sieg der Revolutionäre,

POPPERFOTO Verteidigung der „demokratischen Idea- so dachte der Junge, würde auf Kuba eine Prostituierte verwandelt“ le“, so Matos heute, „verwandelte ich mich Ära der Gerechtigkeit beginnen. Allein damals in einen Rebellen“. „Eifersucht“ plagte ihn – weil er nicht mit helfen können, dass die Kubaner wieder Im März 1958 brachte er eine Ladung den Älteren hatte kämpfen können. ein freies Volk werden.“ Waffen von Unterstützern aus Costa Rica „Monströs frühreif“ nennt Montaner Federico Lomnitz, inzwischen 68 und zu Fidel Castro in die Berge der Sierra sich heute und blickt aus seinem Penthouse Lebensmittelexporteur, lebt jetzt im deut- Maestra und schloss sich dort der Guerilla in Miami hinaus auf die Wasserstraße von schen Bad Homburg. Er wartet zwischen an. Ende August brach er mit 129 Mann Florida. Aber seine Mitschüler seien ge- Regalen, die mit Kekstüten, Bierflaschen nach Santiago auf; seit Oktober nun bela- nauso verrückt gewesen wie er. Am Mor- und Sauerkrautdosen gefüllt sind, eben- gerten sie die Stadt und deren 5000 Mann gen des 1. Januar fuhr er mit seinem älteren falls auf den Tod des Diktators. Wenn starke Garnison. Bruder und Freunden durch die Stadt. Am Castro dahingeschieden ist, will er seine Noch heute erinnert sich der zerbrech- Arm trugen sie rot-schwarze Armbinden deutschen Spezialitäten endlich auch auf lich wirkende Mann mit den blauen Augen mit dem Schriftzug „M-26-7“, die sie als die vom Sozialismus ausgehungerte Insel und dem weißen Schnurrbart an jedes De- Unterstützer von Castros Bewegung „Mo- schicken. tail. „Am Neujahrstag, gegen fünf Uhr vimiento 26 de Julio“ auswiesen. Sie woll- Auch Carlos Alberto Montaner, heute früh, haben mich meine Leute geweckt. ten in den Häusern der ehemaligen Batista- 65 Jahre alt, Schriftsteller und in der Exil- Das staatliche Radio blieb stumm. Dann Anhänger Waffen konfiszieren und so ei- gemeinde von Miami lange als Führer erfuhren wir, dass Batista abgedankt hat- nen Gegenputsch verhindern. einer Exilregierung gehandelt, hält sich te.“ Um zwei Uhr morgens hatte der Dik- Auch in Kohly, in der Familie von Fede- für jenen Tag bereit, „da Fidel nicht mehr tator mit den engsten Vertrauten ein Flug- rico Lomnitz, war man zufrieden, dass „die ist“. Er will der nächsten Politikergene- ration als Berater dienen. Dann, wenn er wie Matos und Lomnitz wieder in Ha- vanna ist. Castro habe sie und alle Kubaner betro- gen, sagen die drei. Damals, vor einem hal- ben Jahrhundert – zu jener Jahreswende, die sich Matos, Lomnitz und Montaner tief ins Gedächtnis eingebrannt hat. Es war der 31. Dezember 1958, als Huber Matos von einer Aufständischen-Einheit zur nächsten hastete, um an die 1000 Kämpfer in Stellung zu bringen. Fidel Castro hatte dem Comandante den Auf-

trag erteilt, die Karibikstadt Santiago de JOCHEN GÜNTHER (R.) Cuba zu erobern; Termin: 1. Januar. Zwei Lomnitz 1959, heute: „Wir sahen ihn als Befreier“

der spiegel 1/2009 101 Ausland korrupte Bagage“ endlich verjagt worden hätte. Im ganzen Land gab es standrecht- daraufhin, Matos standrechtlich zu er- war. Der Homburger Kaufmann hat diesen liche Erschießungen. schießen. Im Dezember, im ersten Schau- Januar 1959 in seiner Geburtsstadt nicht In der Zeitung las er, wie brutal die So- prozess des Castro-Regimes, wurde er zu vergessen. Sein Vater, Agraringenieur aus wjetunion drei Jahre zuvor den Aufstand 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Revo- sozialdemokratischer Familie, war Ende in Ungarn niedergeschlagen hatte. Dass lutionsführer selbst trat als Hauptzeuge auf der dreißiger Jahre auf der Flucht vor dem auch Castros Revolution bald in Richtung und warf dem Helden von Santiago Verrat, Nazi-Regime nach Kuba ausgewandert. Marxismus schwenkte, gab den Ausschlag konterrevolutionäre Umtriebe und Sabo- Dort hatte er eine Fabrik für Futtermittel für den Bruch. Montaner schloss sich der tage der Agrarreform vor. Matos saß die aufgebaut. Mit beachtlichem Erfolg: Fede- Bewegung zur „Demokratischen Rettung Strafe bis zum letzten Tag ab, erst im Ok- rico bekam zum Abitur einen blitzenden der Revolution“ an, die in der Rechts- tober 1979 reiste er mit Hilfe der Regie- Studebaker geschenkt. fakultät von Havanna entstanden war. Von rung von Costa Rica aus. Die Geschäftsleute „hatten den Kanal Washington unterstützt, half sie in den Für Lomnitz war der Abschied von voll“ von den erpresserischen Methoden Bergen eine nun gegen Castro gerichtete Kuba weniger dramatisch. Als Castro im der Batista-Beamten, erinnert sich Lom- Guerilla aufzurüsten. Mai 1959 mit der Agrarreform begann, nitz an die damalige Stimmung in Havan- Montaner und seine Freunde richteten war sein Vater „durchaus einverstan- na. Den Zoll, die Behörden, die Polizisten, wenig aus, schon Ende 1960 flogen sie auf, den“ mit dem Plan der Regierung, brach- alle habe man schmieren müssen, sonst der 17-Jährige wurde zu 25 Jahren Haft ver- liegendes Land aufzukaufen und bestel- hätten die Staatsdiener kein Papier unter- urteilt. Er wurde in ein Jugendgefängnis len zu lassen. Nur: Dazu kam es nie. Die schrieben und keinen Stempel gezückt. überstellt, brach dort aus und hielt sich ein von der Firma Lomnitz und anderen Un- „Wir hießen die Neuen willkommen, wir halbes Jahr lang in der Botschaft von Ve- ternehmern gestifteten Landmaschinen verrosteten. Mitte 1960 verstaatlichte das Regime zunächst alle US-Unternehmen, dann ausländische Banken. „Das Geld, das wir dort deponiert hatten, und auch die Aktien waren dahin“, so Lomnitz. Pri- vatvermögen wurden limitiert, alle Immo- bilien mit Ausnahme der Wohnung kon- fisziert. Federico sollte in Deutschland studie- ren, bis sich das Chaos in Havanna lichten würde. Doch auch die Eltern verließen bald das Land, mit wenigen Koffern nur. Ihr Haus in Kohly wurde beschlagnahmt. In einem Pappkarton hat der Kaufmann die Unterlagen über das zerstörte Lebens- werk seines Vaters aufbewahrt. Auf sechs Millionen Euro, sagt er, beliefen sich seine Ansprüche an Kuba. „Ich kehre nicht nach Havanna zurück, solange die Herrschaften dort noch am Leben sind.“ Montaner hofft, den Lebensabend zu- sammen mit seiner Frau auf Kuba zu ver- bringen. 1990 gründete er in Miami die Partei „Unión Liberal Cubana“, mit der er

MAGGIE STEBER (R.) STEBER MAGGIE zum „friedlichen Übergang“ in seiner Hei- Montaner mit Verlobter Linda 1958, heute: „Ich war sicher, schnell wieder zurückzukehren“ mat beitragen will. Der stehe, so glaubt er, unmittelbar bevor. Nach Fidel Castros Tod sahen Fidel als Befreier an“, so Lomnitz. nezuela versteckt. Am 8. September 1961 würden die Kubaner, enttäuscht von ihren Auch im feinen Viertel Kohly herrschte am wurde er ausgeflogen. „Ich war sicher, Führern, zuallererst den Kommunismus in 1. Januar 1959 Volksfeststimmung. schnell wieder in ein freies Kuba zurückzu- Frage stellen. Denn der habe das einst Am anderen Ende der Insel überschlu- kehren“, bekennt der Schriftsteller heute. drittreichste Land Lateinamerikas ökono- gen sich zu dieser Zeit die Ereignisse. Auch Matos, den Fidel beauftragt hatte, misch abstürzen lassen. Comandante Matos gelang es, die Offizie- die Zuckerprovinz Camagüey zu verwal- Und Huber Matos? Zwar ist der schwer re von Batistas Armee zu einem Treffen ten, fand sich nicht damit ab, dass nun erkrankte Máximo Líder Castro noch im- mit Revolutionsführer Castro zu bewegen. Kommunisten wie Che Guevara und Raúl mer Chef der kommunistischen Einheits- Der überredete sie, nicht der Übergangs- Castro das Sagen hatten. Er gedenke nicht, partei und meldet sich weiter regelmäßig in junta zu dienen, sondern gemeinsam mit sein Versprechen von freien Wahlen ein- der Staatszeitung „Granma“ zu Wort – mit den Rebellen in Santiago einzuziehen. So zuhalten, hatte Fidel dem Vertrauten un- „Reflexionen“ über den Kurs des 50 Jah- geschah es, und schon am Abend ver- umwunden zu verstehen gegeben. re alten Regimes. Doch auch Matos ist sprach Fidel dem Volk vor dem Rathaus: Matos schrieb dem Máximo Líder im davon überzeugt, dass das „Ende der Ty- „Nie wieder Diktatur auf Kuba!“ Oktober 1959 einen Brief, in dem er um rannei“ nahe sei. Doch die Begeisterung nach dem späte- Entlassung bat. Er wolle wieder als Lehrer Wenn es so weit ist, will der alte ren Triumphzug in die Hauptstadt hielt nicht arbeiten. Er mahnte den früheren Freund, Mann auf die Insel zurückkehren und sei- lange an, die Hoffnungen auf Demokratie dass „die Revolution nur triumphieren nen Landsleuten „die moralischen Werte und Gerechtigkeit zerschlugen sich bald. wird, wenn sie auf ein geeintes Volk“ der Republik“ predigen, vielleicht schon Gymnasiast Montaner wurde Zeuge, zählen könne. Dazu aber müsse Castro die nächstes Jahr. Ein Jahrzehnt werde es wie ein Volksgericht den Direktor seiner Bedürfnisse der Kubaner erfüllen. nach dem Wechsel dauern, so glaubt er. Schule zu zehn Jahren Haft verurteilte – Dessen Bruder Raúl, inzwischen zum Aber dann sei Kuba zurück in der Norma- ohne dass der ein Verbrechen begangen Verteidigungsminister ernannt, verlangte lität. Helene Zuber

102 der spiegel 1/2009 Ausland

Wir waren Papst Von Alexander Smoltczyk

s ist still geworden um Benedikt XVI. Der Papst begegnet In den dreieinhalb Jahren seines Pontifikats hat Benedikt zen- einem nur noch selten. Wie jemand, der die Adresse ge- trale Stellen in der Kurie neu besetzt, und fast durchweg mit Leu- Ewechselt hat. Manchmal sieht man hübsche Bilder aus ten seines Vertrauens. Also meist Mitgliedern der Glaubenskon- Lourdes oder vom Petersplatz, Menschen, die jubelnd ihre Digi- gregation. Theologen, denen dogmatische Stimmigkeit wichtiger talkamera in die Höhe halten, um sich ein wenig Realpräsenz in sein muss als Neugier auf die Welt. ihr Leben zu pixeln. Fotogen ist er, der Alte, aber hört ihm noch Für viele Menschen mag eine Messe unerträglich sein, in der die jemand zu? Die prophezeite „Rückkehr der Religionen“ ist hier- Oblate dem Gläubigen in die Hand statt auf die Zunge gelegt wird. zulande jedenfalls ausgeblieben. Die Ratzinger-Bücher sind gele- Es ist die Aufgabe des Papstes, sich mittels Kongregationen und sen. Man hat ein wenig Weihrauch geschnuppert und mit dem Ge- Kommissionen zu diesen Fragen zu äußern und sie zu entschei- danken des Glaubens kokettiert. Doch jetzt haben wir, weiß Gott, den. Aber was geht das uns an? andere Sorgen als die Erbsünde. Da disputieren 30 hochgelehrte Herren in jahrelangen Sitzun- Papst Benedikt XVI. liegt die Reinheit der Lehre mehr am gen darüber, ob Hilarius von Poitiers (um 315 bis 367 nach Chris- Herzen als die Reinheit der Luft, und das ist auch sein gutes tus) möglicherweise das Problem der Vorhölle nicht voll verstan- Recht. Professor Dr. theol. Rat- den haben könnte. Sollen sie. Es zinger wollte nie Papst werden. ist ihr Job. Es gibt Leute, die sich Aber als alles Beten, dass dieser für die Labiallaute im mingre- Kelch an ihm vorübergehen mö- lischen Sprachgebiet begeistern. ge, nichts geholfen hatte, fügte er Aber muss es uns interessieren? sich in die Rolle: Hier stehe ich Im Vatikan liegt, praktisch fer- und kann nicht anders. Er sieht tiggestellt, eine neue Sozialenzy- sich nicht als Weltveränderer klika, in der es unter anderem um oder Globalmissionar. Er will die Globalisierung geht. Hier hät- das sein, was er am besten kann: te eine Weltkirche etwas zu sa- Kirchenlehrer. gen. Aber die Veröffentlichung Bei seinen mittwöchlichen Bi- wurde lange zurückgestellt. Und belmeditationen spricht er über zwar nicht, weil die Vatikanbank die „Parusie“, das endgültige als heilige Heuschrecke selbst Kommen, und meint damit nicht Hedgefonds oder Liechtenstein- den nächsten Börsen-Crash. Er Konten hätte. Sondern weil dem spricht über „die Ausgießungen Papst etwas anderes wichtiger

des Heiligen Geistes“ und nicht / AP TARANTINO ALESSANDRA war: Zuerst sollte seine Enzyklika über Konsumgutscheine. Der Papst Benedikt XVI. zum Glauben kommen. Papst stellt sich außerhalb der „Die Zeit der barocken Spektakel ist Nichts gegen die Kirchenväter. Aktualität. Das ist sein Ort, das Es kann nicht schaden, aus Neu- ist sein Programm. Er sagt bei vorbei. Es ist Zeit für Nüchternheit.“ gier bei Basilius von Caesarea den Massenaudienzen Sätze wie: nachzuschlagen. Aber es wäre „Auch wenn in dieser Auffassung die Sicht des Seins monistisch überraschend, dort Hinweise zur Rettung der Biodiversität, zu den ist, nimmt man an, dass das Sein als solches von Anfang an das Grenzen der Finanzmathematik oder zur Petrotyrannei zu finden. Böse und das Gute in sich trage.“ Das sind kluge Vorlesungen, Der Papst wehrt sich bei jeder Gelegenheit gegen die Herrschaft sorgfältiges Harken und Jäten im Weinberg der Begrifflichkeiten. des Relativismus. Aber ist die Diktatur des Prinzipiellen besser? Aber es dringt nicht durch. Es ist, als wende das Publikum sich ab In Italien liegt eine Frau, Eluana Englaro, seit über 16 Jahren von denen, die nur Trost spenden wollen und Gewissheiten. Als irreversibel im Koma, wird künstlich ernährt und muss weiter da- wolle es Vorschläge haben, keine Predigten. Es ist still geworden hinvegetieren. Ihr Vater möchte sie von dem Zustand erlösen, um unseren Papst. Und das ist auch gut so. wie sie selbst es sich gewünscht hätte, und bat die Ärzte, die Be- handlung einzustellen. Die Kirche spricht vom ersten Schritt zur enedikt XVI. ist angetreten mit der Aussage, Kirche solle Euthanasie. Mit dem gleichen Argument untersagte sie Pier- nicht nur als Zwang verstanden werden. Denn „aus einem giorgio Welby, mit Maschinen beatmet und ernährt, den Herzens- Bverzagten Arsch kommt niemals ein fröhlicher Furz“ – wie wunsch, die Stecker herauszuziehen. Als die Ärzte schließlich es ein Professorenkollege aus Wittenberg formuliert hätte. Aber bis- Welbys Wunsch erfüllten, verweigerte ihm der Ortspriester das lang gab es nur eine einzige Lockerung des Korsetts, und die be- christliche Begräbnis. glückte ausgerechnet die Traditionalisten. Gegen den Widerstand Im protestantisch ausgenüchterten Deutschland dagegen ist der allermeisten deutschen Bischöfe hat der Papst im Alleingang, der Arzt an den Willen des Patienten gebunden, nicht an den der „motu proprio“, die alte Messe nach dem „Missale Romanum“ von Kirche. Das ist vernünftig. Das ist ein Fortschritt und, Gott sei 1962 als Sonderform wieder zugelassen. Es darf lateinisch gemess- Dank, gegen die erklärte Lehre des Papstes. feiert werden, und auch das Karfreitagsgebet für die „treulosen Ju- Nach seiner gewagten Vorlesung in Regensburg hatte Benedikt den“ ist wieder möglich. Das Recht, natürlich anders zu sein, ha- die Chance, den Dialog mit der islamischen Welt voranzutreiben. ben nur die Regenwälder. Nicht die Homosexuellen. Das erklärte Aber er hat ihn nicht wirklich zur Chefsache gemacht, sondern an Benedikt XVI. kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe. den zuständigen Kardinal Jean-Louis Tauran delegiert. Und dort,

104 der spiegel 1/2009 im geologischen Geschiebe der Gremien, geht der Dialog seinen Klare Worte. Aber hier spricht kein Romantiker der Haus- kurialen Gang, es wird Treffen und Sitzungen geben und viel- wirtschaft, sondern ein der Welt zugewandter Praktiker. In jeder leicht, in einigen Jahren, sogar ein Papier. Das wird zeitge- Talkshow wird derzeit mit Büßer-und-Besserwisserblick, je nach- schichtlich so relevant sein wie einstmals das gemeinsame Grund- dem, an die „Moral“ appelliert. Der Münchner Erzbischof Rein- satzpapier von SPD und SED. Eine verpasste Gelegenheit. hard Marx hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Als ob es auf Moral ankäme. Die Banker sollen nur ihren Job richtig machen, ir waren Papst. Jetzt sind wir Merkel, Steinbrück, nüchtern, hanseatisch pfeffersäckig. Protestantisch. Es geht nicht Schmidt – nicht zufällig sind das allesamt Protestanten, um abstrakte Sittlichkeit, sondern um die Erfüllung der inner- Wknochentrockene Lutherlinge, denen überdies alles Ge- weltlichen Pflicht. Das Kapital muss „mündelsicher“ angelegt wabere, alles Ideengetränkte, Tröstliche zuwider ist. Nachdem alle werden. Es muss so gehaushaltet werden, dass die uns anver- Blasen geplatzt sind, die ideologischen wie die börsennotierten, trauten Generationen auch noch etwas davon haben. Nicht im ist die Zeit der Verantwortungsethiker gekommen. Schluss mit Geldverkehr ist das Heil zu finden und auch nicht in der Abkehr Karneval und Schluss mit lustig. Die Zeit der barocken Spektakel von der Welt. Es geht um das Heilen der Welt mit weltlichen Din- und großen Worte ist vorbei. Es ist Zeit für Nüchternheit. Für Bud- gen, mit Sachlichkeit, Nüchternheit, Vernunft. denbrooksche Kaufmannsethik. Fürs Handeln ohne vorherige Rückversicherung bei Augustinus. ie Aufklärung schlägt zurück gegen die „Rückkehr der Der Soziologe Max Weber hat vor gut hundert Jahren die Ent- Religionen“. Es ist keine Zeit, um über ihre ontologischen stehung des Kapitalismus aus dem Geist der protestantischen DBegründungen zu heideggern. Es geht um eine „Renais- Ethik erklärt. Vielleicht kommt jetzt die Zeit des anderen sance der Renaissance“, wie der Autor Mathias Greffrath es ge- deutschen Theologieprofessors, Martin Luther. Er ist den Deut- nannt hat, eine „windungsreiche Ablösung von religiösen Welt- schen das, was Konfuzius den Chinesen ist. Prediger ihrer Kardi- deutungen und unlegitimierter Herrschaft durch Wissenschaft naltugenden Pflichtgefühl, Strebsamkeit, Nüchtern- und Beschei- und Technik“ mittels Aufklärung und Demokratie. Miteinander denheit, all jener Eigenschaften also, die einem umso lobenswerter reden statt predigen, Vorschläge statt Prinzipien. Zumal die all- erscheinen, je weiter man sich von den Deutschen entfernt. seitige Ratlosigkeit demokratische, flache Hierarchien beschert. Luther also. Der Ossi aus Eis- „Wir sind zum wechselseitigen leben, die rote Klostersocke, wet- Gespräch geboren“, das war das terte seinerzeit nicht nur gegen Leitwort von Luthers Mitstreiter, den Ablass, diese hochspekulati- Philipp Melanchthon. ven Papiere fürs Jenseits. Schon Es gibt bereits Antworten und 1519 wütete er gegen Kreditderi- Ideen. Aber man erwartet sie vate, Leerverkäufe und zinstrun- nicht im Pressesaal des Heiligen kene Investmentfonds: „Wie soll- Stuhls. Wir brauchen weniger te es dem göttlichen Recht gemäß moralische Prinzipien als nütz- und mit rechten Dingen zugehen, liche Vorschläge. Die Zukunft ist dass ein Mann in so kurzer Zeit ungewisser, also spannender als so reich wird, dass er Könige und noch vor sechs Monaten. Die Rat- Kaiser auskaufen kann? Aber weil losigkeit ist gewachsen und mit sie es so weit gebracht haben, dass ihr die Neugier. Wer macht die die ganze Welt in Gefahr und mit besten Vorschläge? Ist John Verlust handeln muss, dieses Jahr Maynard Keynes noch ein toter verdienen, nächstes Jahr verlie- Hund oder schon wieder auf-

ren, sie aber immer und immer / DDP LOHNES THOMAS erstanden? Müssen, dürfen, kön- nur gewinnen und ihre Verluste Evangelischer Kirchentag (in Köln, 2007) nen wir Atomenergie wieder neu mit gesteigertem Gewinn ausglei- „Das Rigorose des Vatikans hat Charme. denken? Wie steht es mit der chen können – was Wunder, dass Stammzellforschung? Müssen, sie bald das Gut der ganzen Welt Aber sexy ist es nicht.“ dürfen, können wir uns Gentech- an sich reißen?“ nik leisten? Damals schon ging die Klage, „wie allenthalben eitel Schuld Von der römischen Kirche ist dazu wenig Hilfreiches zu hören. und kein Geld, alle Land und Städte mit Zinsen beschwert und Sie lebt in der babylonischen Gefangenschaft der Dogmen, und ausgewuchert sind“. Also brauchte es Regeln für die „Schalks- wenn sie sich zur Gegenwart äußert, dann oft zu kategorisch, um augen und Geizwänste“, Regeln für die Globalisierung, „dieses mitreden zu können. Stammzellforschung schlecht, Gentechnik große, wüste und weitläufige Kaufmannsgewerbe“: „Denn dein sowieso, Finanzkapitalismus irgendwie auch, Konsumismus böse, Verkaufen darf nicht eine Tätigkeit sein, die ohne Einschränkung Kommunismus ganz bitterböse. Was bleibt dann noch? deiner Macht und deinem Willen anheimgegeben ist ohne alle Das Rigorose und Altertümliche des Vatikans hat Charme. Aber Gesetze und Maßstäbe, als wärst du ein Gott … weil dein Ver- sexy ist es nicht mehr. Die Entwickler des Internets haben die Welt kaufen eine Tätigkeit ist, die dich in Beziehung zu deinem Nächs- jedenfalls gründlicher verändert als die letzten Päpste, und nicht ten setzt, muss sie durch dieses Gesetz und durch das Gewissen unbedingt zum Schlechteren. Joseph Schumpeter, Michel Foucault geordnet sein.“ und Niklas Luhmann haben natürlich mehr zur begrifflichen Zum Unheil des „Leveraging“ ist zu lesen: „Solche Betrüge- Klärung der Zustände beigetragen als alle Enzykliken und Kon- reien betreibt und muss betreiben, wer mehr auf Berg kauft, als zilstexte. Und auch fürs große Ganze bröckelt das Monopol. er bezahlen kann (zum Beispiel wenn einer kaum 200 Gulden be- Der Schriftsteller Ian McEwan hat von einer „neuen Meta- sitzt und wickelt Geschäfte ab über 500 oder 600 Gulden). Wenn physik“ der Wissenschaften geschrieben. Ein Gedankensystem, nun meine Schuldner nicht zahlen, kann ich auch nicht zahlen. das sich selbst ständig korrigiert, anpasst und in Frage stellt. Ohne Und so frisst das Unheil weiter, ein Verlust kommt zum anderen.“ heilige Texte und Dogmen: „Wir haben nun eine Schöpfungsge- Und für die damaligen Handelsgesellschaften, Vorläufer der schichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder Investmentbanken, forderte Luther ein Ende: „Lass es! Anders islamische und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein.“ geht es nicht. Sollen die Gesellschaften bleiben, müssen Recht und Moralische Urmeter stören da nur, weil sie sperrig im Weg lie- Redlichkeit untergehen. Sollen Recht und Redlichkeit bleiben, gen. Fürs Navigieren im Nebel der Gegenwart reicht das innere müssen die Gesellschaften abgeschafft werden.“ GPS völlig aus – das gute alte protestantische Gewissen. ™

der spiegel 1/2009 105 Ausland

MOSKAU Tequila aus dem Bauchnabel Global Village: Warum Bobby aus Nigeria in Moskau seine Seele verlor

ie Straße heißt „Prospekt des Aka- „Die meisten Frauen kommen ins Ka- er allein für die drei Freundinnen da. 2000 demiemitglieds Sacharow“, sie trägt pris, weil es hier guten und unkomplizier- Rubel kostet das, aber was ist aufregender Dden Namen eines ebenso promi- ten Sex gibt“, sagt Inna, eine 22-Jährige als ein dunkelhäutiger Gigolo? nenten wie ehrenwerten Dissidenten der mit Pagenschnitt. Sie sitzt mit Wiktorija, Bobby lässt die Hüften in Augenhöhe Sowjetzeit. Haus Nummer 14 passt deswe- einer blondgefärbten Sekretärin aus dem der drei Russinnen kreisen. Nadja steckt gen nicht so recht hierher. Innenministerium, und Nadja, der Assis- ihm zwei 100-Rubel-Scheine eine Hand- Nummer 14 beherbergt das „Kapris“, tentin eines Richters, an einem der vorde- breit unter den Bauchnabel. Sie fährt mit den edelsten aller Moskauer Clubs, die Da- ren Tische. ihren Fingern über seine Brust, dann fällt men vorbehalten sind. Ein Etablissement, Nadja trägt ein elegantes schwarzes die Fahne. Bobby ist jetzt nackt bis auf das 1000 Rubel Eintritt verlangt, 26 Euro, Kleid und kniehohe Lederstiefel. „Alltag einen Mini-Tanga. Er kniet zwischen Nad- und Cocktails wie „Goldene Brustwarze“, und Job in Moskau sind hart bis über die jas Beinen, die Köpfe der beiden sind so „Adrenalin“ oder „Vibrator“ verkauft, Grenze der Belastbarkeit hinaus“, sagt sie, nahe, dass die Nasen sich fast berühren. einen 23-Euro-Drink aus Baileys, Bana- „auch Frauen müssen mal entspannen.“ Vorn auf der Bühne wechseln sich Män- nenlikör und Rum. Wiktorija erklärt, sie wolle „endlich ma- ner in Matrosenuniform, Mechanikerkittel In dem sich Männer für Frauen aus- chen, was Männer ohnehin die ganze und schwarzem Anzug ab. Eine Gruppe ziehen und es jede Menge Gigolos gibt, Zeit tun“. von Studentinnen feiert den „Djewitsch- auch dunkelhäutige. Solche wie nik“, eine Art weiblichen Polter- Bobby. abend: Vor der Hochzeit gönnen Bobby ist 29, er kommt aus dem sie der Braut noch einen „Männer- nigerianischen Lagos. Er war sie- harem“, drei strippende Tänzer für ben, als sein Vater, ein Autohänd- 150 Euro. ler, starb, die Mutter blieb mit ihm Nebenan kommt Chico aus Nea- und drei weiteren Geschwistern pel von einem „Privattanz“ aus allein. Sie hatte Mühe, die Kinder dem Séparée zurück. Wie die meis- mit einem Kleiderladen durchzu- ten der Tänzer hier mag er seinen bringen, vor drei Jahren starb auch Job; Geld damit zu verdienen, von sie. Bobby, der Älteste, wurde Frauen begehrt zu werden, klingt daraufhin auf die Reise geschickt: wie ein Männertraum. Für Bobby Er sollte sein Glück in einem Land aber ist es inzwischen ein Alptraum. versuchen, in dem es so kalt ist, Er steht jetzt hinter der Kulisse, dass er selbst im Sommer manch- trocknet sich den Schweiß von der mal mit einer Wattejacke herum- Stirn und steigt in seine Jeans, die laufen muss. Verglichen mit Lagos, Augen sind müde. „Die Russinnen dem nach Fisch und Öl stinkenden fahren mich in ihren teuren Autos Moloch am Südatlantik, ist Moskau herum, aber ich bin nur ihr Spiel- aber das Paradies. zeug“, sagt er. Bobby fing ein Ingenieurstudium In seiner Heimat, so erklärt Bob- an und brach es nach einem Jahr by, seien Männer noch Männer und wieder ab. Die Geschwister in La- Frauen noch Frauen, das letzte

gos brauchten Geld, das Geld sollte YEVGENY KONDAKOV Wort habe immer der Mann. Un- er liefern, der Bruder im fernen Tänzer Bobby im „Kapris“: „Ich bin nur ein Spielzeug“ denkbar, dass sich ein Kerl dafür Moskau, jener Stadt, die inzwischen bezahlen lasse, eine Frau zu berüh- zum Bonanza des Ostens geworden ist. So Was der Club bietet, ist im „Crazy ren. Undenkbar, dass eine Frau sich einen jedenfalls erzählt man es sich daheim in Menu“ aufgelistet. Tequila aus dem Bauch- Typen kaufe wie Gemüse auf dem Markt. Afrika, und so kam Bobby in diesen Club. nabel schlürfen: 40 Euro; in einer Stretch- Er hat ein Kind mit einer Russin, heimisch Kapris bedeutet Laune oder Grille, was limousine mit einem Gigolo durchs nächt- geworden in Moskau ist er aber nicht. auf eine neue Spezies Moskauer Frauen liche Moskau fahren: 400 Euro; sich mit Wenn er einer Russin sage, sie solle ihm zielt. Auf solche, die es zu Geld gebracht einem der Tänzer zurückziehen: 800 Euro. Tee kochen, tue sie das nur, wenn er dar- haben und die nicht mehr abhängig sind „Ich fühle mich hier wie eine Königin, ich um bitte, klagt Bobby. „Und wenn ich mal von Russlands machohaften, aber im Grun- bekomme Komplimente im Fünf-Minuten- die Stimme hebe und etwas lauter werde, de verwöhnten und unselbständigen Män- Takt“, schwärmt Wiktorija. Anders als erklärt sie mir gleich, dass das so nicht nern. Die aufs alte sowjetische Rollen- draußen, in der Männerwelt. gehe.“ modell pfeifen, dem zufolge Frauen zwar in Nadja und ihre Freundinnen haben Das letzte Mal, als Bobby zu seinen den Weltraum fliegen, Straßen teeren und Bobby zum Striptease bestellt, den Jungen Geschwistern nach Nigeria flog, sei etwas Kinder erziehen durften, im öffentlichen aus Lagos. Bobby hat eben noch im Merkwürdiges passiert. „Ich konnte auf Leben aber die zweite Geige spielten. Die Scheinwerferlicht auf der Bühne getanzt, einmal nicht mehr laut werden gegen- nun Gleichberechtigung wollen, wie sie ih- ein Schwarzer mit dem Körper eines über einer Frau“, sagt er. „Ich habe in nen die Propaganda stets versprach. Auch Zehnkämpfers, die Lenden nur mit einer Russland meine Kraft und meine Seele sexuell. amerikanischen Flagge bedeckt. Jetzt ist verloren.“ Matthias Schepp

106 der spiegel 1/2009 Rückblick 2008

Nadal ALESSIA PIERDOMENICO / REUTERS ALESSIA

TENNIS 41 Siegen und fünf Titeln in FORMEL 1 dazu, von heute auf morgen Serie an der Church Road auszusteigen, weil er sich sei- Das Jahrhundert- verlor – mehr Klasse, mehr Weltmeister für ne Rennabteilung nicht mehr Spannung, mehr Leidenschaft leisten konnte. Dass es den- Match war noch nie. Für den ameri- 25 Sekunden noch auch in diesem Jahr sehr kanischen Altmeister John spannend war auf den Renn- m Ende dieses Tennis- McEnroe war es „das beste s war ein schwieriges Jahr strecken, zeigte vor allem das Aspiels lag Rafael Nadal Match, das ich je gesehen Efür die Formel 1, in vieler- Saisonfinale in Brasilien, wo mit ausgebreiteten Armen auf habe“, für Boris Becker „das lei Hinsicht: Der Spionage- der Ferrari-Pilot Felipe Massa dem Centre Court von Wim- beste Finale aller Zeiten“, der skandal um McLaren-Merce- siegte und eigentlich schon bledon, eine Geste des Tri- einstige Profi Tim Henman des war gerade erst abgeebbt, Weltmeister war, allerdings umphs und der Erschöpfung. sprach von einem „antiken da wurde Cheffunktionär Abends um 21.15 Uhr Orts- Drama“. Ein Jahrhundert- Max Mosley heimlich bei Massa zeit, als kaum noch Licht den Match war es auch, weil Na- Sexspielen mit angeheuerten ramponierten Rasen erhellte, dal, der Federer wenig später Damen gefilmt und sein nach vier Stunden und 48 Mi- als Nummer eins der Welt- Rücktritt gefordert. Die nuten Spielzeit, hatte der rangliste ablöste, bei der Sie- Teams stritten mit Mosley Spanier am 6. Juli den gerehrung zum Unterlegenen über kostensenkende Ände- Schweizer Roger Federer in sagte: „Ich bin sehr glücklich, rungen im Formel-1-Regle- fünf Sätzen niedergerungen. aber gleichzeitig traurig für ment, der neue britische Su- Die Wucht Nadals gegen die ihn, denn auch er hätte den perstar Lewis Hamilton wur- Kunst Federers, der Grund- Sieg verdient gehabt.“ Scha- de von Kollegen wegen seines linienspezialist gegen den de nur: In Deutschland war ruppigen Fahrstils attackiert, Serve-and-Volley-Fachmann, dieses Spiel lediglich als Zu- und am Ende brachte die auf- der Matador gegen den Ma- sammenfassung im Sparten- wallende Wirtschaftskrise den

gier, der zum ersten Mal nach fernsehen frei empfangbar. japanischen Honda-Konzern BPI / IMAGO

KORRUPTION stechliche Verbandsfürsten und käufliche muss diese Entscheidung kurz darauf aber Schiedsrichter für Schlagzeilen in Europa. zurücknehmen. Nach Auffassung des por- Spiel in Gefahr PORTUGAL Die Uefa schließt im Juni den tugiesischen Verbandes hatte die Club- FC Porto von der Champions League aus, führung ebenso wie die von Boavista ichel Platini, Präsident der Europäi- Porto und União Leiria in der Saison Mschen Fußball-Union, benutzte große 2003/2004 versucht, Schiedsrichter zu be- Worte. Die „Integrität des Spiels“ sei in stechen. Gefahr, nachdem die Uefa im September ALBANIEN, ESTLAND, LITAUEN Im Juni geraten beschlossen hatte, eine eigene Sicherheits- sechs Partien in Uefa-Wettbewerben unter abteilung aufzubauen. Die Verbandsermitt- Verdacht, verschoben zu sein – vier im UI- ler stehen vor gewaltigen Aufgaben – auch Cup, eines in der Uefa-Cup-Vorrunde und 2008 sorgten Enthüllungen über illegale eines in der Qualifikation für die Cham- Lim Wettsyndikate, korrupte Vereinsbosse, be- / DDP LOHNES THOMAS pions League.

108 der spiegel 1/2009 Sport

nur 25 Sekunden NATIONALELF Zitate 2008 lang. Dann aber überholte der Titel- Kindergarten „Sportler können keine rivale Lewis Hamilton Heiligen und keine 800 Meter vor dem is zur Europameister- Priester sein, aber sie Ziel den Toyota-Fah- Bschaft galt die deutsche rer Timo Glock und Nationalmannschaft als Rück- müssen wenigstens eroberte sich damit zugsoase für gestresste Fuß- als Heldendarsteller den fehlenden Punkt, ballprofis, ein Länderspiel be- etwas taugen – und um Massa in der saß den Geborgenheitsfaktor wenn sie das nicht mehr Endwertung zu über- eines Familientreffens. Dann wollen oder können, holen. Nach dem kommt das Finale von Wien, dann sind sie wie alle Rennen steht Massa, Steffen null zu eins gegen Spanien, Übrigen – und wir kön-

der 25-Sekunden- / DDP MICHAEL KAPPELER Kapitän Michael Ballack soll nen sie auf Hartz IV Weltmeister, oben auf ein Plakat hochhalten, er will schicken.“ dem Siegerpodest seiner nen in China acht Medaillen nicht, beschimpft den Team- Philosoph Peter Sloterdijk Heimatstadt São Paulo, er weniger als in Athen und nur manager Oliver Bierhoff („Du über gedopte Radprofis weint im Scheinwerferlicht halb so viele wie 1992 in Bar- Obertucke“). Ein Konflikt und klopft sich trotzig auf celona. Sie enttäuschten in bricht aus, nichts ist mehr, wie „Einen sauberen die Brust. Der Regen prasselt den Kernsportarten, in der es vorher war. Die Nationalelf auf ihn nieder, am helllichten Leichtathletik und im Tur- werde zum „Mimosenhau- Olympiasieger werden Tag ist es zappenduster, in nen. Im Schwimmen war der fen“, rügt Franz Beckenbauer, wir nicht erleben. Brasilien scheint keine Sonne einzige Lichtblick Britta Stef- die Kabine zum Kindergarten. Nicht mal einen saube- mehr. fen – zweimal Gold. Die Ballack ist beleidigt, weil ihm ren Teilnehmer. Von acht Deutschen versagten in tradi- Trainer Joachim Löw keine Läufern werden acht OLYMPISCHE SPIELE tionellen Paradedisziplinen, Genesungswünsche ans Kran- gedopt sein. Der Unter- im Handball, im Rudern, im kenbett schickt, Löw ist be- schied zwischen 10,0 Im Abwärtstrend Springreiten. Deutschland ist stürzt, weil der Capitano ihn und 9,7 Sekunden sind ein Land der Randsportarten öffentlich kritisiert. Kevin die Drogen.“ ngeblich sollen die Olym- geworden, gejubelt wurde im Kuranyi desertiert, und die Doping-Dealer Angel Heredia Apischen Spiele in Peking Modernen Fünfkampf, im Ka- Debatte, ob Ballack bleiben im August über das bevorstehende ein Erfolg gewesen sein für nuslalom, im Vierer-Kajak. darf und Torsten Frings genug 100-Meter-Finale in Peking die deutsche Mannschaft: Noch nie seit der Wiederver- Respekt bekommt, hält das Platz sechs im Medaillenspie- einigung gab es weniger deut- Land in Atem. Der Macht- „Ich muss daran denken, gel war die „Zielvorgabe“ sche Finalisten. Warum? Weil kampf ist ein Richtungs- dass er darüber nach- von Michael Vesper, dem die Spitzentrainer zu schlecht kampf: auf der einen Seite denkt, wie ich denke.“ Chef de Mission in Peking, verdienen und ins Spieler wie Bal- Platz fünf ist es geworden, Ausland wechseln. lack und Frings, Schachspieler Viswanathan dank 16 Goldmedaillen, 10- Weil für den Nach- die sich als Leit- Anand über seinen WM-Gegner Wladimir Kramnik mal Silber und 15-mal Bron- wuchs Sport und wölfe unantastbar ze. Damit verbesserte sich Ausbildung zu fühlen. Auf der das Team im Vergleich zu den schwer zu koordi- anderen die Ge- „Mein Ziel war es schon Spielen vor vier Jahren in nieren sind. Weil neration Rolfes, immer, eines Tages den Athen in der Nationenwer- sportwissenschaft- schlaue Muster- Papst mit drei Streifen tung um einen Platz. Vesper liche Einrichtun- schüler, die Posi- zu sehen. Die Chancen strahlt: Man habe den Ab- gen unterfinanziert tionen durch Inte- waren noch nie so gut.“ wärtstrend gestoppt, das gute sind. Und weil gration erwerben. Adidas-Chef Herbert Hainer Ergebnis verdiene ungeteilte Deutschland mehr In der deutschen über seine liebste Werbefigur Anerkennung. Die Wahrheit als andere Natio- Fußballfamilie Quelle: DER SPIEGEL aber sieht anders aus: Die nen gegen Doping / GES ANNEGRET HILSE hängt der Haus- deutschen Athleten gewan- unternimmt? Ballack vs. Bierhoff segen schief.

DEUTSCHLAND Das Bundesligaspiel Hanno- SPANIEN Heimlich mitgeschnittene Gesprä- bung sollen auch der Fifa-Schiedsrichter ver 96 gegen den 1. FC Kaiserslautern (5:1) che enthüllen im Dezember einen Korrup- Carlos Velasco Carballo sowie Verbands- aus dem Jahr 2005 gerät im August unter tionsfall in Spaniens Spitzenfußball. Spieler präsident Ángel Maria Villar gewusst ha- Manipulationsverdacht. Nach Recherchen des Zweitligaclubs CD Teneriffa sollen im ben. Beide bestreiten den Vorwurf. des SPIEGEL hat der zu dieser Zeit in Juni Geld dafür kassiert haben, dass sie das POLEN Der Fifa-Schiedsrichter Grzegorz Gi- Deutschland lebende Profizocker William letzte Saisonspiel gegen den FC Málaga ver- lewski wird im Dezember festgenommen. Bee Wah Lim bei asiatischen Wettbüros loren und dem Gegner so zum Aufstieg ver- Er soll bei Ligaspielen Schmiergelder in rund 2,8 Millionen Euro auf eine hohe halfen. Im Zwielicht steht auch der letzte Höhe von 33000 Euro angenommen haben, Niederlage des FCK gesetzt. Sein Gewinn: Spieltag der Saison 2006/2007 der Primera was er bestreitet. Es ist nicht die letzte Per- knapp 2,2 Millionen Euro. Zahlreiche Indi- División. Athletic Bilbao gewann 2:0 gegen sonalie in einem Korruptionsskandal, der zien deuten darauf hin, dass die Partie UD Levante und sicherte sich den Klassen- Polen, Mitausrichter der EM 2012, seit drei womöglich verschoben war. Der DFB schal- erhalt, die halbe Mannschaft von Levante Jahren erschüttert – mehr als 120 Beschul- tet die Staatsanwaltschaft Frankenthal ein. soll bezahlt worden sein. Von der Schie- digte wurden seither verhaftet.

der spiegel 1/2009 109 Sport

SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Sport ist ein Eisbrecher“ Ein Jahr im Rückblick: Deutschlands höchster Sportfunktionär Thomas Bach über den Nutzen der Spiele von Peking, den Kampf gegen das Doping und seinen Beratervertrag bei Siemens

SPIEGEL: Herr Bach, Sie haben Das ist eine politische Grund- ein blaues Auge. Ist das ein frage: Erreicht man mehr, in- Restschaden aus Peking? dem man den Vorhang runter- Bach: Origineller Einstieg. lässt, oder fördert man Wandel Nein, ich bin vor zwei Wochen durch Dialog, Austausch, Prä- am Auge operiert worden. Pe- senz? Auf die Spiele bezogen king hat für mich keine nega- heißt das: Wäre die Öffnung tiven Nachwirkungen. Chinas größer, wenn die Spie- SPIEGEL: Es war also kein le nicht dort stattgefunden hät- schwieriges Jahr, für das Inter- ten? Wir sind uns wohl einig, nationale Olympische Komi- das wäre nicht der Fall. tee, die olympische Idee, den SPIEGEL: Herrn Ji hilft das erst Kampf gegen Doping und auch mal nicht. für Sie persönlich? Bach: Ein Boykott hätte ihm Bach: Doch, es war schwierig. und anderen auch nicht ge- Die Diskussion hat die gesell- holfen. schaftspolitische Bedeutung SPIEGEL: Was haben Sie ge- des Sports deutlich gemacht. dacht, als bei der Eröffnungs- Aber am Ende war es ein feier chinesische Soldaten die erfolgreiches Jahr, weil die olympische Fahne mit militäri- Olympischen Spiele in Peking schem Gruß hissten? ein Erfolg waren. Bach: Ich dachte: Das hätte SPIEGEL: Für China ging ein nicht sein müssen, erst recht Traum in Erfüllung mit den nicht nach den Diskussionen. Spielen, das Land konnte Wobei wir Ähnliches auch alte Größe und neue Macht schon bei anderen Eröffnungs- demonstrieren. Der Rest der feiern erlebt haben. Welt klagte über Verstöße SPIEGEL: Wo denn noch, außer

gegen die Menschenrechte, REEG ANDREAS in Berlin 1936? Zensur, Willkür. Wo ist da der Bach: Nach meiner Erinnerung Erfolg? Thomas Bach ist seit 1991 im IOC, seit 2000 als Vizepräsident. hat es das auch woanders Bach: Die Organisation und die Bach, 55, wurde 2006 zum Präsidenten des Deutschen Olympischen gegeben, aber ich bin in sol- Infrastruktur der Spiele waren Sportbundes (DOSB) gewählt. Der Fecht-Olympiasieger von 1976 ist chen Fragen nicht so der Ar- perfekt. Ich denke aber auch, FDP-Mitglied und arbeitet als Wirtschaftsanwalt in Tauberbischofsheim. chivar. dass China nun die Welt besser SPIEGEL: Und wie haben Sie kennt und versteht, dass der von dem Panzer erfahren, Öffnungsprozess, den wir vorher vor allem SPIEGEL: Sagt Ihnen der Name Ji Sizun der für einen Tag vor dem Pressezentrum in der Wirtschaft erlebt haben, über den etwas? stand? Sport weitergetrieben wurde. Und umge- Bach: Nein. Bach: Durch Sie, jetzt gerade. Das war kehrt versteht auch der Westen jetzt China SPIEGEL: Herr Ji wollte in einem der Pro- wohl nach den Vorfällen in Georgien, da besser. test-Parks auftreten, die die chinesische standen Sicherheitsfahrzeuge auch vor SPIEGEL: Sie finden es also richtig, dass sich Regierung für die Zeit der Spiele in Pe- den Eingängen zum olympischen Dorf. Ich ein Land am olympischen Feuer wärmen king ausgewiesen hatte. Zu Beginn der glaube nicht, dass eine Kanone auf Sie ge- durfte, dessen Regime Meinungen verbie- Spiele reichte er einen Antrag ein für eine richtet war. Oder? tet, Minderheiten unterdrückt und Straf- Demonstration, ein SPIEGEL-Reporter be- SPIEGEL: Nein. lager betreibt? obachtete, wie er danach aus der Polizei- Bach: Dann war das Fahrzeug bestimmt Teil Bach: Die Spiele haben auch in Sachen wache in ein Auto verfrachtet wurde. Seit- der Sicherheitsmaßnahmen. Ich bleibe da- Menschenrechte ihre Wirkung nicht ver- dem ist er verschwunden. Seine Familie – bei: Die Spiele haben einen Beitrag zur Öff- fehlt. Die Lage ist sicher nicht zufrieden- wir haben vor zwei Wochen zuletzt mit nung Chinas geleistet, nicht mehr, aber auch stellend, sie war aber auch noch nie so gut ihr telefoniert – weiß bis heute nicht, wo nicht weniger. Der Sport ist ein Eisbrecher, wie zurzeit. Aus meiner Sicht ist die Saat er steckt. War es wirklich eine gute Idee, aber wenn das Eis gebrochen ist, müssen gepflanzt, und die Saat wird aufgehen. China die Spiele zu geben? andere gesellschaftliche Kräfte wirken. Bach: Dieses Argument, die Emotionalität, SPIEGEL: Haben nicht die Chinesen dem Das Gespräch führten die Redakteure Lothar Gorris und erinnert mich an die Diskussion über die IOC nur suggeriert, der Sport sei ein Eis- Maik Großekathöfer. Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. brecher?

110 der spiegel 1/2009 Bach: Ich sage es noch mal: Man darf das Bach: Die Lehre, die das IOC aus den Spie- Francisco den Höhepunkt erreichten, sag- IOC nicht mit Erwartungen überfrachten. len von Peking und den Diskussionen dar- te IOC-Präsident Jacques Rogge, die olym- Das ist keine Weltregierung, es muss sich über zieht, heißt: Wir müssen uns selber pische Bewegung stecke in einer Krise. Es politisch neutral verhalten, es hat nicht die klarer werden, was wir wollen, und vor al- hieß, man wolle ihre künftige Rolle in der Macht, Gesetze in einem souveränen Land len Dingen, was wir können, und dies dann Gesellschaft überdenken. Was bedeutet zu ändern. Wenn das IOC die Spiele ver- auch kommunizieren. Die Olympische das in Zukunft für den Fackellauf? gibt, dann ist der Veranstalter so etwas wie Charta ist ein klares Bekenntnis für Tole- Bach: Wir müssen deutlicher machen: Die ein Franchise-Unternehmen. Ich bitte Sie, ranz, Fairplay und gegen jede Art von Dis- Fackel ist ein Symbol der olympischen das nicht kommerziell zu interpretieren, kriminierung, aber darin steht auch, dass Idee, der Olympischen Spiele. Sie ist kein ich will damit nur die Zusammenarbeit wir für diese Ziele durch den Sport eintre- Symbol des Gastgeberlandes. Manche verdeutlichen. Wir können gewisse Vorga- ten wollen. Dieses „durch den Sport“ ist in meinen, das Problem wäre gelöst, wenn es ben machen, aber der Rest ist Sache der der Diskussion untergegangen, wir haben keinen internationalen Fackellauf mehr Organisatoren vor Ort. Und das hat schon es vielleicht etwas mit untergehen lassen. gäbe, wenn die Fackel nur noch durch immer zu Diskussionen ge- das Gastgeberland getragen führt, das ist nicht charakteris- würde, aber das wäre zu kurz tisch für die Spiele 2008. gesprungen. Die Fackel kann SPIEGEL: McDonald’s würde Eröffnungsfeier in Peking auch eine Versöhnungsgeste nie zulassen, dass die Ham- sein. Beispielsweise wenn sie burger irgendwo auf der Welt in ein Land geschickt wird, nicht so schmecken, wie sie das in einem Spannungs- sollten, und Druck ausüben verhältnis mit dem Gastgeber auf seine Franchise-Nehmer. steht. Die Weltöffentlichkeit hat dar- SPIEGEL: Sie haben sich wäh- auf gewartet, dass das IOC den rend des Fackellaufs beklagt, Chinesen sagt: Freunde, so dass die Demonstranten ge- geht das nicht. walttätig sind. Die Chinesen Bach: Wenn man etwas errei- sind während der Unruhen in chen will, ist es sinnvoller, di- Tibet aber auch nicht gerade rekte Gespräche zu führen, als friedfertig vorgegangen. War- sich öffentlich zu äußern. Auf um haben Sie dazu nicht deut- dem Weg ist ja auch das Inter- lich Stellung bezogen? net geöffnet worden. Bach: Man darf Gewalt nicht SPIEGEL: Wie muss man sich mit Gegengewalt beantworten diese Gespräche vorstellen? – jedenfalls ist das mein de- Bach: Formal findet die Kom- mokratischer Grundsatz. Ich munikation im Wesentlichen habe aber auch mehrfach ge- über die sogenannte Koordinie- sagt, dass wir Konsequenzen rungskommission statt, bis hoch ziehen müssen, dass wir den zur Ministerebene. Was darüber Fackellauf aus der Verantwor- hinausgeht, macht vor allem tung des Gastgeberlandes neh- der Präsident des IOC, der mit men sollten. dem chinesischen Ministerpräsi- SPIEGEL: Sie selbst haben we-

denten oder Staatspräsidenten LAMPEN / REUTERS JERRY nige Stunden vor Eröffnung spricht. Der DOSB hat meist der Spiele die Fackel durch Pe- mit Leuten aus dem Nationa- „Ich dachte: Das hätte nicht king getragen. Hatten Sie das len Olympischen Komitee der sein müssen, erst recht nicht nach Gefühl, ein beschädigtes Sym- Chinesen gesprochen. In den bol in Händen zu halten? schwierigen Zeiten gab es einen den Diskussionen.“ Bach: Nein. Sie hätten erleben Sonderbotschafter Chinas. müssen, was sich entlang der SPIEGEL: Sonderbotschafter? Strecke abgespielt hat. Bach: Ja, ein Sonderbotschafter, der dann SPIEGEL: Sport hat eine politische Dimension, SPIEGEL: Sie meinen den organisierten verschiedene europäische Länder besucht das sagen Sie selbst. Wenn sich aber das IOC Jubel? hat. Die Gespräche mit dem NOK und dem als neutral versteht, muss es doppelt aufpas- Bach: Natürlich war vieles organisiert, aber Sportminister waren von großer Offenheit, sen, welchem Land es die Spiele anvertraut. die Zuschauer sind auch auf mich zuge- auch zu den schwierigen Themen wie Men- Der Tibet-Konflikt, die Boykott-Diskussion, kommen, in einer Weise, die man nicht schenrechte. Aber natürlich gibt es Dinge, die Proteste beim Fackellauf haben verdeut- planen kann. Eigentlich sollte ich im Auto die tabu sind. Etwa die Einstaatlichkeit licht, in welchem Dilemma das IOC steckt. auf die Fackel warten, aber ich bin ausge- Chinas, also die Tibet-Frage, und die Sekte Es war verlockend, China die Spiele zu ge- stiegen und habe mich unter die Leute ge- Falun Gong. Die chinesische Seite hat nicht ben, dem größten Markt der Welt, aber hat mischt. Ein wunderbares Erlebnis. Viele verstanden, dass man in Europa das Thema China die Spiele nicht zu früh bekommen? Menschen haben meine Hand genommen, Menschenrechte und das Thema Tibet gleich- Bach: Ich denke nicht. Denn wenn die Öff- sie kramten ihr bisschen Englisch raus, sag- setzt. Die Menschenrechte fördert man nicht, nung schon vollzogen gewesen wäre, dann ten „Welcome“ und stellten Fragen. Die wenn man nach dem Gespräch mit dem Son- hätten die Spiele nicht mehr ihre zumin- Polizisten haben sie gewähren lassen. derbotschafter eine Pressekonferenz einbe- dest symbolische Kraft entfalten können. SPIEGEL: Wahrscheinlich kann ein hoher ruft, um dann mit einer Schlagzeile in den Wenn wir die Spiele in 20 Jahren nach Chi- IOC-Funktionär gar nicht sagen, dass die Medien alles einzureißen, was man am Tag na vergeben hätten, dann wäre das kein Idee, die Spiele nach Peking zu vergeben, zuvor erst versucht hat aufzubauen. besonderes Zeichen mehr. nicht so richtig gut war? SPIEGEL: Aber in Tibet geht es auch um SPIEGEL: Im April, als die Attacken gegen Bach: Warum nicht? Menschenrechte. den Fackellauf in , London und San SPIEGEL: Gibt es diese Stimmen im IOC?

der spiegel 1/2009 111 Sport

Bach: Nein. Olympische Spiele lassen sich meinen Äußerungen. Aber ich will nicht SPIEGEL: Seltsam. Bei der Tour de nur schwer vergleichen. Jeder Austra- verhehlen, dass ich durchaus unterschied- im Juli wurde auf das Mittel Cera kontrol- gungsort betont andere Facetten und soll liches Vertrauen in die einzelnen nationa- liert, etliche Fahrer wurden überführt und seinen eigenen kulturellen Hintergrund len Anti-Doping-Agenturen habe. Meine gesperrt. Der Test ist makellos. In Pe- darstellen. Vision lautet darum: Wir brauchen ein rein king wurde aber nicht auf Cera getestet. SPIEGEL: Dies ist dem Regime in China internationales Kontrollsystem. Das wäre Wieso? tatsächlich gelungen. Sport getrieben wur- viel effektiver. Die DDR hatte, flapsig for- Bach: Ich vertraue den Fachleuten von IOC de aber auch in China. Welche Leistung muliert, die beste nationale Agentur, weil und Wada. hat Ihnen am meisten imponiert? nie einer ihrer gedopten Sportler überführt SPIEGEL: Das IOC rühmt sich, es habe in Bach: Das Bild der Spiele, das sind für mich wurde. Gegenseitige internationale Kon- Peking 4770 Dopingtests durchgeführt, gut die russische und die georgische Schützin, trolle, nach dem Prinzip von „Checks and 1000 mehr als vor vier Jahren bei den Spie- die sich auf dem Siegerpodest umarmten, Balances“, hätte das verhindert. len in Athen. Dabei weiß man doch, dass während ihre Länder Krieg führten. Das SPIEGEL: Wie stellen Sie sich das vor? sich im Wettkampf nur die ganz Dummen war eine wahrhaft olympische erwischen lassen. Der schwe- Geste. Aber Sie werden mir dische Wissenschaftler Bengt jetzt sicher Namen nennen, Saltin sagt, hätte man die 1000 über die Sie etwas von mir Weltrekordler Bolt zusätzlichen Kontrollen in der hören wollen. Trainingsphase vor den Spie- SPIEGEL: Der US-Schwimmer len gemacht, hätte man 1000 Michael Phelps hat acht Gold- positive Fälle gehabt. medaillen gewonnen, der Ja- Bach: Stellen Sie sich vor, wir maikaner Usain Bolt ist Fabel- hätten nicht 1000 Tests mehr Weltrekorde gelaufen über 100 gemacht. Was hätte das für und 200 Meter. Waren die bei- einen Aufschrei gegeben. Zu- den sauber? dem hatten wir im Vergleich Bach: Die zersetzende Wir- zu Athen ein sehr viel engeres kung, die Doping hat, entfaltet Kontrollnetz vor den Spielen. sich erst durch den General- In den sechs Monaten vor Pe- verdacht. Ich werde diesem king haben wir 39 Athleten aus Verdacht darum nicht nach- dem Verkehr gezogen. geben. Man muss auch sehen, SPIEGEL: Bengt Saltin ist kein dass es sich bei Phelps und Bolt Eiferer. Er meint: Ihre Tests um Jahrhunderttalente han- sind nicht intelligent genug. deln kann. Man hat ja das Ge- Bach: Dem widerspreche ich fühl, Phelps schwimme nicht heftig. Diese 39 Fälle, das sind im, sondern auf dem Wasser. keine Alibifälle. Wir sind weg Und Bolt ist ein ästhetischer vom rein quantitativen Den- Läufer, mit offensichtlich her- ken, hin zum qualitativen. Wir ausragenden Hebelverhältnis- haben genau das gemacht, wo- sen. Ich weiß aber auch, dass von Herr Saltin spricht. ich mich davon nicht blenden SPIEGEL: Sie sind nicht nur lassen darf. Daher sage ich: IOC-Vizepräsident, sondern

Skepsis ja, Verdacht nein. / REUTERS HERSHORN GARY auch Chef des Deutschen SPIEGEL: Bolt ist Jamaikaner, Olympischen Sportbundes. In es gibt in Jamaika keine unab- „Er ist ein ästhetischer Läufer. der Affäre um den Eishockey- hängigen Trainingskontrollen. Ich weiß aber auch, dass ich mich davon profi Florian Busch, der einen Warum durfte er trotzdem in Dopingtest verweigerte, kam Peking starten? nicht blenden lassen darf.“ ans Tageslicht, dass der Deut- Bach: Er ist auch dem inter- sche Eishockey-Bund die Anti- nationalen Kontrollsystem des Doping-Bestimmungen der Leichtathletik-Weltverbandes und der Bach: Man könnte etwa internationale Kon- Wada nicht rechtzeitig in sein Regelwerk Welt-Anti-Doping-Agentur unterworfen. trolleure für ein halbes Jahr in einem Land aufgenommen hatte. Wie peinlich ist Ih- Bezüglich der nationalen Kontrollsysteme stationieren. Sie könnten sich frei bewegen. nen das? ist die Wada beauftragt festzustellen, ob Es gäbe dann nicht nur die eine Stichprobe Bach: Das ist ein herber Rückschlag für ein ein Land ihre Anti-Doping-Regeln nur for- wie bisher. Aber das liegt in weiter Ferne. Anti-Doping-System, das sich ansonsten mell aufgenommen hat oder sie auch an- SPIEGEL: Können Sie erklären, warum das wirklich sehen lassen kann. Sogar der ehe- gewendet werden. IOC erst jetzt Proben aus Peking auf malige Wada-Chef Richard Pound be- SPIEGEL: Sie reden sich mit Formalien raus. Wirkstoffe untersuchen lässt, die man zeichnet das deutsche System als beispiel- Bach: Nein, tue ich nicht. Ich orientiere schon während der Spiele hätte feststellen haft, und der ist für solches Lob nun wirk- mich an Fakten, nicht an Verdächtigungen. können? lich nicht bekannt. So ein Fall nährt den SPIEGEL: Der Chefarzt der jamaikanischen Bach: Ich bin kein Biochemiker. Unsere Generalverdacht und fördert die Zerset- Mannschaft ist verantwortlich für die na- Fachleute haben mir gesagt, die Tests sei- zung des Sports. Ich habe aber die Infor- tionalen Dopingtests. Vor Bolt waren fast en nicht validiert gewesen. Wenn ein posi- mation bekommen, dass der Eishockey- alle Weltrekordler und Olympiasieger über tives Ergebnis auf meinem Tisch gelandet Bund den Fehler in seiner Satzung inzwi- 100 Meter gedopt. Der deutsche Sprinter wäre und ich hätte mit meiner Disziplinar- schen behoben hat. Tobias Unger sagte, er fühle sich von Bolt kommission eine Sanktion gegen den Ath- SPIEGEL: Ist das eine Situation, in der Sie „verarscht“. leten ausgesprochen, dann wäre das Risiko den Kollegen vom Deutschen Eishockey- Bach: Mit den Zeiten, wie sie dieser Kri- hoch gewesen, dass uns der Fall vor dem Bund anrufen und ihn fragen, ob er noch tiker gelaufen ist, wäre ich vorsichtiger in Sportgericht um die Ohren geflogen wäre. alle Tassen im Schrank hat?

112 der spiegel 1/2009 Bach: Das gehört nicht zu meinem Sprach- Bach: Was die TV-Rechte betrifft: Es gibt Metzger, der im Vorstand sitzt, keinen gebrauch. Aber dass die eine oder andere derzeit keine Verhandlungen zwischen Kredit mehr geben? Das ist ein Ding der emotionale Formulierung fällt, davon kön- dem IOC und dem ZDF und deshalb auch Unmöglichkeit. Die Grenze ist erst über- nen Sie ausgehen. keinen Interessenskonflikt. Zum Thema schritten, wenn meine Entscheidungen im SPIEGEL: Ihre Aufgaben im Sport sind Kuwait: Wir sind beide ehrenamtlich tätig. Ehrenamt durch persönliche wirtschaft- Ehrenämter, im Hauptberuf arbeiten Sie dürfen nicht ausschließen, dass wir uns liche Interessen beeinflusst werden. Das Sie als Wirtschaftsanwalt. In diesem Jahr auch mal beruflich begegnen können. war bei mir noch nie der Fall. fand der SPIEGEL heraus, dass Sie ei- Sonst schließen Sie ein Ehrenamt aus. Wis- SPIEGEL: Als DOSB-Chef sind Sie Herr über nen Beratervertrag mit Siemens haben. sen Sie, warum mich der DOSB an seine 28 Millionen Sportler. Müsste dieses Amt Er wurde danach aufgelöst. Sie sagten Spitze gewählt hat? nicht bezahlt werden, weil Sie dann auch damals, sie könnten Job und Sport-Äm- SPIEGEL: Bitte sehr. raus wären aus diesem Graubereich? ter trennen. Verraten Sie uns, wie das Bach: Auch weil ich nach Aussage der da- Bach: Hauptberuflich DOSB-Präsident? Das geht? maligen Findungskommission Verbindun- wäre für mich eine gute Ausrede gewesen, Bach: Indem Sie alle Punkte, das Amt nicht anzunehmen, wo Interessenskonflikte auf- weil das meinem unabhängigen tauchen könnten, offenlegen. Geist widersprochen hätte. Deshalb kannten auch IOC Bürgerrechtler Ji SPIEGEL: Sie sind seit 30 Jah- und DOSB meine Beratertätig- ren Sportfunktionär und fast keit für Siemens. Auf meine ebenso lang Wirtschaftsanwalt. Initiative hin hat der DOSB Wäre das eine ohne das andere als erster Sportverband in möglich gewesen? Deutschland das Amt eines Bach: Ich glaube, es wäre nicht Corporate-Governance-Beauf- möglich gewesen ohne meinen tragten geschaffen, der alles Olympiasieg 1976. Der hat mir gewissenhaft prüft. Wir haben sehr geholfen in meinen An- die Richtlinien gerade unter fängen als normaler Anwalt in Mitarbeit von Transparency Tauberbischofsheim. Die Leu- International weiterentwickelt. te kennen einen. Es gibt auch im IOC ein ent- SPIEGEL: 2008 war schwierig, sprechendes Gremium, das 2009 wird auch schwierig. Vier ist die Ethikkommission, die große Olympia-Sponsoren ha- hochkarätig besetzt ist. Meine ben ihre Verträge nicht verlän- Beratertätigkeit für Siemens gert, die Rücklagen des IOC ist darüber hinaus von einer sind zuletzt durch Börsenver- unabhängigen Kanzlei geprüft luste um 14 Prozent geschmol- worden, die von der United zen, die Organisatoren der Win- States Securities and Exchange terspiele 2010 in Vancouver ha- Commission anerkannt wird, ben Sparmaßnahmen verkün- die den US-Wertpapierhandel det. Machen Sie sich Sorgen? kontrolliert. Das Urteil ist glas- Bach: Vancouver hat sein Spon- klar: keine Beanstandung. soring-Ziel bis auf zwölf Millio- SPIEGEL: Politiker müssen ihre nen Dollar erreicht. Dass das

Nebentätigkeiten und Neben- NISSEN MADS Budget für die Sommerspiele einkünfte öffentlich machen. 2012 in London reduziert wird, Finden Sie das prinzipiell rich- „Wäre die Öffnung Chinas halte ich noch nicht für proble- tig? größer, wenn die Spiele nicht dort matisch, aber London wird die Bach: Ich verstehe Politiker, Krise eher spüren. die argumentieren, sie können stattgefunden hätten?“ SPIEGEL: Wieso? Namen von Mandanten nicht Bach: Die Spiele werden dort preisgeben. Das ist Teil des An- zur Stadtentwicklung genutzt, waltsberufs. Aber ich muss mir nicht den gen in die Wirtschaft und Politik habe und das olympische Dorf wird privat finanziert, Kopf über Interessenskonflikte bei Bundes- keinen Türöffner brauche. die Apartments sollen verkauft werden. tagsabgeordneten zerbrechen. SPIEGEL: Und Siemens hat seinerseits ei- SPIEGEL: Der Immobilienmarkt ist fast tot. SPIEGEL: Warum legen Sie Ihre Neben- nen Vertrag mit Ihnen abgeschlossen, weil Bach: Als sich London beworben hat, war tätigkeiten nicht von sich aus offen? Sie so gute internationale Kontakte haben das nicht absehbar. Ich kann mir durchaus Bach: Das habe ich doch gegenüber IOC durch das IOC. vorstellen, dass die Organisatoren noch und DOSB getan. Im Übrigen sind meine Bach: Nein. Meine internationalen ge- mal gut rechnen müssen. Was mich aber Aufsichtsratsmandate in Geschäftsberich- schäftlichen Kontakte zeigen sich vor allem genauso umtreibt wie die rein finanziellen ten veröffentlicht, die kann jeder nachlesen. dadurch, dass ich zum Präsidenten der ara- Fragen sind die gesellschaftspolitischen Fol- Das ist kein Geheimnis. bisch-deutschen Industrie- und Handels- gen der Krise. Da werden wir im nationa- SPIEGEL: Der Verwaltungsrat des ZDF will kammer gewählt worden bin. Das hat mit len Sport betroffen sein. prüfen, ob bei Ihnen Interessen kollidieren, dem IOC nichts zu tun. SPIEGEL: Was meinen Sie damit? weil Sie Mitglied im Fernsehrat des Sen- SPIEGEL: Sie fänden es zu viel verlangt, auf Bach: Unmittelbar durch Einsparmaßnah- ders sind und gleichzeitig für das IOC über das Geschäft mit dem Scheich in Kuwait zu men in den Unternehmen und mittelbar die Übertragungsrechte verhandeln. Für verzichten, weil Sie im IOC sind? durch die sozialen Auswirkungen dieser Siemens haben Sie 2005 den Kontakt ge- Bach: Ja. Die Ausübung des Berufs darf Krise, die niemand in Tiefe und Dauer ein- macht zum damaligen Energieminister Ku- durch ein Ehrenamt nicht derart beein- schätzen kann. waits, der Scheich war und ist zufällig Mit- trächtigt werden. Oder soll der Sparkas- SPIEGEL: Herr Bach, wir danken Ihnen für glied im IOC. Das klingt nicht gut. sendirektor, der Vereinspräsident ist, dem dieses Gespräch.

der spiegel 1/2009 113 Rückblick 2008

MEDIZINGESCHICHTE Infizierte Seuchen- bekämpfer achen gefährliche Krank- Mheiten wie die Vogel- grippe die Runde, ist das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin zumeist bestens im Bil- de. Zuletzt musste sich die Einrichtung der Bundesregie- rung allerdings mit der eige- nen verseuchten Geschichte befassen. Im Oktober legte Institutspräsident Jörg Hacker den Abschlussbericht einer Kommission vor, der die Aktivitäten des RKI im Natio- nalsozialismus beleuchtet. Bekannt war bereits zuvor, dass sich Wissenschaftler des RKI an Menschenversu- MAXIMILIEN BRICE / CERN MAXIMILIEN Detektor des Teilchenbeschleunigers LHC in Genf (im Bau)

Fragen beantworten zu kön- KLIMA schungsschiff des Alfred-We- nen, muss die Menschheit gener-Instituts für Polar- und eine Menge Geld investieren Freie Fahrt am Meeresforschung hatte pro- – über drei Milliarden Euro blemlos Passagen durchquert, etwa im Fall des Teilchen- Nordpol die noch Jahre zuvor von beschleunigers LHC am Gen- dicken Eisschichten bedeckt fer Kernforschungszentrum ass ein Farbiger je Präsi- waren und diverse Abenteu-

ROBERT KOCH-INSTITUT ROBERT Cern. Die groß geratene Ma- Ddent der Vereinigten rer in früheren Zeiten zum NS-Führer im RKI (1942) schine, die den Urknall simu- Staaten von Amerika werden Aufgeben gezwungen hatten. lieren soll, brachte zunächst könnte, war für die Menschen Die freie Fahrt am Nordpol chen in Konzentrationslagern vor allem die Phantasie von vor hundert Jahren vermut- weckt freilich kaum uneinge- beteiligt hatten. Die neuen Beobachtern auf Touren. Die lich ähnlich undenkbar wie schränkte Begeisterung: Den Erkenntnisse gehen freilich mysteriöse Protonenschleu- die Vorstellung, dass ein Forschern gilt sie als Fanal noch weit über den bisherigen der von sagenhaften 27 Kilo- Schiff einmal gemütlich den für einen immer rasanter fort- Kenntnisstand hinaus. Das meter Umfang erzeuge wo- Nordpol umfahren könnte. In schreitenden Klimawandel. Institut sei im Dritten Reich möglich ein riesiges Schwar- beiden Fällen hat eine Art Derweil denken Reedereien vollständig von der Ideologie zes Loch, das unsere Erde Klimawandel das Undenkba- über eine mögliche kommer- des NS-Staates durchdrun- zu verschlingen drohe, raun- re möglich gemacht. So kehr- zielle Nutzung des vom Eis gen gewesen, musste Hacker ten Halbwissende aufgeregt. te kurz vor der Wahl Barack befreiten Seewegs nach – konsterniert einräumen. Es kann Entwarnung gegeben Obamas die „Polarstern“ über die Nordostpassage ent- Weit schlimmer noch: „Fälle werden: Der LHC erweist Ende Oktober von ihrer 23. lang der sibirischen Küste re- von Zivilcourage, von Pro- sich vorerst nur in einer Hin- Arktisexpedition nach Bre- duziert sich die Fahrzeit von testbekundungen gegen sicht als Schwarzes Loch – merhaven zurück. Das For- Europa nach Asien erheblich. das staatliche, das institu- als Geldvernichtungsmaschi- tionelle und das individuelle ne. Nur gut eine Woche Vorgehen, wurden nicht nach Inbetriebnahme gab der Forschungsschiff gefunden“, konstatierten die Wunderapparat am 19. Sep- „Polarstern“ Verfasser des Berichts scho- tember seinen Geist auf. Eine nungslos. schlechtverlötete Leitung hatte einen Kurzschluss aus- TEILCHENFORSCHUNG gelöst, der wiederum einen Defekt im Kühlsystem verur- Stotternde sachte. Für 22 Millionen Euro muss die Teilchenschleuder Urknallmaschine nun repariert werden. Die Beantwortung elementarer oraus setzt sich Mate- Fragen werde frühestens wie- Wrie zusammen, und wie der im Juli 2009 möglich nahm unser Dasein seinen sein, haben die Verantwortli-

Anfang? Um derlei profunde chen des Cern wissen lassen. HANNES GROBE / AFP

114 der spiegel 1/2009 Wissenschaft · Technik

RAUMFAHRT große Tolpatsche. Neben dem tapsigen Riesenboxer Nikolai Krank im Weltall Walujew war das im abgelau- fenen Jahr vor allem jener stronauten sind Helden, zwölf Meter lange Buckelwal, Adie dem Ansehen ihrer der Ende Juli unvermittelt Nation zur Ehre gereichen vor Rügen auftauchte. Auf sollen. Nicht anders Hans seinem Weg vom Äquator Schlegel aus Aachen, 57, der in die Arktis war das trotte- im Februar an Bord der lige Tier falsch abgebogen Raumfähre „Atlantis“ ins All und hatte sich schließlich der aufbrach. Schlegel bereicher- Ostseeinsel bis auf 30 Meter te die Mythologie deutscher genähert. Einen vergleich- Weltraumreisender freilich baren Irrläufer hatte es zu-

um eine bizarre Note: Als die HENNING KAISER / DDP letzt vor 30 Jahren gegeben – Besatzung das Andocken Achsbruch eines ICE 3 in Köln entsprechend freudig wurde des europäischen Weltraum- der bald nur noch vertrauens- labors „Columbus“ an die VERKEHR Fahrplan war zeitweise nicht voll Bucki genannte Gast Internationale Weltraumsta- mehr einzuhalten. Verspä- begrüßt. Dabei sorgte der irr- tion ISS vorbereiten wollte, Bahn-Chef tungen und Gedränge in not- lichternde Besucher vor al- meldete sich der Deutsche im dürftig eingesetzten Halb- lem für Scherereien. So war Dienste der Europäischen neben der Spur zügen erzürnten die Passagie- Bucki im unbekannten Ge- Weltraumorganisation Esa re – und auch den Bahn-Chef. wässer beinahe auf Grund ge- offenbar arbeitsunfähig. Das st der Bruch einer Rad- In einem Protestbrief an Ver- laufen; Biologen diagnosti- Isatzwelle, der einen deut- kehrsminister Wolfgang Tie- zierten Speckverlust und To- schen Hochgeschwindigkeits- fensee forderte ein polternder desgefahr für den Wal. Ein zug zum Entgleisen bringen Mehdorn „klare Leitlinien fünfköpfiges Rettungsteam kann, ein hinnehmbares Rest- für die Tolerierung von be- von Greenpeace eilte schleu- risiko? Hartmut Mehdorn trieblichen (Rest-)Risiken“ – nigst herbei und versuchte erweckte genau diesen Ein- und blitzte ab. den exotischen Ankömmling druck – ein Bahn-Chef neben vom Strand fernzuhalten. der Spur. Alles begann mit TIERE Nach etwa einem Monat troll- einem ICE-Radsatzwellen- te sich der Wal wieder. Zum bruch mit glimpflichem Aus- Irrläufer in der Glück, wie manche sagen: gang im Juli hinter dem Anspruchsvolle Gäste wie Kölner Hauptbahnhof. Als Re- Ostsee Bucki fressen einem zwar aktion darauf hatte das Eisen- nicht die Haare vom Kopf – bahn-Bundesamt der Bahn ines kann man den Deut- wollen dafür aber mit einer

NASA / DPA NASA schmerzlich enge Inspektions- Eschen ganz gewiss attes- Tonne Meeresfrüchte am Tag Astronaut Schlegel intervalle verordnet. Der tieren: Sie haben ein Herz für versorgt werden. ganze Land spekulierte dar- aufhin: War Schlegel Opfer der mysteriösen Weltraum- krankheit geworden? Nicht selten befällt Neulinge im Kosmos Orientierungslosig- keit, Schwindel und Übel- keit – ähnlich wie Passagiere einer schunkelnden Barkasse auf hoher See. Rasch keimte Spott auf angesichts der heutzutage offenbar einge- schränkten Leidensfähigkeit des einst so harten deutschen Mannes. Wenige Tage später hatte sich der Malade aller- dings wieder erholt und rück- te zum siebenstündigen Ar- beitseinsatz ins All aus. Merk- würdig zugeknöpft gab sich Schlegel indes bei der Aus- kunft über die Gründe für seinen Minikollaps: „Das wollen sie gar nicht wissen“, beschied er auf Anfrage bei Buckelwal Bucki

einer Pressekonferenz. / DDP DGZRS

der spiegel 1/2009 115 Wissenschaft

ENERGIE Die Sonne auf Erden Für mehr als fünf Milliarden Euro wollen Physiker erstmals ein Fusionskraftwerk errichten, das Energie erzeugt. Nach Jahrzehnten der Rückschläge sind den Forschern in jüngster Zeit erstaunliche Fortschritte gelungen. Wird es tatsächlich irgendwann Strom und Wärme im Überfluss geben?

Plasmakammer der Fusionsanlage „Asdex Upgrade“*: „Wir nähern uns dem Durchbruch“

ei der Zündung Nummer 23995 geht reagiert das Plasma leider sehr empfind- etwas schief. Erst vor einer Sekunde lich.“ Bentfacht, löst sich das künstliche Gebannt schaut Kallenbach auf den Mo- Sternenfeuer gleich schon wieder auf. Kurz nitor. Zusammen mit seinen Kollegen war- vor dem jähen Untergang beginnt das Plas- tet er auf die Messdaten. Durch Beton- ma in der Fusionskammer zu schwingen. wände abgeschirmt, wirkt ihre Zentrale Mikrofone übertragen das Quietschen an wie der Kontrollraum einer Weltraummis- die Überwachungszentrale. sion. Doch die Forscher vom Max-Planck- Arne Kallenbach hört sofort, dass etwas Institut für Plasmaphysik (IPP) in Garching nicht stimmt. „Wahrscheinlich kam das bei München schießen keine Raketen ins Plasma zu nahe an die Kammerwände und All: Sie arbeiten daran, die Sonne auf die ist dann schlagartig abgekühlt“, vermutet Erde zu holen. der erfahrene Physiker. „Das passiert häu- Fusionsexperiment in der Plasmakammer* figer mal. Vor allem in der Aufheizphase * Am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching. Heißer noch als im Innern von Sternen

116 der spiegel 1/2009 Ihre Maschine „Asdex Upgrade“ ist die Das so entstehende Plasma ist schwer Einen so aufwendigen Koloss zu kon- bislang größte Fusionsanlage Deutsch- zu bändigen. Starke Magnete müssen es in struieren dauert indes ein weiteres Jahr- lands. Auch nach Tausenden Versuchen der Schwebe halten; denn sobald es zu sehr zehnt – mindestens. Und erst ab 2050 wür- sind die Wissenschaftler noch immer nicht mit den Kammerwänden in Berührung den dann die ersten kommerziellen Fu- am Ziel. Kallenbach: „Wir suchen weiter gerät, wird es verunreinigt, kühlt dadurch sionskraftwerke ans Netz gehen. Doch nach der perfekten Zündung, bei der alles ab – und der empfindliche Fusionsprozess Hasinger ist überzeugt: „Wenn ‚Iter‘ in stimmt.“ bricht in sich zusammen. zehn bis zwölf Jahren läuft, wird niemand Seit einem halben Jahrhundert quälen Immerhin besteht das Problem nicht mehr zweifeln, dass dies eine gute Inves- sich Physiker auf der ganzen Welt damit mehr darin, Wasserstoffkerne überhaupt tition war.“ herum, das Fusionsfeuer zu entfachen. dazu zu bringen, miteinander zu verschmel- Der Wald bei Cadarache ist bereits ge- Nach so langer Zeit hat die Öffentlichkeit zen. Futuristische Heizmaschinen, darun- rodet, die letzten Wildschweine sind ver- längst die Hoffnung verloren, dass bei ihrer ter riesige Mikrowellenapparate, bringen trieben. Planierraupen haben das Areal Forschung jemals etwas Nützliches her- das hochverdünnte Gas sekundenschnell glattgezogen. Beton und Stahl für das 30 auskommen wird. Doch ausgerechnet jetzt, auf vielfache Sternentemperatur. Zum Ar- Meter hohe Reaktorgebäude sind bestellt. da sich kaum noch jemand für ihre Arbeit senal der Garchinger Forscher gehört auch Neben Europa beteiligen sich Russland, interessiert, scheinen die Plasmaphysiker eine Partikelkanone: Sie schießt Teilchen die USA, China, Indien, Japan und Südko- erstaunliche Fortschritte zu machen. in das Plasma hinein, die darin abgebremst rea an der Errichtung der über fünf Milliar- Voller Enthusiasmus spricht der neue werden und so einen Großteil ihrer Ener- den Euro teuren Maschine. Schon jetzt steht IPP-Direktor Günther Hasinger über die gie abgeben. Auf die Außenhülle der Ka- fest, dass „Iter“ am Ende mindestens 30 Pro- jüngsten Erfolge. Bis vor wenigen Wochen none hat ein Witzbold einen feuerspeien- zent mehr kosten wird als veranschlagt. war der Astrophysiker darin vertieft, das den Drachen gemalt. Kritiker halten das alles für rausge- Geheimnis der Schwarzen Löcher im Kos- Allerdings wird bei der Labor-Fusion schmissenes Geld – und übersehen dabei, mos zu lüften. Nun hat der oberste deut- bislang zu wenig Energie freigesetzt, um dass allein die Förderung der deutschen sche Fusionsforscher gelernt, wie weit sei- den Verschmelzungsprozess von selbst am Steinkohle noch immer jährlich zweiein- ne Mitarbeiter insgeheim schon vorange- Kochen zu halten. Ohne ständige Heizung halb Milliarden Euro verschlingt. Wenn die kommen sind. von außen erlischt die Fusionsflamme. Es Fusion tatsächlich klappt, wären die Ener- „Wir nähern uns dem Durchbruch, es kommt den Forschern so vor, als würden giesorgen der Menschheit wohl wirklich geht viel schneller voran, als viele den- sie nasses Holz anzünden. für alle Zeiten gelöst – der Traum von der ken“, behauptet Hasinger. „Mit einer Art Die Isolierung des Plasmas ist einfach (fast) sauberen Energie im Überfluss wür- ‚Apollo‘-Programm der Kernfusion hätten noch nicht gut genug, zu viel Energie geht de wahr werden. Sollte die Menschheit wir sogar schon zur Jahrtausendwende ei- verloren. Aber es gibt einen Ausweg: den ernsthaft darauf verzichten, eine Technik nen Reaktor bauen können, der Strom und Bau einer richtig großen Fusionsmaschine. zu entwickeln, die einmal alle Atom- und Wärme liefert – nur fehlte das nötige Geld „Wenn wir das Volumen des Plasmas Kohlekraftwerke ersetzen könnte? für eine so große Maschine.“ drastisch erhöhen, sinken automatisch Was Fusionskraftwerke – theoretisch – Im Innern von Sternen geschieht die auch die Wärmeverluste“, erläutert Hasin- leisten, klingt wie Hexerei. Weil bei der Fusion von ganz allein. Unter gewaltigem ger. „Wir nennen das die Eisbärenformel: Kernverschmelzung Materie in Energie Druck verschmelzen leichte Wasserstoff- In kalten Gegenden fällt es großen Tieren umgewandelt wird (was auch die verhee-

Ein Gasgemisch aus Deuterium- und Tritium- Der Neutronenofen Helium Atomen wird in einem Magnetfeld eingeschlossen Energiegewinnung und auf etwa 100 Millionen Grad Celsius erhitzt. ++ in einem Fusions- Das Gas wechselt in den Plasma-Zustand: kraftwerk Die Atomkerne trennen sich von ihren Elektronen. + Beim Zusammenstoß eines Deuterium- und eines Tritium-Kerns verschmelzen diese zu einem Helium-Kern, wobei ein Neutron freigesetzt wird (Abbildung). Beide Tritium Reaktionsprodukte besitzen hohe Bewegungsenergie. + Der Helium-Kern bleibt zunächst im Magnetfeld + und heizt über Teilchenstöße das Plasma an. Deuterium Das Neutron verlässt das Magnetfeld. Seine

+ Bewegungsenergie wird in Nutzwärme umgewandelt, Physiker Hasinger Neutron die über Dampfturbinen Generatoren antreibt. PETER SCHINZLER kerne zu schwererem Helium. Kaum fass- leichter als kleinen, ihre Körperwärme zu rende Vernichtungskraft von Wasserstoff- bare Energiemengen werden dabei frei- halten.“ bomben erklärt), käme ein 1000-Megawatt- gesetzt. Es ist diese seit Jahrmilliarden Um den Beweis zu erbringen, dass die Fusionsreaktor mit verblüffend geringen ablaufende Kernfusion, die das Leben auf Fusion tatsächlich für die Energiegewin- Brennstoffmengen aus: Pro Stunde würde der Erde unablässig mit Licht und Wärme nung taugt, wollen die Wissenschaftler des- gerade mal das Gewicht von zehn Zucker- versorgt – im Labor jedoch lässt sich die halb jetzt eine Anlage der Superlative er- würfeln verfeuert. Unterm Strich könnte Sonne nicht so einfach nachbauen. richten: In wenigen Monaten beginnen im ein Kilogramm Wasserstoff so viel Strom Es scheitert schon daran, dass keine südfranzösischen Cadarache die Bauarbei- liefern wie 11000 Tonnen Kohle. irdische Maschine so hohe Drücke wie ten am Fusionskraftwerk „Iter“ („Inter- Der als Brennstoff benötigte schwere ein Stern zu erzeugen vermag. Die For- nationaler Thermonuklearer Experimen- Wasserstoff (Deuterium) ließe sich billig scher versuchen, diesen Mangel durch teller Reaktor“). Der 500-Megawatt-Ver- und in nahezu unbegrenzter Menge aus noch weit höhere Temperaturen als in der suchsreaktor soll erstmals zehnmal mehr den Weltmeeren gewinnen; die Abhängig- Sonne auszugleichen: Sie erhitzen das Energie erzeugen, als für die Aufheizung keit von fossilen Rohstoffen wie Öl und elektrisch geladene Wasserstoffgas auf seines Plasmas verbraucht wird – das wäre Gas wäre mit einem Mal beseitigt. Im Un- sagenhafte 100 Millionen Grad Celsius. in der Tat der langersehnte Durchbruch. terschied zu einem Kohlekraftwerk bläst

der spiegel 1/2009 117 ein Fusionsreaktor zudem kei- („Stellarator“). Wichtige Kompo- nerlei Treibhausgase in die Atmo- nenten liefern die Forschungszen- sphäre. tren in Jülich und Karlsruhe. Und die Gefahr eines Unfalls ist „Wir erschaffen hier eine Prä- gleich null; denn schon bei der zisionsmaschine, wie sie noch kleinsten Störung bricht die Fusion nirgendwo zuvor auf der Welt ja von selbst ab. Die radioaktiven entstanden ist“, sagt Projektlei- Abfälle wiederum, die durch den ter Thomas Klinger. „Unser Re- Beschuss der Reaktorinnenwände aktor ist zwar schwerer zu bau- mit energiereichen Neutronen ent- en als alle vorherigen – dafür stehen, könnten relativ leicht ent- wird er viel leichter zu betreiben sorgt werden. Ihre Strahlung ist be- sein.“ reits nach rund hundert Jahren Das Besondere an „Wendel- weitgehend abgeklungen. stein 7-X“: Der Magnetfeldkäfig Auch von dem zweiten Brenn- wird ausschließlich durch äußere stoff, Tritium, geht ein vergleichs- Spulen aufgebaut, das Plasma weise geringes Risiko aus. Diese bleibt darin sicher eingesperrt.

radioaktive Wasserstoffvariante / IPP FILSER WOLFGANG Möglich wird das durch bizarr strahlt nur schwach, seine Halb- Modul für die Fusionskammer von „Wendelstein 7-X“* verdrehte Magnetspulen, die an- wertszeit beträgt lediglich 12,3 „‚Mona Lisa‘ der Schweißtechnik“ einandergereiht aussehen wie die Jahre. Die Garchinger Fusions- Wirbelsäule eines Dinosauriers. anlage wird noch ohne Tritium betrieben. „Mit den Strompulsen zwingen wir das Erst mit dem Einsatz modernster Super- Im Versuchsreaktor „Iter“ hingegen soll es Plasma gleichsam dazu, sich sein eigenes computer ist es gelungen, die genaue Form als eine Art nuklearer Brandbeschleuniger Gefängnis zu bauen“, erläutert Hasinger. des Gebildes zu berechnen. dem Deuterium-Plasma beigemischt wer- „Als Reaktion darauf tobt es in dem Ma- Jede der 70 Spulen wiegt 6 Tonnen und den (siehe Grafik Seite 117). Die Energie- gnetkäfig wie ein wildes Tier und versucht kostet eine Million Euro. Zusammenge- ausbeute lässt sich auf diese Weise dras- auszubrechen. Wir müssen deshalb den schaltet erzeugen sie gewaltige Magnet- tisch steigern. Strom ständig nachjustieren.“ kräfte. Ohne Superschrauben würde die Einen weiteren Trick, den Fusionspro- Eine stabilere Fusionsalternative wol- Fusionsmaschine beim Betrieb auseinan- zess erheblich zu verbessern, haben die len die Max-Planck-Forscher schon bald derfliegen. Klinger: „Kein Bauteil hier ist Garchinger Physiker erst vor wenigen Wo- in der ostdeutschen Provinz erproben: von der Stange.“ chen entdeckt. Bei bislang unveröffent- In der IPP-Außenstelle in Greifswald wird In der Greifswalder Werkhalle vermes- lichten Experimenten an der „Asdex Up- für mehr als 400 Millionen Euro derzeit sen Techniker mit Lasern, ob auch die grade“-Anlage fanden sie heraus, welche der Experimentalreaktor „Wendelstein Reaktionskammer exakt den Vorgaben sensationelle Wirkung die Beimischung 7-X“ errichtet – er basiert auf einem re- entspricht. Es kommt hier auf Millime- von Stickstoff hat. volutionär anderen Konstruktionsprinzip ter an. Stolz streicht Klinger über das Statt sich durch diese Verunrei- Stahlgefäß. „Unsere Schweißer nigung abzukühlen, ist das Plas- vom Deggendorfer Anlagen- ma sogar heißer geworden – und bauer MAN DWE sind echte gleichzeitig verdoppelte sich der Künstler, die rückten hier mit Energieausstoß. „Wie dieses un- ihren Geräten an wie Sympho- erwartete Phänomen zustande niker mit ihren Musikinstrumen- kommt, haben wir noch nicht ten“, sagt der Physiker. „Was die wirklich verstanden“, gibt Hasin- hier geschaffen haben, ist eine ger zu. „Auf überraschende Wei- Art ‚Mona Lisa‘ der Schweiß- se sorgt der Stickstoff offenbar für technik.“ eine bessere Isolierung.“ In der Nachbarhalle werden Das Stickstoff-Rätsel zeigt, wie bereits die ersten Riesenmodu- viele offene Fragen noch zu klä- le montiert. In fünf Jahren soll ren sind. Vor allem „Asdex Up- das erste Experiment starten. Am grade“ soll in den kommenden Tag X werden als Erstes die tief- Jahren entscheidende Vorarbei- gekühlten Magneten hochgefah- ten für „Iter“ und spätere Groß- ren. Sachte blasen Ventile dann kraftwerke leisten. ein wenig Wasserstoff in die Va- Die größte Herausforderung be- kuumkammer. Schließlich brin- steht für die Fusionsforscher dar- gen Supermikrowellen, die so in, einen besseren Magnetkäfig für viel leisten wie 10 000 Küchen- das widerspenstige Plasma zu bau- geräte, das Plasma auf mehrfache en. Alle herkömmlichen Fusions- Sternentemperatur – und das anlagen leiden dabei unter einer Mensch im Höllenfeuer bricht los. konstruktionsbedingten Schwä- Größenverhältnis „In Wahrheit dauert es auch che: Heftige Strompulse werden Schnitt durch den geplanten uns Physikern zu lange, eine in das elektrisch geladene Wasserstoffgas Fusionsreaktor Iter so große, komplizierte Maschine zu bau- gejagt und führen so zum Aufbau jener Ma- Strahlungsschutzschild en“, sagt Projektleiter Klinger. „Aber gnetfelder, die das heiße Plasma einsperren wenn es uns gelingt, wird das die Welt ver- Supermagnete – zugleich machen sie es aber auch schwe- ändern. Stellen Sie sich vor, was es be- rer beherrschbar. ringförmige Plasma-Brennkammer deuten würde, mit drei Flaschen Wasser zentrale Magnete eine Familie ein Jahr lang mit Strom zu * In Greifswald. Kühlflüssigkeits- und Versorgungsleitungen versorgen!“ Olaf Stampf

118 der spiegel 1/2009 Wissenschaft

Gegner kritisierten diese Selektion als heit verursachen, sondern durchaus be- ETHIK schlimmen Tabubruch. Unbestreitbar ist: Mit handelbar sind. Menschen mit einer Mu- der Schaffung dieses Kindes werden ethi- tation im Krebsgen P53 etwa erkranken sche Fragen aufgeworfen. Soll man bei be- sehr häufig und sehr jung an verschiedens- Schwangerschaft troffenen Familien auch jene Gene vorge- ten Tumoren – aber nicht bei allen ver- burtlich untersuchen, deren Defekt lediglich läuft der Krebs tödlich. Auch in Deutsch- das Risiko erhöht, an einem bestimmten Lei- land gehört die Untersuchung dieses Gens auf Probe den zu erkranken? Darf man aussortieren, bei betroffenen Familien längst zur Präna- In England haben Ärzte ein Baby auch wenn sich eine mögliche Erbkrankheit taldiagnostik; es wurden deswegen bereits wie Brustkrebs relativ gut behandeln lässt? etliche Schwangerschaften abgebrochen. ohne krankmachendes Brust- Genau an diesen Fragen wäre voriges Ein anderes Beispiel ist das Gen für die krebsgen geschaffen. Wirklich ein Jahr beinahe die niederländische Regie- Erbkrankheit Polyposis coli, bei der mas- Tabubruch? Vorgeburtliche Selektion rungskoalition zerbrochen. Letztendlich senhaft Polypen im Dickdarm auftreten, gibt es längst auch in Deutschland. wurde vorgeburtliche Selektion zugelas- die früher oder später zu Darmkrebs wer- sen. In Großbritannien war das Gesetz be- den; obwohl es durchaus Behandlungs- r hatte das Schicksal seiner Mutter, reits 2006 entsprechend geändert worden. möglichkeiten gibt, sind bei einem ent- seiner Großmutter und seiner Ur- Aber ist der vermeintliche Tabubruch sprechenden vorgeburtlichen Test bereits Egroßmutter vor Augen: jener Mann, wirklich so groß? In Deutschland ist die Schwangerschaftsabbrüche erfolgt. dessen Kind vorige Woche als Designer- Präimplantationsdiagnostik, bei der ein „Auch die Abtreibung eines Ungebore- Baby für Aufsehen sorgte, noch bevor es Embryo vor der Einpflanzung in die Ge- nen, das Träger eines BRCA-Brustkrebs- überhaupt das Licht der Welt erblickte. bärmutter genetisch untersucht wird, zwar gens ist, wäre in Deutschland theoretisch Der Familienfluch heißt Brustkrebs. Alle strikt verboten. Doch auch hierzulande möglich“, sagt Karl Sperling, Direktor des drei Frauen waren daran erkrankt, weil sie wird die vorgeburtliche genetische Dia- Instituts für Humangenetik der Charité, Trägerinnen einer Mutation im sogenann- gnostik immer mehr ausgeweitet – und „wenn die Mutter andernfalls in eine ten BRCA1-Gen waren. Die Wahrschein- zwar während einer Schwangerschaft. Dies schwere seelische Krise geraten würde.“ Wie das britische Designer-Baby entstand Mittels künstlicher Befruchtung Durch DNA-Analyse ließ sich wurden aus Ei- und Samenzellen im Frühzellstadium bei sechs des Elternpaars im Reagenzglas dieser Embryonen der gefähr- elf Embryonen liche Defekt im BRCA1-Gen erzeugt. nachweisen, der Brustkrebs auslösen kann.

Zwei der fünf gesunden Embryonen wurden der Frau in die Gebärmutter eingepflanzt. Nach- dem sich einer der beiden erfolgreich eingenistet hatte, entwickelte er sich zu einem normalen Fötus. F. HEYDER/DPAF. RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD Künstliche Befruchtung einer Eizelle: „Eine neue Ära“

lichkeit, Brustkrebs zu bekommen, beträgt führt schleichend ebenfalls zu einer Selek- In Extremfällen haben sich Trägerinnen in so einem Fall zwischen 50 und 80 Pro- tion: durch Abtreibung. eines veränderten BRCA-Gens sogar schon zent; viele trifft es schon in jungen Jahren. Deutsche Frauen praktizieren gleichsam die Brüste amputieren lassen. Dabei ist Er selbst, so wusste der junge Londo- eine Schwangerschaft auf Probe. Das Un- diese Mutation kein Todesurteil mehr. So ner, hatte das defekte Gen von seiner Mut- geborene wird mittels Chorionzottenbiopsie sollten sich die betroffenen Frauen ab dem ter geerbt und würde es mit einer Wahr- oder Fruchtwasseruntersuchung getestet; 25. Lebensjahr jährlich einer Kernspin- scheinlichkeit von fifty-fifty an seine Nach- wird eine Erbkrankheit festgestellt, kann es tomografie der Brust unterziehen und alle kommen weitergeben. Doch sein eigenes auch nach der zwölften Schwangerschafts- sechs Monate einer Ultraschalluntersu- Kind, so beschloss er, solle verschont blei- woche zum Abbruch kommen, um die chung. Medikamente, die das Ausbrechen ben. Mit seiner Frau entschied er sich des- „Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträch- des Krebses verhindern sollen, befinden halb für eine Präimplantationsdiagnostik. tigung des körperlichen oder seelischen Ge- sich bereits in der klinischen Erprobung. Ärzte im University College Hospital in sundheitszustandes der Schwangeren abzu- Bislang sei ihm auch kein einziger Fall London erzeugten mittels künstlicher Be- wenden“, wie es im Paragrafen 218a heißt. bekannt, sagt Sperling, bei dem in Deutsch- fruchtung elf Embryonen und untersuch- Oft haben die betroffenen Frauen in ih- land wegen einer BRCA-Mutation eine Ab- ten sie auf die bekannte BRCA1-Mutation. rer Familie schreckliche Erfahrungen ge- treibung vorgenommen wurde. Und Alfons Sechs Embryonen wurden daraufhin aus- macht – etwa, dass der kranke Bruder Meindl, Leiter der Abteilung für gynäkolo- sortiert, zwei eingepflanzt. Aus einem ent- plötzlich tot war, als sie aus der Schule ka- gische Tumorgenetik an der Frauenkli- stand das Kind (siehe Grafik). men. Würde ihr Sohn das defekte Gen er- nik der TU-München, berichtet: „Ich habe „Wir sind in eine neue Ära eingetreten, ben, wäre sein Krankheitsschicksal weit- ungefähr 250 Familien mit verändertem indem wir Menschen, die Krebsgene in gehend vorgezeichnet – für manche Frau- BRCA-Gen genetisch beraten. Aber nur sich tragen, helfen können, gesunde Ba- en eine äußerst belastende Vorstellung. drei Mütter haben danach verzweifelt ge- bys zu kriegen“, verkündete Paul Serhal, Längst jedoch werden in Deutschland sagt: ‚Mei, wenn ich das gewusst hätte, einer der beteiligten Reproduktionsmedi- auch solche Gendefekte aufgespürt, die gar dann hätte ich keine Tochter.‘“ ziner. nicht in jedem Fall eine tödliche Erbkrank- Veronika Hackenbroch

der spiegel 1/2009 119 Wissenschaft GETTY IMAGES

ne Quelle war bislang der Wind. Er weht KLIMA das dringend benötigte Eisenoxid und an- dere Metalloxide aus den staubigen Wüs- ten der Südkontinente herbei – allerdings Dünger aus der nur in sehr geringen Mengen. „Zum ersten Mal ist es uns nun gelun- gen, den Spurenstoff in den Eisbergen Eiswüste nachzuweisen“, freut sich Raiswell. Dank Die schmelzenden Eisberge ihrer Entdeckung sind die Wissenschaftler vor der Antarktischen Halbinsel auf einen in der Antarktis bremsen mächtigen Mechanismus gestoßen, der sich die globale Erwärmung: Sie seit Millionen Jahren unter der Gischt ab- lassen Algen blühen, die spielt: Eisberge düngen mit eisenhaltigen Treibhausgas aus der Luft filtern. Nanopartikeln das südpolare Meer. Die sprießenden Algen wiederum entziehen er Fang war kalt und leblos, kein der Erdatmosphäre per Photosynthese das einziger Fisch zappelte im Netz. Treibhausgas Kohlendioxid und sinken DNur ein dumpfes Knarzen gab die schließlich zu einem Teil in die Tiefsee. Beute von sich, als sie auf dem Deck der „Auf diese Weise verlangsamen sie HMS „Endurance“ aufsetzte. die Klimaerwärmung“, sagt Raiswell. Der Die Polarforscher machten sich im süd- Geochemiker hat bereits die Menge an lichen Atlantik mit Vorschlaghämmern an Kohlendioxid grob abgeschätzt, die durch die Arbeit. Sie zertrümmerten den über die Eisbergdüngung entsorgt wird: Rund zehn Meter großen Block aus Eis, bis sie 120000 Tonnen Eisen schütten die Eisberge tief genug in sein Inneres vorgedrungen derzeit ins Polarmeer und sorgen dafür, waren. Dort machten sie eine aufregende dass 2,6 Milliarden Tonnen CO2 aus der Entdeckung. Atmosphäre verschwinden. Im Rasterelektronenmikroskop wurden Diese gewaltige Menge entspricht sämt- winzige Eisenpartikel sichtbar. „Die Teil- lichen Treibhausgasen, die in Indien und chen messen zwar nur den Bruchteil eines Japan aus Kraftwerksschloten, Hauskami- Millimeters“, sagt Teamleiter Rob Raiswell, nen und Autoauspuffen quillen. „Die Erde „aber für das Weltklima haben sie eine scheint uns selbst retten zu wollen“, sagt große Bedeutung.“ Raiswell, der das Potential dieses Selbst- Der Geochemiker der Universität von heilungsprozesses für „signifikant“ hält, Leeds war mit dem britischen Marine- allerdings „in keiner Weise für ausrei- eisbrecher aufgebrochen, um einer Hypo- chend“, um die Erwärmung zu stoppen. these nachzugehen, die schon lange unter Der Effekt wird sich nach seinen Be- Polarforschern zirkuliert: Demnach trans- rechnungen in den kommenden Jahrzehn- portieren Eisberge feinste Eisenpartikel in ten noch verstärken. Wegen steigender ihrem gefrorenen Leib; und wenn die Ko- Temperaturen bricht mehr Eis ab, insbe- losse langsam auftauen, entlassen sie diese sondere an der Antarktischen Halbinsel, Fracht in den Südozean. die sich mit einem Plus von 2,5 Grad Cel- Dort, so die Vermutung, entfalten die sius in den vergangenen 50 Jahren beson- Nanoteilchen eine wundersame Wirkung: ders schnell erwärmt hat. Mit jedem Pro- Sie lassen die kalten Gestade rund um die zent Eisbergmasse mehr, die abbricht, wür- Antarktis erblühen. Denn das Meer um den 26 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich den Eispanzer des Südens ist voller Nähr- beseitigt. stoffe wie Stickstoff. Nur an einem Ele- In größerem Tempo als je zuvor wälzen ment mangelt es dem Plankton jedoch zum sich die Eismassen aus dem Innern des Wachsen: Eisen. Die einzige nachgewiese- Kontinents über dessen steinigen Unter-

120 der spiegel 1/2009 Eisbrecher HMS „Endurance“ in der Antarktis „Die Erde scheint uns retten zu wollen“

Die Wissenslücken bei der künstlichen Eisendüngung zu schließen, das ist jetzt das Ziel eines einzigartigen Experiments. Anfang Januar legt der deutsche For- schungseisbrecher „Polarstern“ von Kap- stadt mit Ziel Antarktis ab. An Bord be- finden sich Fahrtleiter Victor Smetacek vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) sowie ein indisch- deutsches Team aus 49 Leuten. Sie wollen eine künstliche Planktonblü- te nördlich der Insel Südgeorgien erschaf- fen, mit einigen Tonnen Eisensulfat. „Es wird die größte bislang erzeugte Blüte sein“, sagt Smetacek. So groß, dass sie mit speziellen Satelliten aus dem All beobach- grund. Dabei lösen sie aus dem Fels der tet werden kann und die großen Krill- Eiswüste Oxide wie Schwertmannit, deren schwärme des Südens anlocken wird. Eisen dann die Algen im Ozean noch stär- Mit hohem messtechnischem Aufwand ker sprießen lässt. will der Forscher untersuchen, wie viele Doch durch die natürliche Eisendün- Algen tatsächlich in die Tiefen des Ozeans gung wird nicht einmal annähernd das sinken. Dabei zielt er auf eine besondere Potential ausgeschöpft, das der nährstoff- Sorte von Küstenalgen ab. Deren Sporen reiche, aber eisenarme Südozean als Koh- sind von einer harten Siliziumdioxid-Scha- lendioxidsenke bietet. 50 Millionen Qua- le umgeben. Wenn diese Sporen mitsamt dratkilometer ist das Gebiet groß, das dem Kohlendioxid, das in ihrem organi- unter Eisenmangel leidet. Würde man die schen Innern eingebaut wurde, absinken, Gesamtfläche künstlich mit einigen Millio- können auch Fischmägen sie kaum zer- nen Tonnen Eisenoxid düngen, so könnten setzen. „Da ist das Treibhausgas sicher pro Jahr dreieinhalb Gigatonnen Kohlen- auf einige hundert Jahre aus der Erdatmo- dioxid im Ozean entsorgt werden – also sphäre raus“, erklärt Smetacek. ein Achtel des jährlichen Ausstoßes durch Der AWI-Forscher schlägt bereits die die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle. Einrichtung einer eigenen Behörde bei Unter Wissenschaftlern und Ökounter- den Vereinten Nationen vor, die künftige nehmern gibt es daher schon seit länge- Eisendüngungsprojekte zur Rettung des rem den Plan, das Meer vor der Antarktis Klimas überwachen soll. Der Industrie, die mit Eisensulfat aus großen Tankern zu sich mit einem Tanker voll Eisensulfat aus düngen. Das Vorhaben ist umstritten: ihrer Klimaschuld freikaufen könnte, will Umweltschützer fürchten, das Ökosystem Smetacek das Düngen des Südozeans nicht gerate durch ein solches Geo-Engineering überlassen: „Die Angelegenheit ist zu kom- aus dem Gleichgewicht. Die amerikanische plex, als dass sie nicht von Wissenschaft- Ozeanografin Mary Silver prophezeit gar, lern begleitet werden müsste.“ giftige Algen könnten sich stark vermeh- Den Kritikern, die mitunter von Plane- ren. Die Uno-Konferenz zur Artenvielfalt tenklempnerei sprechen, hält der Meeres- im Mai 2008 forderte deshalb ein Morato- biologe entgegen: „Ihre Einwände werden rium für solche Vorhaben, zumindest bis weggefegt, wenn unsere Ohnmacht gegen- mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vor- über dem Klimawandel sichtbar wird.“ liegen. Gerald Traufetter

Endlager in Die Eismassen der Antarktis Meer mit dem für die Algen der Tiefsee tragen Eisenverbindungen lebenswichtigen Element Eisen. vom Felsuntergrund ab und Die Algen nehmen bei der Gebiete mit SÜD- transportieren sie in den Süd- Photosynthese CO2 auf und niedriger Eisen- AMERIKA ozean. Tauen die Eisberge ab, werden schließlich von der konzentration düngen sie das eisenarme Meeresströmung in die Tiefe Süd- getragen. georgien

Antarktis Südozean CO2

ANTARKTIS AUSTRA- Oberflächenströmung LIEN Eisen- Algen verbindungen Tiefenströmung niedrig sehr niedrig

der spiegel 1/2009 121 Wissenschaft

Hörtest bei Neugeborenem Auffälliger Befund bei jedem zehnten Baby

schwerhörigen Kinder aus den 70000 ur- sprünglich auffälligen herauszufiltern, wäre eine straffe Organisation erforderlich, die dafür sorgt, dass die Eltern ihre Kinder auch wirklich zu den weiteren Untersu- chungen bringen. Doch statt wie in Großbritannien eine zentrale Leitstelle zu schaffen, die alle Daten sammelt und die Eltern unter Druck setzt, soll das Screening-Ergebnis in Deutschland vorerst nur im Vorsorgeheft des Kindes protokolliert werden. Folglich hängt es von der Hartnäckigkeit der Kin- derärzte ab, ob es tatsächlich zur Nach- untersuchung kommt. Lediglich einige wenige Bundesländer, darunter Hessen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, haben in ihren bereits länger laufenden Modellprojekten einigermaßen funktionierende Screening- Leitstellen aufgebaut. Viele andere Länder

JENS KOEHLER / DDP JENS KOEHLER haben nichts dergleichen zu bieten. Die Erfahrungen aus den bisherigen re Sprachstörungen vermieden oder ver- Modellregionen zeigen eindeutig: Wenn MEDIZIN ringert werden. sich die Organisatoren nicht intensiv um Jahrelang haben Interessenverbände, die Nachuntersuchung der auffällig ge- Kinder- und HNO-Ärzte in harter Lobby- testeten Neugeborenen kümmern, ge- Echo im Ohr arbeit darauf hingewirkt. Jetzt müssen schieht oft gar nichts; viele Eltern jedenfalls Ab sofort werden alle die Krankenkassen für die Massentests verhalten sich, durch die hohe Feh- zahlen. Dabei haben Studien bislang nicht lerquote der Tests beruhigt, erstaunlich Neugeborenen auf Schwerhörigkeit eindeutig nachweisen können, wie sehr passiv – oft sogar dann, wenn sie schriftlich getestet. Was bringen diese sich die Sprachentwicklung schwerhöri- an die fällige Nachuntersuchung erinnert Massenuntersuchungen wirklich? ger Kinder durch eine Frühsterkennung werden. wirklich verbessern lässt. Auch der Grad In Hamburg beispielsweise gibt es zwar edes Jahr werden von nun an rund der Schwerhörigkeit sowie das Engage- eine Screening-Leitstelle, die schon in der 70 000 Elternpaare die Schreckens- ment der Eltern könnten möglicherweise Vergangenheit Mahnbriefe an die Eltern Jnachricht erhalten, ihr soeben gebo- eine wichtige Rolle spielen. Letztendlich der betroffenen Kinder verschickt hat; renes Baby sei möglicherweise schwer- sei die Entscheidung für oder gegen ein dennoch brachten nur etwa 40 Prozent hörig. Screening „keine Frage der medizinischen ihre Neugeborenen zu den Folgeunter- Routinemäßig wird ab 1. Januar jedem Notwendigkeit, sondern eine gesellschaft- suchungen. Auch in Mecklenburg-Vor- Neugeborenen noch in der Klinik ein liche und individuelle Werteabwägung“, pommern lag die Quote bloß bei 44 Pro- weißer Plastikstab in die Ohren gedrückt. konstatierte das Institut für Qualität und zent. Verbessern ließen sich diese Zahlen Er misst die „otoakustischen Emissionen“, Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in nur durch zusätzliche Telefonanrufe bei jene zarten Schallwellen, die als eine Art seinem Bericht, der die Grundlage für die den Eltern – oder, wie in der Oberpfalz Echo entstehen, wenn ein gesundes Innen- Entscheidung lieferte. geschehen, durch die Einschaltung des ohr gereizt wird. Nun droht dem Mammutprojekt ein or- Jugendamts. Bei jedem zehnten Baby liefert der Hör- ganisatorisches Chaos. So fehlen vielerorts Insgesamt, so die Schätzung von Exper- test einen auffälligen Befund. Doch dann noch die Testgeräte. Mangelware sind vor ten, könnten mehr als die Hälfte der werden die Eltern vom Klinikpersonal be- allem die teuren Instrumente für die soge- schwerhörigen Kinder trotz Screenings un- ruhigt: Tatsächlich bestätige sich die Dia- nannte Hirnstammaudiometrie. Mit diesen behandelt bleiben – ein Wert, der sich auch gnose einer beidseitigen Schwerhörigkeit Untersuchungsapparaten muss bei Kindern mit wesentlich kostengünstigeren Tests nur am Ende nur bei rund 800 Kindern. Bei al- mit auffälligem Erstbefund die Reaktion bei Risikokindern erreichen ließe. len anderen schlage der Hörtest aus ande- des Gehirns auf akustische Reize getestet Der Aufwand eines Screenings sei von ren Gründen Alarm, etwa, weil kurz nach werden – um die Verdachtsfälle auf gut vielen unterschätzt worden, meint Mar- der Geburt noch Reste des Fruchtwassers 10000 einzugrenzen. tin Ptok, ärztlicher Direktor der Klinik für den Gehörgang verstopfen. „Ich habe große Zweifel, ob ganz Phoniatrie und Pädaudiologie der Medi- Die Gründe für das neue Screening, Deutschland schon für die Einführung der zinischen Hochschule Hannover. Und das bereits in Modellregionen erprobt Hörtests gerüstet ist“, urteilt Tadeus Naw- Götz Schade, Leiter der Abteilung für wurde, sind durchaus ehrenwert: Schwer- ka vom Universitätsklinikum Greifswald, Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO- hörige Kinder sollen nicht wie bislang Spezialist für frühkindliche Hörstörungen Klinik Bonn, hält die Enttäuschung für erst im Alter von zwei bis vier Jahren, und eigentlich ein Befürworter des Scree- programmiert: „Wir werden bald merken, sondern möglichst schon in den ersten nings. dass wir noch ziemlich weit davon ent- sechs Lebensmonaten identifiziert und mit Denn es fehlen nicht nur die Testgeräte; fernt sind, Hörstörungen bei Kindern einem Hörgerät oder einem sogenannten auch die logistische Umsetzung dürfte noch möglichst früh und flächendeckend zu be- Cochlear-Implantat im Innenohr behan- große Probleme bereiten: Um innerhalb handeln.“ Tania Greiner, delt werden. Auf diese Weise sollen späte- weniger Monate möglichst viele jener 800 Veronika Hackenbroch

122 der spiegel 1/2009 Technik

erklärt Grauer, solle zunächst nur ein liche Sonnenstrom, der sich auf einer SCHIFFBAU Signal setzen, „zeigen, was State of the 14-Meter-Yacht ernten lässt, auch noch die Art ist“. Energie für eine Bordraffinerie bereit- Und das tut es dann auch: „Code-X“ stellen soll. Das Prinzip der Photovoltaik, Tugendhaft belegt eindrucksvoll, dass der ökophobe bereits im 19. Jahrhundert entdeckt, hat Verschwender mit Hilfe des Verbrennungs- zu großen Hoffnungen und Visionen An- motors mächtig vorankommt – während lass gegeben und dank staatlicher Sub- tuckern der klimapolitisch Tugendhafte eher be- ventionen auch bereits zahlreichen Unter- Eine neue Hybridyacht mit zwei schaulich dahintuckert: Im Solarmodus nehmern Wohlstand gebracht – ohne dabei schafft das Boot an sonnigen Tagen knapp nennenswerte Beiträge zur Energieversor- Rennmotoren und alternativem zehn Stundenkilometer. gung zu leisten. Solar-Elektroantrieb verspricht ein „Genau das“, räumt Grauer ein, „ha- An Bord von Sportbooten haben sich gutes Gewissen: Doch im Öko- ben wir von Anfang an vorhergesehen.“ Solarzellen durchaus schon bewährt – modus geht es nur schleppend voran. Die Yacht in ihrer jetzigen Ausstattung sei etwa als Notstromquelle von Funk- und er die Schweiz als ein Land der freien Fahrt erleben möchte, soll- Wte sie mit dem Boot bereisen. An- ders als im Straßennetz herrschen auf etli- chen Binnengewässern der Alpenrepublik keinerlei Tempolimits. Entsprechend unbehelligt konnte un- längst ein Motoryacht-Prototyp namens „Code-X“ auf dem Vierwaldstätter See erprobt werden. Der silbrig glänzende Katamaran wird von zwei Zehnzylin- der-Rennmotoren angetrieben. Sie leis- ten gemeinsam 1420 PS und sollen das Schiff auf etwa 180 km/h beschleunigen – was unter Wasserfahrzeugen durchaus so spektakulär ist wie ein Auto, das 400 fährt. So fand das zweikufige Schnellboot auch in dem mondänen Erholungsgebiet um Luzern Beachtung, wenngleich die eigentliche Innovation den meisten Schau- lustigen verborgen blieb. „Code-X“ kann auch ganz anders. Bei Bedarf fährt die Yacht ausschließlich mit Sonnenkraft. Eine moderne, 7,5 Quadratmeter über-

spannende Photovoltaikanlage aus Glas- CODE X AG Glas-Modulen produziert mittschiffs zwi- Öko-Sportboot „Code-X“ auf dem Vierwaldstätter See: „Sehr lustig gefahren“ schen beiden Schwimmkörpern öko- korrekten Strom und speist diesen in deshalb auch nur ein Zwischenschritt. Die Navigationsgeräten. Um überzeugende An- Lithium-Ionen-Batterien, die dann wie- nächste Entwicklungsstufe (Grauer spricht triebskräfte aus der Sonnenstrahlung zu derum einen elektrischen Propellerantrieb von „State of the future Art“) sieht nach gewinnen, sind die verfügbaren Flächen in Gang setzen. wie vor einen Antrieb mit den beiden viel zu klein. In diesem regenerativen Modus sei das Rennmotoren vor, die sich dann jedoch Wer klimaneutral und dabei möglichst 14,5 Meter lange Boot „schon sehr lustig von klimaneutral gewonnenem Kraftstoff zügig auf dem Seeweg reisen möchte, ist gefahren“, sagt Peter Grauer, Hauptgesell- ernähren sollen. besser beraten, eine andere, seit Jahrtau- schafter der Code-X AG, die das Auf die ökologische Mogel- senden bewährte Naturenergie zu nutzen: Hybridboot entwickelt hat. Das packung herkömmlicher Bio- den Wind. in Meggen, einem Vorort von Lässt sich mit spritsorten mag der Jurist aller- Segelboote erreichen weit höhere Ge- Luzern, ansässige Unternehmen der Sonnen- dings nicht setzen: „Das wäre schwindigkeiten. Die aktuelle Weltrekord- hat außer dem gleichnamigen stromernte an dumm.“ Schlauer erscheint es marke liegt derzeit bei 50 Knoten (über 90 Boot bisher kein Wasserfahrzeug Bord der ihm, direkt aus der Sonnen- km/h). Den Atlantik überqueren moderne hergestellt und nennt auch noch Yacht sogar energie Brennstoff zu produ- Regattayachten binnen zwei Wochen. keinen konkreten Fahrplan zur zieren, und das möglichst gleich Wie weit der photovoltaische Boots- Vermarktung seines Produkts. eine Raffinerie an Bord des Schiffs. Grauer antrieb von solchen Werten entfernt ist, Grauer, ein aus Düsseldorf betreiben? spricht von einer „Silizium-Me- veranschaulichte bereits das Schweizer stammender Jurist, ist als Un- thanol-Technologie“. Solarschiff „sun21“. Als erstes Wasser- ternehmer in der Photovoltaikbranche Genauer zu erläutern, wie das funktio- fahrzeug seiner Art propellerte es im Früh- dank großzügiger Einspeisevergütungen zu nieren soll, hält er jedoch für verfrüht. Eine jahr 2007 mit Sonnenstrom von Europa ausreichendem Vermögen gekommen. Das weitere Aktiengesellschaft, sie heißt Sili- nach Amerika. semiökologische Schnellboot benötigt er con Fire AG, sei mit der Erforschung der Die fünfköpfige Crew erreichte die Ka- nicht zum unmittelbaren Broterwerb. Prozessschritte befasst. ribikinsel Martinique nach 29 Tagen – war Sein Firmensitz ist ein nahezu menschen- Es ziemt sich wohl, solchen Unterneh- also kaum schneller als fünf Jahrhunderte leerer Bungalow mit Seepanorama und mungen Glück zu wünschen, auch wenn zuvor der Entdecker Christoph Columbus sterilem Hochpreismobiliar. Das Schiff, einstweilen rätselhaft bleibt, wie der spär- auf seiner vierten Reise. Christian Wüst

der spiegel 1/2009 123 Rückblick 2008

BUCHMARKT Übertreibung. Roche hat Jahres seinen Markt- ihren Roman eine „Körper- anteil von 18,9 Pro- „Radikal erotisch“ komödie“ genannt – das zent wohl noch auf scheint mir sehr treffend. über 20 Prozent. Er- Marcel Hartges, SPIEGEL: Beim Lesen jener folgreichster Film war 47, seit drei Jahren Passage, in der die betrunke- Til Schweigers Komö- Buchverleger bei nen Freundinnen gemeinsam dien-Blockbuster DuMont in Köln, von der Brühe trinken, die sie „Keinohrhasen“ mit übernimmt im vorher erbrochen haben… 4,9 Millionen Zu- neuen Jahr die Lei- Hartges: ARNO BURGI / DPA … aber das ist doch schauern. Gleich meh- tung des Münch- nur ein Text, eine literarische rere Produktionen ner Piper Verlags. Der im Phantasie, die man nicht mit überwanden die Frühjahr 2008 von ihm publi- der Wirklichkeit verwechseln 2-Millionen-Zuschau- zierte Roman „Feuchtgebie- sollte! Charlotte Roche ist ja er-Grenze, etwa Den- te“ von Charlotte Roche hat auch nicht die Protagonistin nis Gansels Jugend- bislang eine Verkaufsauflage des Romans, sondern dessen buch-Adaption „Die von 1,3 Millionen. Autorin. Welle“. Sie ließ mit SPIEGEL: Haben Sie das Buch über 2,5 Millionen SPIEGEL: Herr Hartges, der nicht doch nur verlegt, um verkauften Tickets verlegerische Coup Ihres Le- mit dem Skandal Auflage zu sogar Uli Edels und

bens ist das unappetitlichste machen? / DPA / PICTURE-ALLIANCE TIM BRAKEMEIER Bernd Eichingers Ter- Buch des Jahres, die analero- Hartges: Nein. Diese Dimen- Becker (mit Ulrich Matthes) ror-Spektakel „Der tische Suada aus der Feder sionen des Erfolgs waren Baader Meinhof Kom- einer TV-Moderatorin. Wären nicht absehbar. Wir hatten, Becker im Berliner Deut- plex“ hinter sich. Allerdings Sie nicht lieber mit einem fei- und das erschien uns nicht schen Theater die unglücklich flachte die deutsche Welle, neren Werk so er- frei von Optimis- mit einem alten Kerl verhei- die Ende Juni eine historische folgreich gewesen? mus, mit vielleicht ratete Jelena in Tschechows Höchstmarke von fast 34 Pro- Hartges: Charlotte 50000 verkauften „Onkel Wanja“ spielte, feier- zent Marktanteil erreichte, Roches Roman Exemplaren ge- ten die Kritiker sie zu Recht nach der Jahreshälfte deutlich „Feuchtgebiete“ be- rechnet. Immerhin als aufregendsten Star der ab. Gewohnt stark zeigte sich handelt – neben an- sind die „Feucht- deutschsprachigen Theater- der deutsche Jugendfilm mit derem – das Thema, gebiete“ ja ganz welt. Sehr sonderbar, mit ei- populären Produktionen wie warum wir be- offenkundig ein ner tollen inneren Glut stürzt „Die wilden Kerle 5“, „Som- stimmte Aspekte Buch, das nicht sich die 30-jährige Becker in mer“ oder „Freche Mäd- unserer Körperlich- jedermanns Ge- alle ihre Rollen; in der Tsche- chen“. Doch auch Filme, die keit als ekelhaft schmack bedient. chow-Regie des schwer er- sich mit Alter und Tod be- SPIEGEL: empfinden, und / DDP JENS SCHLUETER Wem ist krankten Regisseurs Jürgen schäftigen, müssen hierzulan- stellt diesen Ekel Roche der Titel „Feuchtge- Gosch gelang Becker ihr bis- de kein Kassengift mehr sein. vehement in Frage. biete“ eingefallen? lang schönster Triumph. Die erfreulichsten Überra- Ich finde das nicht unappetit- Hartges: Der Vorschlag kam schungen des Jahres waren lich, sondern hochinteressant. von der Autorin – nach- KINO die Erfolge von Doris Dörries Insofern freue ich mich sehr dem wir wochenlang unend- bewegendem Melodram über den Erfolg und habe lich viele Titel diskutiert Deutsche Welle „Kirschblüten – Hanami“ kein Problem damit, mit die- hatten. über ein sterbendes Ehepaar sem Erfolg identifiziert zu SPIEGEL: Nehmen Sie die Au- ach dem eher enttäu- (der Film fand mehr als eine werden. Im Übrigen habe ich torin mit zu Piper? Nschenden Jahr 2007 hat Million Zuschauer) und von in meiner Zeit bei Rowohlt Hartges: Ich bin derzeit noch der deutsche Film 2008 in den Andreas Dresens Liebesfilm und DuMont viele andere, bei DuMont und unterbreite heimischen Kinos wieder Be- „Wolke 9“ über erotische auch nicht immer erfolglose jetzt keine Angebote für die sucher hinzugewonnen und Erfüllung jenseits der 70 (fast Bücher herausgebracht, die Zeit danach. Alles andere steigert im Schlussspurt des 450000 Besucher). mir ebenso am Herzen liegen. wird man sehen. SPIEGEL: Aber die „Feuchtge- biete“ sind nun mal der Sen- THEATER sationstitel Ihrer bisherigen Laufbahn – ein streng rie- Die große chendes Säftelwerk, das jetzt an Ihnen klebt… Sonderbare Hartges: Ich finde den Roman intelligent und lustig und gar hre Bewegungen sind stets nicht streng riechend. Er be- Iein wenig grobianisch, ihre schreibt die radikal-erotische dunklen Augen scheinen im- Selbsterkundung einer jungen mer in eine andere Welt zu Frau, die sich gegen den kos- gucken als in die reale, ihre metischen Zwang zur Körper- Stimme klingt meist eine perfektionierung wehrt. Mit Spur zu rau und hart. Für die

der sehr alten literarischen flirrende Kunst, mit der die BROS. WARNER Methode der komischen Schauspielerin Constanze „Keinohrhasen“-Darsteller Schweiger (mit Nora Tschirner)

124 der spiegel 1/2009 Kultur

ARCHITEKTUR Bau des Jahres, Nest der Zweifel as Gebäude des Jahres – eines, das von ausgebeuteten Wanderarbeitern errichtet wurde?

DEines, das von einer Regierung gewünscht wurde, die die Menschenrechte missachtet? Ja, VU / LAIF und doch ist das neue Olympiastadion in Peking definitiv das Gebäude des Jahres. Erstens, weil Littell der von den Chinesen „Vogelnest“ genannte Bau der Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron wirklich schön ist, wild und harmonisch, komplex und zweckmäßig. Zwei- LITERATUR tens aus eben jenen politischen Gründen: Am Olympiastadion entzündete sich eine überfälli- ge Diskussion – ob westliche Architekten in politisch fragwürdigen Systemen tätig werden dür- Gebildeter Henker fen. „In China werde ich in absehbarer Zeit nichts mehr bauen“, bekannte Architekt Christoph Ingenhoven im SPIEGEL. Dem hat der in China erfolgreiche Architekt Meinhard von Gerkan ein anderer Roman pola- heftig widersprochen. Er sagte auf einem SPIEGEL-Podium: „Wenn wir nun ausgerechnet Krisierte und provozierte für China nicht bauen dürften, dann dürften wir für die halbe Welt nicht bauen. Denn so viel in Deutschland so heftig wie blütenweiße Demokratien gibt es gar nicht.“ Auch die Architekten des Olympiastadions ver- das Buch des jüdischen teidigten sich. Jacques Herzog: „Wir denken, es hat sich etwas in China geöffnet. Wir sehen Schriftstellers Jonathan Littell einen Fortschritt. Und an diesem Punkt sollten wir ansetzen.“ über den fiktiven SS-Mann Max Aue, der das Wüten der Olympiastadion in Peking Einsatzkommandos hinter der Front im Osten beobachtet. „Die Wohlgesinnten“ (nach den griechischen Erinnyen, den Rachegöttinnen) erzählt den Holocaust aus der Täter- perspektive, historisch detail- genau, verstörend emotions- los. Der gebürtige Amerikaner Littell, der sein Kolossalwerk auf Französisch schrieb, kann das Geheimnis, warum ganz normale Männer zu mitleid- losen Mördern werden, den- noch nicht lösen. Aue ist kein gewöhnlicher Deutscher, son- dern ein hochgebildeter, fein- geistiger Edelnazi, der die

CSPA / NEWSPORT / CORBIS / NEWSPORT CSPA nationalsozialistische Ideolo- gie zu einer modernen intel- KUNSTMARKT und Skulpturen eigens für es sich gelohnt: Gebote in lektuellen Lehre verklären diese Verkaufsorgie produzie- Höhe von 120 Millionen Euro will. Sein persönliches Gewis- Punkte für ren lassen, lauter Varianten wurden abgegeben. Zu den sen hat dieser perverse seiner erfolgreichsten Werke. Bietern im Saal gehörten Ga- „Held“ ausgeschaltet, das Millionen Eine solche Verzahnung von leristen, Sammler – und dann Grauen dringt scheinbar un- Künstler und Versteigerer war war da noch der Londoner kontrolliert in sein Leben, ondon am 15. September zuvor undenkbar, und tat- Restaurantbesitzer, an dessen auch in das private. Das Wal- L2008. Beim Auktionshaus sächlich markiert die Auktion Seite eine junge Frau im ten des Schicksals erinnert an Sotheby’s in der Bond Street – auch wegen der Qualität Pünktchenkleid saß. Er gab die „Orestie“ des Aischylos, herrscht eine Atmosphäre der der Massenware – einen Tief- sich Mühe, eines der ver- Aue tötet seine Mutter und ist Hochspannung. Einerseits ist punkt in der Geschichte der schiedenfarbigen Pünktchen- seiner Schwester in inzestuö- die Stadt nervös, weil an die- jüngeren Kunst. Finanziell hat bilder von Hirst zu ergattern. ser Liebe verfallen. Fast sem Tag der Konkurs der US- Es gelang ihm aber nicht, und 150000-mal hat sich die deut- Bank Lehman Brothers auch so wurden es Schmetterlings- sche Übersetzung verkauft. die Finanzmetropole an der bilder. Das teuerste Stück war Ende Januar will der Berlin Themse ins Schlingern ge- eine Art Einweck-Skulptur: Verlag mit Littells Studie „Das bracht hat – andererseits „Goldenes Kalb“, Kosten- Trockene und das Feuchte“ steht bei Sotheby’s das gla- punkt: elf Millionen Euro. nachlegen, einem Essay über mouröseste Kunstmarktereig- Offiziell hat es beim Beglei- die faschistische Sprache. nis des Jahres an. Man ver- chen der Rechnungen, trotz Nicht zufällig erinnert dieser steigert an diesem Abend Finanzkrise, keine Probleme Titel an „Das Rohe und das (und am folgenden Tag ) aus- gegeben. Hirst hat viele sei- Gekochte“ von Claude Lévi- schließlich Werke von Da- ner Mitarbeiter inzwischen Strauss: das Böse des Natio-

mien Hirst. Der 43 Jahre alte GUIDICINI / REX FEATURES FRANCESCO entlassen. nalsozialismus, beschrieben britische Superstar hat in sei- wie von einem moralisch in- ner Kunstfabrik 223 Bilder Hirst, Hirst-Werk differenten Ethnologen. 125 Kultur

LITERATUR Mit eigener Stimme Sie galt jahrzehntelang als hysterische Person, die ihrem Mann das Leben zur Hölle machte. Nun lassen neue Publikationen und ein Film Sofja Tolstaja in neuem Licht erscheinen: jene Frau, die annähernd 50 Jahre mit dem großen Leo Tolstoi verheiratet war.

Ehepaar Tolstoi auf seinem Gut Jasnaja Poljana (1907) TASS / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE TASS

126 der spiegel 1/2009 ie letzte Station im Leben des Leo eigennützige, als hysterische Ehefrau hin- und Oscar-Preisträgerin Helen Mirren ver- Tolstoi: eine Bahnstation. Hier, in gestellt, die den großen Dichter und Sinn- körpern darin das Ehepaar Tolstoi. Dder russischen Provinz, in Astapo- sucher in die Flucht, ja in den Tod getrieben Am deutlichsten Partei für die Ehefrau wo, legt sich der 82-jährige Dichter im No- habe – auch wenn Einzelne wie Thomas ergreift die erste umfassende Tolstaja-Bio- vember 1910 zum Sterben nieder. Zehn Mann sie verteidigten und daran erinner- grafie, die im Februar erscheinen soll***. Tage vor seinem Tod ist ihm gelungen, was ten, dass sie es war, „die, ungeachtet ihrer Geschrieben wurde sie von der Slawistin er sich seit zwei, drei Jahrzehnten immer beständigen Schwangerschaften und ihrer Ursula Keller und der Kunsthistorikerin wieder vorgenommen hat: seine Frau und reichen Pflichten als Gutsherrin, Mutter Natalja Sharandak. Ziel der beiden Auto- das herrschaftliche Gut Jasnaja Poljana zu und Hausfrau, ‚Krieg und Frieden‘ mit eige- rinnen ist es, die Aufmerksamkeit endlich verlassen. ner Hand siebenmal abgeschrieben hat“. auch auf das schriftstellerische Werk der Er flieht vor den ewigen Streitereien, Jetzt, im Vorfeld von Tolstois 100. Todes- Ehefrau Tolstois zu lenken und ihr so „eine vor dem Misstrauen und der Eifersucht, tag im Jahr 2010, soll Sofja Andrejewna eigene Stimme“ zu geben. Zu diesem vor den wiederholten Selbstmorddrohun- Tolstaja (1844 bis 1919) endlich Gerech- Zweck wurden kaum bekannte und bisher gen von Sofja Tolstaja, mit der er seit nahe- unveröffentlichte Texte aus ihrer zu 50 Jahren verheiratet ist, und er flieht Feder in russischen Archiven vor dem Luxusleben, dessen sich der Gott- ausgewertet. Es ist eine fundier- sucher und Propagandist des einfachen Le- te und höchst eindrucksvolle Le- bens seit langem schämt. Er gehe fort, hat bensdarstellung geworden. er seiner Frau im Abschiedsbrief geschrie- Einer dieser nachgelassenen ben, um „in Zurückgezogenheit und Stille“ Texte von Sofja Tolstaja wurde seine letzten Tage zu verbringen, und er erst vor einigen Jahren in Russ- bittet sie, ihm nicht nachzureisen. land veröffentlicht, ein Jahrhun- Hohes Fieber ist der Grund dafür, dass dert nach der Niederschrift, und er die Flucht mit der Eisenbahn (dritte ist jetzt auch in deutscher Spra- Klasse) in Astapowo abbrechen muss. Nur che zu lesen: ein Roman mit dem wenige Wochen zuvor ist der zeitlebens Titel „Eine Frage der Schuld“, vor Kraft und Gesundheit strotzende Dich- 1892/93 entstanden****. Die Au- ter noch auf seinem Pferd durch die Wäl- torin schildert aus ihrer Sicht der geritten, nun erwartet er in einem und kaum verhüllt die frühen fremden Bett den Tod, in einem kargen Jahre der Ehe mit Tolstoi. Zimmer, das ihm der Stationsvorsteher Sofja Tolstaja hatte schon in eilig angeboten hat. ihren Mädchenjahren Erzählun- Das Zerwürfnis des Ehepaars Tolstoi, gen und Tagebuch geschrieben, die Flucht des Dichters im Jahre 1910 wa- alles aber vor der Hochzeit im ren keine Privatsache, sondern eine Ange- Jahr 1862 verbrannt (was sie legenheit von enormem öffentlichen Inter- später bereute). Der um die 18- esse. Leo Tolstoi war eine lebende Legen- jährige Arzttochter werbende de, er wurde in Russland verehrt wie ein adlige Tolstoi, damals 34, war

Heiliger, seine Prominenz stand der des / DDP COLOURPRESS.COM bereits ein anerkannter Schrift- Zaren in nichts nach. Ehepaar Tolstoi im Film*: „Wer besiegt wen?“ steller, lange bevor er „Krieg Die größte Moskauer Tageszeitung und Frieden“ und „Anna Ka- räumte die erste Seite für die Nachricht tigkeit widerfahren. Neue Publikationen renina“ schrieb – und die junge Ehefrau von der Flucht frei und war sofort ausver- zeichnen ein differenzierteres Bild ihrer wollte ihn fortan bei seiner Arbeit unter- kauft. Reporter, Fotografen und Kamera- Persönlichkeit und der höchst komplizier- stützen und ihm „dienen“. männer versammelten sich vor dem Bahn- ten Ehe mit dem Dichter. Sie begann an seiner Seite ein neues hofshaus. Die Angelegenheit wurde zu In seinem Roman „Tolstojs letztes Jahr“ Tagebuch, das sie ein halbes Jahrhundert einem der ersten großen Medienereignisse erzählt der Literaturwissenschaftler Jay Pa- hindurch führte – parallel zu dem ihres vor dem Ersten Weltkrieg, ein Ereignis, rini aus sechs verschiedenen Perspektiven Mannes, der ebenfalls ausführlich das ge- das weit über Russlands Grenzen hinaus von der sich immer weiter zuspitzenden meinsame Leben protokollierte. Kaum Beachtung fand. Um Unruhen und Men- Krise, vom Ehekrieg im Hause Tolstoi**. eine Ehe ist deshalb so gut dokumentiert schenaufläufe zu verhindern, schickte die Die Ehefrau darf sich hier ausgiebig gegen wie die Tolstoische, die so verheißungs- russische Regierung sogar Ordnungskräfte die Vorwürfe verteidigen, die sie daheim voll, ja glücklich begann und in einem nach Astapowo. von ihrem Mann und anderen zu hören Desaster endete. Auch in literarischen Auch die Ehefrau reiste an: Die Moskau- bekommt. Texten hat Tolstoi mit autobiografischen er Zeitung hatte ihr in einem Telegramm Parinis Roman dient zudem als Vorlage Details nicht gespart, zum Verdruss seiner verraten, wo sich der Sterbende aufhielt. für einen unlängst abgedrehten Film, der oftmals verzweifelten Ehefrau. Sie hatte einen eigens gemieteten Sonder- 2009 in die Kinos kommen wird. Sein Titel Deren in einer schönen, handlichen und zug genommen und stand nun hilflos vor (wie auch der Originaltitel des Romans): sorgfältig edierten Ausgabe publizierter Ro- der Tür, schaute durchs Fenster, schon da- „The Last Station“. Christopher Plummer man „Eine Frage der Schuld“, ein literari- mals von Fotografen und den ersten Ka- sches Kleinod, ist erklärtermaßen eine Ant- meraleuten gnadenlos verfolgt. Zu ihrem * Helen Mirren und Christopher Plummer bei Dreh- wort auf einen der bekanntesten Texte Tol- Mann wurde sie erst gelassen, als er kaum arbeiten zu „The Last Station“, im Mai 2008. stois, nämlich die furiose und verstörende noch reden konnte. Die dem Vater ergebe- ** Jay Parini: „Tolstojs letztes Jahr“. Aus dem Englischen „Kreutzersonate“. Die Erzählung entstand von Barbara Rojhan-Deyk. Verlag C. H. Beck, München; ne Tochter Alexandra, Sascha genannt, 360 Seiten; 19,90 Euro. 1889, nach 27 Ehejahren, und war Wutschrei einer der Söhne, der Arzt und andere Ver- *** Ursula Keller/Natalja Sharandak: „Sofja Andrejewna und Selbstanklage zugleich – verkleidet als traute waren der Meinung, so den Willen Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs“. Insel Verlag, fiktive Beichte eines Mannes, der zum Mör- des Sterbenden am besten zu respektieren. Frankfurt am Main; ca. 380 Seiten; ca. 24,80 Euro. der seiner eigenen Frau geworden ist. **** Sofja Tolstaja: „Eine Frage der Schuld“. Aus dem Nach dem Tod Tolstois wurde Sofja Tol- Russischen von Alfred Frank. Manesse Verlag, Zürich; Der Protagonist der „Kreutzersonate“, staja immer wieder als uneinsichtige und 320 Seiten; 19,95 Euro. der die Mutter seiner fünf Kinder aus

der spiegel 1/2009 127 Kultur wahnhafter Eifersucht erdolcht, las in seinen Tagebüchern (wie hat ein Frauenbild, das zur Zeit er auch in ihren), fürchtete, der Niederschrift auch in der dass er ihr und der Familie russischen Gesellschaft schon testamentarisch die Rechte an obsolet war. Der Ehefrau, so seinem Werk entziehen könnte. spricht dieser Psodnyschew, sol- Sie notierte: „Wer besiegt wen? le allein das Wohl der Familie Wenn man bedenkt, dass dieser am Herzen liegen, sie müsse verbissene Kampf zwischen sich versagen, im Manne die zwei Menschen stattfindet, die „stärkste, schlimmste und hart- einander einst so glühend ge- näckigste Leidenschaft“ hervor- liebt haben!“ zulocken, nämlich „die fleisch- Tolstoi beklagt in seinem liche, die sexuelle Liebe“. letzten Jahr, dass sie nicht auf- Die „Kreutzersonate“ erreg- höre, „mich zu kontrollieren, te bei den Zeitgenossen unge- zu überwachen“, sie wühle in heures Aufsehen. Die Erzäh- seinen Papieren: „Mit ihr zu lung, so rückwärtsgewandt und leben ist unmöglich.“ frauenfeindlich sie sich in Wahr- In seinem Roman versucht heit gebärdet, wirkte radikal – Jay Parini, all das vielstimmig für die damalige Zeit waren in- einzufangen. Neben der Ehe- time Vorgänge ungewohnt deut- frau kommen zu Wort: der lich benannt. Leibarzt, ein Sekretär, die Auch die Ambivalenz irri- Tochter Sascha, Tolstois auf- tierte nicht wenige: Psodny- dringlicher Freund Wladimir schew nämlich klagt sich rück- Tschertkow und behutsam auch blickend selbst als Wüstling an, Tolstoi selbst. als einer, der seiner jungen Frau Stoff genug fand Parini vor. das „Laster erst angewöhnen“ Denn das Jahr 1910 ist – wie so

musste, „um einen Genuss da- / AKG SOTHEBY'S viele davor – nicht nur durch von zu haben“, und der später Gemälde „Kreutzersonate“*: „Einst so glühend geliebt“ das Ehepaar selbst akribisch vor Eifersucht vergeht. protokolliert, sondern von vie- Schuld an allem aber sei das lockende sexuellen Ausschweifungen vor der Ehe len Zeugen „gleichsam gegengezeichnet“ Weib – und eine Gesellschaft, die das „die und die anhaltende Begehrlichkeit unter- (Stefan Zweig) worden. Im Hause Tolstoi Sinnlichkeit geradezu herausfordernde schlagen. Im Tagebuch klagt sich der Fa- scheint sich jeder Notizen gemacht zu Zurschaustellen und Schmücken des eige- milienvater im Juli 1908 rückblickend an: haben: die Kinder, der Sekretär, der Arzt, nen Körpers“ gestatte. Zwar sei er seiner Frau niemals untreu, Freunde und gelegentliche Besucher. Aus Es wären diese Ansichten wohl als lite- dafür „von gemeiner, verbrecherischer diesem Fundus hat sich früh die Tochter rarische Zuspitzung und Rollenprosa durch- Gier nun auf mein Weib beherrscht“ ge- Sascha bedient: Schon 1923 erschien ihr gegangen, hätte Tolstoi sich nicht in einem wesen. Erinnerungsbuch „Tolstois Flucht und Nachwort auf die Seite seines mörderischen Viele bisher unbekannte Texte von Tod“ mit Auszügen aus den „Briefen und Helden geschlagen. „Man soll weder vor Sofja Tolstaja kreisen um das gleiche The- Tagebüchern von Leo Tolstoi, dessen Gat- noch in der Ehe ein ausschweifendes Leben ma, um Tolstois Vergangenheit, „all das tin, seines Arztes und seiner Freunde“ (un- führen, man soll die Zeugung von Kindern Unzüchtige“, von dem sie wenige Tage vor längst als Diogenes-Taschenbuch neu auf- nicht künstlich unterbinden“, forderte der der Hochzeit aus seinen Tagebüchern er- gelegt). Dichter, und schon gar nicht solle man fuhr („mein ganzes Leben litt ich darun- Statt ebenfalls die Dokumente für sich „eine Liebesvereinigung über alles stellen“. ter“). Es ist von „qualvollen Schmerzen sprechen zu lassen, wollte Jay Parini als Sofja Tolstaja musste die „Kreutzerso- und unerträglicher Scham“ in der Hoch- Romancier glänzen (und zugleich eine nate“ als Angriff auf sich selbst verstehen. zeitsnacht die Rede. In der Biografie von Filmvorlage liefern) – er hat die Dramatik Zu deutlich waren die Parallelen zur eige- Ursula Keller und Natalja Sharandak wer- des letzten Jahres in fiktiven Monologen nen Ehe. Wenn der Held der Erzählung, den viele Texte erstmals zitiert. umkreist. So ergibt sich zwar ein plasti- der vor der Ehe „mit mehreren Frauen Die Zeit, in der Tolstoi seine großen Ro- sches Bild der Ehetragödie, aber kitschi- verkehrt“ hat und der der unerfahrenen mane schrieb, deren Entstehung seine Frau ge Formulierungen zerstören die im Nach- Braut kurz vor der Hochzeit seine intimen begeistert begleitete, war die glücklichste. wort behauptete Nähe zu den Quellen, Tagebücher zu lesen gibt (um einen Die Auseinandersetzungen und gegensei- etwa wenn Parini Sofja Tolstaja sich so Schlussstrich unter sein ausschweifendes tigen Verletzungen begannen erst nach an ihren Mann erinnern lässt: „Er hob das Leben zu ziehen), wenn er sich ein „für zwei Jahrzehnten richtig aufzuflammen, feurige Schwert der Liebe und nahm immer verdorbenes Geschöpf“ nennt und als der berühmte Dichter von der Literatur mich.“ sich vornimmt, „nach der Trauung keine kaum noch etwas wissen wollte und er- Wie anders dagegen jene verbürgte andere Frau mehr anzusehen“, so kannte bauliche, von Religiosität geprägte Schrif- Antwort auf den Abschiedsbrief ihre Man- sie das alles nur zu gut. ten zu veröffentlichen begann. nes. Verzweifelt bat sie ihn um Rückkehr: Sie kannte auch die Folgen. Sie hat am Die Ehefrau wollte ihm da nicht mehr „Ljowotschka, Freund meines ganzen eigenen Leib erfahren müssen, wie der folgen und begann, die Jünger zu hassen, Lebens, ich werde alles, alles tun, was Du Prediger der Enthaltsamkeit sich selbst die sich um ihren Gatten versammelten. willst, jeglichem Luxus gänzlich entsa- Lügen strafte, indem Tolstoi, der erklärte In ihrer Angst, dass er sie verlassen könn- gen; ich werde mit Deinen Freunden gut Verhütungsgegner, mit ihr dreizehn Kin- te, malte sie sich aus, „wie sinnlos und leer umgehen, ich werde mich ärztlich behan- der zeugte (drei Fehlgeburten nicht mit- mein Leben ohne ihn wäre“. Gleichzeitig deln lassen, ich werde sanft sein.“ Aber gezählt). wurden ihre Attacken immer heftiger. Sie sie ahnte, dass es zu spät war und schloss: Übrigens befürchtete Tolstoi im hohen „Nun lebe wohl, lebe wohl, vielleicht für Alter, spätere Biografen könnten seine * Von René François Xavier Prinet, 1901. immer.“ Volker Hage

128 der spiegel 1/2009 SPIEGEL-GESPRÄCH „Musik ist meine Luftblase“ Der Pianist Menahem Pressler über seine 53 Jahre im Beaux Arts Trio, die Flucht seiner Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland, ein verspätetes Abiturzeugnis und seine Alterskarriere als Solist

SPIEGEL: Herr Pressler, 53 Jahre lang ha- ben Sie im bedeutendsten Klaviertrio der Menahem Welt am Piano gesessen, jetzt hat sich Ihr Pressler Ensemble aufgelöst, Sie machen nun allein ist der wohl älteste weiter, warum? aktive Konzertpianist Pressler: Weil ein Leben ohne Musik für der Welt. Pressler, 85, mich kein Leben ist. Das Trio hat sich ja wurde als Sohn eines aufgelöst, weil Daniel Hope, unser letzter jüdischen Textilhänd- Geiger, eine Solokarriere anstrebte und ich lers in Magdeburg ge- keinen weiteren mehr erziehen wollte. boren und emigrierte Schließlich hatte ich fünf verschiedene Vio- 1939 mit seinen El- linisten im Laufe der Jahrzehnte. Und so tern nach Palästina, spiele ich eben mit anderen Ensembles wo er professionellen oder als Solist. Das ist auch herrlich. Klavierunterricht be- SPIEGEL: Wenn Sie sich kein Leben ohne kam. 1946 gewann Musik vorstellen können – was bedeutet Pressler den Debussy- dann die Musik für Sie? Piano-Wettbewerb in Pressler: Musik hat mich gerettet. Als ich San Francisco und mit meinen Eltern und meinem Bruder begann in den USA 1939 in letzter Minute über Triest nach Pa- seine Karriere als So- lästina auswandern konnte, habe ich in der list. 1955 gründete er neuen Heimat nicht mehr gegessen, und das Beaux Arts Trio, ich wurde immer dünner. Die Ärzte konn- das sich – mit wech- ten nichts finden. Was mich am Ende ge- selnden Geigern und heilt hat, war die Musik, das Spielen, das Cellisten – zum be- Lernen und am meisten das Empfinden. deutendsten Klavier- Ich erinnere mich noch, wie ich einmal bei trio der Welt entwi- einer Beethoven-Sonate ohnmächtig ge- ckelte. Das Ensemble worden bin. Wegen der Gefühle, auch we- löste sich im Jahr gen der Entkräftung. Wenn ich mich zur 2008 auf. Seitdem Ruhe setzen würde, verlöre ich den Zweck konzertiert Pressler meines Lebens. wieder als Solist.

SPIEGEL: Ist die Solokarriere auch die Ver- auch das Publikum. Eine Geschichte dazu: wirklichung eines Traums nach all den Jah- Wir haben mal einen Beethoven-Zyklus in ren im Trio? der Schweiz gespielt. Da saß immer der Pressler: Ja, ein bisschen bin ich ja zwischen- Maler Oskar Kokoschka im Publikum. durch auch schon immer mal ausgebro- Eines Tages fehlte er. Ich erkundigte mich chen, aber in unseren besten Jahren haben bei seiner Frau nach ihm. Sie sagte, er sei wir als Trio bis zu 130 Konzerte im Jahr ge- sehr krank. Ich antwortete, wie schade das geben. Außerdem lehre ich schon lange als sei und wie sehr er sicher die Beethoven- Professor in den USA. Stücke genossen hätte. Aber nein, sagte sie, SPIEGEL: Musste das denn auch noch sein? jetzt, da er bettlägerig ist, hört er nur noch Pressler: O ja, unbedingt. Als Lehrer lernt Schubert. Ich konnte das gut verstehen. man so viel von den Schülern. Und als SPIEGEL: Warum? Professor möchte ich den jungen Leuten Pressler: Schuberts Musik ist himmlisch beibringen, dass jedes Werk eine eigene schön, optimistisch sogar. Sie klagt manch- Botschaft hat. mal, aber sie weint nicht. Nehmen Sie den SPIEGEL: Welche Botschaft hat denn zum langsamen Satz aus dem zweiten Trio. Das Beispiel ein Haydn-Trio? ist ein Trauermarsch, aber am Ende ist da Pressler: Die Freude am Spiel an sich, der Jubel. Das ist ein Stück Musik, das einen Witz, die wunderbare Art, in der die Melo- immer glücklich machen kann. SPIEGEL: OLIVER SCHMAUCH (O.); UNIVERSITY OF INDIANA (U.) UNIVERSITY (O.); SCHMAUCH OLIVER dien geführt werden. Wissen Sie, immer Als Sie 1955 mit dem Beaux Arts Pianist Pressler (1968) wenn ich spiele, ob beim Üben oder im Kon- Trio anfingen, war Ihre Besetzung im Kon- „Ohnmächtig bei einer Beethoven-Sonate“ zert, suche ich die Botschaft. Das merkt zertsaal sehr ungewöhnlich …

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Schubert waren doch auch nicht gleich populär. Zu Lebzeiten Beethovens war sein beliebtestes Stück das musikalische Schlachtengemälde „Wellingtons Sieg“ von 1813, ein schreckliches Werk. Beethoven wusste das natürlich auch. SPIEGEL: Sie scheinen eine überaus posi- tive Lebenseinstellung zu haben. Pressler: Ja, ich bin ein Optimist. Meine Frau nennt mich sogar einen Glückspilz. Und dafür gibt es unzählige Gründe. Ich habe gute Gene, bin 85 und kann noch konzertieren. Ich brauche auch keine Brille. Und dann sind wir als Juden noch 1938 aus Deutschland rausgekommen. Mit Glück. SPIEGEL: In letzter Minute. Pressler: Das Schiff, das uns schließlich von Triest nach Palästina brachte, durfte nicht mehr zurückkehren, weil Italien in den Krieg eingetreten war. In Palästina traf ich einen wunderbaren Klavierlehrer. Schon wieder ein Glücksfall. Und dann sah ich in einer Zeitung eine Annonce für einen Debussy-Klavierwettbewerb in San Fran- cisco. Von Debussy kannte ich gerade mal

WARNER MUSIC WARNER zwei Stücke. Ich übte noch ein paar ande- Beaux Arts Trio mit Antonio Meneses, Pressler, Hope (2007): „Das Ego zurückstellen“ re, fuhr in die USA und gewann den Wett- bewerb. Und auf der Zwischenstation in Pressler: … die Leute nannten uns am An- Pressler: Ein Gespräch zwischen drei Men- New York … fang immer „das Orchester des kleinen schen an drei Instrumenten. Schön ist es, SPIEGEL: … stieß Ihnen natürlich wieder Mannes“. Die dachten, da kommt ein ar- wenn einer dem anderen eine Phrase zu- etwas Glückhaftes zu. mer Pianist, der sich nur einen Geiger und wirft und der andere sie richtiggehend be- Pressler: Woher wissen Sie das? Ich ging zu einen Cellisten leisten kann. Aber wir antwortet, statt nur seine Noten zu spielen. Steinway und spielte dort auf einem Flügel. tingelten tapfer durch die amerikanischen Das sind die großen Momente. Da kam ein älterer Herr, der sich als Mr. Kleinstädte. SPIEGEL: Und menschlich? Steinway vorstellte, und sagte: Mein Junge, SPIEGEL: Ein hartes Brot. Pressler: Ist es vielleicht noch schwerer. Steinway ist jetzt dein Haus. Du bekommst Pressler: Ja, die Leute hatten keine Lust Denn man lebt auf Tourneen quasi zusam- einen Schlüssel und kannst für den Wett- auf Kammermusik. Die dachten sich höchs- men. Und bei den Proben fallen oft harte bewerb üben, wann du willst. tens: Das ist wie Medizin, es ist vielleicht Worte. Da muss man sich als Pianist Sätze SPIEGEL: Ihr Leben verlief ja in Wahrheit gut für mich, aber sie schmeckt nicht. Ich anhören wie: „Was du da spielst, sind kei- keineswegs nur als Glücksfall. Die ersten erzähle Ihnen eine wahre Geschichte. ne sanften Regentropfen, bei 15 Jahre lebten Sie in Magde- SPIEGEL: Unbedingt. dir purzeln Wackersteine.“ burg, zuletzt unter der Nazi- Pressler: Wir spielten in einer Universi- Das muss man verkraften. Herrschaft. Welche Erinne- tätsstadt, und die Frau des Dekans wollte SPIEGEL: Ihr Repertoire kon- rungen haben Sie daran? nett zu mir sein und sagte: Herr Pressler, zentriert sich im Wesent- Pressler: Gute und schlech- Sie waren großartig. Ich weiß, wie schwer lichen auf die großen Stücke te. Viele Dinge habe ich mit es ist, einen zu begleiten, aber gleich zwei? aus Klassik und Romantik. Absicht vergessen. Es gab So wenig wussten selbst die gebildeten Warum? aber auch eine merkwürdige Menschen über ein Klaviertrio. Aber als Pressler: Ich habe gerade ein Episode, die ich mich kaum die Leute begannen, uns für das nächste Stück von meinem Freund zu erzählen traue. Mein Bru- Jahr wieder zu verpflichten, hatten wir es György Kurtág einstudiert, in der hatte sich beim Radfah- allmählich geschafft. 14 Tagen. Das war, als müsste ren einen Fuß gebrochen, SPIEGEL: Ein Trio sollte aus drei Solisten man in zwei Wochen Chine- und zwei SA-Männer brach- bestehen … sisch lernen. Aber es hat sich ten ihn zu uns zurück. Sie Pressler: … die sich auf keinen Fall als sol- gelohnt. Ich habe aber, da ha- hatten seinen Fuß geschient

che aufführen dürfen. Die müssen ihr Ego ben Sie recht, nicht viel Mo- AKG und ihn damit gerettet. zurückstellen. Schauen Sie, als ich anfing, dernes gespielt. Wenn, dann Komponist Debussy* SPIEGEL: Wie haben Sie den gab es das berühmte Trio mit Alfred Cor- eigentlich nur, um die alte „Nur zwei Stücke“ 9. November 1938 erlebt, die tot, Jacques Thibaud und Pablo Casals, das Musik besser zu verstehen. Pogromnacht? sich gelegentlich zusammenfand. Die drei SPIEGEL: Den Zuhörern geht es vermutlich Pressler: Wir saßen in unserem Haus und spielten jeder für sich himmlisch. Aber nicht anders. hatten Angst. Unten in unserem Beklei- letztlich waren sie drei Diven, von denen Pressler: Ja, sicher. Aber ich bin überzeugt, dungsgeschäft wurden die Scheiben einge- jede sehnsüchtig darauf wartete, dass end- dass sich die Meister der Moderne auf Dau- schlagen und die Waren herumgeworfen. lich eine schöne Melodie für das eigene er durchsetzen werden. Béla Bartók, Igor Danach wurde das Unternehmen liqui- Instrument kam. Jeder muss aber dem Strawinsky, das sind doch heute Klassi- diert. Ich durfte nicht mehr aufs Gymna- anderen Raum lassen. Keiner darf domi- ker. Bei der Uraufführung des „Sacre du sium und bekam Privatunterricht. nieren. Das ist schwer. printemps“ 1913 in Paris gab es noch hefti- SPIEGEL: Im Idealfall entsteht was? ge Saalschlachten. Beethoven, Mozart oder * Karikatur von Hans Lindloff, 1913.

130 der spiegel 1/2009 SPIEGEL: Wie haben Sie diese Zeit psychisch Im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere durchgehalten? Jahresbestseller 2008 Informationen und Auswahlkriterien finden Sie Pressler: Die Musik war für mich eine Art online unter: www.spiegel.de/bestseller Luftblase, die mich umgab und schützte. Belletristik Sachbücher Und so ist es bis heute geblieben. SPIEGEL: In Magdeburg hießen Sie noch 1 Charlotte Roche 1 Richard D. Precht Max. Feuchtgebiete Wer bin ich – Pressler: Meine Eltern haben mich Max DuMont Buch; 14,90 Euro und wenn ja, Menahem genannt. Als ich dann von Pa- wie viele? lästina in die Vereinigten Staaten ging, ha- Goldmann; 14,95 Euro be ich den Max weggelassen. Das war ein An die Spitze Philosophie für jeder- bewusster Akt, weil ich auf diese Weise geflutscht: der Amoklauf mann: amüsante gegen Intimrasur meine Dankbarkeit für das zeigen wollte, Einführung in Geistes- und den sozialen Zwang geschichte, Hirn- was mir Israel gegeben hat. Da habe ich zur Reinlichkeit forschung und Psychologie mich umfangen gefühlt in einer großen Ge- meinde. 2 Ken Follett Die Tore der Welt 2 Hape Kerkeling Ich bin dann Lübbe; 24,95 Euro mal weg Malik; 19,90 Euro 3 Christopher Paolini Eragon – 3 Helmut Schmidt Außer Dienst Die Weisheit des Feuers Siedler; 22,95 Euro cbj; 24,95 Euro 4 Michael Winterhoff Warum unsere Kinder Tyrannen 4 Joanne K. Rowling Die Märchen werden Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro von Beedle dem Barden 5 Rhonda Byrne Carlsen; 12,90 Euro The Secret – Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro 5 Uwe Tellkamp Der Turm 6 Eduard Augustin / Philipp von OLIVER SCHMAUCH OLIVER Suhrkamp; 24,80 Euro Pressler beim SPIEGEL-Gespräch* Keisenberg / Christian Zaschke „Ich fühle mich in Deutschland zu Hause“ 6 Siegfried Lenz Schweigeminute Ein Mann – Ein Buch Hoffmann und Campe; 15,95 Euro Süddeutsche Zeitung; 19,90 Euro SPIEGEL: 7 Steffen Möller Warum haben Sie, im Gegensatz 7 Stephenie Meyer Bis(s) zum Viva Polonia zu anderen jüdischen Künstlern, nach Scherz; 14,90 Euro dem Krieg wieder in Deutschland konzer- Abendrot Carlsen; 22,90 Euro 8 Bushido / Lars Amend Bushido tiert? 8 Carlos Ruiz Zafón Das Spiel Pressler: Riva; 19,90 Euro Ich fühle mich in Deutschland zu des Engels S. Fischer; 24,95 Euro Hause. Und ich habe empfunden, dass ich 9 Roberto Saviano Gomorrha 9 Cornelia Funke verzeihen kann und muss. Vergessen kann Tintenherz Hanser; 21,50 Euro ich nicht. Das darf man nicht. Meine Frau C. Dressler; 19,90 Euro 10 Eva-Maria Zurhorst Liebe dich hatte dann die Idee, spende doch alles, was 10 Stephenie Meyer Bis(s) zur selbst Arkana; 18,90 Euro du in Deutschland verdient hast, für israe- Mittagsstunde Carlsen; 19,90 Euro 11 Mark Spörrle / Lutz Schumacher lische Projekte. Das tue ich zum Teil noch heute. 11 Volker Klüpfel / Michael Kobr „Senk ju vor träwelling“ Herder; 12 Euro SPIEGEL: Wie empfinden Sie Ihr Lebens- Laienspiel Piper; 14 Euro 12 Oliver Kahn Ich dreieck aus den Ländern Deutschland, Is- 12 Muriel Barbery rael und den USA? Die Eleganz Riva; 24,90 Euro Pressler: des Igels dtv premium; 14,90 Euro Ein starkes Dreieck. Israel hat 13 Barack Obama Ein amerikanischer mir die Menschenwürde zurückgegeben, 13 Dora Heldt Urlaub mit Papa Traum Hanser; 24,90 Euro Deutschland ist das Land meiner Sprache, dtv premium; 12 Euro der Musik, die ich liebe, und des Essens, 14 Esther Hicks / Jerry Hicks das ich mag. Und Amerika hat mir die Frei- 14 Cecelia Ahern Ich hab dich The Law of Attraction heit gegeben, mich zu entwickeln. Und alle im Gefühl W. Krüger; 16,90 Euro Allegria; 16,90 Euro Ehren, die man bekommen kann, noch 15 Dieter Bohlen 15 Henning Mankell Der Chinese Der Bohlenweg dazu! In Deutschland habe ich das Bundes- Heyne; 19,95 Euro Zsolnay; 24,90 Euro verdienstkreuz Erster Klasse erhalten. Es 16 Loki Schmidt / Reinhold wurde mir in Magdeburg verliehen. Da be- 16 Ildefonso Falcones Beckmann „Erzähl doch mal kam ich auch noch nachträglich mein Abi- Die Kathedrale des Meeres von früher“ Hoffmann und Campe; 19,95 Euro turzeugnis und wurde Ehrenbürger. Das Scherz; 19,90 Euro hat mich alles sehr bewegt. 17 Randy Pausch / Jeffrey Zaslow SPIEGEL: Wie alt fühlen Sie sich, kurz nach 17 Khaled Hosseini Tausend Last Lecture – Die Lehren meines Ihrem 85. Geburtstag? strahlende Sonnen Bloomsbury; 22 Euro Lebens C. Bertelsmann; 16,95 Euro Pressler: Jung, sehr jung. Wenn ich die 18 Katharina Hagena 18 Heike Blümner / Jacqueline Treppe raufgehe, allerdings wie 75. Wenn Thomae Der Geschmack von Apfelkernen Eine Frau – Ein Buch ich sitze, wie 50. Und wenn ich spiele, Süddeutsche Zeitung; 19,90 Euro wie 30. Kiepenheuer & Witsch; 16,95 Euro SPIEGEL: 19 Ruediger Schache Herr Pressler, wir danken Ihnen 19 Alan Bennett Die souveräne für dieses Gespräch. Das Geheimnis des Herzmagneten Leserin Wagenbach; 14,90 Euro Nymphenburger; 16,95 Euro 20 Stieg Larsson 20 Tim Weiner * Mit den Redakteuren Joachim Kronsbein und Martin Vergebung CIA – Die ganze Doerry im Kölner Hotel Excelsior. Heyne; 22,95 Euro Geschichte S. Fischer; 22,90 Euro

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ESSAY Blindflug durch die Welt Die Finanzkrise als Epochenwandel / Von Harald Welzer

urz bevor die Investmentbank Lehman Brothers pleite- auslaufen, treffen die einzelnen Funktionsbereiche und Betroffe- ging, ließ Josef Ackermann verlauten, dass das Gröbste nen eben zu unterschiedlichen Zeiten, weshalb eine soziale Kata- Küberstanden sei. Als sich nach den ersten heftigen Erup- strophe selten von den Zeitgenossen erkannt, sondern erst später tionen am Finanzmarkt eine Wirtschaftskrise gigantischen Aus- von Historikern festgestellt wird. Bis die, die anfangs vermeintlich maßes abzeichnete, teilten die Wirtschaftsforschungsinstitute mit, nur Zuschauer am Rand der Arena waren, dann nach und nach dass es Ende 2009 wieder aufwärtsginge. Und punktgenau zum selbst erwischt werden, hat sich die Welt schon erheblich verändert großen Crash erschien das Buch des CDU-Finanzexperten Fried- und mit ihr das, was man für normal oder unnormal hält. rich Merz mit dem wahrhaft visionären Titel „Mehr Kapitalismus Ökologen verzweifeln gelegentlich daran, dass Menschen nicht wagen“. In den hektischen Wochen seither überbieten sich Poli- registrieren, wie sich ihre Umwelt über die Zeit verändert. Eine tiker und Experten darin, Konsumanreize zu erfinden, als wäre Studie mit mehreren Generationen kalifornischer Fischer hat ge- der Kapitalismus ein Perpetuum mobile, das man durch Antippen zeigt, dass die jüngsten das geringste Problembewusstsein hatten, in eine Kreisbewegung endloser Wertschöpfung versetzen könne. was Überfischung und Artensterben anging – sie hatten nämlich Auf die Idee, es handele sich hier möglicherweise um etwas an- kaum eine Vorstellung davon, dass es dort, wo sie ihre Netze deres als eine „Krise“, kommt offenbar niemand. Deshalb wird auswarfen, jemals mehr und andere Fische gegeben hatte. verfahren wie üblich: Man leiht Geld, Solche „shifting baselines“, Verän- dreht an fiskalischen Stellschrauben derungen von Wahrnehmungen und und hofft dringend darauf, dass das Werten parallel zu sich wandelnden doch bitte alles bald vorüber sein Umwelten, gibt es auch im sozialen möge. Bereich: Man denke an den gesamt- Das Fehlen jeglicher Klarsicht in gesellschaftlichen Wertewandel im Na- der Einschätzung des Ausmaßes und tionalsozialismus, in dem es die meis- der Folgen des Debakels deutet ten nichtjüdischen Deutschen 1933 für freilich an, dass das, was gerade ge- völlig undenkbar gehalten hätten, dass schieht, systemisch gar nicht vor- nur wenige Jahre später unter ihrer gesehen ist. Auftragsrückgänge um tätigen Teilhabe die Juden nicht nur ein Drittel in Schlüsselindustrien? Zu- ihrer Rechte und Besitztümer beraubt, sammenbrüche von Banken, ange- sondern zur Tötung abtransportiert schlagene Versicherungskonzerne, so- würden. Dieselben Leute sehen ab gar Staaten am Rande des Bankrotts? 1941 die Deportationszüge in den Os- Rettungsaktionen in zwei-, dreistelli- ten abfahren, nicht wenige von ihnen ger Milliardenhöhe, Schutzschirme haben inzwischen „arisierte“ Küchen- für Spargroschen wie für internatio- einrichtungen, Wohnzimmergarnitu-

nale Konzerne? Verstaatlichungen? BILD ULLSTEIN ren oder Kunstwerke gekauft, einige Und sind all die dafür nötigen Milliar- Private Idylle im NS-Regime führen Geschäfte oder wohnen in den nicht weiteres virtuelles Geld, In Deutschland blieb Hitlers Welt Häusern, die den jüdischen Besitzern das in ein System gefüttert wird, das genommen worden sind. Und finden gerade wegen seiner virtuellen Ge- nach der „Machtergreifung“ voll das völlig normal. schäftsgrundlage vor dem Kollaps von Alltag, Farbe und Gewohntem. Dass kaum auffällt, wie radikal sich steht? die Lebenswelt und die zu ihr gehö- Obwohl sich das wirtschaftliche Unheil in unverminderter Ra- renden Normen und Selbstverständlichkeiten verändern, liegt sanz entfaltet und von einer Branche auf die nächste übergreift, auch daran, dass die fühlbaren Veränderungen nur einen Teil, oft erweckt das Basteln, Kitten und Stopfen, das Einberufen von einen verschwindend geringen, der gelebten Wirklichkeit betref- Ministerrunden und Spitzentreffen den Eindruck, als würde hier fen. Es wird chronisch unterschätzt, wie viel die Routinen des All- eine Krise gemanagt. Und der Anschein von „business as usual“ tags, die gewohnten Abläufe, das Weiterbestehen von Institu- wirkt. Die Leute reagieren besorgt, aber nicht panisch. Dass sie tionen, Medien, Versorgung dazu beitragen, dass man glaubt, ihr Geld auf der Sparkasse lassen, bringt ein überraschendes Sys- eigentlich würde gar nichts weiter geschehen: Busse fahren, Flug- temvertrauen zum Ausdruck, und trotz der täglich einlaufenden zeuge fliegen, Autos stehen im Feierabendstau, die Geschäfte de- Horrormeldungen aus der Global Economy scheinen die Bürge- korieren weihnachtlich. Genauso blieb auch Hitlers Welt nach der rinnen und Bürger nur mäßig aufgeregt. Was zeigt das alles? „Machtergreifung“ voll von Alltag, Farbe und Gewohntem. All Zunächst mal, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische das bezeugt Normalität und stützt die tiefe Überzeugung, dass betrachtet, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur alles beim Alten ist. selten als solche empfunden werden. Man wundert sich im Nach- In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben hinein darüber, dass Franz Kafka am Tag nach der deutschen Menschen Gegenwart. Soziale Katastrophen passieren im Unter- Kriegserklärung an Russland lapidar in sein Tagebuch eintrug: schied zu Hurrikans und Erdbeben nicht abrupt, sondern sind ein „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag für die begleitende Wahrnehmung nahezu unsichtbarer Prozess, Schwimmschule.“ Die Schockwellen, die in modernen, differen- der erst durch Begriffe wie „Kollaps“ oder „Zivilisationsbruch“ zierten Gesellschaften von einem initialen Katastrophenereignis nachträglich auf ein eruptives Ereignis verdichtet wird. Fragen,

132 der spiegel 1/2009 warum nicht gesehen wurde, dass eine Entwicklung auf die Ka- und Verlierer zurücklassen, und es ist keineswegs sicher, zu wel- tastrophe zusteuerte, stellen Historiker in dem Wissen darum, wie cher Gruppe Europa am Ende gehören wird. Die Meere werden die Sache ausgegangen ist. Sie blicken vom Ende einer Geschichte in irreversibler Weise überfischt, was Ernährungsprobleme unbe- auf ihren Beginn und erzählen als Retro-Prognostiker, wie es zu kannten Ausmaßes zur Folge haben wird. Der Treibstoff für die Er- diesem oder jenem Ergebnis kam, gar kommen musste. zeugung scheinbar immerwährenden Wachstums versiegt. Dieser Mit Prognosen, die die Zukunft betreffen, ist es etwas schwie- Nachschub, dieses Außen fehlt, und nun wird vor allem an den riger. Bekanntlich wächst mit dem Wissen auch das Nichtwissen Überlebensmöglichkeiten der kommenden Generationen Raubbau an, aber bislang haben wir das mit Karl Popper eher optimistisch betrieben, durch die Staatsverschuldung ebenso wie durch die gedeutet, als Dauerherausforderung für Wissensgesellschaften. Überlastung der natürlichen Ressourcen. Dieser Zukunftskolonia- Die sich gegenwärtig addierenden Krisen – Klima und Umwelt, lismus wird sich schon deshalb rächen, weil Generationenunge- Energie, Ressourcen und Finanzen – machen aber deutlich, dass rechtigkeit einer der stärksten Auslöser für radikale gesellschaft- wir es an vielen Fronten mit einem uferlos gewordenen Nicht- liche Veränderungen ist. Und die müssen nicht positiv ausfallen, wissen über die Konsequenzen unseres Handelns zu tun haben. wie das Generationenprojekt Nationalsozialismus gezeigt hat. Deutet das Fehlen jeder Expertise womöglich an, dass wir uns bereits an einem systemischen „tipping point“ befinden, in Übermaß an Problemen bei gleichzeitig fehlenden von dem ab Entwicklungen nicht mehr korrigierbar sind? Der Lösungsmöglichkeiten führt zu dem, was die Psychologie letzte liegt nicht einmal zwei Jahrzehnte zurück: der von nie- Ekognitive Dissonanz nennt. Sie kann nur reduziert werden, mandem vorhergesagte Zusammenbruch einer kompletten poli- wenn man statt der Probleme die Einstellung zu ihnen bearbeitet. tischen Hemisphäre mit seinen tiefgreifenden Folgen für die Staa- Also: Die Regierung hat die Finanzkrise ja wohl im Griff, für die tenfiguration. Damals schien der Siegeszug des Westens endgül- Energieprobleme wird es schon Lösungen geben, das mit dem Kli- tig besiegelt, wurde voreilig das Ende der Geschichte verkündet, ma kann ja so schlimm nicht kommen. Oder nach Groucho Marx: aber inzwischen sieht es danach aus, dass Historiker in 50 Jahren Was kümmert mich die Nachwelt, hat die Nachwelt sich je um den Beginn des Untergangs der Demokratien auf 1989 datieren mich gekümmert? und die weltweite Finanzkrise nur 19 Jahre später als die nächste Die Möglichkeiten solcher Dissonanzreduktion sind vielfältig, Stufe auf dem lange zuvor schon eingeläuteten Abstieg deuten besonders dann, wenn einem die Probleme noch nicht direkt auf könnten. den Leib gerückt sind. Deshalb wird die Erreichbarkeit der not- Stabilitätserwartungen an Systeme wendigsten Klimaziele ruiniert, des- sind nicht schon dadurch gerechtfer- halb werden energiepolitisch die Wei- tigt, dass es ein paar Jahrzehnte gut- chen auf Crash gestellt. gegangen ist. Das 20. Jahrhundert hat Das alles kann man wissen, und aus eindringlich vorgeführt, dass wir je- diesem Wissen ergibt sich die zwin- derzeit mit extrem beschleunigten ge- gende Notwendigkeit nicht von Kor- sellschaftlichen Wandlungsprozessen rekturen, sondern eines grundlegen- zu rechnen haben. Und dass diese den Richtungswechsels, heraus aus nicht immer gut ausgehen. der Sackgasse. Allerdings stellt ein Nun lässt es sich gewiss als be- Ziel wie Generationengerechtigkeit schleunigter Wandel beschreiben, kurzfristige Wachstumskalküle genau- wenn wir von einem Augenblick auf so in Frage wie die Vorstellung, Glück den anderen erleben, wie ein ex- leite sich aus pausenloser Mobilität zessiver Wirtschaftsliberalismus von und 24-stündiger Beleuchtung des staatlichem Interventionismus abge- gesamten Planeten her. Und Arbeits- löst wird, der nicht nur in der Wirt- plätze ließen sich gegen Überlebens- schafts- und Finanz-, sondern auch in möglichkeiten verrechnen. Und Sinn der Klimapolitik alles auf den Kopf erschöpfe sich in Konsumanreizen.

stellt, was gerade noch als Gewissheit WEYER / DPA HELFRIED Gerade in der Krise zeigt sich, wie galt. Gleichwohl nimmt niemand die Eisberg in Grönland fatal es sich auswirkt, wenn ein Möglichkeit des kompletten Schei- Die Klimaforscher geben politisches Gemeinwesen keiner Idee terns ernst, und in dieser Hinsicht folgt, was es eigentlich sein will. sind Finanz-, Energie- und Klimakri- uns bloß noch sieben Gesellschaften, die die Erfüllung von se wahlverwandt. Man hält einen Zu- Jahre Zeit zum Umsteuern. Sinnbedürfnissen ausschließlich über sammenbruch des Finanz- und Wirt- Konsum befriedigen, haben in dem schaftssystems einfach für unmöglich, und ebenso wenig kann Augenblick, in dem mit einer funktionierenden Wirtschaft auch man sich vorstellen, dass die fossilen Ressourcen schon in weni- die Möglichkeit wegbricht, Identität, Sinn und Glücksgefühle zu gen Jahren so knapp werden, dass selbst in den reichsten Ländern kaufen, kein Netz, das ihren Fall aufhalten würde. der Welt Bezieher von niedrigen Einkommen ihre Wohnung nicht Genau an dieser Stelle liegt er, der kulturelle „tipping point“, mehr heizen können. Und man weigert sich zu glauben, dass bei und genau deshalb wird man nichts lösen können, wenn man einem weiteren Anstieg der Erderwärmung das Klimasystem aus sich die Frage nicht zumutet, wie man denn eigentlich in 10, 15, der Balance gerät und die Lebensbedingungen schon derjenigen, 20 Jahren leben möchte und was man dafür zu tun bereit wäre. die heute Kinder und Jugendliche sind, radikal einschränken Der Umbau einer Kultur, die von der irrigen Annahme ausgeht, wird. Es handelt sich um Megaprobleme, für die es derzeit keine man könne weitermachen wie bisher, ist freilich eine Aufgabe, die Lösungen gibt. nur ein politisches Gemeinwesen lösen kann, das sich als solches versteht. Da trifft es sich, dass die Experten im Augenblick keinen as ist das Wissen der Gegenwart? Die Emissionsmengen Plan haben. Vielleicht markiert ihr Blindflug ja den Beginn einer werden durch die globale Industrialisierung so anwach- Renaissance des Politischen. Wsen, dass die berühmten zwei Grad plus, die die Grenze der Kontrollierbarkeit der Klimafolgen markieren, nicht zu halten Der Sozialpsychologe Harald Welzer, 50, forscht am Kultur- sein werden. Zugleich geben uns die Klimaforscher bloß noch wissenschaftlichen Institut in Essen über Erinnerung und sieben Jahre Zeit zum Umsteuern. Die weltweit rapide wachsen- Gewalt. Zuletzt erschien sein Buch „Klimakriege. Wofür im de Konkurrenz um Ressourcen wird zu Gewalt führen und Sieger 21. Jahrhundert getötet wird“.

der spiegel 1/2009 133 Sänger Campino

RONALD WITTEK / DPA

POP Der Marathon-Mann Er ist einer der bekanntesten Deutschen. Mit seiner Band Die Toten Hosen steht er seit Wochen oben in der Hitparade, die Konzerte sind ausverkauft. Warum nur wirkt Campino trotz des Erfolgs so getrieben? Von Philipp Oehmke

uf der neuen Platte der Toten Ho- Und tatsächlich steht Campino da und Fußballnationalmannschaft zu sehen wa- sen gibt es ein Lied, das heißt „Er- trägt nur eine blaue Unterhose, ein Sonntag ren, kurz nachdem Jürgen Klinsmann ge- Atrinken“. In ihm fragt der Sänger: im November, ein Backstage-Raum einer kommen war. „Wo kommen all die Zweifel her / Die uns Konzerthalle, Bielefeld. In ein paar Stunden Andreas Meurer, genannt Andi, der Bas- ins Herz geschlichen sind / Und uns in letz- werden Die Toten Hosen – gegründet 1982, sist der Gruppe, steht im Türrahmen und ter Zeit so in Frage stellen?“ seitdem mehr als 11 Millionen verkaufter macht Fotos: „Früher haben wir um diese Andere Stücke dieses 19. Albums der Alben – ein Aufwärmkonzert spielen, eine Uhrzeit eine Line Speed gezogen.“ Toten Hosen in 26 Jahren heißen „Angst“, Generalprobe für die monatelange Tour- Dann werden Campino beide Füße ban- „Auflösen“ oder „Pessimist“. Sie handeln nee. Aus der Unterhose heraus gucken dagiert. Außerdem hat der Physiothera- von Verunsicherung, der Sehnsucht nach weiße Männerbeine, am seitlichen Schien- peut schwarze Hightech-Nylonstrümpfe Akzeptanz, dem Verlust von Träumen. Die bein eine verblichene Tätowierung, der ge- aus Australien kommen lassen und rät, die- Texte sind nicht besonders kompliziert, kreuzigte Jesus. Campino ist jetzt 46. Seine se über die Beine zu ziehen: „Dreißig Pro- auch nicht ironisch. Sie sind direkt. Hier Beine werden auf Kniehöhe von einem zent mehr Durchblutung.“ Sie sehen aus spricht jemand, der sich entschlossen hat, grünen Gummiband zusammengehalten. wie Thrombosestrümpfe. Campino kämpft Hüllen fallen zu lassen; der seine Zweifel „Dies ist ein Experiment“, sagt er und mit sich, das sieht man. „Wir haben gesagt, nicht mehr für sich behalten wollte. Das deutet auf das Gummiband. Die Toten Ho- wir probieren das aus, also probieren wir gibt es nicht so oft im Popgeschäft. sen, Deutschlands Vorzeige-Punkband, ha- es auch aus“, sagt er und zieht die Nylon- Warum also tut jemand so etwas, vor ben jetzt einen Physiotherapeuten: Auf- strümpfe über. Zum Schluss schnallt er sich allem wenn dieser Mann Campino ist, der wärmgymnastik, Regeneration, Ernährung, Kniebandagen um. An seinen Beinen ist Sänger der Toten Hosen, nun auch an der Massagen. jetzt nicht mehr viel Haut zu sehen. Seite von Dennis Hopper Hauptdarsteller Der Physiotherapeut lässt Campino Die Frage, ob man als Musiker oder gar im neuen Wim-Wenders-Film; einer, der Übungen ausführen. Fünf Schritte in die Punkmusiker in Würde alt werden kann, nie wieder arbeiten muss, den fast jeder eine, fünf in die andere Richtung. Es ist ist inzwischen langweilig, da hinlänglich Deutsche kennt, zu dem fast jeder eine zu eng in dem Raum, es klappt nicht rich- beantwortet: Man kann. Bob Dylan oder Meinung hat. Warum zieht sich so einer tig, aber ein bisschen erinnert es an jene Iggy Pop, Neil Young oder Johnny Cash, derart aus? Bilder, die vom Training der deutschen sie alle zeigen oder haben gezeigt, dass

134 der spiegel 1/2009 Kultur sich die Haltungen des Rock von der Ju- kreuzt, die Augen, zusammengekniffen, aus ihm heraus. Nach dem Auftritt hat er gend entkoppelt haben. der ausgestreckte Arm über den Köpfen die vom Physiotherapeuten angesetzte Re- Das neue Album der Toten Hosen heißt des Publikums, als wolle er es segnen. generation ausfallen lassen und stattdessen „In aller Stille“, es ist musikalisch hart und Er kann, wenn es sein muss, dieses Cam- eine Flasche Champagner mitgenommen treibend, textlich ziemlich düster und viel- pinohafte jederzeit anschalten. In Palermo zum Runterkommen. Der Champagner leicht die beste Tote-Hosen-Platte seit den etwa, bei der italienischen Premiere des korkt, macht nichts. Die Endorphine, die frühen Neunzigern. Sie hat sich sofort an Films, ist er unvermittelt in eine Presse- ein solcher Auftritt selbst bei so viel Erfah- die Spitze der deutschen Hitparade gesetzt. konferenz mit Wim Wenders geraten. Sie rung im Gehirn noch hervorruft, weichen Im zweiten Lied singt Campino: „An- war schon seit einer Stunde zäh im Gang, langsam. Campino wird ruhig. Der dauernd macht man mir / Denselben Vor- ständig musste vom Englischen ins Italie- fährt 240, draußen rauscht in der Nacht wurf / Ich ließe mich in letzter Zeit so ge- nische übersetzt werden und umgekehrt. jenes Deutschland vorbei, an dem er sich hen / Ich wär angeblich ausgebrannt / Und Auf dem Podium war noch ein Stuhl frei, seit 30 Jahren abarbeitet. total abgefuckt“, um dann im Re- Das bundesrepublikanische Pan- frain zu antworten: „Auch wenn nie- orama der letzten Jahrzehnte ließe mand mir das glaubt / Innen ist al- sich an ihm erzählen. Die Toten les neu / Ich seh nur von außen schei- Hosen haben sich im gleichen Jahr ße aus / Aber innen ist alles neu.“ gegründet, in dem Kohl Kanzler Es geht um dieses „Innen“. Er wurde. Campino sang gegen die hat sich darum viel gekümmert in Atomkraft in Wackersdorf, trat bei den letzten Jahren, von denen er Demonstrationen gegen die Asyl- sagt, es seien die schwierigsten sei- rechtsverschärfung auf der Bonner nes Lebens gewesen. Das letzte Al- Hofgartenwiese auf und heimlich in bum von 2004 war irgendwie miss- Ost-Berlin. Und als 1988 in Duis- lungen, die Band selbst fand es burg-Rheinhausen das Krupp-Stahl- starr, schwerfällig, verkrampft, et- werk schließen sollte und es zu Mas- was belanglos. Die Toten Hosen senprotesten kam, reiste Campino kündigten eine Pause an, die viele mit den Toten Hosen an, ein damals für die Auflösung der Band hielten. 25-jähriger Punk. Er hatte sich mit Campino bekam mit der Schau- Kugelschreiber einen Text auf den

spielerin Karina Krawczyk einen / VANIT.DE BERNHARD KUEHMSTEDT Arm notiert, den er erstmals singen Sohn, Lenny, bald fünf Jahre alt. Band Die Toten Hosen*: „Wo kommen all die Zweifel her?“ wollte, in dem sich „Korruption“ Doch die Beziehung ging kaputt, auf „Union“ reimte. Bei allen Bom- und seitdem ist vieles kompliziert merlunder-, Jägermeister- und Opel- und schmerzhaft, auch deswegen Liedern, die Campino bis heute macht er inzwischen eine Therapie. singt – es lag auch immer eine Ver- Eine Ärztin in Berlin, die er seine bissenheit und Schwere auf ihm, die Heilerin nennt, päppelt ihn wieder ihm oft vorgeworfen wurde, ein auf, wenn er nicht mehr weiter- Missionars- und Predigertum. weiß. Wenn dieser Druck wieder Auch an diesem Abend in Biele- da ist. Wenn es nicht mehr reicht, feld, es ist der 9. November, hat er Sänger von Deutschlands vielleicht im Konzert an die „Reichskristall- größter Rockband zu sein. nacht“ erinnert, was möglicher- Also spielte Campino 2006 unter weise wirkungsvoller ist als man- der Regie von Klaus Maria Bran- cher Geschichtsunterricht. Aber auf dauer in Berlin. Er gab den Mackie einem Rockkonzert hat es zugleich Messer der „Dreigroschenoper“, etwas Schulmeisterliches. „Das ist und er war gar nicht schlecht, doch mir egal“, sagt Campino. „Ich bin die Produktion war ein Chaos, und so erzogen. Ich muss das tun.“ die Inszenierung wurde verrissen. Campino wuchs als Andreas Fre- Jetzt läuft der Wenders-Film „Pa- ge in Mettmann bei Düsseldorf in lermo Shooting“, aus dem Campino einer Juristenfamilie auf, er hat herausstrahlt, doch der Film ist be- zwei ältere Brüder und drei Schwes- schwert von einer künstlerischen tern. Sein Großvater war der erste Angestrengtheit, die auch auf den Präsident des Bundesverwaltungs-

Hauptdarsteller zurückfällt. / LAIF / ZENIT BALTZER gerichts, und sein Vater, nachdem Es ist mittlerweile nach Mitter- Schauspieler Campino*: Hingezogen zur Hochkultur er den Zweiten Weltkrieg vom ers- nacht, der Sänger sitzt auf dem ten bis zum letzten Tag als Soldat Rücksitz einer Audi-Limousine, die ihn für Campino. Er, seinen Rucksack noch erlebt hatte, wurde Richter am Oberver- durch die Nacht von Bielefeld nach Ham- über der Schulter, brauchte exakt eine Se- waltungsgericht Münster, war Presbyter, burg bringt, wo er am nächsten Morgen kunde, um verwirrt zu sein, dann schmiss Gewerkschafter und schickte die Kinder Interviews im Radio geben soll. Das Kon- er den Campino-Motor an, Grinsen, zu- auf ein humanistisches Gymnasium. Einer zert ist gut gelaufen, zweieinhalb Stun- sammengekniffene Augen, Eroberung des von Campinos Brüdern ist heute einer den ist er mit seinem zeitweise nackten, Mikrofons, der erste Gag. Dankbarkeit im der renommiertesten Insolvenzanwälte drahtigen Oberkörper über die Bühne ge- Publikum, Dankbarkeit auf dem Podium. in Deutschland und wickelt gerade die rannt und hat sein Arsenal der seit Jahren Jetzt, während der nächtlichen Auto- Lehman-Bank ab. bekannten, immer noch funktionierenden fahrt, schleicht das Campinohafte langsam Mit 16, in den siebziger Jahren, wurde Campino-Gesten ausprobiert: das Explo- Campino Punkmusiker. Mit 26, in den Acht- dieren seines Körpers, Spagatsprünge, die Oben: mit Campino (l.), 1991; unten: in der „Dreigro- zigern, Rockstar. Und mit 36, in den Neun- Beine hinter dem Mikrofonständer über- schenoper“ in Berlin, 2006. zigern, eine deutsche Celebrity. Das war

der spiegel 1/2009 135 einen Gestus des Subversiven zu sichern, obwohl der Rockstar selbst längst Eigentum des deutschen Mainstreams ist. Vor einigen Jahren wählten ja schon die Zuschauer des ZDF Campino auf Platz 65 der „größten Deutschen“, einen Platz vor Franz Josef Strauß, drei vor Friedrich von Schiller. Am Nachmittag probt Campino mit der Band. Er ist so müde, dass es weh tut. Nach anderthalb Stunden sagt er: „Kommt, ge- nug für heute.“ Er möchte – trotz dieser verfluchten Müdigkeit – noch zum Kick- box-Unterricht. Danach meldet er sich am Telefon. Die Verabredung für heute Abend müsse er absagen. Na klar, kein Problem, er ist zu ausgelaugt. Falsch. Campino möch- te noch auf seinen Crosstrainer. „Wenn ich das jetzt noch mache, war es ein guter Tag.“ So verhält sich nur ein Mensch, der

SLAVICA ZIENER SLAVICA nach Kontrolle strebt, über sich, sein Le- Darsteller Campino bei Dreharbeiten zu „Palermo Shooting“*: Gestus des Subversiven ben und die Dämonen, die es bedrohen. Einer, der sich getrieben fühlt. jene Zeit, als er in unzähligen Talkshows auch, er lebt hier seit mehr als zwanzig Jah- Einen Monat später, es ist fast schon Meinungen zu fast allem vertrat und lange ren, ein Schlafzimmer und eine Halle, in Weihnachten, und Die Toten Hosen spie- Zeit nicht bemerkte, dass er in seiner Rolle der Halle steht eine mächtige Badewanne, len fast jeden Abend ein Konzert. Campi- des Berufsjugendlichen mit den stacheligen daneben ein Crosstrainer, Fotos von Lenny, nos schlimmste Befürchtung, dass seine Haaren feststeckte. In den letzten Jahren ein Tagebuch auf dem Schreibtisch, Ausbli- Stimme nicht hält, hat sich bisher nicht be- ist es ihm gelungen, sich davon zu befreien. cke auf Lkw-Speditionen. Im Kühlschrank wahrheitet, dafür hat sich trotz des Trai- „Bevor mein Sohn geboren wurde, findet sich noch eine Tüte Orangensaft. nings die Achillessehne entzündet. drohte ich ein bisschen jämmerlich zu wer- Hier hat Campino seine Texte für das An diesem Abend hat die Band in der den“, sagt er. „Doch seit er da ist, ist das neue Album geschrieben, er hat sich von Berliner O2 World gespielt, nach dem Auf- Älterwerden für mich kein Thema mehr.“ niemandem helfen lassen diesmal und ist tritt ist Campino wie immer nicht richtig Heute setzt sich Campino für die Darm- auch nicht wie sonst in ein Hotel gegangen. zufrieden. Er, protestantisch erzogen, fürch- krebsvorsorge ein, weil seine Eltern an der Er hat zu Hause gedichtet, weil er im wört- tet stets, den Leuten etwas schuldig zu blei- Krankheit gestorben sind. lichen Sinn bei sich sein wollte. Er habe ben, dem Publikum, aber auch den Freun- Um drei Uhr morgens hält der Audi vor großen Druck gespürt, Texte zu schreiben, den und Extremfans, die nun vor seiner einem Hotel in Hamburg. Campino wird die eine Dringlichkeit haben und wasser- Garderobe auf der Aftershow-Party im ein paar Stunden schlafen, so wenig wie in dicht sind. „Dringlichkeit“ und „wasser- Neonlicht stehen und darauf warten, dass fast allen Nächten der letzten Wochen. dicht“ sind Worte, die Campino oft benutzt. er, Campino, sich kurz zeigt. Ungefähr eine Woche später kommt Nur, wo nimmt man so eine Dringlichkeit Für den folgenden Tag ist kein Konzert Campino endlich mal wieder für ein, zwei her? Campino hat versucht, sie aus den letz- angesetzt. Er könnte jetzt ein bisschen fei- Tage nach Hause. Das ist in Düsseldorf. Er ten paar Jahren zu schöpfen, als ern. Er könnte versuchen, den ist mittags aus Wien eingeflogen, wo er am er oft ausgebrannt war, Zweifel Druck loszuwerden. Vormittag noch sieben Interviews gegeben bekam und nachdenklich wurde. „Bevor mein Aber Campino hat keine Zeit. hat. Er hatte zuvor kein gutes Wochenende Schon nach der Brecht-Sache Sohn geboren Die Babysitterin wartet. Er hat in Berlin, wo er wegen seines Sohnes eine im Herbst 2006 hatten die ande- wurde, drohte ihr versprochen, nach dem Kon- kleine Wohnung in Charlottenburg unter- ren Bandmitglieder darauf ge- ich ein zert, auf dem ihn 14 000 Men- hält. Seine Heilerin hatte keine Zeit für ihn, drängt, eine neue Platte aufzu- bisschen schen bejubelt haben, spätestens und in den ersten Interviews, die schon er- nehmen, ihr Sänger hatte aber jämmerlich zu Punkt halb zwei wieder zu Hau- schienen sind, greifen die Journalisten ihn plötzlich wieder anderes vor: jetzt se zu sein. Länger kann sie auf an. Eines trug die Überschrift „Ich bin wohl auch noch Wim Wenders, Haupt- werden.“ gar keinen Fall bleiben. Campino eher konservativ.“ So weit ist es nun. rolle. Musste das sein? Es musste, schaltet also ein letztes Mal für Im Flugzeug kam durch die Sitzreihen sagt Campino. Hatte es ihn früher in die heute seinen Campino-Motor an, kämpft eine Mittdreißigerin auf ihn zu und sprach Talkshows gezogen, trieb es ihn nun in die sich durch die Menge im Neonlicht, schüt- ihn mit seinem echten Namen an: „Bist du Hochkultur, zu Brandauer ans Theater, zu telt Hände, fällt um Hälse, sagt „Und? Alles Andreas? Andreas Frege?“ Niemand nennt Wenders ins Arthouse-Kino. Seine Identität, gut?“ und lässt sich von ungefähr hundert ihn ja so. Campino verstand nicht richtig, sein Anspruch an sich selbst verlangte nun Handys fotografieren. „Es geht darum er hört nämlich schlecht, war verwirrt – mit Mitte 40 nach mehr als nur der Mitglied- durchzuhalten. Ich fahre den Motor, bis er kennt er die von früher? – und reagierte schaft in einer Düsseldorfer Punkband, die raucht und den Geist aufgibt“, sagt er. unwirsch. „Danke für die tolle Musik all er zwar liebt, mit der er Millionen Menschen In dem Lied „Pessimist“ heißt es: „Doch die Jahre“, flüsterte die Frau. „Was hat begeistert, in der aber nach einem Viertel- wenn am Abend die Stille / All das Ge- die gesagt?“, fragte Campino. Viele Stun- jahrhundert seine künstlerischen Ausdrucks- schwätz besiegt / Und sich wie ein Teppich den später an diesem Tag, längst zurück in möglichkeiten nicht mehr sehr variabel sind. über mich legt / Kann ich mich endlich Düsseldorf, sagt er unvermittelt: „War ich Wenn dann der texttreue, konservative wieder atmen hören.“ blöd zu der Frau heute Morgen?“ Theatermann Brandauer und der beflis- Um viertel nach eins zieht der Sicher- Endlich Düsseldorf, endlich Tasche aus- sene Regisseur Wenders Campino enga- heitschef der Toten Hosen den Sänger packen. Campino bewohnt etwas, das man gieren, meinen sie, sich damit immer noch aus der Menge. Ein Auto wartet, der Mo- in den Achtzigern ein Industrieloft genannt tor läuft. Noch 15 Minuten bis zum Baby- hätte. Seit dieser Zeit hat er die Wohnung * Mit Regisseur Wim Wenders in Palermo 2007. sitter.

136 der spiegel 1/2009 Kultur

Der Feind steht bereit Nahaufnahme: Wie der Schweizer Martin Heller, Chefplaner der „Europäischen Kulturhauptstadt 2009“, die Linzer provoziert

chneeregen peitscht auf die herbst- österreichische Industriestadt, die lange schaft und Getriebenheit“. Er möchte braun gefärbten Hügel über der Do- fast nur für Stahl, Chemie und Smog be- „Linz 09“ zu einem Kulturereignis ma- Snau, als Österreichs einstige Schmud- kannt war (und als Jugendwohnort und chen, das man in Österreich und den Nach- delecke zur Weltmetropole ausgerufen Lieblingsstadt Adolf Hitlers), nun als „Kul- barländern so bald nicht vergisst. wird. Ein klobiger Mann im eleganten turhauptstadt Europas“. In der Silvester- Früher war Heller mal Direktor eines Wintermantel und eine junge Frau mit Par- nacht geht es los, mit einer „Raketensin- schweizerischen Museums und sorgte mit ka und Pferdeschwanzfrisur stapfen berg- fonie“, in der 500 Chorsänger zu einem einer Ausstellung der „99 schlechtesten auf am Rand einer Autostraße, ein paar Bombast-Feuerwerk jauchzen. In den Ta- Plakate der Schweiz“ für Krawall, „das schwere Lastwagen donnern vorbei, bis sie gen darauf wird ein Museum aus viel Glas war eine super Übung in Theorie und das Ortsschild erreichen. Auf dem steht und Beton, das erweiterte „Ars Electroni- darin, sich zugleich unbeliebt und beliebt schlicht „Linz“. ca Center“, neu eröffnet; die Schau „Best zu machen“. Vor sechs Jahren lockte er Nun zerren die beiden an einem Lei- of Austria“ zeigt verwegene Gegenwarts- zehn Millionen Besucher zur Schweizer nentuch und enthüllen eine neue Ortstafel, kunst; in der Musiktheater-Uraufführung „Expo 02“, deren Künstler beispielsweise die unmittelbar vor der alten steht. Sie „Buch der Unruhe“ tritt der Großmime haushohe Stahlskulpturen mitten aus dem zeigt schöne, aber unleserliche Schnörkel: Klaus Maria Brandauer als Rezitator auf. Murtensee aufragen ließen. Da habe ihm der Name der Stadt Linz, ge- aus den Medien „ein brutaler schrieben in der Sprache der Gegenwind“ ins Gesicht ge- Tamilen. blasen, sagt Heller. „Das ist ein Testfall dafür, Einige österreichische Jour- was unsere Gesellschaft aus- nalisten haben sein Linzer hält“, behauptet die Künstle- Programm, „die europäische rin Daniela Deutsch, deren Mission“, wie er es nennt, nun Mitstreiter an 18 Zufahrtsstra- als zu elitär verrissen, ein paar ßen Schilder in Schriften wie haben es als pubertär be- Hebräisch, Birmanisch, Kyril- schimpft, andere als zu wenig lisch oder eben Tamil aufge- originell. „Können die sich stellt haben. Der Mann an mal entscheiden?“, fragt Hel- ihrer Seite sagt, Linz sei nun ler. Er mag es nicht, wenn man eine „offene Stadt“. ihn Manager nennt. Manager Martin Heller fügt hinzu, seien nie sich selber verant- wer die Tafeln sehe, solle „hin- wortlich, sagt er, er sei Kultur- schauen und sich erinnern“. unternehmer, noch besser: Fast jeder in Österreich hat „Ich verstehe mich als Autor.“ noch das Bild der an einer aus- Das braune Erbe der Stadt länderfeindlichen Tafel ange- hatte er sich vorab vorgenom-

brachten Sprengfalle vor Au- (U.) RUBRA (O.); / INTERTOPICS SODAPIX men. Die vor dem Start von gen, die 1995 im Burgenland Festivalleiter Heller: „Ich suche nach Radikalität“ „Linz 09“ im September eröff- vier Roma-Männer tötete; die nete, von der Kritik hochge- Bombenleger waren Rechtsradikale. Inso- Klingt sehr nach den üblichen Attraktio- lobte Schau „Kulturhauptstadt des Führers“ fern, findet Heller, seien die exotischen nen, die man bietet, wenn die Eurokraten zeigt, wie Hitler und Albert Speer aus Linz Ortstafeln kein Gutmenschen-Gag, sondern in Brüssel jeweils für ein Jahr den Kultur- ein pompöses Monstrum machen wollten. Teil der „ästhetischen Auseinandersetzung hauptstadt-Titel vergeben. Sie tun es seit Heller: „Linz verdient es, nicht bloß unter mit dem Faschismus“, der hier vielen noch 1985. Der Witz der Sache ist in der Regel, dieses Thema gestellt zu werden.“ Jetzt hat in den Knochen stecke. dass man ein kulturelles Aschenputtel zum er Spielraum für Aktuelleres. So suchen Der Schweizer Martin Heller hat es in heißesten Kunst- und Vergnügungsstar der Öko-Aktivisten und Philosophen ein Jahr den vergangenen Monaten geschafft, halb Saison ausruft. Das bleibt fast immer stei- lang nach „52 Wegen, die Welt zu retten“. Österreich gegen sich aufzubringen. Er le Behauptung: egal ob in Weimar (1999), Was Heller nach dem Job in Linz ma- sagt, die Österreicher seien unterwegs „auf Lille (2004) oder Patras (2006), oder wie chen wird, ist unklar. In Salzburg hat einem Schlingerkurs zwischen Unter- 2008 in Stavanger und (vermutlich) 2010 in Jürgen Flimm gerade huldvoll als Fest- tanengeist und Anarchie“. Über Wien läs- Essen. Mit EU-Zuschüssen und nationalen spielchef abgedankt. Heller als Boss im tert er, dort messe man „den höchsten Geldern werden Partys veranstaltet, Häuser Glamourzuckeridyll? Die Aufgabe würde Arroganzpegel der Welt“. Salzburg nennt und Plätze aufgepeppt und Touristen ge- ihn reizen, „ohne Selbstüberschätzung“, er eine „Zuckerbäckerstadt mit drögem lockt. Fast jeder Bürgermeister in Europa so Heller. Für kurze Zeit steht er stumm Alltag und glamourösem Festivalgetue“. wisse, so Heller: „Der Kulturhauptstadt- im Schneeregen von Linz. Dann grinst er Und von sich selbst sagt er: „Wer einen Titel ist ein prima Anlass, sich ein Jahr lang vorsichtig und sagt einen aus seinem Mund Feind sucht, dem biete ich mich an.“ den Ausnahmezustand zu bescheren.“ wirklich tollkühnen Satz: „Man müsste das Heller, 56, ist der Chef von „Linz 09“. Heller findet das zu lieb. „Radikalität“ mit einer gewissen Demut machen.“ Mit dieser Riesenshow präsentiert sich die sei es, wonach er suche, sagt er, „Leiden- Wolfgang Höbel

der spiegel 1/2009 137 Rückblick 2008 Fernsehen DANIEL DAL ZENNARO / DPA DAL DANIEL 1 SAT BETTINA SCHEUREN / WDR MEDIA / T & MDR SAXONIA EM: Deutschland – Türkei Kling in „Wir sind das Volk“ Szene aus „Die Özdags“ Serie „In aller Freundschaft“ Quotenhit Fußball-EM Gefühlslage der jüngeren und ditionsmuster. Besonders in In aller Freundschaft älteren Mitglieder des Clans Liebesfragen: Die Kinder der ARD ARD, ZDF ließ sich anschaulich studie- Einwanderer haben die west- Bitte nie vergessen, wo Bar- ren, weil die Autorin die Fa- liche Beziehungskultur ver- Warum scheint die Publi- thel bei den angeblich ent- milie zu ihrem Herkunftsort innerlicht und sind dabei, kumssonne über den Ärzten scheidenden 14- bis 49-jährigen in die Türkei begleitete. Die Singles zu werden. Einige der Sachsenklinik (oft Quo- Zuschauern in diesem Jahr Szenen waren ein Protokoll wiederum beneiden die Alten tensieger am Dienstag)? Die den Quotenmost holte: beim sich langsam auflösender Tra- um deren eingefädelten Ehen. Serie hat ihre Klischees, die Fußball. Die ersten 24 Plätze Intrigantin, den Professoren- auf der Liste der von den Jun- patriarchen, den ehrlichen gen am meisten gesehenen Chefarzt und lauter liebe Sendungen belegte 2008 die Geister von der Oberschwes- Kickerei bei der Europameis- ter bis zur eifersüchtigen terschaft. Kantinenmamsell. Aber der Zuschauer spürt hinter den Wir sind das Volk bekannten Soap-Mustern handwerkliche Sorgfalt und SAT.1 so etwas wie eine deutsch- Wer dachte, mit Stasi- deutsche Wärme. Schmerz und Mauerfall-Jubel sei es im Fernsehen nun end- Dr. Molly & Karl lich genug, sah sich ange- nehm getäuscht. Silke Zertz SAT.1 (Buch) und Thomas Berger Das Publikum hat sie nicht

(Regie) führten in zwei glän- / ARD DEGETO RABOLD STEPHAN gewollt, die voluminöse Hel- zend besetzten und geradezu „Captain Mahmud“-Darsteller Saïd Taghmaoui din (Sabine Orléans), die mit klassisch komponierten Tei- ihrem Neurologen-Fachchine- len vor, wie Videopiraten in sisch ihre Psychologenkolle- der niedergehenden DDR gin (Susanna Simon) selbst- arbeiteten und verfolgt wur- Mogadischu herrlich niedermacht. Das den. Heiner Lauterbach als Vorbild, den aggressiven Dia- ARD mephistophelischer Verhör- gnosedetektiv „Dr. House“, beamter und Anja Kling als Gewiss der Fernsehfilm des Jahres. Die packende Rekon- liebten die Zuschauer dagegen sein Opfer fegten jede Illu- struktion der Entführung einer Lufthansa-Maschine 1977, unverdrossen, die originelle sion darüber hinweg, es habe mitten im Deutschen Herbst, zeigte, was das Medium bei deutsche Weiterentwicklung im Unterdrückungsapparat äußerster Anstrengung als Geschichtsschreiber vermag: ver- (Autor: Martin Rauhaus) fiel der DDR Reste von Mensch- gangene Zeit in schrecklich lebendige Gegenwart verwan- durch. Die Verehrung der lichkeit gegeben. deln. Die Teamworx-Produktion (Regie: Roland Suso Rich- weißen Halbgötter ist manch- ter, Buch: Maurice Philip Remy) konzentrierte sich auf die mal unergründlich. Die Özdags Opfer und ihre grausame Behandlung durch „Captain Mah- mud“ und seine palästinensischen Terrorhelfer. Was sich an WDR Fernsehkomik Bord an Brutalität und Erniedrigung, aber auch an Helden- Die Dokumentationsfilmerin mut abspielte, vermittelte mehr über das Wesen des Terro- ALLE SENDER Ute Diehl hat die Kölner rismus als alle Beschäftigung mit der Ideologie. Durch gute Die Finanzkrise erwies sich in Prollfamilie „Die Fußbroichs“ Recherche des Autors Remy wurde auch ein wahrer Held diesem Jahr als Pointengift. berühmt gemacht. Ein O-Ton- entdeckt: Flugkapitän Jürgen Schumann, den Thomas Die abstrakten Vorgänge bei Porträt, das kleine und große Kretschmann eindrucksvoll spielte. Der Chefpilot ließ die Börsen und Banken produ- Abgründe im lockeren Ge- Geiseln nach der Landung in Aden nicht im Stich und zieren keine Bösewichte und plauder aufscheinen ließ. musste deswegen sterben. Vorbildlich: Die Kamera von sind zu vertrackt, um das Diehls Fußbroichs-Nachfolger Holly Fink verließ die sichere Position des historischen Ab- Gelächter zu befördern. Die sind die Özdags, eingewan- stands und begab sich torkelnd, taumelnd und verzweifelnd Lösung des Problems lautet derte Türken, die in Köln ins Getümmel eines wahnsinnigen Geschehens. deshalb: Weg mit dir, humor- leben. Die komplizierte lose Krise!

der spiegel 1/2009 139 ADOLPH / EVENTPRESS ADOLPH Kogel-Geschäftspartner Pocher, Schmidt, Szene aus dem Constantin-Film „Das Parfum“, ZDF-Größen Reich-Ranicki, Gottschalk bei der Debatte

SPIEGEL-GESPRÄCH „Late Night kann nur Harald“ Der frühere Sat.1-Chef und Constantin-Boss Fred Kogel über Ödnis im Fernsehen, Leo Kirchs Abneigung gegen „Big Brother“ und das bevorstehende Ende des Duos „Schmidt & Pocher“

SPIEGEL: Herr Kogel, waren Sie dieses Jahr SPIEGEL: Ist das Programm immer langwei- auf der „Bambi“-Verleihung? liger geworden? Kogel: Ja. Kogel: Nicht grundsätzlich. Wir haben im SPIEGEL: Und? Haben Sie’s ausgehalten? deutschen Fernsehen eine irre Vielfalt. Was Kogel: Gott, man weiß ja vorher, auf was aber stimmt, ist, dass das Programm in den man sich dort einlässt: Das sind große einzelnen Sendern unter dem Kostendruck Weihefeste für die Branche. Wer sich dem einförmig geworden ist. Auch ich ertrage nicht aussetzen mag, soll nicht hingehen. die 900. Kochshow nur noch bedingt. Und Hinterher draufzuprügeln ist billig. wenn man eine Sendung wie „Richter SPIEGEL: Man kann auch während so einer Alexander Hold“ nicht nur von montags Veranstaltung draufprügeln wie Marcel bis freitags nachmittags sendet, sondern Reich-Ranicki bei der diesjährigen Ver- vormittags wiederholt und dazu noch am leihung des Deutschen Fernsehpreises. Wochenende verheizt, muss der Eindruck Kogel: Das war grandios. Ohne Reich-Ra- entstehen, dass ein Sender nur noch aus nicki wäre die ganze Show wieder fürch- Gerichtsshows besteht. Da fehlt mir die terlich langweilig gewesen. Toll waren auch Begeisterung fürs Programm. diese deutschen Betroffenheitsgesichter im SPIEGEL: Man kann auch mit großer Begeis- Publikum wie Veronica Ferres. Der Höhe- terung Schrott senden. punkt war dann aber das ZDF-Nach- Kogel: Natürlich ist pure Begeisterung kein gespräch zwischen Reich-Ranicki und Qualitätskriterium, aber sie hilft, Qualität Thomas Gottschalk, in dem herauskam, durchzusetzen. Und verstehen Sie mich

dass Ranicki unter toller Fernsehunterhal- BREMBECK ROBERT nicht falsch: Constantin produziert nicht tung Brecht und Shakespeare versteht. Das nur „Das Parfum“ und den „Baader-Mein- hätte nur noch getoppt werden können von Fred Kogel hof-Komplex“, sondern eben auch „Rich- einem Streitgespräch zwischen Ranicki hat schon 27 Jahre in der deutschen ter Alexander Hold“. und einem Finanzinvestor, bei dem dann Medienindustrie zugebracht: 1993 wurde SPIEGEL: Mit Begeisterung? rausgekommen wäre, dass beide keine der heute 48-Jährige jüngster Unter- Kogel: Ja, zwar nicht meiner persönlichen, Ahnung von Fernsehen haben. haltungschef des ZDF, 1995 wechselte aber es ist eine Meisterschaft, solche Pro- SPIEGEL: Sie sind seit 27 Jahren im deut- Kogel als jüngster Senderchef an die gramme professionell zu produzieren. Das schen Medienzirkus unterwegs, unter an- Spitze von Leo Kirchs TV-Kanal Sat.1. Nach mag nicht das Programm sein, das ich derem als Sat.1-Boss, ZDF-Unterhaltungs- der Kirch-Pleite holte der Produzent Bernd gucke, wird aber täglich von zwei Millio- chef und bis Ende des Jahres als Vor- Eichinger den studierten Juristen an die nen Menschen nachmittags gesehen. standsvorsitzender der Produktionsfirma Spitze der Filmfirma Constantin, Ende SPIEGEL: Die Privatsender waren ja eigent- Constantin Film. Finden Sie es nicht Dezember zieht er sich dort zurück. Künftig lich mal dazu da, die Ödnis der Öffentlich- traurig, dass der Eklat von Reich-Ranicki will er sich auf seine eigenen Medienfir- Rechtlichen aufzubrechen. der absolute Höhepunkt des Medienjah- men konzentrieren und auf die Arbeit mit Kogel: RTL am Samstagabend sieht heute res ist? seinem Geschäftspartner Harald Schmidt, genauso aus wie das ZDF in den achtziger Kogel: Natürlich ist das traurig, aber we- dessen Show er seit Jahren produziert. Jahren. Nur leider sieht das ZDF eben heu- nigstens hatten wir den. te nicht mehr so aus. Eine so gut gemach-

140 der spiegel 1/2009 Medien AP / ZDF SAUERBREI CARMEN nach dem Eklat beim Deutschen Fernsehpreis: „Die Leute in den Chefetagen denken mehr daran, ihren Job zu behalten, als ihn zu machen“

te Show wie „Das Supertalent“ von RTL Kogel: Er hat aber 40 Jahre wahnsinnig viel SPIEGEL: Ihr Freund und Geschäftspartner müsste heute eigentlich beim ZDF laufen. richtig gemacht, und er hatte eine Vision. Schmidt scheint da schmerzfrei zu sein. Er SPIEGEL: Als Sie 1995 zu Sat.1 kamen, ha- Vor allem hat er den Dingen Zeit gegeben. macht „Bambi“ sowie „Schmidt & Pocher“ ben Sie Programmpolitik mit dem Scheck- Das wäre heute unvorstellbar. Heute wagt weiter, obwohl er ganz offensichtlich keine buch gemacht. Für viel Geld haben Sie sich keiner mehr so richtig vor, aus Angst, Lust mehr hat. eine Moderatoren-Armada von Harald einen Fehler zu machen. Die Leute in den Kogel: Ich habe mit Harald ungefähr Schmidt bis Gottschalk eingekauft. Der Er- Chefetagen denken mehr daran, ihren Job 1400 Late-Night-Sendungen produziert folg blieb erst mal aus. zu behalten, als ihn zu machen. und lese oft den Satz: Der Schmidt ist lust- Kogel: Im Verdrängungswettbewerb Mitte SPIEGEL: Nach der Pleite hat Kirch den los geworden. Das hat sich irre verselbstän- der neunziger haben alle Sender viel Geld Kontakt zu Ihnen abgebrochen. Waren Sie digt, übrigens auch bewusst gesteuert durch ausgegeben. Sat.1 war damals eine Mi- enttäuscht? Harald selbst, der damit spielt. In Wahrheit schung aus „Glücksrad“, Heizdeckenver- Kogel: Jede Beziehung hat ihre Zeit. Ich brennt er schon ziemlich. kauf und US-Lizenzserien. Ich musste das habe jetzt wieder mehr Kontakt zu ihm, SPIEGEL: Fürs Theater wahrscheinlich. ganze Programm umbauen. Da sind erst aber auf einer sehr entspannten Ebene. Kogel: Das Theater hat ihn wieder befeuert. mal Zuschauer weggeblieben. Aber man Heute fragt er mich eher, ob ich mir „Dick Ich staune selbst, welche neuen Horizonte muss Gesellschafter haben, die das aushal- und Doof“ auf dem Handy anschauen sich da auftun. Aber wir haben ganz klare ten und sich ernsthaft über Programm aus- würde und ob solche Schnipsel funktio- Vorstellungen, wo wir hinwollen. einandersetzen wollen. Natürlich gab es nieren. Darüber diskutieren wir dann. SPIEGEL: Wohin denn? auch mit den damaligen Eignern, dem SPIEGEL: Sie hören bei Constantin Film auf, Kogel: Ich glaube, dass Harald Schmidt als Springer-Verlag und Leo Kirch, ab und zu Harald Schmidt scheint müde, Günther Moderator und Sendungsmacher gut be- Streit, aber letztlich haben die mich ma- Jauch macht wenig Neues, Gottschalk ist in raten ist, im Wahljahr die Comedy-Latte chen lassen. In meinen sechs Jahren bei einer Phase des abgeklärten Vorruhestands wieder höher zu legen in Richtung An- Sat.1 wurde von Hunderten Programm- angekommen. Tritt demnächst eine ganze spruch und Intellekt, vergleichbar mit dem vorhaben nur eines abgelehnt. TV-Generation ab? US-Polit-Komiker Jon Stewart – aber eben SPIEGEL: Nämlich? Kogel: Sie unterschätzen die Protagonisten. Harald Schmidt. Bankenkrise, Rezession, Kogel: „Big Brother“. Heute kann ich das Aber das ist in der Tat eine ganz besonde- die Malediven und Helgoland vor dem Un- ja erzählen. Ich war mit dem Produzenten re Riege. Kurz bevor ich bei Sat.1 anfing, tergang, die CDU mit Angie gegen Frank- John de Mol befreundet, der extreme Pro- habe ich sie alle – Gottschalk, Fritz Egner, Walter – da will man Schmidt auf einem bleme hatte, das Format unterzubringen. Schmidt, Jauch – in einen Kleinbus gepackt Level sehen, das sonst im deutschen Fern- Auch RTL hatte abgesagt. Ich wusste, das und zu Leo Kirch in die Münchner Kardi- sehen niemand liefert. Programm hat was, auch wenn es an die nal-Faulhaber-Straße gefahren. Ich wollte sie SPIEGEL: Das heißt, dass „Schmidt & Pocher“ Schmerzgrenze geht. Im Aufsichtsrat gab ja alle im Programm haben. Kirch hat dann auf jeden Fall vorbei ist? es eine harte Qualitätsdiskussion, die war erst mal einen Frankenwein aufgemacht. Kogel: Ja, im April 2009. Das war von sicher berechtigt. Als es später bei RTL II SPIEGEL: Die guten alten Zeiten … vornherein ein zeitlich begrenztes Experi- ein Monster-Erfolg wurde, hat aber auch Kogel: Die Zeiten sind heute nicht schlecht. ment – und zwar von beiden Seiten. Bei- niemand gesagt: Hätten wir es bloß ge- Aber das war eine Generation von Mode- den hat es gutgetan. Aber jetzt ist es Zeit, macht! Es war eine klare Entscheidung ge- ratoren, die im ARD/ZDF-System groß dass sie wieder getrennte Wege gehen. fallen, aus Qualitätsgründen. geworden sind, wo am Samstagabend um SPIEGEL: Wieso hat sich das Duo nicht be- SPIEGEL: Fehlt so ein Verrückter wie Kirch 19 Uhr noch 15 Millionen Zuschauer zuge- währt? inmitten der glatten TV-Verwalter-Riege? guckt haben. Wenn man über ein paar Jah- Kogel: Es hat sich bewährt und war damals Kogel: Ich bin ein wirklich großer Fan des re bei so vielen präsent ist, ist man halt genau richtig. Ich halte Oliver Pocher noch Unternehmers Leo Kirch. Einmal bin ich populär. Diese Chance haben junge Mo- immer für eines der größten Talente. Ob- zu ihm gekommen, weil ich billiges Lizenz- deratoren heute gar nicht mehr. Und in wohl er immer hustet, wenn ich das sage. Er programm für den Vormittag brauchte. Ich der Comedy-Ecke fehlt der Mut, auch mal wird seinen Weg machen. Aber jetzt sind sagte: Leo, ich brauch mal wieder die 122 Richtung Moderation zu gehen. Michael die Gemeinsamkeiten ausgelotet. Schmidt Folgen von „Straßen von San Francisco“. „Bully“ Herbig etwa hat doch Entertainer- spielt im Duo sein Potential nicht aus. Er sagte nur: Es sind 120. Er wusste viel- Talent. Er kann singen – ein bisschen. Er SPIEGEL: Warum kehrt er nicht zu dem leicht nicht unbedingt, wie ein Sender kann tanzen – ein bisschen. Aber für einen zurück, was er am besten kann – die tägliche funktioniert, aber er verstand etwas von Künstler, der zwei Kinofilme mit jeweils Late Night? Programm! zehn Millionen Zuschauern gedreht hat, Kogel: Das ist erst mal Träumerei – und SPIEGEL: Kirchs Verrücktheit endete be- ist das eine schwierige Entscheidung: Will auch die Frage: Wer kann das bezahlen? kanntermaßen in der Pleite. man sich so angreifbar machen? Aber eine tägliche Late Night kann nur

der spiegel 1/2009 141 Medien

Harald. Dafür braucht man jemanden mit Haltung. Das funktioniert nicht, wenn Sie ein hervorragendes Gag-Schreiber-Team haben und Witze erzählen, die Ihnen vor- her jemand aufgeschrieben hat. Der Zu- schauer merkt sofort, ob Ihnen der Witz hätte selbst einfallen können oder von jemandem kommt, der eigentlich im Intelligenzquotienten zehn Punkte über Ihnen liegt. Deswegen kann man nicht ir- gendeinen Comedian nehmen und sagen: Den lassen wir jetzt eine Late-Night-Show machen. SPIEGEL: Sie waren beim ZDF und bei Sat.1 als Yuppie und Jugendwahn-Verfechter verschrien. Fühlen Sie sich jetzt schon wie ein Medien-Rentner, wenn Sie Ende des Jahres Constantin verlassen? Kogel: Nein, überhaupt nicht, mich begeis- tert Fernsehen immer noch. Ich könnte auch nicht wie der frühere Premiere-Chef Georg Kofler in Energietechnik investie- ren. Dazu bin ich ein viel zu großer Über- zeugungstäter in Sachen Programm. SPIEGEL: Damals wären Sie gern ProSie-

benSat.1-Chef geworden. Kirch hat sich ge- / REUTERS WEITZMAN YONATHAN gen Sie entschieden. Hätten Sie den Job Armee-Einsatz gegen protestierende Palästinenser: Kompromisse sind derzeit unpopulär heute noch reizvoll gefunden? Kogel: Nein. Das liegt aber daran, dass ich tionalisten und Likud-Führers Benjamin Großkonzerne grundsätzlich nicht mehr ISRAEL Netanjahu unterscheidet. reizvoll finde. Irgendwann ist man in sol- Der General a. D. präsentiert sich als chen Läden nur noch der Strukturhengst Hardliner, und schon bald zermürbt er die und hat gar keinen Kontakt mehr zum Ba- Blatt ohne Land Journalisten. Je lauter er wird, desto mehr sisgeschäft. Constantin war toll: groß, aber Ihr einsamer Kampf gegen verlieren die Redakteure jede Lust am Fra- noch überschaubar. Trotzdem merke ich, gen. Barak brüllt. Barak haut mit der rech- dass ich Schwierigkeiten habe mit diesen die Besetzung des Westjordanlands ten Faust auf den Tisch. Selbst ein Crois- ganzen Entscheidungsmechanismen. Das hat die Zeitung „Haaretz“ sant, das er sich nebenbei in den Mund mag ja auch am Alter liegen. Ich kümme- international berühmt gemacht. stopft, kann seinen Redefluss nicht brem- re mich jetzt um meine eigenen, kleinen Daheim ringt sie ums Überleben. sen. Am Ende stellt der Chefredakteur Medienfirmen. etwas perplex fest, „dass wir Sie gerade hre Respektlosigkeit demonstriert die 20 Minuten nicht unterbrochen haben“. Tageszeitung „Haaretz“ bereits im Die nachdenkliche Linke hat auch an IFoyer der Redaktionszentrale. Dort diesem Nachmittag gegen den lauten Main- hängt, ganz wie in einem Schlachthaus, ein stream verloren. Es ist ein Symbol für den geöffneter Schweinekörper – nachgebildet Überlebenskampf, den die einsam gewor- aus Weingummi. Die Muskeln sind aus ro- dene Qualitätszeitung führt. Im Ausland tem, die Gedärme aus gelbem Fruchtge- ist sie für ihr entschiedenes Eintreten gegen lee. Auf der Suche nach einer Deutung die israelische Besetzung der Palästinen- springt der Pförtner als Kunstführer ein. sergebiete berühmt, die englischsprachige

ROBERT BREMBECK ROBERT Die Skulptur, sagt er, sei wie das Land Internet-Seite verzeichnet pro Monat eine Kogel, SPIEGEL-Redakteure* Israel: „Außen schön, innen verrottet.“ Million Nutzer. Daheim aber kaufen das „Wir haben eine irre Vielfalt“ „Das Land“, das bedeutet übersetzt Blatt nur 66000 Israelis. auch der Zeitungsname „Haaretz“. Und Die 1919 gegründete Zeitung wurde 1935 SPIEGEL: So, wie Sie das sagen, hört sich das tatsächlich sind die Probleme von Blatt und von Salman Schocken gekauft. Schocken schon ein bisschen nach Altersteilzeit an. Land miteinander verknüpft. Das, was die war vor den Nazis aus Deutschland geflo- Kogel: Dafür bin ich gar nicht der Typ. Zeitung im Überfluss bietet – Kompro- hen, wo er Inhaber einer Kaufhauskette Wenn man einmal morgens Quoten ange- missbereitschaft gegenüber den Palästi- und eines Verlags war. Schockens Sohn schaut hat, wird man das nicht wieder los. nensern –, ist in der israelischen Gesell- Gustav prägte ab 1939 die linksliberale Li- Aber ich bin jetzt sechs Tage pro Woche schaft derzeit ziemlich unpopulär. nie des Blatts. Seit 1990 führt Enkel Amos fremdbestimmt und hätte gern fünf selbst- Eine Treppe runter liegt der Konferenz- die „Haaretz“-Gruppe. bestimmt. Ich habe nun die richtige Frau saal. Er hat keine Fenster und wirkt wie Sein Vater, schwärmt Amos Schocken, gefunden und lebe auf dem Land. Dem- der Lageraum eines Kriegskabinetts. An 64, habe sich noch mehr für die redaktio- nächst lerne ich noch Gitarre. Das wollte diesem Nachmittag besucht Verteidigungs- nellen Aspekte als für die Bilanzen inter- ich immer schon mal. Ich bin also wirklich minister Ehud Barak die Zeitung. Ein har- essieren können. Die Zeiten haben sich glücklich. ter Schlagabtausch: die kritischste Redak- geändert: „Die Zeitung muss Geld verdie- SPIEGEL: Herr Kogel, wir danken Ihnen für tion des Landes gegen jenen Politiker, der nen“, sagt der Gründer-Enkel. Und das ist dieses Gespräch. die traditionell linke Arbeitspartei deutlich schwer. 2006 verkaufte die Eignerfamilie nach rechts gerückt hat und dessen Mei- bereits 25 Prozent ihrer Anteile an den * Isabell Hülsen und Markus Brauck in München. nung sich zuweilen kaum von der des Na- Kölner Verleger Alfred Neven DuMont.

142 der spiegel 1/2009 Auf einer DIN-A4-Seite 55-Jährige mit den durch- nungsvielfalt zugelassen“, verteidigt sich fasste Schocken damals für dringenden schwarzen Au- Dov Alfon, 47, der im Frühjahr Chef- DuMont die Prinzipien zu- gen ist der radikalste Kom- redakteur wurde. Seit er den Posten über- sammen, die „Haaretz“ re- mentator des Landes. Einmal nahm, experimentiert die Zeitung viel. In daktionell leiten. Der Deut- pro Woche schreibt er in sei- letzter Zeit ersetzen schon mal Verbre- sche las sie und zeigte dann ner Kolumne „Im Zwielicht“ chensgeschichten die politischen Auf- auf den letzten Punkt: „,Haa- über Palästinenser-Schicksa- macher auf der ersten Seite. retz‘ unterstützt Anstrengun- le: Taxifahrer, deren Wagen Als größtes Hindernis für den geschäft- gen, einen Frieden mit Is- von israelischen Soldaten lichen Erfolg haben Chefredakteur und raels arabischen Nachbarn zerstört wurden, oder einen Geschäftsführung das Format ausgemacht. zu erreichen.“ Das, sagte Du- Witwer, dessen Frau mit ei- „Haaretz“ erscheint bislang im sogenann-

Mont, sei besonders wichtig. SHABI / LAIF AMIT nem akuten Herzinfarkt so ten Broadsheet-Format – so wie in Das Problem ist nur, dass Verlagschef Schocken lange an einem Checkpoint Deutschland zum Beispiel die „Frankfur- es derzeit in der israelischen Ungewöhnliche Töne aufgehalten wurde, bis sie ter Allgemeine“. Israels große Tageszei- Gesellschaft ziemlich un- starb. „Wir können die DNA tungen „Jediot Acharonot“ und „Maariv“ populär ist, aktiv für Friedensverhandlun- der Zeitung nicht verändern“, warnt Levy, hingegen sind in Form und Farbe angel- gen einzutreten. „Haaretz“ hatte bereits „sonst überleben wir nicht.“ sächsischen Boulevardzeitungen nach- kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 be- Aber die Zeitung verändert sich bereits. empfunden. Daher soll jetzt wohl auch gonnen, für die Rückgabe der besetzten Profilierte linke Journalisten wurden ver- „Haaretz“ zum sogenannten Tabloid-For- Gebiete im Tausch für Frieden zu werben. drängt. Stattdessen stießen neue Schreiber mat wechseln. Mit den Oslo-Verträgen von 1994 schwenk- zu „Haaretz“. „Die junge Generation von Die politische Grundlinie aber solle sich te auch die Mehrheit der Israelis auf diesen Journalisten ist weniger politisch“, sagt nicht ändern, versichert Alfon. Die Mehr- Kurs ein. Doch die glückliche Ehe der Zei- Gideon Levy. Oder sie schreiben auffal- heit der Israelis stünde doch hinter tung mit dem Zeitgeist dauerte nur kurz. lend wohlwollend über die jüdischen Sied- einer Zwei-Staaten-Lösung und der Rück- Mit dem Beginn der zweiten palästinensi- ler, wie es der zuständige Kollege Nadav gabe nahezu des gesamten Westjordan- schen Intifada und den damit einherge- Schragai tut. Die Räumung eines von Sied- landes. henden Selbstmordanschlägen in israeli- lern besetzten Hauses in Hebron kom- Und anders als in Europa und Amerika schen Städten lebten sich „Das Land“ und mentierte er so: „Unsere Regierung ent- verkaufe sich Politik in Israel noch immer das Land wieder auseinander. wickelt ihren eigenen Fanatismus, bei dem bestens. Nirgendwo verbrächten die Men- In Scharen liefen dem Blatt damals die das Ziel – die Vertreibung der Juden aus schen so viele Stunden vor den Nachrich- Abonnenten davon. Vor allem einen Re- Hebron – nahezu alle Mittel rechtfertigt.“ tensendungen des Fernsehens wie in Israel. dakteur nannten die abtrünnigen Leser Ungewöhnliche Töne für „Haaretz“. „Politik“, sagt Alfon, „ist die israelische Va- als Kündigungsgrund: Gideon Levy. Der „Wir haben immer schon eine große Mei- riante der Pornografie.“ Christoph Schult Impressum Service Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] CHEFREDAKTEURE Georg Mascolo, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 MÜNCHEN Nachdruckgenehmigungen Mathias Müller von Blumencron (V. i. S. d. P.) Dinah Deckstein, Conny Neumann, Rosental 10, 80331 München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 für Texte und Grafiken: STELLV. CHEFREDAKTEUR Dr. Martin Doerry STUTTGART Eberhard Straße 73, 70173 Stuttgart, Tel. (0711) 664749-20, Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schrift- DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Ulrich Stoldt, Rafaela von Bredow Fax 664749-22 licher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Katrin Elger, Jan Friedmann, Cars- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes ten Holm (Hausmitteilung), Ulrich Jaeger, Bernd Kühnl, Merlind Thei- sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. le. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Dr. BANGKOK Thilo Thielke, House No. 170B, Sukhumvit 23, Wattana, Klaus Wiegrefe Bangkok 10110 Deutschland, Österreich, Schweiz: HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Dirk Kurbjuweit, Markus Feldenkirchen BELGRAD Renate Flottau, Crnotravska 11 z, 11040 Belgrad, Tel. Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 (stellv.), Michael Sauga (stellv.). Redaktion Politik: Ralf Beste, Petra (0038111) 3984632, Fax 3984560 E-Mail: [email protected] Bornhöft, Kerstin Kullmann, Roland Nelles, Ralf Neukirch, René BOSTON Jörg Blech, 1955 Massachusetts Avenue 16, Cambridge, MA übriges Ausland: Autoren, Reporter: Pfister, Christian Schwägerl, Alexander Szandar. 02140, Tel. (001617) 3541086, Fax 4921913 New York Times Syndication Sales, Paris Jan Fleischhauer, Christoph Schwennicke. Redaktion Wirtschaft: Mar- BRÜSSEL Hans-Jürgen Schlamp, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Telefon: (00331) 53057650 Fax: (00331) 47421711 kus Dettmer, Alexander Neubacher, Christian Reiermann, Wolfgang Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 für Fotos: Johannes Reuter, Thomas Schulz DUBAI DEUTSCHLAND Leitung: Konstantin von Hammerstein, Alfred Wein- Bernhard Zand, P.O. Box 213380, Dubai, Vereinigte Arabische Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 zierl. Redaktion: Ulrike Demmer, Michael Fröhlingsdorf, Per Hinrichs, Emirate, Tel. 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Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Rüdiger NAIROBI Falksohn, Annette Großbongardt, Joachim Hoelzgen, Juliane von Horand Knaup, P.O. Box 1402-00621, Nairobi, Tel. + Fax E-Mail: [email protected] Mittelstaedt, Jan Puhl, Mathieu von Rohr, Britta Sandberg, Sandra (00254) 207123387 Abonnenten-Service Schulz, Helene Zuber. Reporter: Clemens Höges, Marc Hujer, Su- NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 20.00 Uhr, sanne Koelbl, Walter Mayr (009111) 24652118, Fax 24652739 Sa. 10.00 – 18.00 Uhr Diplomatischer Korrespondent: Dr. Erich Follath NEW YORK Klaus Brinkbäumer, Frank Hornig, 10 E 40th Street, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf. Suite 3400, New York, NY 10016, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 20637 Hamburg Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Dworschak, Marco Evers, Dr. PARIS Dr. Stefan Simons, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. 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(0065) 81271040 WARSCHAU Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Gutsch, Alexander Osang, Barbara Supp P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, E-Mail: [email protected] SPORT Leitung: Lothar Gorris. Redaktion: Cathrin Gilbert, Maik Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael WASHINGTON Cordula Meyer, Gabor Steingart, 1202 National Press Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Wulzinger Building, Washington, D.C. 20045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Frankfurt am Main SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl (stellv.). WIEN Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Redaktion: Karen Andresen, Annette Bruhns, Angela Gatterburg, 5331732, Fax 5331732-10 E-Mail: [email protected] Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Rainer Abonnementspreise Autor: Traub. Stephan Burgdorff DOKUMENTATION PERSONALIEN Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle Inland: zwölf Monate ¤ 182,00 Katharina Stegelmann; Petra Kleinau (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 702,00 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Katharina Lüken (stellv.), Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Studenten Inland: 52 Ausgaben ¤ 137,80 inkl. Holger Wolters (stellv.) Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia 6-mal UniSPIEGEL SCHLUSSREDAKTION Gesine Block, Regine Brandt, Reinhold Buss- Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Schweiz: zwölf Monate sfr 338,00 mann, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Kunze, Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Europa: zwölf Monate ¤ 236,60 Stefan Moos, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Antje Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Marie- Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 314,60 Poeschmann, Fred Schlotterbeck, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper-Gussek, Jan Sonderhefte: Karl-Heinz Körner Kerbusk, Ulrich Klötzer, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Pe- SPIEGEL DIGITAL inkl. E-Paper: zwölf Monate ¤ 192,40 BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- ter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Lud- wig-Sidow, Rainer Lübbert, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements gestaltung), Claudia Jeczawitz, Matthias Krug, Claus-Dieter Schmidt, werden anteilig berechnet. Anke Wellnitz; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Ni- Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Sabine Sauer, cola Naber, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten ✂ Karin Weinberg. E-Mail: [email protected] Oltmer, Andreas M. Peets, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maxi- Abonnementsbestellung milian Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossa- SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. (001212) 3075948 rek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumer- Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer Staudhammer, Dr. Claudia Stodte, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, mann, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Gernot Matzke, Cornelia Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Nina Ulrich, Hans- 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070. Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Reinhilde Wurst; Michael Ich bestelle den SPIEGEL Wiedner, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, ❏ für ¤ 3,50 pro Ausgabe (Normallieferung) Abke, Christel Basilon, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Fuhr- Anika Zeller mann, Petra Gronau, Kristian Heuer, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Bar- ❏ für ¤ 13,50 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am bara Rödiger, Martina Treumann, Doris Wilhelm LESER-SERVICE Catherine Stockinger Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zum Monatsende Sonderhefte: Rainer Sennewald NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / zu kündigen. PRODUKTION Christiane Stauder, Petra Thormann Washington Post, New York Times, Reuters, sid Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte TITELBILD Stefan Kiefer; Constanze von Kitzing, Iris Kuhlmann, Ger- SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG bekomme ich zurück. shom Schwalfenberg, Arne Vogt Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Verantwortlich für Anzeigen: Norbert Facklam Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 62 vom 1. Januar 2008 BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Name, Vorname des neuen Abonnenten Tel. (030) 886688-100, Fax 886688-111; Deutschland, Wissenschaft, Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2540 Commerzbank AG Hamburg, Konto-Nr. 6181986, BLZ 200 400 00 Kultur, Gesellschaft Tel. (030) 886688-200, Fax 886688-222 Straße, Hausnummer oder Postfach DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, 01097 Dresden, Tel. (0351) Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass 26620-0, Fax 26620-20 Druck: Prinovis, Dresden PLZ, Ort DÜSSELDORF Andrea Brandt, Frank Dohmen, Barbara Schmid-Scha- Prinovis, Itzehoe lenbach, Carlsplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. 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144 der spiegel 1/2009 Jeden Tag. 24 Stunden.

DIENSTAG, 30. 12., 23.10 – 0.05 UHR | VOX SPIEGEL TV EXTRA Hauptsache billig – Lust und Frust beim Einkaufen Mehr als 133 Milliarden Euro Um- satz machen Supermärkte und Billig- anbieter in Deutschland jährlich mit der einkommensschwachen Zielgrup- pe – und der Markt wächst. SPIEGEL TV Extra begleitet Einkäufer und Schnäppchenjäger bei dem Versuch, immer ein gutes Geschäft zu machen.

FREITAG, 2. 1., 22.15 – 0.15 UHR | VOX SPIEGEL TV THEMA Auf Mörderjagd! Die DNA-Detektive Auch wenn der Täter nur unsichtbare Spuren hinterlässt – meist ist die Mör- dersuche im Labor erfolgreich. Verbre- FRANK MAY / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE MAY FRANK Solaranlage in Hessen: Das Geschäft mit der Sonnenenergie boomt UNISPIEGEL | Job-Versprechen Wind-, Solar- und Bioenergiefirmen wollen ihre Mitarbeiterzahl in den kommenden zehn Jahren verdoppeln. SPIEGEL ONLINE fragt nach, inwieweit Uni-Absolventen davon profitieren. WIRTSCHAFT | Krisen-Ausblick SPIEGEL TV Rezession, Deflation, Börsen-Baisse: SPIEGEL ONLINE beschreibt, was auf die DNA-Abnahme Weltwirtschaft im Problemjahr 2009 zukommt. chen, die noch vor wenigen Jahren zu SPORT | Absprung den Akten gelegt werden mussten, wer- Werner Schuster soll die deutschen Skispringer bei der Vierschanzen- den heute von Forensikern mit Hilfe tournee zurück zur Weltspitze führen. SPIEGEL ONLINE stellt den neuen modernster Kriminaltechnik aufgeklärt. DSV-Bundestrainer und seine Hoffnungsträger vor. SAMSTAG, 3. 1., 22.30 – 0.35 UHR | VOX KULTUR | Quote oder Qualität? SPIEGEL TV SPECIAL Vor 25 Jahren starteten mit Sat.1 und RTL Deutschlands erste Privatsender. Prinz statt Frosch – SPIEGEL ONLINE analysiert, wie das Kommerz-TV unsere Sehgewohnheiten Wie finde ich den Richtigen? verändert hat. Wie kann man seine Chancen ver- bessern, das „große Glück“ zu finden? NETZWELT | Daddel-Diebe Eine Frage, mit der sich auch die Nicht nur Computerspiele, auch ganze Konsolen werden kopiert. SPIEGEL Wissenschaft beschäftigt. SPIEGEL TV ONLINE zeigt die dreistesten Plagiate – von „Chintendo Vii“ bis „PolyStation 3“. begleitet drei Paare, die sich auf ein Blind Date einlassen und dabei von AUTO | Motor-Mekka Paartherapeuten beobachtet werden. Jeden Winter testen Auto-Ingenieure im nordschwedischen Arjeplog die neuesten Prototypen. SPIEGEL ONLINE berichtet von der Erlkönig-Parade. SONNTAG, 4. 1., 22.25 – 23.10 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Das große Artensterben Wie der Mensch der Tierwelt den Gar- aus macht. SPIEGEL-TITEL | Wirtschaftsweisheit Konjunkturpakete, Leitzinssenkung, Steuernachlass: Welche Medizin hilft gegen die Rezession? SPIEGEL ONLINE beschreibt, was die Welt aus der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre gelernt hat – und welche Instrumente auch heute wirken könnten. SPIEGEL TV www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist. Zerstörter Lebensraum auf Borneo

der spiegel 1/2009 145 Register

gestorben baren Figur des Ruhrgebiets. Schanzara war im Pott „dat Schätzken“ und nutzte ihre Po- Harold Pinter, 78. Er pularität auch zu mannigfachen Auftritten war wohl der einzige im TV. Ihr amüsantes Lied „Vatta, aufstehn“ Autor von Weltrang, war lange Zeit ein Hit im nordrhein-west- der nicht nur für seine fälischen Radio. Tana Schanzara starb am 19. Worte berühmt war, Dezember, ihrem Geburtstag, in Bochum. sondern ebenso sehr für die Pausen dazwischen. Eartha Kitt, 81. Ihre fauchige Stimme und Der britische Drama- ihre katzenhaften Bewegungen machten sie

tiker war ein Meister IMAGES BRUNO VINCENT/GETTY zu einem der ersten afroamerikanischen der Auslassung, des be- Sex-Symbole der USA. Als „aufregendste deutungsschweren Schweigens, der nur an- Frau der Welt“ bezeichnete sie gar der Film- gedeuteten, unter der Oberfläche brodeln- regisseur Orson Welles. Sie war aber auch den Bedrohung. So schuf er in seinen mehr politisch engagiert. So als 30 Stücken eine Atmosphäre der Unbe- protestierte sie 1968 ge- rechenbarkeit und Angst, des Unbehagens gen den Vietnam-Krieg und der latenten Gewalt, eine Welt, „in und widersprach bei ei- der Menschen einander ausgeliefert sind nem Dinner im Weißen und die Fassaden zerbröckeln“, wie es in Haus. Es war ein Wag- der Begründung des Nobelpreis-Komitees nis für die schwarze hieß, das den bereits schwerkranken Pinter Entertainerin („C’est si 2005 mit dem Literatur-Nobelpreis aus- bon“). Zudem riskier- zeichnete. 1930 als Sohn einer kleinbür- te sie ihre fulminante gerlichen jüdischen Familie in London ge- Broadway-Karriere, die boren, strebte Pinter zunächst eine Lauf- in den fünfziger Jahren mit Hauptrollen in bahn als Schauspieler an – und stand dann Shows wie „New Faces“, „Mrs. Patterson“, auch bis ins hohe Alter immer wieder auf „Shinbone Alley“ begann und später in der Bühne und vor der Kamera. Mit sei- „The Owl and the Pussycat“ und Auftritten nem Stück „Der Hausmeister“ gelang ihm in TV-Serien ihren Höhepunkt fand. Das 1960 der Durchbruch als Theaterautor; US-Publikum goutierte ihren Mut nicht und zunächst wurde er, wie sein Mentor und boykottierte Kitt jahrzehntelang. So feierte Freund Samuel Beckett, dem absurden die Tochter eines Südstaaten-Baumwoll- Theater zugerechnet. Doch Pinter verstand pflückers, die 1955 das erste mehrfarbige sich immer als Realist, der nur das Absur- Titelbild des SPIEGEL zierte, ihr Come- de der Welt abbildet – nicht zuletzt mit back vor allem in Europa. Mitte der acht- pechschwarzem Humor. Die Mechanismen ziger Jahre hatte sie mit Disco-Titeln wie von Macht und Unterdrückung spielten in „Where Is My Man“ oder „This Is My Life“ seinem Werk von Anfang an eine Rolle, beachtliche Chart-Erfolge. Eartha Kitt starb doch erst im fortgeschrittenen Alter ent- am 25. Dezember in New York an Krebs. wickelte sich Pinter, der auch Lyrik, Dreh- bücher und Essays verfasste, zu einem de- Mark Felt, 95. Ohne ihn wäre Präsident zidiert politischen Autor. Seine Nobelpreis- Richard Nixon womöglich nicht gestürzt, Rede nutzte er zu wütender Kritik am US- ohne ihn, den die Öffentlichkeit lange nur Präsidenten George W. Bush und am da- als „Deep Throat“ kannte, wäre der Wa- maligen britischen Premierminister Tony tergate-Skandal womöglich nie ganz ans Blair. Harold Pinter starb am 24. Dezem- Licht gekommen. Über Monate traf Felt, ber an Krebs. damals die Nummer zwei beim FBI, den jungen „Washington Post“-Reporter Bob Tana Schanzara, 83. Woodward in einer Tiefgarage des Wa- Ohne Arbeit, hatte sie shingtoner Vororts Rosslyn. Er bestätigte noch kürzlich erklärt, ihm die Information, dass jene Einbrecher, „würde ich ja nur noch die das Büro der Demokratischen Partei im im Bett rumliegen und Washingtoner Watergate-Gebäude verwan- Rotwein trinken“. So zen wollten, den Auftrag dazu aus dem spielte sie auch im Alter Weißen Haus bekommen hatten. Felt be- lieber Theater und stand grundsätzlich auf der Wahrung sei-

drehte Filme. Von 1956 / T&T NASS MARKUS ner Anonymität, wurde aber immer wie- an war die Schanzara, der verdächtigt, der Informant zu sein, be- Tochter eines Opernsängerpaars, am Bo- sonders von Nixon selbst; er stritt es jedoch chumer Schauspielhaus engagiert. Die stets wieder ab und legte sogar falsche Fähr- großen Rollen bekam sie selten, aber aus ten. Erst 2005 enthüllte er in „Vanity Fair“ den kleinen machte sie oft Großes. Ihre überraschend: „Ich war der Mann, den sie raue, schnoddrige Stimme, der sie den un- ,Deep Throat‘ nannten.“ Warum er es ris- sentimentalen Beiklang von Dortmund, der kierte, Informationen weiterzugeben, hat Stadt ihrer Jugend, geben konnte, machten er nie beantwortet. Mark Felt starb am 18. die Schauspielerin zu einer unverwechsel- Dezember im kalifornischen Santa Rosa.

146 der spiegel 1/2009 Personalien

Slavica Ecclestone, 50, kroatisches Ex- Model, das Ende November mit der Tren- nung von Bernie Ecclestone, 78, Chef der Formel 1, von sich reden machte, ist ihrem Mann zufolge gar nicht seinetwegen aus der gemeinsamen Villa im Londo- ner Stadtteil Chelsea ausgezogen. Slavica sei bloß vor dem Lärm der Bauarbeiten nebenan geflohen, klärte Ecclestone ei- nen Reporter auf, der den verlassenen Formel-1-Mann beim Juwelier Moussaieff in Mayfair traf. „Im Moment bereist sie mit Freunden Indien, aber wenn sie zurück ist, werden wir über alles reden“, so Eccle- stone, der sich überzeugt zeigte, seine 24-jährige Ehe mit der 29 Zentimeter grö- ßeren Gattin retten zu können. Das wäre auch gut für die beliebten Autorennen. Der Rosenkrieg hätte einem Branchendienst zufolge nämlich das Zeug, „die gesamte Formel 1“ zu „sprengen“. Der Streitwert einer Ecclestoneschen Scheidung soll bei geschätzten 2,8 Milliarden Euro liegen.

Chloé Mortaud, 19, Wirtschaftsstudentin aus Bénac in Südfrankreich, ist „auf der Obama-Welle“ bei der Miss-France-Wahl „gesurft“, wie das französische Magazin „Paris Match“ schreibt. Die neun Millionen zur Abstimmung aufgerufenen Fernseh- zuschauer votierten nämlich mit Mortaud für eine neue nationale Schönheitskönigin mit dunklem Teint. Ihr Vater ist Franzose, ihre Mutter Brenda eine dunkelhäutige Ame- rikanerin, die Tochter besitzt beide Staatsangehörigkeiten. Die Eltern lernten sich als Friedensarbeiter in den achtziger Jahren in Afrika kennen; Chloé, heute 1,80 Meter groß, kam in Lisieux in der Normandie zur Welt. Ihr Studium will sie nun für ein Jahr un- terbrechen, aber nicht nur, um auf Laufstegen ihre langen Beine zu Markte zu tragen: Die frisch gekürte Miss France kündigte an, sie wolle kranken Kindern und Krebs-

HOCH ZWEI / IMAGO (L.);HOCH ZWEI / IMAGO (R.) / SIPA WARRIN-TV patienten helfen sowie „Frankreichs Image neu vergolden“. Ehepaar Ecclestone

Thorsten Schäfer-Gümbel, 39, SPD-Spit- Will Chapman, 40, amerikanischer Infor- kenhände der populären Gelbkopf-Figuren zenkandidat in Hessen, bekam von einer matiker aus der Region Seattle und schon passen. Inzwischen hat Chapman sein welt- Künstlerin einen etwas rabiat anmutenden seit seiner Kindheit dem Lego-Universum weit vertriebenes Spielzeug-Equipment um Vorschlag zur Lösung politischer Probleme. zugetan, hat ungefragt das Sortiment des einen eine Handgranate schwingenden Beim Besuch einer Ausstellung der Frank- dänischen Bauklötzchen-Herstellers um deutschen Soldaten aus dem Zweiten Welt- furter Bildhauerin Gabriele von Lutzau hat- politisch unkorrekte Varianten erweitert. krieg sowie stark an Islamisten erinnernde te Schäfer-Gümbel zunächst Gelegenheit, Auf Anregung seines ältesten Sohns ent- Lego-Männchen mit Maschinenpistolen und seine Version der missglückten Machtüber- wickelte der ehemalige Microsoft-Spezialist Selbstmordbomben erweitert. Sehr zum nahme in Hessen zu erklären. Dann folgte teilweise nur wenige Millimeter große Waf- Verdruss des Lego-Konzerns im däni- er aufmerksam den Ausführungen Lutzaus fen wie Magnum-Pistölchen und Schnell- schen Billund: „Kinder sollten nicht mit über ihre Arbeiten. Die Künstlerin, die als feuergewehre, die maßstabgetreu in die Ha- moderner Kriegsführung konfrontiert wer- Stewardess des 1977 nach Mogadischu ent- den; das ist nicht ein Teil unseres Uni- führten Lufthansa-Flugzeugs „Landshut“ versums“, erklärte Sprecherin Charlotte zu unfreiwilliger Berühmtheit gelangt war, Simonsen. Juristisch kann der Bauklotz- erklärte, dass sie ihre Holzskulpturen aus- Bauer offenbar wenig gegen die „Osama schließlich mit der Kettensäge fertige. Schä- Bin-Lego“-Figuren aus den USA tun, gegen fer-Gümbel war beeindruckt, die Arbeiten die auch muslimische Vordenker wie Mo- der Bildhauerin sind nämlich durchaus de- hammed Shafiq von der Ramadan Founda- tailreich. Von Lutzau: „Man kann sehr fein tion scharf protestieren. Lego-Fan Chapman damit arbeiten. Ich leihe Ihnen mal eine für ficht die Kritik nicht an: „Wir haben so viel die Politik.“ Schäfer-Gümbel wehrte etwas zu tun, dass sogar meine Frau und die drei

erschrocken ab: „Wir versuchen es erst mal BRICKARMS.COM Söhne beim Feinschliff der Figuren und mit Inhalten.“ Chapman-Spielzeugfigur Adressieren der Pakete mitmachen.“

148 der spiegel 1/2009 kurz nach seinem Amtsantritt habe es in Russland sportliche „Trophäen gehagelt“. Lobende Worte gab es auch für die deut- sche Bundeskanzlerin. Solange „Angela“ an der Macht sei, blieben die Deutschen starke Fußballer, schließlich erweise sie sich im Stadion als „einer der aktivsten Fans in der VIP-Loge“.

Oscar Niemeyer, 101, brasilianischer Ar- chitekt, ist im Herzen Marxist geblieben – Khan auch wenn er 1990 nach 45-jähriger Mit- gliedschaft die Partei verlassen hat. „Die Aryan Khan, 30, afghanischer Sänger, Tän- Kommunisten sind die einzigen, die immer / AFP JAFFE STEPHEN zer, Model und Taekwondo-Meister, prä- noch eine bessere Welt schaffen wollen“, Clinton, Currie sentiert die vor einem Jahrzehnt in Groß- lobte er und verriet, dass sein Freund Fidel britannien erfundene „Wer wird Mil- Castro ihm nach wie vor Havanna-Zigar- damals Clintons Stabschef und heute Chef lionär?“-Fernsehshow jetzt in Kabul. Der ren schicke sowie Kleidung – „aber klar, von Barack Obamas „Übergangsteam“, hat neue Kollege von Günther Jauch und 100 seine Größe passt mir nicht“. Niemeyer die treue Demokratin angeheuert. „Ich ken- anderen Millionär-Quizmastern rund um misst weniger als 1,60 Meter, Kubas ehe- ne niemanden mit mehr Takt, Hingabe und den Globus will eigene Akzente setzen. So maliger Staatschef dagegen 1,90 Meter. Im öffentlichem Engagement als Betty“, erklär- beginnt die Show mit einem von Khan Gegensatz zum siechen Castro erfreut sich te Podesta seine Wahl. „Und sie hat dieses selbst dargebotenen Song – wechselweise ungeheure Adressbuch.“ Vielleicht ist der in den Landessprachen Paschtu und Dari. Job auch ein später Dank für Curries Dis- Der junge Beau will die Kulturen Afghani- kretion. Obwohl sie es war, die mit großmüt- stans auch durch das Tragen von Kleidung terlichem Charme Clintons Mätresse stets der verschiedenen heimischen Stämme an allen Sicherheitsbeamten vorbeischleuste, unterstützen. Außerdem plant er, Kampf- dieser Geschenke von ihrem präsidialen sportler für Einlagen einzuladen. Ansons- Verehrer überbrachte und später einen ten wird sich die Show ganz am britischen neuen Job für die Ex-Praktikantin suchte, Vorbild orientieren; auch in Kabul können blieben Curries Aussagen über die Affäre die Kandidaten einen Freund oder eine klu- gegenüber Chef-Ankläger Kenneth Starr ge Großmutter als Joker anrufen. Der Jack- zunächst überaus vage. Erst unter Eid gab sie pot ist mit rund 14000 Euro (einer Million zu, dass Lewinsky und Clinton tatsächlich Afghani) zwar geringer als anderswo – doch Zeit alleine miteinander verbracht hatten – in einem Land mit einem Durchschnitts- eine Tatsache, die der ertappte Präsident bis jahreseinkommen von 270 Euro gilt diese dato geleugnet hatte und die das Amtsent- Summe als Vermögen. Von den ersten hebungsverfahren gegen ihn beförderte. 20000 Kandidaten, die sich registriert ha- ben, ist immerhin jede Fünfte eine Frau. Stanislaw Tillich, 49, sächsischer Minis- terpräsident, sieht in der Diskussion um Nicolas Sarkozy, 53, französischer Präsi- seine Rolle als Polit-Funktionär in der DDR dent mit öffentlich zelebriertem Liebesle- eine Kampagne. Vehement weigert sich ben, zierte mit einem süffisanten Foto das seine Staatskanzlei, jene dienstliche Er- russische Massenblatt „Komsomolskaja klärung freizugeben, in der Tillich vor Jah-

prawda“. Seine Hand verirrt sich darauf FACE TO / FACE / BRAINPIX SILVA ALEX ren konkret zu Stasi-Kontakten und dem ans Dekolleté der französischen Seglerin Niemeyer Besuch besonders staatsnaher Schulen Maud Fontenoy, 31. Stellung nehmen musste. Man befürchte, „Medwedew liebt Brasiliens legendärer Baumeister trotz täg- dass nach einer Veröffentlichung der Un- den Sport, Sarkozy lichen Wein- und Nikotingenusses guter terlage „vermutete Widersprüche in ein- die Sportler“, laute- Gesundheit. Zwei seiner Projekte sind noch zelnen Details“ einseitig „zu Lasten der te denn auch die im Bau: die „Stadt der Musik“ für das ar- Integrität des Ministerpräsidenten“ inter- Schlagzeile zum Ar- gentinische Rosario und das „Centro Nie- pretiert und publizistisch ausgewertet wür- tikel über Politiker meyer“ in Avilés, Spanien, ein gigantisches den. Widersprüche könnten „sich nach und körperliche Er- Kulturzentrum, dessen Entwurf er der Stif- allgemeiner Lebenserfahrung“ über die tüchtigung. Sport sei tung „Príncipe de Asturias“ zum 25-jähri- Jahre hinweg durchaus ergeben. Tillichs für Sarkozy „mehr gen Jubiläum schenkte. Zur Einweihung Erklärung über seine DDR-Zeit ist deshalb Vorwand denn echte 2010 plant der Greis, der schon zwölf Ur- brisant, weil bei falschen Angaben die frist- Leidenschaft“. Hüb- enkel und sieben Ururenkel hat und der lose Entlassung aus dem Staatsdienst dro- sche Frauen fänden vor zwei Jahren seine zweite Frau heirate- hen könnte. Tausende Ostdeutsche haben Sarkozy, Fontenoy unter der Regierung te, selbst nach Spanien zu reisen – wenn aus diesem Grund in den neunziger Jahren des Franzosen im- seine Gesundheit dies immer noch erlaube. ihre Jobs verloren. Grüne und Linkspartei mer Beachtung, mokiert sich das Blatt. fordern Tillich auf, die Richtigkeit der von Ganz sachlich kommentiert es dagegen das Bettie Currie, 69, Sekretärin von US-Präsi- der Staatskanzlei zurückgehaltenen Er- sportliche Engagement des russischen Prä- dent Bill Clinton, 62, während dessen Affä- klärung unabhängig prüfen zu lassen: von sidenten. Dmitrij Medwedew sei schon als re mit Monica Lewinsky, ist wieder fast im der Präsidentin des Sächsischen Verfas- Student Sieger im Gewichtheben gewesen, Weißen Haus angekommen: John Podesta, sungsgerichtshofs.

der spiegel 1/2009 149 Hohlspiegel Rückspiegel Zitate Die „Frankfurter Allgemeine“ Aus der Syker „Kreiszeitung“ zur SPIEGEL-Medien-Meldung „Teurer ARD-Vertrag für Lierhaus“ (52/2008):

Aus der „Bild“-Zeitung zum Tod von An der Meldung des SPIEGEL, der zufol- Horst Tappert: Seine „Tränensäcke waren ge die Sportmoderatorin Monica Lierhaus das Auffanglager des menschlichen Leids“. im kommenden Jahr bei der ARD einen Vertrag bekommen soll, dessen „Werthal- tigkeit“ bei 875000 Euro liegt, kann man ablesen, in welcher Geldliga die imageprä- genden Sendergesichter inzwischen spie- len. Sind sie erst einmal in den Augen des Publikums unentbehrlich geworden, sitzen sie und nicht mehr die Senderchefs am Aus der „Rheinpfalz“ längeren Hebel … Zuschauerbefragungen zufolge ist sie (Monica Lierhaus) unter den Sportmoderatoren inzwischen so etwas Aus dem „Stadtblatt Bergneustadt“: „In wie der weibliche Kerner der ARD, sie ist naturbelassenen Textilien ist beispielswei- beliebt, und man hält sie für kompetent. se ‚Schwitzen‘ Schnee von gestern.“ Kein Wunder, dass der NDR an ihr fest- halten und ihr ein Champions-League-Ho- norar zahlen will, das angeblich aber auch Produktionskosten verrechnen soll. Un- terschrieben sei der Vertrag noch nicht, berichtet der SPIEGEL. Prinz Max von und zu Liechtenstein in Aus einer Ankündigung der Österreichi- einem Interview in der Schweizer schen Bundesbahnen „Weltwoche“ über die Aufweichung des Bankgeheimnisses gegenüber den USA und die Rolle eines SPIEGEL- Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Mit ONLINE-Berichts am 15. Februar. seiner ausgefeilten Pedaltechnik gab er Auf die Frage, wie er von dem Daten- dem Klavierton Größe und Weite; zugleich klau bei der LGT Treuhand verhinderte er durch ein geschicktes Aus- erfahren habe, antwortete Liechtenstein: lüften des Klangspeichers jenen fatalen Rückstau, der dieser Musik so oft Licht Ich war gerade unterwegs, als ein Kollege und Atem raubt.“ mich anrief und mir mitteilte, was auf der Web-Seite des SPIEGEL dargestellt wurde. Ich fuhr gleich nach Vaduz zurück, wo wir sofort einen Krisenstab aufgesetzt haben.

Aus der „Nordwest-Zeitung“ Der SPIEGEL berichtete … … in Heft 52/2008 „Zeit für den Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „In Eng- Abschied?“ über Klinikärzte in Magde- land haben Eltern durch künstliche Befruch- burg, die angeklagt waren, ein tung in einem Reagenzglas elf Embryonen britisches Verkehrsunfallopfer wider- hergestellt.“ rechtlich getötet zu haben:

Zwei wegen passiver Sterbehilfe angeklag- te Ärzte sind wegen erwiesener Unschuld freigesprochen worden. Das Landgericht Magdeburg urteilte am vergangenen Mon- tag, dass sich der ehemalige Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrums Magdeburg, Paul Walter S., und der Sta- tionsarzt Frantisek K. im Zusammenhang mit dem Tod eines schwerstverletzten Aus der „Aachener Zeitung“ 26-Jährigen im Jahr 2004 korrekt verhalten hatten. Oberstaatsanwalt Sebastian Stau- fenbiel entschuldigte sich bei den Ange- Aus einem Glühweintest der „Abendzei- klagten: „Sie sind unschuldig, Sie wurden tung“: „Der eigentliche Rotwein ist kaum auch unschuldig angeklagt, und ich schul- zu erkennen. Er schmeckt, als hätte er ein de Ihnen die Feststellung, dass Sie ehren- Loch.“ volle, verdiente Ärzte sind.“

150 der spiegel 1/2009