Reiner Küpper

Der ‚Ghostwriter’ des ‚Herrenreiters’. Der Diskurs Edgar Julius Jungs und die für den Vizekanzler Papen verfasste Marburger Rede vom 17. Juni 1934 Ein Beitrag zur Analyse der Sprache im frühen Nationalsozialismus

Series A: General & Theoretical Papers ISSN 1435-6473 Essen: LAUD 2010 Paper No. A767

Universität Duisburg-Essen

Reiner Küpper

Universität Duisburg – Essen,

Der ‚Ghostwriter’ des ‚Herrenreiters’. Der Diskurs Edgar Julius Jungs und die für den Vizekanzler Papen verfasste Marburger Rede vom 17. Juni 1934

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Reiner Küpper

Der ‚Ghostwriter’ des ‚Herrenreiters’. Der Diskurs Edgar Julius Jungs und die für den Vizekanzler Papen verfasste Marburger Rede vom 17. Juni 1934

Ein Beitrag zur Analyse der Sprache im frühen Nationalsozialismus

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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis...... ii Vorwort...... 1 0 Theoretische Vorbemerkung ...... 2 1 Einleitende Begriffsbestimmungen ...... 5 2 Zur Etymologie des Begriffs ‚Konservative Revolution’...... 9 3 Historisch-biographischer Hintergrund ...... 12 3.1 ...... 12 3.2 Der Beraterkreis ...... 22 3.2.1 Edgar Julius Jung - Ein konservativer Revolutionär ...... 22 a) Jungs lebensphilosophische Ausrichtung und seine Ablehnung des Rationalismus bzw. der Aufklärung...... 33 b) Jungs prinzipieller Antiliberalismus sowie die Ablehnung von Individualismus und Menschenrechten...... 34 c) Jungs organisches Staatsverständnis und die Forderung nach identitärer Demokratie...... 36 d) Jungs Antipluralismus und die Ablehnung der politischen Parteien...... 36 e) Die letzte Konsequenz: Jungs Befürwortung eines autoritären Staatsmodells mit cäsaristischer Diktatur...... 37 f) Zwölf Thesen aus dem Jahre 1932 ...... 38 g) 1933: Die Deutsche resp. Christliche Revolution...... 41 h) Die Denkschrift von 1934 ...... 44 i) Zusammenfassung...... 45 j) Die unmittelbare Vorbereitung des Staatsstreichs ...... 47 3.2.2 Der Beraterkreis: ...... 50 3.2.3 Der Beraterkreis: Fritz Günther von Tschirschky ...... 51 4 Die Marburger Rede vom 17. Juni 1934 ...... 52 4.1 Vorbemerkungen zur konkreten „Verwendungssituation“...... 52 4.2 Konkretisierungen zum methodischen Vorgehen...... 54 4.2.1 Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts resp. des Gegenstandes der Marburger Rede...... 54 4.2.2 Beschreibung der Inszenierung des Inhaltes der Marburger Rede, d.h. sprachliche ‚Oberflächenanalyse’ im Sinne traditioneller Stilanalyse...... 56 a) Textsorte und vorherrschende Argumentationsart resp. -strategie...... 56 b) Lexik ...... 60 c) Exkurs ...... 64 d) Der Stilzug der Ästhetisierung...... 66 e) Zusammenfassung der Oberflächenanalyse:...... 78 ii

4.2.3 Analyse des Sinnes der Inszenierung als Botschaft unter der Oberfläche des selbsterklärten Textinhaltes unter Rückgriff auf den sozialgeschichtlichen Kontext ...... 79 a) Jungs christlich-mittelalterliche. Geisteshaltung...... 81 b) „Zweite Welle“ der nationalen Revolution resp. Eigentumsfrage ...... 82 c) Abgrenzungstendenzen...... 84 4.2.4 Vorläufige Zusammenfassung der Analyse: Rückbezug der in 4.2.2 und 4.2.3 entwickelten Lesweise des Textes auf die selbstdeklarierte „Botschaft“...... 86 5 Historisch-linguistisches Fazit...... 88 5.1 Das Verhältnis der Jungkonservativen zum NS ...... 88 5.2 Ästhetischer Radikal-Konservatismus als diskurssemantische Grundfigur...... 93 5.3 Frappierende Analogien zur Argumentation im Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr (Juli 1934) ...... 94 6 Aktuelle Lesweisen...... 95 7 Herangezogene Literatur...... 99 8 Anhang: Volltext der Marburger Rede...... 107

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Vorwort Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um die verschriftlichte, punktuell erweiterte und aktualisierte Form eines Vortrags, der am 30. Januar 2008 an der Universität Duisburg-Essen gehalten wurde. Die zum Teil längeren Fußnoten greifen Forschungsfragen auf, die in der anschließenden Diskussion angesprochen wurden. Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Analyse des Diskurses der so genannten Konservativen Revolution der Weimarer Zeit, auf den neuerdings in Teilen der Rechtspresse verstärkt – und meist in verklärender Form – Bezug genommen wird. Im ersten Teil dieser Schrift wird der historisch-politische resp. philosophische Hintergrund aufgezeigt, auf dem die politisch folgenreiche Marburger Rede vom 17. Juni 1934 zu problematisieren ist. Danach wird die Rede sprachwissenschaftlich genau analysiert. Meine Ausgangsüberlegung war, dass eine rein historisch-politisch bzw. philosophisch ausgerichtete Darstellung den zu einem beträchtlichen Teil künstlerisch- gefühlsbetonten Charakter der rechtskonservativen Lebensauffassung der Zwischenkriegszeit nicht deutlich herauszuarbeiten vermag. In diesem künstlerisch- romantischen Zug lag aber ein beträchtlicher Teil der Attraktivität, den diese hier zu problematisierende Weltanschauung damals wie heute ausübte.1 Zur Verdeutlichung dieser Attraktivität sollen vor allem die Äußerungen Jungs selbst wie auch die Urteile von unmittelbaren Zeitzeugen herangezogen werden, wobei freilich zu beachten ist, dass diese Stellungnahmen sehr gefärbt sind. Aber gerade diese Färbung macht den emotionalen Zug der konservativ revolutionären Weltanschauung deutlich. Meine These ist, dass eine linguistisch basierte Diskursanalyse – sofern sie nicht im rein Formalen verharrt – diesem rational schwer fassbaren romantischen Stilzug eher gerecht wird und damit besser verdeutlichen kann, weshalb vor einer erneuten Übertragung dieser sozial-romantischen Vorstellungen in die Politik nur zu warnen ist. Herrn Prof. Dr. Ulrich Schmitz, Universität Duisburg-Essen, danke ich für kritisches Gegenlesen. Duisburg-Essen, im Frühsommer 2010 Reiner Küpper

1 Vgl. hierzu Manfred Schoeps (1974), Der Deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik, Phil. Diss., Erlangen-Nürnberg, der – wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang – eine ähnliche Skepsis gegenüber dem Grundsatz „Quod non est in actis, non est in mundo“ zum Ausdruck bringt (S. 9).

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0 Theoretische Vorbemerkung Im Mittelpunkt dieser diskurslinguistischen Analyse steht die politisch äußerst folgenreiche Marburger Rede, die der damalige (rechtskatholische) Vizekanzler Franz von Papen am 17. Juni 1934 vor dem Marburger Universitätsbund gehalten hat.2 Verfasst wurde die Rede von dem (von Haus aus protestantischen, aber zum Katholizismus neigenden) Publizisten Edgar Julius Jung (1894-1934), einem führenden Vertreter der so genannten Konservativen Revolution. Jung, der als unabhängiger Berater und „Ghostwriter“ in der Vizekanzlei tätig war, plante die Rede als ein Fanal des (hoch)konservativen Aufstands gegen das sich zusehends festigende Regime Hitlers. Kurz nach der Rede wurde Jung von der SS ermordet. Wenn einleitend der Anspruch erhoben wurde, dass eine sprachwissenschaftliche Studie derlei historisch-weltanschaulichen Texten eher gerecht wird, so gilt dies freilich nicht für eine rein formale Analyse. Einem solchen rein formalen sprachwissenschaftlichen Ansatz müsste man mit Rainer Diaz-Bone ein „praxeologisches Defizit“ vorwerfen.3 Ähnlich argumentierte schon Utz Maas in seiner klassischen Untersuchung zur Sprache im Nationalsozialismus: „Eine strikt formale Analyse betrachtet den Text immanent. Damit wird sie dem Charakter ... politischer Äußerungen nicht gerecht ... [Denn] ein solcher Text ist Ausdruck bzw. Teil einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis“.4 Deshalb wird einleitend ein Blick auf den historisch-biographischen Hintergrund zu werfen sein. Zur konkreten Textarbeit sind jedoch vorweg noch einige methodische Bemerkungen im engeren Sinne erforderlich: Unter Diskurs- bzw. Argumentationsanalyse wird bekanntlich sehr Unterschiedliches verstanden. Die diesbezüglichen Kontroversen können hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Hierzu sei auf die neueren Publikationen verwiesen, die Warnke und Spitzmüller herausgegeben haben, von deren dem Anspruch nach auf Foucault basierendem Schema der Mehrebenenanalyse DIMEAN (vgl. Warnke/Spitzmüller 2008:3-45) die vorliegende Ausarbeitung Anregungen erfahren hat.5

2 Der besseren Vergleichsmöglichkeit halber wird die Rede in der Anlage vollständig wiedergegeben. 3 Vgl. Rainer Diaz-Bone, „Was ist der Beitrag der Diskurslinguistik für die Foucaultsche Diskursanalyse?“, in: FQS, Volume 11, No. 2, Art. 19 (2010), o. S. – Online unter: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1454/2955 (eingesehen am 31. Mai 2010). 4 Utz Maas (1984), „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 18. 5 Warnke und Spitzmüller (2008:23) betonen, dass in ihre „Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN)“ „grundlegende Annahmen von Foucault zentral eingearbeitet“ sind. Dieser Ausrichtung würde ich mich grundsätzlich gerne anschließen und mit Foucault den Diskurs definieren als „eine Menge von Aussagen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. [...] Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. [...] Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst ...“. Und unter „diskursiver Praxis“ versteht Foucault demgemäß „eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirklichkeitsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.“ (Michel Foucault (1981), Archäologie des Wissens, Frankfurt: Suhrkamp, S. 170f.) – Damit ergibt sich indes eine Reihe von Problemen: Unter anderem erhebt sich mit Waldenfels 1991:291 die Frage, ob Foucault seinen 2

Diskursbegriff nicht zu „einseitig von der Aussage her entwickelt.“ Des Weiteren ist dieser Diskursbegriff in die – nach Kammler (2007:17ff.) – vier Phasen des Foucaultschen Theoriebildungsprozesses einzuordnen. Den Diskursbegriff versucht Foucault insbesondere in der zweiten Phase dieses Prozesses näher zu bestimmen: Dies ist „das Geschäft der Archäologie“ (ebd.:18). „Festzuhalten bleibt aber, dass ausgerechnet der Diskursbegriff, dem Foucault seine Berühmtheit seit den späten sechziger Jahren in allererster Linie verdankt, in der ‚Archäologie des Wissens’ letztlich eine ‚schwimmende Bedeutung’ behält.“ (Kammler 2007:ebd; Binnenzitat aus Archäologie des Wissens, S. 116) – Dieser Befund impliziert keineswegs, dass von einem „methodischen Scheitern“ (wie Dreyfus / Rabinow, 1987:105, dies tun) gesprochen werden muss. Aber „selbst ein vergleichsweise wohlwollender Kommentator wie Paul Veyne musste feststellen, dass Foucault nie ‚zufrieden stellende Definitionen’ der beiden zentralen Begriffe dieses Buches – Diskurs und Aussage – gegeben habe.“ (Kammler 2007:ebd.; Binnenzitat aus Paul Veyne, Michel Foucaults Denken, in: Axel Honneth und Martin Saar (Hgg.), Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 27-51, hier S. 29.) Jedenfalls kann Foucaults Band Archäologie des Wissens „weder [als] ‚Discours de la méthode’ seiner bisherigen Schriften noch [als] methodologisches Programm seiner späteren materialen Untersuchungen“ (Kammler 2007:18) angesehen werden; vielmehr „bleibt die ‚Archäologie des Wissens’ ein Text, in dem eher eine Heuristik als ein operationalisierbares Verfahren entwickelt wird und der mehr durch die Fragen besticht, die er stellt, als durch die Antworten, die er gibt.“ (Ebd.:18f.) – Insbesondere in der anschließenden dritten Phase von Foucaults theoretischer Entwicklung „gelangt der Machtbegriff ... ins Zentrum seiner theoretischen Reflexion“ (ebd.:19; Hervorhebung R.K.): „Foucault grenzt sein Machtkonzept hier gegen ein juridisches Modell souveräner Staatsmacht ab, wie es exemplarisch im Hobbesschen ‚Leviathan’ Gestalt angenommen hat. Dem setzt er ein an den Kategorien Krieg und Konfrontation orientiertes nietzscheanisch-genealogisches Konzept entgegen, das den Fokus auf lokale Formen und Systeme der Unterwerfung und Disziplinierung individueller Körper richtet. Mit der Einführung des Dispositivbegriffs wird die Werkzeugkiste der ‚Archäologie des Wissens’ in dieser Phase nicht einfach entrümpelt, um alte Werkzeuge gegen neue auszutauschen; sie wird vielmehr ergänzt und die Werkzeuge erhalten eine neue hierarchische Anordnung.“ (Ebd.) Es kommt hier somit zu einem „entscheidende[n] Perspektivwechsel“ (ebd.). In diesem Kontext stellt sich für den Sprachwissenschaftler/die Sprachwissenschaftlerin die Frage, inwieweit Foucaults (spätere) Betrachtungsweise überhaupt (noch) die Linguistik fokussiert. Jedenfalls konstatiert Siegfried Jäger: „Foucault ... liberates himself – and us – from a linguistics that is not based on thought and consciousness. He subordinates language and also linguistics to thought and knowledge. Thereby he basically turns linguistics into a subdiscipline of cultural sciences ... [...] ... Foucault arrived at the conviction that talk/text/discourse alone is not what makes the world tick.“ (Siegfried Jäger und Florentine Maier 2009:41) – Diese Abwertung der Linguistik zu einer bloßen Hilfsdisziplin der Kulturwissenschaften trägt der Diskursanalyse im Rahmen der Linguistik wiederum den Vorwurf ein, kein originär linguistisches Unterfangen zu sein. Wie Rainer Diaz-Bone in seinem soeben erschienenen Online-Beitrag (in FQS, 11 (2010), No. 2, Art. 19) zu bedenken gibt, kann der Linguistik in der Tat nicht zugemutet werden, „einen methodologischen Diskurs einer anderen Disziplin [nämlich den der Sozialwissenschaften] oder eine ‚Qualitätskriterienliste’ der qualitativen Sozialforschung einfach zu adaptieren.“ Nach wie vor „sind die Beschreibung von Sprachwandel und die Analyse des Sprachgebrauchs für die Sprachwissenschaften legitime Analyseziele an sich.“ (Ebd.) Jedenfalls ist „für die Diskurslinguistik ... ‚Diskurs’ [herkömmlicherweise] in erster Linie eine textliche Realität.“ (Ebd.) Damit ergibt sich jedoch aus Sicht der Foucault-Forschung ein „praxeologisches Defizit“ (ebd.) und die Linguistik „müsste ihr Selbstverständnis als nur sprachbezogene Disziplin aufgeben, wenn sie wirklich Ernst machte mit der Berufung auf FOUCAULTs Diskurstheorie.“ Zumindest müsste die Diskurslinguistik „klären, welche Transformation ihres Gebrauchs notwendig [ist] ..., damit sie Teil eines FOUCAULTschen Instrumentariums werden kann.“ (Ebd.) Diese Klärung ist meines Erachtens bislang jedoch noch nicht erfolgt. Jedenfalls kommt Rainer Diaz-Bone (ebd.) zu dem Schluss, dass mit der „Diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN)“ „zuerst einmal nur eine Methodik vorgelegt [ist], die die Analyseinteressen der Soziolinguistik mit denjenigen der auf Textkorpora erweiterten Textlinguistik verkoppelt, aber [damit sei] noch keine Umsetzung einer FOUCAULTschen diskurstheoretischen Perspektive begründet oder geleistet.“ – Wenn diese Einschätzung zutrifft, ist übrigens der Anspruch von Warnke und Spitzmüller (2008:23), dass in ihre „Diskurslinguistische Mehr- 3

Auch wenn dieses weitgreifende Schema in einer spezialisierten Untersuchung wie der vorliegenden nur ansatzweise umgesetzt werden kann, so scheint es mir für eine im engeren Sinne linguistische Diskursanalyse auf jeden Fall hilfreich. Eine allzu schematische Übernahme des DIMEAN-Rasters verbietet sich allerdings: Eine starre Handhabung dieses Schemas wäre auch nicht im Sinne der Entwickler dieses Rasters (vgl. z. B. Warnke/Spitzmüller 2008:25). Aber trotz dieser Orientierung am DIMEAN-Schema soll der Übersichtlichkeit halber als Grobraster die klassische Drei- (resp. Fünf-)Gliederung, die Utz Maas seiner historischen Argumentationsanalyse zugrunde gelegt hat, nicht aus den Augen verloren werden.6 Denn in einer konkreten Untersuchung bietet es sich meines Erachtens nach wie vor an, vorweg den „(selbstdeklarierten) Inhalt“ des jeweiligen Textes zu paraphrasieren;

Ebenen-Analyse (DIMEAN)“ „grundlegende Annahmen von Foucault zentral eingearbeitet“ sind, womöglich zu relativieren. Hier ergeben sich für die Sprachwissenschaft zweifellos gravierende theoretische Probleme. Vielleicht ist es von hierher ja auch kein Zufall, dass in dem oben genannten Sammelband von Kammler/Parr zur Foucault-Rezeption in den Kulturwissenschaften ein Beitrag zur Foucault-Rezeption in der Linguistik fehlt. 6 Dieser Rückgriff (der im Rahmen des vorliegenden Beitrags zur Sprache im Nationalsozialismus ohnehin naheliegt) rechtfertigt sich auch dadurch, dass schon Maas als Hintergrund zu seinen theoretischen Ausführungen zur Diskursanalyse u. a. (den frühen) Foucault erwähnt. Maas ordnet seine Definition von Diskurs damit auch einer „Tradition [zu], die ... vor allem über die Arbeiten von Foucault bekannt ist.“ (1984:233; vgl. ebd., Fußnote 36). Auch von daher ist für Maas bei seiner Argumentationsanalyse, wie schon erwähnt, der Praxisbezug unerlässlich. Somit versteht Maas unter Diskurs folgerichtig „die (sprachliche) Inszenierung einer bestimmten sozialen Praxis“; der Diskurs ist aber „mit dieser selbst nicht gleichzusetzen“, da die soziale Praxis ja „noch ganz andere Bereiche umfaßt, in anderen Determinationszusammenhängen steht“. (Ebd.:232) Um ein „praxeologisches Defizit“ (s. o.) zu vermeiden, werde ich in meiner nachfolgenden Untersuchung deshalb versuchen, die wichtigsten Praxisbereiche im Sinne U. Maas’ bzw. Foucaults im Blick zu behalten. – Schon aus Platzgründen kann ich über diese rudimentären Aussagen zu meinem wissenschaftstheoretischen Ansatz hier jedoch nicht hinausgehen. Vor allem ist hier nicht der Ort, auf das weite Feld der Foucault- Rezeption detailliert einzugehen: Die äußerst kontroversen Stellungnahmen zu Foucault sind bekanntlich zu zahlreich. Verwiesen sei nur auf Jean Baudrillards vernichtende Kritik in Oublier Foucault, München: Gesellschaft für sozialwissenschaftliche und ökologische Forschung, 1978, oder die kaum weniger harsche Kritik aus historischer Sicht bei H.-U. Wehler (1998), Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München: Beck, insbesondere S. 45-95. – Als affirmative Stellungnahme sei neben Philipp Sarasin (2003), Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt: Suhrkamp, die Dissertation von Ulrich Brieler (1998a), Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln: Böhlau, ins Feld geführt. (Vgl. auch den Artikel desselben Autors (1998b) mit dem Titel „Foucaults Geschichte“ in Geschichte und Gesellschaft, 24, S. 244-279, den Wehler allerdings als „zu wohlwollend im Urteil“ (S. 157) abqualifiziert.) – Für den englischen Sprachraum gibt Sara Mills (2007) in dem UTB-Band Der Diskurs, Begriff, Theorie, Praxis, Tübingen: A. Francke [englisches Original: 1997], eine Foucault sehr gerecht werdende Übersicht. (Für die Foucault-Rezeption in der Linguistik siehe insbesondere die Seiten 17-24 und 51ff.) – Ähnlich wie dies bei Kammler (siehe oben) schon anklingt verweisen auch die Sozialwissenschaftler Andrea D. Bührmann und Werner Schneider (2008), Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld: transcript, insbesondere unter Bezug auf Deleuze auf das „krisenhafte bzw. vagabundierende Denken“ (S. 19) Foucaults und konstatieren, dass „dieser vagabundierende Denkstil Foucaults ... nicht unwesentlich zu einigen begrifflichen Unklarheiten sowohl im Feld der Diskurs- als auch der Dispositivforschung beigetragen [hat].“ (S. 20) Auch diese „allseits konstatierte Uneindeutigkeit Foucault’scher Begrifflichkeiten und Analyseprozeduren“ (ebd.) macht den Einbezug Foucaultscher Kategorien gerade in einer linguistischen Analyse wie der vorliegenden zu einem nicht leicht zu bewältigenden Problem. 4 sodann wäre eine „Beschreibung der Inszenierung des Inhalts“ (Maas 1984:18) vorzunehmen, und zwar zunächst als „sprachliche ‚Oberflächenanalyse’ durchaus im Sinne traditioneller Stilanalyse“ (ebd.); gerade hier kann heute das erwähnte DIMEAN-Raster zur Präzisierung der Analyse herangezogen werden, wobei der Schwerpunkt in vorliegender Studie auf der Untersuchung der Schlüsselwörter (konkret der Fahnen- bzw. Stigmawörter im Sinne Fritz Hermanns’7), ferner der Metaphern8 sowie der Topoi (im Sinne Martin Wengelers9) liegen soll. Aber auch andere (gerade auch nach DIMEAN) grundlegende Aspekte, wie insonderheit das „Feld der Akteure“,10 dürfen nicht außer Acht bleiben. – Abschließend müsste eine Analyse „des Sinnes der Inszenierung“ erfolgen, die sozusagen die „Botschaft unter der ‚Oberfläche’ des selbsterklärten Textinhaltes“ (Maas:ebd.) herausarbeitet.11 Wie schon angedeutet ist dabei „auf den spezifischen sozialgeschichtlichen Kontext zurückzugreifen, in dem ... der Text aufgenommen wurde (werden sollte)“ (ebd.). Dieser Rückgriff auf die soziale Praxis ist bei einem ausgesprochen politischen Text wie der Marburger Rede besonders wichtig und soll deshalb entsprechend ausführlich vorgenommen werden, zumal es sich bei der hier zu analysierenden Rede bereits um ein Beispiel von ‚Sprache im Nationalsozialismus’ (Maas) handelt.

1 Einleitende Begriffsbestimmungen Bei dem um 1900 aufkommenden Begriff „Herrenreiter“ handelt es sich um eine Lehnübersetzung des englischen Syntagmas gentleman rider, worunter jemand verstanden

7 Vgl. Fritz Hermanns (1994), Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen ‚politischen Semantik’, Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245 ‚Sprache und Situation’, Heidelberg/Mannheim: Bericht Nr. 81, S. 19. 8 Neben der bekannten Arbeit von Karin Böke (1996), „Überlegungen zu einer Metaphernanalyse im Dienste einer ‚parzellierten’ Sprachgeschichtsschreibung“, in: Böke, Karin/Jung, Matthias und Martin Wengeler, Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 431-452, orientiere ich mich hier an der vorbildlich durchgeführte Metaphernanalyse in der kürzlich erschienenen Habilitationsschrift von Anja Lobenstein- Reichmann (2008), Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin: de Gruyter, insbesondere S. 284ff. 9 Vgl. hierzu als neuere Konkretisierung seines Analyseschemas den Beitrag von Wengeler in dem genannten Sammelband von Warnke/Spitzmüller (2008): „‚Ausländer dürfen nicht Sündenböcke sein’ – Diskurslinguistische Methodik, präsentiert am Beispiel zweier Zeitungstexte“, S. 207-236. Vgl. ferner: Martin Wengeler (2007), „Topos und Diskurs – Möglichkeiten und Grenzen der topologischen Analyse gesellschaftlicher Debatten“, in: Ingo Warnke (Hg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin: de Gruyter, S. 165-186. Vgl. außerdem die ausführliche Darstellung in: Martin Wengeler (2003), Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985), Tübingen: Niemeyer. 10 Vgl. Warnke/Spitzmüller 2008:38. 11 Zusätzlich zu einer zu leistenden Zusammenfassung wären gegebenenfalls noch „konkurrierende Lesweisen“ (Maas 1984:18) herauszuarbeiten, weshalb Maas’ Analyseschema mitunter auch als ‚Lesweisenansatz’ bezeichnet wurde. 5 wurde, der „nicht berufsmäßig oder gegen Entgelt reitet“.12 Unter „Herrenreiten“ verstand man demzufolge ein Pferderennen, bei dem nicht gegen Bezahlung, sondern nur um Ehrenpreise geritten wurde. Berufsjockeys waren bei solchen Turnieren per se ausgeschlossen. In der deutschen zeitgenössischen politischen Philosophie sind diese Komposita in den Zusammenhang des (maßgeblich von NIETZSCHE geprägten Begriffs) „Herrenmoral“ einzuordnen, worunter die Wertschätzungen, die aus dem Selbstbewusstsein von Herrenschichten hervorgehen, gefasst wurden. Gleichzeitig schwang hier eine Verachtung des ängstlichen, misstrauischen, mitleidigen und auf Nützlichkeit bedachten Wesens mit, aus dem die „Sklavenmoral“ entspringe. 1924 wurde in Berlin der Deutsche Herrenklub (DHK) gegründet. Darunter ist eine Vereinigung zumeist konservativer Persönlichkeiten zu verstehen, die vordergründig politisch-wissenschaftlichen sowie kulturellen Interessen diente: Unter der Leitung HEINRICH VON GLEICHENs (1882-1959) pflegte der Klub gesellige Beziehungen zwischen führenden Persönlichkeiten der Aristokratie, der Wirtschaft, der Wissenschaft wie auch der hohen Bürokratie.13 Ein Gründungsmitglied des Herrenklubs war der spätere Reichs- bzw. Vizekanzler FRANZ VON PAPEN.14 Ehrenvorsitzender war in den frühen dreißiger Jahren der Reichspräsident ,15 der gleichzeitig Ehrenmitglied im Stahlhelm, dem Bund der Frontsoldaten war.

12 DUDEN (1989). Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Bd. 7, 2. Aufl., Mannheim, S. 281f. 13 Edgar Julius Jung, dessen Persönlichkeit im Zentrum der vorliegenden Ausarbeitung steht, war zwar kein Mitglied des Herrenklubs, hatte aber zu Heinrich von Gleichen schon seit Mitte der zwanziger Jahre Kontakt; aufgrund unterschiedlicher politischer Ansichten sowie persönlicher Animositäten blieb das Verhältnis zwischen beiden allerdings stets instabil. (Genaueres hierzu siehe Jahnke 1998:133) – Überhaupt, dies sei schon hier angedeutet, trat Jung „oft zu leidenschaftlich ... in der Debatte auf“ (Graß 1966:11): „In der persönlichen Unterhaltung ließ er ... auch seinem sarkastischen Spott freien Lauf. Dieser gedieh durch das Selbstgefühl intellektueller Überlegenheit zu einer gewissen Menschenverachtung, so daß Jung als arrogant galt. [...] Ein aristokratischer Zug prägte ihn bis zu seiner Vorliebe für gewählte Kleidung und gepflegte Umgangsformen. Ohne eingebildet zu sein, war er der Typ des hochgebildeten, selbstbewussten und vornehmen Bürgers mit einer gewissen Distanz zu sich und der Welt, die ihn das Kriegserlebnis gelehrt hatte.“ (Graß 1966:11f.) – Diese Charakterisierung Graß’ ist sicherlich zu wohlwollend (wie unten noch im Einzelnen zu problematisieren sein wird). Auch Graß muss jedenfalls einräumen: „Ob Jung ein guter Menschenkenner war, lässt sich bezweifeln.“ (Ebd.:12) Nach meiner Kenntnis der Sachlage lässt sich auch bezweifeln, ob Jung je eine gesunde Distanz zu den Dingen hatte oder doch nicht eher – jedenfalls im weiteren Verlauf seiner Entwicklung – an einem Mangel an Realitätssinn litt. Denn schon bald entfernte sich Jung „von der real disseitigen [sic] Politik [und] ging ... aus der Welt hinaus zu einer ‚Metapolitik’. Sie verlegte er in unpolitische, transzendental vorgestellte metaphysische Bereiche.“ (Graß 1966:17) – Auf alle Fälle war Jung von sich stärker eingenommen als es – auch ihm selbst – zuträglich war. – Dieser Problemkreis kann hier zunächst einmal nur angerissen werden; hierauf wird noch detailliert zurückzukommen sein. 14 Dem Präsidenten des Klubs, Hans Bodo Graf zu Alvensleben, war laut „Jahresbericht 1928/29 ... ein zwanzigköpfiges Präsidium und ein aus 34 Personen – darunter auch Franz von Papen – bestehendes Direktorium beigegeben“. (Schoeps 1974:55) 15 Vgl. hierzu Schoeps 1974:52: „Das prominenteste Mitglied des Deutschen Herrenklubs ... war der Reichspräsident Paul von Hindenburg, dem 1931 die Ehrenmitgliedschaftswürde angetragen worden 6

Die Zeitschrift des DHK, Der Ring, war um die Entwicklung eines neuen Konservatismus bemüht.16 Ob der politische Einfluss dieser elitären Gruppe überschätzt wurde, ist in der Forschung umstritten.17 Unbestritten ist jedoch, dass „der Herrenklub ... 1932 mit dem Kabinett Papen ins politische Rampenlicht geraten [ist]“. „Die Bedeutung des Herrenklubs war aber mehr die einer Verbindungsstelle. Einfluß auf die Politik hat er als Organisation nicht nehmen können und wollen, wohl aber wirkte er mit den Publikationen des Ringkreises meinungsbildend auf der Rechten“ (Schoeps 1974:1). Nach 1933 verlor der Klub aber seinen Einfluss; 1944 kam es zur Selbstauflösung. Eng verbunden war der „Herrenklub“, der seine Zentrale in der Berliner Motzstr.18 hatte, mit dem Jungkonservativen Klub, bei dem es sich um eine Art

war. Hindenburg nahm auch mehrfach an den großen Jahresessen des Klubs teil. Seine Mitgliedschaft im Herrenklub gehört zu den ganz wenigen Verpflichtungen vereinsmäßiger Natur, die Hindenburg jemals eingegangen ist.“ – Übrigens wurden „die Jahresessen ... namentlich in der letzten Jahren der Republik zu hervorragenden gesellschaftlichen Ereignissen“ und fanden „in der ersten Dezemberwoche statt...“. (Ebd.:57) – Seinen letzten Höhepunkt erlebt der Deutsche Herrenklub ... mit seinem am 16. Dezember 1932 durchgeführten Jahresessen, an dem mehr als 700 Personen aus dem gesamten Reichsgebiet teilnahmen. Den Festvortrag hielt der soeben abgedankte Reichskanzler und Klubmitglied Franz von Papen, wiederum vor den Spitzen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.“ (Ebd.:57f.) – „Dieses letzte Jahresessen des Deutschen Herrenklubs war auch die letzte große Heerschau des berühmten jungkonservativen Kreises in der Weimarer Republik. Schon wenige Monate später ließ sich der Deutsche Herrenklub gleichschalten.“ (Ebd.:58) 16 Dieser Aspekt wird detailliert behandelt in der Marburger Dissertation von Yuji Ishida (1998), Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Frankfurt: Peter Lang. – Vgl. hierzu auch Schoeps 1974:17, demzufolge „der Name ‚Ring’ ... bald geradezu zum Synonym für jungkonservative Gruppen und Bünde werden sollte“. Übrigens soll von Gleichen „den symbolhaften Namen ‚Ring’ ... vom Berliner Architekten und Städteplaner Martin Mächler übernommen“ haben (Schoeps 1974:16). 17 Der von Andreas Hillgruber betreuten Dissertation von Bach (1977:141) zufolge „kann die Wirkung des Klubs nicht unterschätzt werden.“ „Der theoretische Hintergrund des Herrenklubs darf jedoch nicht überbewertet werden.“ (Ebd.) – Vgl. hierzu aber auch die Dissertation von Manfred Schoeps (1974), Der Deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik, Phil. Diss., Erlangen-Nürnberg, S. 1: „Der Herrenklub ist nicht nur von der zeitgenössischen Presse und Publizistik, sondern auch von einem großen Teil der wissenschaftlichen Literatur in seiner Bedeutung weit überschätz worden.“ Gleichwohl bestreitet auch Schoeps nicht, dass „Adel, Beamtenschaft, Großkapital und Industrie ... im Herrenklub eine Begegnungsebene [fanden], die ihn zu einem der bedeutsamsten gesellschaftlichen Gebilde, auch in politischer Hinsicht, während der Weimarer Zeit macht.“ (Ebd.:47) „Stattlich ist auch die Liste der Reichskanzler und Reichsminister“, die dem DHK angehörten oder nahestanden: „an erster Stelle ist hier Franz von Papen zu nennen, der im Klub stets eine gewichtige Rolle spielte ... [...] Bei den Reichsministern gebührt der erste Rang dem Papen-Innenminister Wilhelm von Gayl ... Von den übrigen Ministern [Papens] waren der Landwirtschaftsminister Magnus von Braun und der Verkehrsminister Elz von Rübenach zeitweilig Klubmitglieder oder regelmäßige Verkehrsgäste“ (Ebd.:50). – Vgl. hierzu auch ebd.:2, wo ebenfalls betont wird: „... neben Papen [war] auch noch sein Innenminister von Gayl formell Klubmitglied“. 18 Vgl. hierzu Schoeps 1974:27. – In der Motzstr. befanden sich übrigens auch Redaktionsräume und Verlag der angesehenen bürgerlich-rechtskonservativen Deutschen Rundschau, die Rudolf Pechel herausgab (vgl. hierzu: Volker Mauersberger (1971), Rudolf Pechel und die ‚Deutsche Rundschau’, Bremen: Schünemann [wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diss., Göttingen]). – Pechel arbeitete 7

Nachwuchsorganisation handelte.19 Unter der Bezeichnung „Jungkonservative“ ist konkret eine auf Erneuerung des konservativen Gedankens gerichtete Bewegung im deutschen Sprachraum zu verstehen, die maßgeblich von dem 1919 gegründeten Juniklub ausging.20 Die Wochenschrift des Juniklubs, Das Gewissen,21 wurde ab 1928 durch die erwähnte Zeitschrift des Herrenklubs Der Ring ersetzt,22 wie überhaupt der Herrenklub in gewisser

eng mit Edgar Julius Jung zusammen. Siehe hierzu auch Jahnke 1998:126ff.: „Die Freundschaft von Pechel und Jung“; vgl. auch Pechels eigene (stark gefärbte!) Darstellung in: Rudolf Pechel (1947), Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 76 und 281, wo er Jung sogar die „geistige Führung“ im Kampf gegen Hitler zugesteht: „... nahm ich öffentlich in der ‚Deutschen Rundschau’ unter geistiger Führung von Edgar Jung den Kampf auf ...“.) 19 Ein wichtiges Ziel des Jungkonservativen Klubs war dementsprechend: „Das Zusammenbringen der jungen Mitglieder mit den ‚führenden Persönlichkeiten des praktischen Lebens, um Gelegenheit zur politischen Betätigung aufzuschließen und beim Eintritt in das aktive politische Leben behilflich zu sein.’“ Zitat aus einer Werbeschrift vom Frühjahr 1927, aufgeführt bei Ishida 1998:63. – Vgl. hierzu auch Schoeps 1974:42, demzufolge der Jungkonservative Klub „kein geschlossener Verein [war], sondern ... eine Art Tribüne. Zeitweilig gruppenbildend allerdings war das Bestreben, den jüngeren Mitgliedern des Ringkreises eine politische Aktions-Plattform zu schaffen.“ Letztlich hatte der Jungkonservative Klub aber „keinen durchschlagenden Erfolg und blieb eigentlich mehr eine ‚Elementarschule des Herrenklubs’.“ 20 Die Benennung Juniklub erinnert an den Abschluss des Versailler Vertrages im Juni 1919. Ferner wird mit dieser Bezeichnung eine Parallele zum gegnerischen linksliberalen Novemberklub insinuiert. – Vgl. hierzu unter anderem Schoeps 1974:22ff. sowie 60, wo er auf die „Vielgestaltigkeit der Standpunkte, die von den jungkonservativen Autoren vertreten wurden“, verweist: „‚Es gab keine einheitliche jungkonservative Ideologie, geschweige denn ein einheitliches Programm, sondern, etwas vergröbernd formuliert, fast ebenso viele Ideologien als es Mitglieder des Kreises gab’“. (Schoeps 1974:60; Binnenzitat nach Hans-Joachim Schwierskott, Das Gewissen, in: Lebendiger Geist, Hans Joachim Schoeps zum 50. Geburtstag von Schülern dargebracht, hg. von Hellmut Diwald, Leiden/Köln 1959, S. 74, Fußnote 50) 21 „Der Name der Zeitschrift sollte zugleich ihr Programm sein: die Stimme des Gewissens, die Stimme von Glauben und Tradition, die zu allen Deutschen sprechen wollte, welcher Klasse und Partei sie auch angehörten. In der Zeitschrift sollten die selbstsüchtigen Pläne der Politiker und Parteiführer angeprangert und durchkreuzt werden.“ (Schoeps 1974:61) Nach Schoeps entspricht „der Überbewertung des Ringkreises, des Juniklubs und vor allem des Deutschen Herrenklubs in der zeitgenössischen Publizistik und in der späteren Literatur ... die Überschätzung der Verbreitung der Zeitschrift“ (ebd.), die Mitte der zwanziger Jahre wohl „nur in einer Auflage von 4000 Exemplaren erschienen“ ist (ebd.:62). 22 Auch diese Zeitschrift hatte nie eine hohe Auflage: „während der Kanzlerschaft Franz von Papens [hat] die verkaufte Auflage die Zahl 6000“ wohl nicht überschritten (Schoeps 1974:66), obgleich die Zeitschrift „durch namhafte Wirtschaftsführer der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie“ unterstützt wurde (ebd.). – Tatsächlich war es von Gleichen schon Mitte der zwanziger Jahre gelungen, „auch die rheinisch-westfälischen Industriekreise um den Generaldirektor der Gutehoffnungshütte Paul Reusch an den Klub heranzuziehen“ (ebd.:38). (Reusch unterstützte – wie unten noch im einzelnen zu belegen sein wird - übrigens auch Edgar Julius Jung.) – Überdies „nahmen die sog. D-Banken eine Schlüsselstellung unter den Förderern des Ringkreises ein, besonders nach 1924, nachdem Hugenberg seine Unterstützung eingestellt hatte und damit auch die Unterstützung der rheinisch-westfälischen Industriellen um Albert Vögler ausblieb.“ (Ebd.:67) – Durch den Ausfall Hugenbergs und Vöglers als Financiers „scheint Heinrich von Gleichen große Schwierigkeiten gehabt zu haben, den Ring-Verlag über Wasser zu halten.“ (Ebd.:68) 1928 wurde der Ring-Verlag sogar liquidiert, und „die Zeitschrift ‚Der Ring’ erschien von da an in einer eigenen Verlags-GmbH, während ... der eigene Buchvertrieb ... an die ‚Hanseatische Verlagsanstalt AG’“ überging (ebd.:69), die dem „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband“ gehörte. (Ebd.:65) – Mit der Zeit flossen die Mittel indes wieder 8

Weise als Nachfolgeorganisation des Juniklubs angesehen werden kann. Jedenfalls hatte H. VON GLEICHEN auch schon die (organisatorische) Leitung des Juniklubs inne; der stärkste geistige Einfluss ging allerdings von ARTHUR MOELLER VAN DEN BRUCK (1876-1925) aus,23 der 1923 das vielbeachtete programmatische Werk Das Dritte Reich verfasste.24 Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen waren sich die Mitglieder des Juniklubs wie auch des DHK einig in der entschiedenen Ablehnung der ‚formalen Demokratie‘ Weimarer Prägung. Als Sammelbezeichnung der um die genannten Klubs sich scharenden Hochkonservativen bürgerte sich der Begriff ‚Konservative Revolution’ ein.25

2 Zur Etymologie des Begriffs ‚Konservative Revolution’ Einer der frühesten Belege für das auf den ersten Blick paradoxe, auf jeden Fall ausgesprochen schillernde Syntagma ‚Konservative Revolution’ findet sich bei Friedrich Engels, der 1848 mit Blick auf den polnischen Aufstand von 1830 von einer ‚Konservativen Revolution’ sprach.26 In Frankreich erwähnt der rechtsgerichtete Literaturkritiker Charles Maurras in seiner vielbeachteten Enquête sur la Monarchie (1900), die auf den Hintergrund der Frankreich erschütternden Dreyfus-Affäre einzuordnen ist, eine „Révolution conservatrice“, worunter er „un retour à l’Ordre“ versteht.27 Es gilt stets im Blick zu behalten, dass die französische radikalkonservative Kulturkritik für das gesamte rechtskonservative Denken im Europa der Zwischenkriegszeit Maßstab setzend gewesen ist. Auch deutsche Radikalkonservative, wie Moeller van den Bruck, hatten in Frankreich gelebt und die dortigen politischen Kämpfe aus nächster Nähe mitverfolgt. Als einer der Ersten, die den Begriff ‚Konservative Revolution’ im deutschsprachigen Raum verwendet haben, wird aber in der Regel Thomas Mann angeführt. Seine Betrachtungen eines Unpolitischen [1918]28 gelten „in gewissem Sinn als erste

reichlicher: „Dies gilt im besonderen Maße für die Zeit der Kanzlerschaft Franz von Papens, in der der Klub täglich in den Schlagzeilen der Zeitungen erwähnt wurde“ (ebd.:70). 23 Allgemein kolportierte man damals in rechten Kreisen: Wenn H. von Gleichen der „Kanzler“ des Juniklubs ist, dann ist Moeller van den Bruck der „heimliche König“. (So z. B. bei Max Hildebert Boehm (1933), Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, Freiburg: Urban, S. 16.) 24 Die weiteren Auflagen dieses einflussreichen Buches erschienen in der oben erwähnten Hanseatischen Verlagsanstalt. 25 Näheres zur wissenschaftlichen Diskussion um den schillernden Begriff ‚Konservative Revolution’ wird nach einem kurzen Blick auf die Etymologie dieses Begriffs sogleich noch nachzutragen sein. 26 MEW, Bd. 4:523. 27 Maurras [1900], 6. Aufl., 1914:509f. 28 Thomas Mann (2002 [1918]), Betrachtungen eines Unpolitischen, 2. Aufl., Franfurt: Fischer. („Der Text [dieser Taschenbuchausgabe] wurde anhand der Erstausgabe, S. Fischer Verlag, Berlin 1918, neu durchgesehen.“ (S. 4)) 9

Programmschrift der Konservativen Revolution“.29 Auf das Syntagma ‚Konservative Revolution’ wird in den Betrachtungen allerdings nicht ausdrücklich zurückgegriffen; dafür wird es jedoch 1921 in Manns Aufsatz „Russische Anthologie“ herangezogen, wo es unter Bezugnahme auf Nietzsche heißt: „Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Nietzsche ... war von Anbeginn ... nichts anderes als konservative Revolution“.30 – Im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre wandte sich Mann allerdings zunehmend von der Konservativen Revolution ab. Zumindest in Universitätskreisen wurde der Bekanntheitsgrad dieses Syntagmas durch Hugo von Hofmannsthal vergrößert, konkret durch seinen vielbeachteten Vortrag an der Münchner Universität Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von 1927.31 Gegen Ende des Vortrags heißt es: „Der Prozess, vom dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne.“32 Einer der führenden jüngeren Vertreter der Konservativen Revolution, Edgar Julius Jung, definierte den Begriff 1932 folgendermaßen: „Konservative Revolution nennen wir die Wiederinachtsetzung all jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft, an Stelle der mechanischen Wahl das organische Führerwachstum, an Stelle bürokratischen Zwangs die

29 So jedenfalls der rechtskonservative Armin Mohler in seinem bekannten Handbuch zur Konservativen Revolution (2005:66). – Nach Mohlers Tod wurde die neueste, 6., Aufl. des Handbuchs von dem ebenfalls rechtsorientierten Karlheinz Weißmann herausgegeben. 30 Thomas Mann (2002 [1921]), „Russische Anthologie“, in: Essays II, 1914-1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt/Main: S. Fischer, S. 333-347, hier S. 341. 31 Vgl. hierzu auch die speziell auf Hofmannsthal Bezug nehmende Studie von Hermann Rudolph (1971), Kulturkritik und konservative Revolution. Zum kulturell-politischen Denken Hofmannsthals und seinem problemgeschichtlichen Kontext, Tübingen: Niemeyer, S. 263f.; vgl. ferner Schoeps 1974:7: „Doch erst mit der berühmten Rede, die Hugo von Hofmannsthal im Januar 1927 vor Studenten im Münchener auditorium maximum hielt, hat das Schlagwort seine endgültige Prägung erfahren“. – Dass der Begriff Konservative Revolution – wie auch Mohler in seinem bekannten Handbuch (6. Aufl., 2005:94) behauptet – nicht zuletzt durch Hofmannsthals Münchner Vortrag „zu einem Leitbegriff“ geworden sei, bezweifelt allerdings Severin Perrig in seiner Züricher Dissertation (1994:198) und spricht von den „überaus spärlichen Reaktionen auf seine [Hofmannsthals] Rede“. Perrig räumt allerdings ein (ebd.:198 und 201), dass die Reaktion des ca. 1000 Personen umfassenden prominenten Publikums begeistert gewesen sei; insbesondere die anwesende „studentische Jugend“ sei am Ende des Vortrags in stürmischen Beifall ausgebrochen. Und nicht zuletzt aufgrund der Propagandainteressen der Nationalsozialisten, die noch „außerhalb ihrer Bewegung stehende Konservative“ zu sich herüberziehen wollten, „wurde nicht von ungefähr die Rede 1933 vom Fischer-Verlag wieder aufgelegt“ (ebd.:199). 32 Hugo von Hofmannsthal 1927:31. – Hervorhebung R.K. 10

innere Verantwortung echter Selbstverwaltung, an Stelle des Massenglücks das Recht der Volkspersönlichkeit“.33 Hier wird deutlich, dass ‚Revolution’ für Jung „stets nur Mittel zur Realisierung einer konservativen Ordnung“ (Jenschke 1971:61) ist. Bei diesem ungewöhnlichen Gebrauch des Revolutions-Begriffs kann es nicht verwundern, dass das (meist auf Deutschland bezogene) Syntagma ‚Konservative Revolution’ stets umstritten war, was gerade auch für die Zeit nach 1945 gilt.34 Auf diese Diskussion braucht hier jedoch nicht näher eingegangen zu werden,

33 Edgar Julius Jung (1932a), „Deutschland und die konservative Revolution“, Nachwort zu Deutsche über Deutschland, Die Stimme des unbekannten Politikers, München: Langen / Müller, S. 369-383, hier S. 380. 34 Man denke insbesondere an die Kritik Stefan Breuers an Armin Mohler, wobei Breuer (1995), Anatomie der konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt, S. 1ff., nicht nur Mohlers Unterteilung der so genannten Konservativen Revolution in Unterströmungen hinterfragt; darüber hinaus kommt Breuer sogar zu dem Ergebnis: „‚Konservative Revolution’ ist ein unhaltbarer Begriff, der mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Er sollte deshalb aus der Liste der politischen Strömungen des 20. Jh. gestrichen werden.“ (Ebd., S. 181) – Bei aller aus meiner Sicht berechtigten Kritik an Mohler kann ich diesem radikalen Schluss Breuers jedoch nicht zustimmen; ich gehe vielmehr in diesem Punkte mit Rolf Peter Sieferle (1995), Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt: Fischer, konform, der „daran festhalten“ will, „daß es in der ideologischen Wirklichkeit der zwanziger und frühen dreißiger Jahre tatsächlich eine ideologische Formation der extremen Rechten gab, deren innere Einheit den Gebrauch eines zusammenfassenden Begriffs gestattet“ (S. 21), und der deshalb mangels eines besseren Terminus an dem Syntagma ‚Konservative Revolution’ – wie sein Buchtitel bereits belegt – festhält: Gegenüber allen denkbaren Alternativen habe „der Begriff ‚Konservative Revolution’ ... den Vorzug, daß es sich um eine zeitgenössische Bezeichnung handelt, die sowohl von innen wie auch von außen, von Anhängern wie von Gegnern verwandt wurde“ (Ebd., S. 22). – Ähnlich hatte Kurt Lenk, Deutscher Konservatismus, Frankfurt: Campus, schon 1989 argumentiert: Zwar seien die herkömmlicherweise „unter dem Oberbegriff der ‚Konservative Revolution’ zusammengefassten Autoren nicht als eine geschlossene Gruppe zu bezeichnen“ (ebd.:110), unzweifelhaft seien sie „nicht nur ihrer Herkunft, sondern auch ihrem Anspruch nach ... sehr unterschiedlich. Dennoch verbinden sie zeittypische Merkmale, generationsspezifische Erlebnisse und Reaktionsformen, die es erlauben, sie unter einen Oberbegriff zu befassen.“ [sic] Als austauschbare Begriffe zu „Konservative Revolution“ benutzt Lenk „revolutionärer Konservatismus“ und „Jung-Nationalismus“. Letzteren Begriff halte ich im Zusammenhang der vorliegenden Ausarbeitung jedoch für ebenso entbehrlich wie die von Breuer vorgeschlagene Alternative „neuer Nationalismus“ (vgl. Breuer 1995:182), obgleich man Breuer zugestehen muss, dass es sich auch hier um einen zeitgenössischen Begriff handelt, den überdies – zumindest punktuell – nicht nur Kurt Sontheimer schon in seinem Grundlagenwerk von 1962 (S. 28) verwendet, sondern auf den auch Jung in seinem Hauptwerk Die Herrschaft der Minderwertigen (2. Aufl., Berlin 1930:382 – Näheres siehe unten) zurückgreift. In der hier zu untersuchenden Marburger Rede von 1934 benutzt Jung diesen Begriff jedoch nicht. Zeitbedingt spricht Jung hier meist von „deutscher Revolution“, an je einer Stelle auch von „Konservativer Revolution“, „konservativ- revolutionärer Bewegung“ sowie „neue[m] Konservatismus“. Der Eindeutigkeit halber lasse ich die letzten beiden Begriffe – wie auch Breuers Alternativvorschlag „neuer Nationalismus“ – außer Acht. Vielmehr halte ich mich an Fritz Stern (2005 [1961]:7), der zu bedenken gibt: „Gerade weil er so unlogisch ist, trifft der Ausdruck ‚konservative Revolution’ genau den Kern der Sache, verkörpert doch die Bewegung in der Tat ein Paradoxon: ihre Anhänger wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden.“ Überhaupt hat sich der Begriff „Konservative Revolution“ wegen seiner Griffigkeit inzwischen eben eingebürgert und verdient zumindest in einer auf Edgar Jung ausgerichteten Arbeit wie der vorliegenden besondere Beachtung. Denn nach der bereits erwähnten Dissertation Ishidas (1998:217f.) galt Jung 1932 geradezu als „der Wortführer der ‚Konservativen Revolution’“; ferner „propagierte er selber zugunsten des Kabinetts [von Papen] die berühmte Parole der ‚Konservativen Revolution’“ (ebd.). 11 da es mir nicht darauf ankommt, einen Beitrag zur Definition dieses schillernden Begriffs zu leisten. Mir geht es nur darum, mit sprachwissenschaftlichen Mitteln an einem herausragenden Beispiel zu untersuchen: Erstens, welche Argumentationsstruktur Edgar Julius Jung, speziell in der Marburger Rede, verfolgte (ob man diesen Diskurs nun unter dem Oberbegriff ‚Konservative Revolution’ subsumieren sollte oder nicht); zweitens, inwieweit Rechtskonservative wie Jung mit Blick auf den Nationalsozialismus als Wegbereiter oder als Widerständler angesehen werden können; drittens, in welcher Form auf dieses Jungsche rechtskonservative Denken heute in der Presse wieder zurückgegriffen wird.

3 Historisch-biographischer Hintergrund

3.1 Franz von Papen35 Franz von Papen, der in einer Buchpublikation aus dem Jahre 1933 zu den „Wegbereiter[n] und Vorkämpfer[n] für das neue Deutschland“ gerechnet wird,36 wurde 1879 als zweiter Sohn eines katholischen Gutsbesitzers in Werl (Westfalen) geboren. Nach der Ausbildung zum Kavallerieoffizier beginnt Papen 1913 eine diplomatische Laufbahn und ist als deutscher Militärattaché an den Botschaften in Washington und Mexiko eingesetzt. 1915 wird er wegen eines diplomatischen Missgeschicks auf Druck der USA zurückberufen und zunächst als Bataillonschef an die Westfront abkommandiert. 1917/18 ist er Generalstabsoffizier im Vorderen Orient und Major in der türkischen Armee in Palästina. 1918/19 nimmt er im Rang eines Oberstleutnants seinen Abschied vom Militär und betätigt sich zunächst als Gutspächter im Münsterland. Ab Oktober 1930 lebt von Papen auf einem Gut im Saarland, das seine Frau, die aus einer einflussreichen saarländischen Industriellenfamilie stammte, geerbt hatte.37

35 Die folgenden Ausführungen basieren – neben den einschlägigen Handbuchartikeln – auf der von Andreas Hillgruber betreuten Dissertation von Jürgen A. Bach (1977), Franz von Papen in der Weimarer Republik, Aktivitäten in Politik und Presse 1918-1932, Düsseldorf: Droste; ferner auf: Joachim Petzold (1995), Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, München: Buchverlag Union; Karl Heinz Roth (2003), „Franz von Papen und der Faschismus“, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51, S. 589-625; Larry Eugene Jones (2005), „Franz von Papen, the German Center Party, and the Failure of Catholic Conservatism in the , Central European History, 38, H. 2, S. 191- 217; Leon Goldensohn (2005), Die Nürnberger Interviews. Gespräche mit Angeklagten und Zeugen, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler. (Zu von Papen siehe: ebd., S. 239-247.) Ferner auf: Georg Denzler, FRANZ VON PAPEN (1879-1969). Katholik, Zentrumspolitiker, Konkordatspromotor und Nationalist, in: Thomas Brechenmacher (Hg.), Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente. Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Bd. 109, Paderborn: Schöningh, 2007, S. 55-69. 36 Erich Retzlaff (1933), Wegbereiter und Vorkämpfer für das neue Deutschland, München. 37 „1905 hatte Franz v. Papen die Tochter des Saarindustriellen René v. Boch-Galhaus geheiratet. In dieses Jahr datierte er selbst in seinen Erinnerungen den Beginn seiner ‚ununterbrochene[n] und sehr persönliche[n] Beschäftigung mit dem deutsch-französischen Problem’ ... Die Familie, in die er eingeheiratet hatte, war ‚eine ganz kosmopolitische Familie’ mit verwandtschaftlichen Beziehungen nach Belgien, Frankreich und Luxemburg. [...] Die Einheirat in diese Familie brachte es außerdem mit 12

In der Nachkriegszeit beginnt Papen auch politisch tätig zu werden. Er engagiert sich ab 1924 im bereits erwähnten hochkonservativen „Herrenklub“, dessen Direktoriumsmitglied er war (Bach 1977:141). Ferner ist Papen von 1921 bis 1932 (mit einer Unterbrechung) Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses für das katholische Zentrum.38 Er ist ein Vertreter des rechten, monarchistischen Flügels seiner Partei. 1924 erwirbt Papen (offensichtlich mit Unterstützung der Ruhr-Industrie) ein Aktienpaket des Zentrumsorgans Germania (Berlin) und wird im Mai 1925 dessen Aufsichtsratsvorsitzender.39 Im Gegensatz zu seiner Parteiführung, die den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx nominiert hat, tritt er 1925 für die Wahl PAUL VON HINDENBURGs zum Reichspräsidenten ein. Er nimmt daraufhin in seiner Partei nur noch eine Randstellung ein.40

sich, daß er sich intensiv mit der französischen Sprache und Kultur beschäftigte, da es ‚in Mettlach [dem Stammsitz der Boch-Galhaus’ ...] eben üblich war’, sich dieser Sprache zu bedienen. Nicht zuletzt seine perfekte Beherrschung der französischen Sprache befähigte ihn nach dem Kriege besonders zur Mitarbeit in deutsch-französischen Gremien.“ (Bach 1977:148f.; Binnenzitate aus F. von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952:31f.) 38 Papen war allerdings ein ausgesprochener ‚Hinterbänkler’: „Seine Mitarbeit im Landtag beschränkte sich ... auf seine Anwesenheit“ (Bach 1977:181). 39 „Der Kampf um die GERMANIA“, deren Aktien bis 1921 mehrheitlich im Besitz des rheinisch- westfälischen und schlesischen Adels waren, findet sich schon in der Dissertation von Bach (1977:193ff.) genauer beschrieben. In diesem ‚Kampf’, in dem es darum ging, den Einfluss des linken bzw. gemäßigten Zentrumsflügels auf das Blatt einzudämmen (ebd.:219), wurde von Papen unter anderem von Graf Galen, dem späteren Bischof von Münster, der bis Ende 1929 noch Pfarrer in Berlin war, unterstützt. Papen ging siegreich aus diesem Kampf hervor: „Am 4. 5. 1924 konnte Papen [dem schlesischen Adeligen] Graf Praschma die ‚erfreuliche Mitteilung’ machen: ‚Es ist mir gelungen, das Aktienpaket der GERMANIA des Herrn Semer zu kaufen, womit ich die quasi Majorität habe’.“ (Ebd.:255) – In einem späteren Brief (vom 31. 7. 1927) an Graf Praschma ließ Papen durchblicken, dass er den Entschluss zum Kauf dieses beträchtlichen Aktienpakets „in fünf Minuten“ gefasst habe, obgleich er „einen erheblichen Teil [seines] Vermögens damit festlegte“. Vgl. hierzu Bach 1977:255f. – Durch Petzolds Nachforschungen in Moskauer Archiven wissen wir inzwischen jedoch, dass dieser Entschluss Papen auch deshalb vergleichsweise leicht gefallen sein dürfte, weil er hierbei von der Ruhrindustrie unterstützt wurde: Demnach hatte Papen „die für seinen politischen Aufstieg so wichtige Aktienmehrheit in der ‚Germania AG’ dem Entgegenkommen der Söhne von Hugo Stinnes und einem von Springorum und Reusch befürworteten Darlehn des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, dem sogenannten ‚Langnamverein’, zu verdanken und sich dabei verpflichtet, als Hauptaktionär der Zentrums-Zeitung ‚Germania’ im Interesse seiner Kreditgeber zu wirken.“ (Petzold 1995:10) – Diese Unterstützung durch die Ruhrindustriellen konnte Bach 1977 noch nicht bekannt sein; dennoch räumte schon Bach – wie Petzold anerkennend hervorhebt – „mit der Legende auf, Papen wäre aus politischer Bedeutungslosigkeit urplötzlich zum Reichskanzler aufgestiegen.“ (Petzold 1995:11) – Tatsächlich verfolgte Papen schon Mitte der zwanziger Jahre weitgreifende politische Ziele: „Er wollte über eine Änderung der politischen Linie der GERMANIA eine Änderung der Politik der Zentrumspartei bewirken.“ (Bach 1977:270) Damit wird das „Motiv“ offensichtlich, das „letztlich hinter seinem Kauf der GERMANIA-Aktien gestanden hatte.“ (Ebd.) 40 Näheres hierzu siehe Bach 1977:122 und 314, wo sich Bach auf ein persönliches Schreiben eines Zeitzeugen (J. B. Gradl) beziehen kann. Demnach besaß Papen „zu keiner Zeit den Rückhalt weiterer Kreise der Partei, in der er immer als ‚Außenseiter und Sonderling’ galt.“ 13

Am 01. Juni 1932 beruft Hindenburg den bis dahin in der Reichspolitik praktisch noch nicht hervorgetretenen Papen auf Betreiben des Generals Kurt von Schleicher (dem Papen schon seit einem gemeinsam besuchten Generalstabslehrgang bekannt ist) zum Reichskanzler. Papen bildet ein so genanntes „Kabinett der nationalen Konzentration“, bestehend aus konservativen, vor allem adligen Beamten ohne politisches Mandat; die Presse spricht vielfach von einem ‚Kabinett der Barone’ bzw. ‚Herrenreiter’. Im Reichstag wird Papen nur von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) toleriert und ist auf das Vertrauen das Reichspräsidenten angewiesen. Am 03. Juni 1932 tritt Papen aus der Zentrumspartei aus (er kommt so einem Parteiausschluss zuvor). Am 04. Juni 1932 löst Hindenburg auf Antrag Papens den Reichstag auf. Papen regiert fortan, gestützt auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten, unabhängig vom Reichstag.41 Am 12. Juni hebt Papen das Verbot der SA und SS auf. Im Gegenzug verspricht ihm Hitler die Tolerierung durch die NSDAP. Auf der Konferenz von Lausanne, die vom 17. Juni bis 09. Juli 1932 stattfindet, erreicht Papen die – von seinem Vorgänger Brüning vorbereitete – Begrenzung der deutschen Reparationsschulden auf drei Milliarden Reichsmark. Am 20. Juli 1932 setzt Papen auf der Grundlage einer Notverordnung des Reichspräsidenten die (damals nur noch geschäftsführende) preußische Regierung ab: Als für Preußen kontrolliert er nun auch den bei weitem größten deutschen Bundesstaat mit dessen starken Polizeikräften.

41 Diese weitgehende Ausschaltung des Parlaments wird von führenden Mitgliedern des Ring-Kreises bzw. der Jungkonservativen, darunter auch Edgar Jung selbst, ausdrücklich gut geheißen. So preist beispielsweise Walther Schotte, der Herausgeber der angesehenen „Preußischen Jahrbücher“, der „bald zum Hofpropagandisten des neuen Kabinetts werden sollte“ (Schoeps 1974:138), die Regierung Papen als „die erste echte Präsidialregierung, die sich gegen die Parteien zu behaupten wage“. (Zitiert nach Schoeps 1974:86) – Konkret denkt Papen an eine Änderung des bestehenden Wahlrechts sowie die Einrichtung eines Oberhauses (vgl. ebd.:88ff.) Nach den Plänen von Papens Innenminister Gayl sollten in einen solchen nur Persönlichkeiten von nationalem Format berufen werden. Diese Pläne seines Innenministers hat Papen uneingeschränkt übernommen und „eine Körperschaft gefordert, die den Reichstag kontrolliert, denn ... ‚ohne eine Zweite Kammer ... werden wir nicht zur Ruhe kommen’.“ (Schoeps 1974:92f.) Da Papen wie auch der Innenminister von Gayl aktive Mitglieder des Herrenklubs waren und drei weitere Reichsminister häufig im Klub verkehrten, galt die Regierung von Papen in der Öffentlichkeit vielfach als „Herrenklub-Kabinett“, bzw. „der Klub gelangte bald in den Ruf, die ‚Wiege’ des Kabinetts Papen gewesen zu sein“ (Schoeps 1974:139). Nach Schoeps (ebd.:141) ist unzweifelhaft „wie sehr der Ringkreis die Chance herbeisehnte, endlich gestaltend in das politische Geschehen eingreifen und für die parteifreie Regierung aktiv werden zu können.“ Schoeps zufolge gab es in Ring-Kreisen sogar Überlegungen, „den Herrenklub und seine Herrengesellschaften zu einer Art Parteienersatz, zu einer Plattform für das neue Kabinett umzufunktionieren“ (Ebd.:141f.). Jedenfalls stand „der Name ‚Herrenklub’ ... als Symbol für die fehlende soziale Basis des Kabinetts“ (ebd.:150). – Ein weiterer Plan Gayls zur Ausschaltung der Parteien bestand übrigens darin, Neuwahlen auf unbestimmte Zeit auszusetzen (vgl. ebd.:151). Da Hindenburg derlei offene Verfassungsverletzungen jedoch nicht unterstützte, scheiterte „das konservative Reformprogramm, das unter der Federführung des Innenministers von Gayl stand“ (Schoeps 1974:158ff.) und das dieser unter anderem in einer Rede zum 13. Jahrestag der Einführung der Weimarer Verfassung darstellte. (Vgl. hierzu Schoeps 1974:103 sowie 263ff., wo diese ‚Verfassungsrede’ vollständig abgedruckt ist.) 14

Bei den von Papen für den 31. Juli 1932 angesetzten Reichstagswahlen wird die NSDAP mit 37,4 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Hitler lehnt am 13. August das Angebot Hindenburgs, als Vizekanzler in das Kabinett Papen einzutreten, ab. Damit entfällt eine grundlegende Voraussetzung für Papens Konzept der „Einrahmung“, womit die Beteiligung von Nationalsozialisten, insbesondere Hitlers, an der Regierungsverantwortung – allerdings unter der Kontrolle durch zuverlässige Hochkonservative – gemeint ist. Nach einem mit großer Mehrheit (512 zu 42 Stimmen) verabschiedeten parlamentarischen Misstrauensvotum gegen die Regierung Papen löst Hindenburg am 12. September 1932 den Reichstag erneut auf. Die Neuwahl wird auf den 06. November 1932 festgesetzt. Bei dieser Wahl büßen die Nationalsozialisten erstmalig Stimmen ein. Gleichwohl findet Papen auch im neu gewählten Reichstag keine ausreichende Unterstützung und tritt am 17. November 1932 als Reichskanzler zurück. Sein Nachfolger wird der bisherige Reichswehrminister General von Schleicher. Im Januar 1933 ist Papen maßgeblich am Sturz der Regierung Schleicher beteiligt. Am 04. Januar trifft er sich im Hause des Bankiers von Schröder (der ebenfalls Mitglied des Herrenklubs ist) mit Hitler.42 Nach weiteren vergeblichen Versuchen, die NSDAP als „Juniorpartner“ für eine Regierungsbeteiligung zu gewinnen, stimmt Papen der Bildung eines Kabinetts unter Hitler als Reichskanzler zu. Er selbst wird Vizekanzler in der am 30. Januar 1933 gebildeten Regierung Hitler. Ein eigenes Ressort leitet Papen indes nicht. Dennoch hofft Papen nach wie vor im Sinne seines „Einrahmungskonzepts“ die Nationalsozialisten kontrollieren zu können. Tatsächlich besteht auch die große Mehrheit des Kabinetts nach wie vor aus Hochkonservativen, darunter dem Parteivorsitzenden der DNVP, Alfred Hugenberg, als ‚Superminister’. Ende Februar 1933 werden im Zusammenhang mit dem Reichstagbrand durch Notverordnung die in der Weimarer Verfassung festgeschriebenen Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft gesetzt. (Die Verordnung bleibt bis zum Ende der NS-Diktatur in Kraft.) Im März 1933 führt Papen im Reichstagswahlkampf die so genannte „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ an, bestehend aus Deutschnationalen und dem „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“. Auf diese „Kampffront“ entfallen jedoch nur 8 % der Stimmen, während

42 Durch dieses Treffen „geriet der Herrenklub zum letzten Mal ins Gerede. [...] Beim letzten großen Jahresessen ... am 16. Dezember 1932 hatte der eben abgedankte Reichskanzler in seiner Rede Ausführungen gemacht, die bei den anwesenden Festgästen Verwunderung und überwiegend auch Ablehnung hervorrief [sic]. Trotz der scharfen Attacken, die die Nationalsozialisten gegen Papen gestartet hatten, befürwortete er plötzlich, wie zu Beginn seiner Kanzlerschaft, eine Einbeziehung der NSDAP in die Regierungsverantwortung: ‚Die Eingliederung der großen nationalsozialistischen Freiheitsbewegung in die nationale Konzentration war das vornehmste Ziel meiner Regierung und wird das Ziel jeder anderen Regierung sein müssen’. Diese Bemerkungen ließen nun Kurt von Schröder, der zu dieser Zeit schon ein überzeugter Anhänger Hitlers war und der in rheinischen Industrie- und Bankenkreisen größtes Ansehen genoß, Papen ein Gespräch mit Hitler vorschlagen. [...] Diese Zusammenkunft ist als die eigentliche Geburtsstunde des ‚Dritten Reichs’ angesehen worden.“ (Schoeps 1974:154f.) 15 die Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil auf 43,9 % erhöhen können. Gleich auf der konstituierenden Sitzung des neuen Reichstags am 23. März wird mit dem so genannten „Ermächtigungsgesetz“ (auf zunächst vier Jahre) die Gewaltenteilung aufgehoben: Die Reichsregierung kann jetzt auch ohne Mitwirkung des Parlaments Gesetze erlassen, die sogar verfassungsändernden Inhalts sein dürfen. Am 11. April 1933 verliert von Papen das Amt des für Preußen an Hermann Göring, der schon seit dem 30. Januar als kommissarischer preußischer Innenminister fungiert und in dieser Funktion die preußische Polizei befehligt. Für den ressortlosen von Papen wird ein neuer Amtssitz in einem ehemaligen Bankgebäude unmittelbar neben der Reichskanzlei geschaffen. Die kleine Behörde von nur ca. 40 Mitarbeitern nimmt sich in starkem Maße Beschwerden an, die von den Nationalsozialisten benachteiligte Konservative dem Vizekanzler vortragen. Von dem – eigentlich funktionslosen – Vizekanzleramt spricht man deshalb in der Presse als der ‚Reichsbeschwerdestelle’. Im Juli 1933 ist von Papen Bevollmächtigter der Reichsregierung beim Abschluss des Konkordats mit dem Vatikan.43 Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Rom stattet Papen der Benediktiner-Abtei Maria-Laach einen Besuch ab. Er wird „unter Glockengeläut“44 empfangen. Als er „über das Zustandekommen und den Inhalt des Konkordats berichtete, herrschte bei den anwesenden Prälaten und anderen Priestern helle Begeisterung. Laien und Geistliche grüßten Papen mit dem Hitlergruß“ (ebd.).45

43 Zum neuesten Forschungsstand siehe Thomas Brechenmacher (Hg.) (2007), Das Reichskonkordat 1933, Paderborn: Schöningh; zur Rolle Papens siehe insbesondere S. 55ff. und 85ff. 44 Edmund Forschbach (1984), EDGAR J. JUNG, ein konservativer Revolutionär, 30. Juni 1934, Pfullingen: Neske, S. 80. – Forschbach war in der Zwischenkriegszeit DNVP-Mitglied und avancierte – obgleich Katholik – zur ‚rechten Hand’ Hugenbergs. In der Nachkriegszeit war er in der Regierung Adenauer tätig, kurzfristig sogar Regierungssprecher, musste dieses Amt wegen seiner – teilweise kompromittierenden – Tätigkeit nach 1933 aber wieder aufgeben. 45 Zu diesen begeisterten Prälaten dürfte auch der rechtskonservative Abt von Maria-Laach, Ildefons Herwegen, gehört haben, der übrigens ein Schulfreund Konrad Adenauers war, den Herwegen damals in seinem Kloster versteckte. Forschbach (1984:82) gibt an, dass Adenauer ihm „einmal gesagt [habe], er habe das Konkordat für ein Verhängnis gehalten“. Forschbach (ebd.) ergänzt diesen Bericht mit der auf Adenauer bezogenen Anmerkung: „Was muß dieser Mann gelitten haben, als er, in einer Mönchszelle verborgen, das Glockengeläut beim Einzug Papens in Maria Laach hörte und von der Hitlerbegeisterung der katholischen Akademiker erfuhr?“ – Im Völkischen Beobachter, Süddeutsche Ausgabe vom Mittwoch, dem 26. Juli 1933, S. 1, wird unter der Überschrift „Des Führers säkulare Tat. Akademikerdank an für das Reichskonkordat“ ein Danktelegramm des Generalvorstands des Katholischen Akademikerverbandes wiedergegeben: „Wir durften gestern anläßlich unserer Tagung über die Reichsidee aus dem Munde des Herrn Vizekanzlers von Papen in der Benediktiner-Abtei Maria-Laach die Grundgedanken des soeben unterzeichneten Konkordates vernehmen. Wir erfuhren, in wie weitherziger Weise Sie, Herr Reichskanzler, Ihre Person führend eingesetzt haben für eine großherzige Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Wir danken Ihnen, Herr Reichskanzler, für die säkulare Tat und verbinden hiermit das Versprechen überzeugter Mitarbeit am Aufbau des neuen Deutschland.“ – Auch der persönliche Freund Edgar Julius Jungs, Rudolf Pechel, beurteilt den Konkordatsabschluss sehr negativ und nennt Papen in dem Zusammenhang einen „Unheilsmann“ (Pechel 1947:54). (Über die Rolle Edgar Julius Jungs auf der kurz vor Eintreffen Papens zu Ende 16

Am 14. Juli 1933 wird die NSDAP durch ein Gesetz der Reichsregierung zur einzig legalen Partei erklärt. Mit dem 01. Dezember erhält die NSDAP den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt: Die „Einheit von Partei und Staat“ ist damit im nationalsozialistischen Sinne festgeschrieben, Papens Einrahmungskonzept endgültig gescheitert. Zuvor war bereits durch das „Reichskulturkammer-Gesetz“ vom 22. Sept. die ideologische Überwachung des gesamten kulturellen Lebens eingeführt worden. Ergänzt werden die staatlichen Kontrollmechanismen durch das „Schriftleitergesetz“ vom 04. Okt., wonach die Chefredakteure nicht mehr den Verlegern, sondern dem Staat verantwortlich sind. Am 12. November 1933 lässt Hitler eine ‚Volksbefragung’ durchführen, mit der er sich den Austritt aus dem Völkerbund (schein-)legalisieren lässt. Auf dieses ‚Plebiszit’ wird in der Marburger Rede (siehe Anhang) Bezug genommen. Von Papen hatte kurz vor der Abstimmung in einer Rundfunkansprache für eine hohe Teilnahme an der Abstimmung geworben und seine Genugtuung darüber zum Ausdruck gebracht, dass es mit den Wahlen Weimarer Prägung nun ein Ende habe. Am 28. Februar 1934 erteilt Hitler eine entschiedene Absage an das Miliz-Konzept, das Ernst Röhm in seiner Eigenschaft als Stabschef der SA vertritt. Ferner fordert Röhm wiederholt (z. B. am 18. April in einer Rede vor dem diplomatischen Korps sowie der Auslandspresse) eine „zweite Revolution“, obgleich Hitler schon am 06. Juli 1933 in einer Rede vor Reichsstatthaltern ausdrücklich den Abschluss der „nationalen Revolution“ verkündet hatte.46 Am 11. Mai 1934 leitet Goebbels in seiner Funktion als „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ eine Kampagne „gegen Miesmacher und Kritikaster“ ein, die auch gegen die unbotmäßige SA gerichtet ist.47 In dieser Phase tritt Papen, der inzwischen im Kabinett Hitler gänzlich an den Rand gedrängt ist, als Sprecher einer konservativen Opposition in Erscheinung: Insbesondere auf dem Hintergrund der Drohungen des Stabschefs der SA, Ernst Röhm, eine „zweite Welle“ der Revolution auszulösen, findet die Kritik an der NS-Herrschaft, die Papen in der Marburger Rede vom 17. Juni 1934 äußert, größte Beachtung im In- und Ausland. Papen selber rechtfertigte sich im Nürnberger Prozess wie folgt:

gegangenen Akademikertagung wird unten noch zu berichten sein.) – Zum Reichskonkordat vgl. auch Graß 1966:54ff. 46 Es ist hier nicht der Ort, die Röhm-Krise im Einzelnen zu behandeln; im Übrigen ist zu bedenken, dass im Nachhinein ohnehin „nicht alle Einzelheiten der Vorgänge ... mit letzter Sicherheit aufklärbar [sind].“ (Graß 1966:292) 47 Als Hintergrund hierzu ist die „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ zu sehen, die bereits am 21. März 1933 erlassen wurde (und auf die unten noch zurückzukommen sein wird). 17

„In dieser Rede stelle ich alle die Fragen zur Erörterung und zur Entscheidung Hitlers, die wesentlich für die Aufrechterhaltung einer vernünftigen Politik in Deutschland waren. Ich wende mich in dieser Rede gegen den Anspruch einer bestimmten Gruppe oder Partei auf ein revolutionäres oder nationales Monopol. Ich wende mich gegen den Zwang und gegen die Unterdrückung anderer. Ich wende mich gegen die antichristlichen Bestrebungen und den Totalitätsanspruch auf religiösem Gebiet. Ich wende mich gegen die Unterdrückung jeder Kritik. Ich wende mich gegen die Unterdrückung und Uniformierung des Geistes. Ich wende mich gegen die Verletzung fundamentaler Rechtsgrundsätze und gegen die Ungleichheit vor dem Richter, und ich wende mich gegen den Byzantinismus, der in der Partei getrieben wird. Es war für mich klar, daß, wenn es gelang, auch nur an einem Punkt den Ring dieses Systems, das die Basis des Nazi-Systems war, zu durchbrechen, dann würden wir das System zur Ordnung gezwungen haben, beispielsweise die Wiederherstellung der Kritik und die Wiederherstellung der Freiheit des Geistes.“48 Nach der Ermordung auch konservativer Regimekritiker (darunter enge Mitarbeiter von Papens wie Edgar Julius Jung) im Zuge der Röhm-Affäre scheidet Papen (dessen Vizekanzleramt verwüstet und der zeitweilig unter Hausarrest gestellt wurde) am 01. Juli 1934 aus der Reichsregierung aus.49 Damit ist der unmittelbare historisch-politische Rahmen, in den die Marburger Rede einzuordnen ist, skizziert. An dieser Stelle ist daher ein kurzes Zwischenresümee angebracht, dass Karl Martin Graß in seiner Heidelberger Dissertation wie folgt zieht: „Franz von Papen war jetzt eine geschlagene und machtlose Figur. Besorgt um das Schicksal seiner Mitarbeiter, verzichtete er auf einen öffentlichen Rücktritt.

48 Zitiert nach: VERHANDLUNGSNIEDERSCHRIFTEN (1948 [1984]): DER PROZESS GEGEN DIE HAUPTKRIEGSVERBRECHER VOR DEM INTERNATIONALEN MILITÄRGERICHTSHOF. NÜRNBERG, 14. NOVEMBER 1945 – 1. OKTOBER 1946, VERÖFFENTLICHT IN NÜRNBERG, DEUTSCHLAND, 1948, BAND XV/XVI, AMTLICHER TEXT IN DEUTSCHER SPRACHE, VERHANDLUNGSNIEDERSCHRIFTEN, 29. MAI 1946 – 10. JUNI 1946. Fotomechanischer Nachdruck, München: Delphin Verlag, 1984, S. 321f. 49 Schon am 19. Juni war Papen bei Hitler vorstellig geworden und hatte – als Protest gegen das Verbreitungsverbot der Rede – mit seinem sofortigen Austritt aus der Regierung gedroht. Hitler bat Papen jedoch um eine Verschiebung seines Regierungsaustritts. Vgl. hierzu Graß 1966:237, der kommentiert: „Darauf ließ sich Papen ein und beging damit den ersten taktischen Fehler.“ „Er ließ sich täuschen und Hitler fuhr am 21. Juni allein nach Neudeck, um Hindenburg über seinen Besuch bei Mussolini zu berichten.“ (Ebd.:238) – Papen war aber nicht der Einzige, der sich düpieren ließ. Auch Jung wog sich in trügerischer Sicherheit, wie Graß (1966:240) berichtet: „Am Abend des 20. Juni fand in kleinem Kreise eine Besprechung bei Papen statt, an der auch Jung teilnahm, und wo Papen vermutlich Jung über die Aussprache mit Hitler unterrichtete. Es hieß später, Jung habe große Freude über den Erfolg der Marburger Rede gezeigt und sei in ausgeglichener Stimmung gewesen. ‚Er nahm damals an, daß Hitler ihn zu einer geistigen Auseinandersetzung über das Gedankengut der Rede zu sich bestellen würde.’ [...] Es wäre naiv anzunehmen, daß Jung sich Illusionen über Hitlers Haltung gemacht hätte. Aber die optimistische Äußerung, die Papens Mitteilungen bestätigt, zeigt, wie Jung trotz aller Skepsis nicht erwartete, Hitler könne in dieser Lage Gewalttätigkeiten riskieren. Jung täuschte sich hier in Hitler gründlich.“ (Binnenzitat aus einem Manuskript Jungs, das Karl Martin Graß als Jungs Nachlassverwalter vorliegt. – Karl Martin Graß’ Vater, der Pfälzer Friedrich Graß, war übrigens ein enger Vertrauter Jungs.) 18

Damit verdeckte er selbst die Kluft, die Hitler durch seine Morde zwischen sich und seinem konservativen Verbündeten aufgerissen hatte. [...] Die Unterdrückung seiner Demission ... duldete er, die Morde an seinen Mitarbeitern tadelte er nicht öffentlich, zudem nahm er ein neues, wenn auch relativ unabhängiges Amt an. An diesem Verhalten haftet der peinliche Eindruck moralischen und politischen Ungenügens.“ (1966:303) Im Folgenden sind kurz noch die weiteren Stationen von Papens Lebensweg anzureißen: Das „neue“, „relativ unabhängige Amt“, auf das Graß verweist, ist die Position eines Außerordentlichen Gesandten an der deutschen Botschaft in Wien, die Papen am 28. Juli übernahm. „Er blieb auch auf seinem Posten, als Graf Ketteler, der ihm nach Wien gefolgt war, von der SS ermordet und seine Leiche aus der Donau geborgen wurde!“ (Pechel 1947:78) Das Amt des Außerordentlichen Gesandten bekleidet Papen bis zum deutschen Einmarsch in Österreich im März 1938.50 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland verleiht ihm Hitler das Goldene Parteiabzeichen.51 (Papens Mitarbeiter von Tschirschky, auf den unten noch näher eingegangen werden wird, muss allerdings vor der nach England fliehen.) 1939 ernennt Hitler von Papen zum Botschafter in Ankara. Dieses Amt hat von Papen bis 1944 inne. „Noch am 19. August 1944 erhielt Papen von Hitler in der Wolfsschanze das Ritterkreuz des Kriegsverdienstordens überreicht. Ein dreiviertel Jahr später war der Krieg zu Ende.“ (Denzler 2007:67) In den Nürnberger Prozessen wird Papen freigesprochen.52 Wenig später wird er jedoch in einem Entnazifizierungsverfahren zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. 1949, nach vorzeitiger Entlassung aus dem Arbeitslager, zieht er sich ins Privatleben zurück. In seinen Memoiren „Der Wahrheit eine Gasse“ (1952) verteidigt er seine Politik.53 Kurz vor seinem Tod (1969) erscheint noch die an amerikanische Historiker in Auftrag gegebene Rechtfertigungsschrift „Vom Scheitern einer Demokratie 1930-1933“, die über weite Strecken nicht zitierfähig ist, deshalb hier unberücksichtigt bleibt. Trotz aller Rechtfertigungsversuche Papens kommt die historische Fachliteratur in aller Regel zu einer „sehr abfälligen Bewertung seiner Fähigkeiten und seiner Charaktereigenschaften. Schon die Zeitgenossen versäumten selten, von Dilettantismus und

50 „Als Hitlers Botschafter in Wien stand Papen voll Stolz an der Seite des Führers, als dieser am 13. März 1938 einen triumphalen Einzug in Wien hielt.“ (Denzler 2007:66) 51 „Aus Dankbarkeit verlieh der Führer jetzt seinem treuen Gefolgsmann das Goldene Ehrenabzeichen der NSDAP. Mit dieser Auszeichnung war die Ehrenmitgliedschaft in der Partei verbunden.“ (Denzler 2007:66) 52 Vgl. hierzu auch die Schrift von Leon Goldensohn (2005), Die Nürnberger Interviews. Gespräche mit Angeklagten und Zeugen, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler (zu von Papen siehe ebd., S. 239- 247). 53 Dieser Papensche Rechtfertigungsversuch wurde von Rudolf Pechel, dem Herausgeber der rechtskonservativen Deutschen Rundschau und Freund Edgar Julius Jungs, als „Gassenhauer der Wahrheit“ abqualifiziert; der Historiker Theodor Eschenburg, der übrigens auch Mitglied des Herrenklubs war, spricht nicht weniger kritisch von „Sackgasse der Wahrheit“ (zitiert nach Petzold 1995:8; zur Mitgliedschaft Eschenburgs im Herrenklub vgl. die Liste der Herrenklub-Mitglieder bei Schoeps 1974:247). 19

Oberflächlichkeit bei ihm zu sprechen. Begriffe wie ‚Herrenreiter Papen’ und ‚Steigbügelhalter Hitlers’ haben sich in der Geschichtsliteratur fest eingeprägt“ (Petzold 1995:7).54 Falls man diesen Vorwurf der Stümperhaftigkeit nicht mittragen wollte, böte sich als alternative Beurteilung nur an, ihn als „Großmeister einer Verstellungskunst ... [anzusehen], die einen Jago, Edmund, Wurm ... als Stümper ihres Metiers beschämt hätte. Für solches wog er wohl doch zu leicht.“55 Unverblümt bringt diese negative Einschätzung kein Geringerer als Konrad Adenauer im Oktober 1946 in einem Brief an eine Papen wohlgesinnte Adelige zum Ausdruck: „Ich kenne Herrn von Papen seit mehr als 25 Jahren. Seit 1933 habe ich ihn allerdings nicht mehr gesehen oder gesprochen. Ich glaube ihn und seinen Charakter sehr genau zu kennen. Mein Urteil lautet völlig anders als das Ihrige. Herr von Papen war immer ein äußerst ehrgeiziger Mensch, dem es vor allem darum ging, eine Rolle zu spielen. Prinzipielle Fragen haben bei ihm nie eine Rolle gespielt. Herr von Papen hat in den 20er Jahren versucht, mit Hilfe der christlichen Gewerkschaften im Zentrum etwas darzustellen: Es ist ihm damals nicht gelungen. Dann hat er sich dem rechten Flügel der Partei zugewendet. Herr von Papen durfte unter keinen Umständen sich von Hitler und seinen Leuten täuschen lassen. Er stand dem politischen Geschehen nahe. Er mußte das Vorleben dieser Leute kennen und hat es gekannt. Wenn er Ehre im Leib gehabt hätte, hätte er nach dem 30. Juni 1934 ein für alle Mal mit Hitler gebrochen. Ich habe ihm immer mildernde Umstände in meinem Urteil über ihn zugebilligt wegen seiner abnormen Beschränktheit. Leider haben sich manche von seinem verbindlichen Wesen und seinem frommen Gerede täuschen lassen.“56

54 Auf der Grundlage der neuesten Forschung konstatiert auch Denzler (2007:61), dass „Vizekanzler Papen ... gewiß in erster Linie Hitlers Erfüllungsgehilfe“ war und zitiert zeitgenössische Stimmen, die von Papens „tragikomischer Naivität“ und seiner „unverzeihlich[en] ... Blindheit“ bzw. seinem „unverantwortlich[en] ... Leichtsinn“ (ebd.:63) sprechen. 55 So urteilt z. B. Leopold Ziegler (1955:52f.), der Spiritus Rector Edgar Julius Jungs (auf den unten noch zurückzukommen sein wird), nach einem Gespräch mit Papen, das er um Ostern 1934 in Sorrent führte, um diesem auf Bitte Jungs „die nötigen Aufklärungen über die Person des führenden Staatsmannes [also Hitlers] zu geben“ (ebd., S. 49). 56 Konrad Adenauer, Briefe über Deutschland 1945-1951, eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing, Berlin 1983, S. 42-44. Diese Stellungnahme Adenauers findet sich ebenfalls zitiert bei Petzold 1995:8 sowie bei Denzler in dem bereits erwähnten, von Th. Brechenmacher herausgegebenen Sammelband von 2007 (dort S. 68). In demselben Sammelband verweist Karl-Joseph Hummel, ALOIS HUDAL, FRANZ VON PAPEN, EUGENIO PACELLI. Neue Quellen aus dem Anima-Archiv, S. 91, Fußnote 35, auf „die wenig schmeichelhafte Charakterisierung von Papens bei André François-Poncet: Als Botschafter in Berlin 1931-1938, Mainz 1947, S. 43-46.“ Und Hummel fährt fort: „Das zeitgenössische Urteil des langjährigen Rom-Korrespondenten für die Zentrumspresse, Edmund Raitz von Frentz, von Papen sei eine ‚Persönlichkeit von tragischer Unbefangenheit’, und Rudolf Morseys zusammenfassende Einschätzung ‚von der ihm [Papen] eigenen Unbekümmertheit’ und ‚begrenzten politischen Einsichts- und Urteilsfähigkeit’ liegen auf der gleichen Linie.“ (Ebd.) Vgl. hierzu Rudolf Morsey: Papen, in: Staatslexikon, 5 Bde, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien 21988, S. 282. – Ähnlich abschätzig heißt es in der von Andreas Hillgruber betreuten Dissertation von Bach (1977:119): „Der Versuch Papens, seinen konkreten politischen Zielen ein theoretisches Fundament zu errichten, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er selbst gar nicht in der Lage war, die von Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Othmar Spann und Leopold Ziegler übernommenen 20

Ein im Grund ähnliches Psychogramm von Papens entwirft einer seiner engsten Mitarbeiter, Fritz Günther von Tschirschky, in seinen 1972 erschienenen Memoiren; hier finden sich die widersprüchlichen Charakterzüge Papens vielleicht am prägnantesten zusammengefasst: Herrn von Papens Handeln war nie vorbedacht böswillig, wenn auch viele seiner Handlungen unverständlich, zweideutig waren und, ich muß es leider aussprechen, von unverantwortlicher Oberflächlichkeit herrührten. Es war ein Mann mit den Eigenschaften eines jungen Kavallerieoffiziers, der viele Hürden nehmen kann, die anderen als unüberwindliche Hindernisse erscheinen. Er war aber unfähig, längere Zeit die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten. Er hatte auch die Eigenschaften eines geschulten Generalstäblers, diejenigen eines Diplomaten und Edelmannes alter Schule und die eines gläubigen Katholiken. All diese Eigenschaften waren in ihm aber nicht zu einer gesunden Harmonie verbunden, sondern befanden sich sozusagen in separaten Abteilungen nebeneinander. Darum ist sein Bild so verzerrt. Bei vielen galt er als verschlagen, verlogen und verantwortungslos, bei anderen wiederum als fähig und verantwortungswürdig. [...] Herr von Papen besaß einen bestechenden Charme, mit dem er Freund und Feind für sich zu gewinnen verstand. Er war von sich und seinen sicher lauteren Absichten so eingenommen, daß er gar nicht merkte, welchen Schaden er oft anrichtete durch sein egozentrisches, oberflächliches Handeln. Nur in diesem Lichte gesehen, ist die Persönlichkeit Papens ... zu beurteilen.“57

konservativen Theorien in ein eigenes, fundiertes Konzept einzubauen.“ Auch Golo Mann zweifelt in seiner Deutsche[n] Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1958, S. 784, an Papens geistesgeschichtlicher Einsichtsfähigkeit, indem er urteilt: „Papen war [zwar] elegant und couragiert, nicht schlecht, nicht böswillig im Grunde, aber leichtsinnig, eitel, intrigant und oberflächlich zum Gotterbarmen. Für den Verfall des öffentlichen Lebens konnte nichts bezeichnender sein als die Ernennung dieses wohlerzogenen Hansquasts, Herrenreiters und Schönredners [zum Reichskanzler], der ferne etwas von ‚konservativer Revolution’ hatte läuten hören.“ – 1947 (kurz nach Adenauers obigem Statement) hat der enge Freund Edgar Julius Jungs, der rechtskonservative Journalist und Publizist Rudolf Pechel, Franz von Papen als „gewissenlose[n] Herrenreiter“ abqualifiziert, „der kaum in die Klasse der ‚ferner liefen’ hineingehörte.“ (Pechel 1947:19) Die Regierungstätigkeit Papens bezeichnet der bekanntlich äußerst scharfzüngige Pechel als „Satyrspiel“: „Mit einem Bündel von Ideen, die aber nicht aus seinem Kopfe stammten und weder durch eine einheitliche Linie noch durch eine Persönlichkeit miteinander verbunden waren, begann der neue Kanzler mit Deutschlands Schicksal zu hazardieren und hilflos zu experimentieren“ (ebd.). 57 Fritz Günther von Tschirschky, Erinnerungen eines Hochverräters, Stuttgart 1972, S. 135f. – Der größte Teil des obigen Zitats findet sich auch wiedergegeben bei Denzler 2007:55.

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3.2 Der Beraterkreis

3.2.1 Edgar Julius Jung - Ein konservativer Revolutionär 58 Edgar Julius Jung wurde 1894 als Sohn eines calvinistischen Volksschullehrers (eines „Musikpädagogen“, der später auch am Gymnasium unterrichtete) in geboren. Er wuchs mithin in eher kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach dem Abitur studierte Jung von 1913 bis 1920 Rechts- und Staatswissenschaften in Lausanne (wo er Vorlesungen bei dem Elitetheoretiker Vilfredo Pareto hörte59), Heidelberg und Würzburg. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der für ihn zum „Schlüsselerlebnis“ (Jenschke 1971:10) wird, unterbrach Jung sein Studium und wurde zunächst an der Westfront als Infanterist und Spähtruppführer eingesetzt (Jahnke 1998:16). Nach K. M. Graß (1966:7) erlebte Jung „den Weltkrieg als Erlösung und Vervollkommnung, aber die sich zeigende Schwäche der Nation empfand er als schmerzliche Last“. Ende 1917, nach seiner Beförderung zum Leutnant, erkrankte er schwer60 und wurde nach seiner Genesung zum

58 Die folgenden Ausführungen basieren in erster Linie auf den drei speziell zu Jung verfassten Dissertationen: Zunächst ist hier zu nennen die von Werner Conze betreute Arbeit des Nachlassverwalters Jungs, Karl Martin Graß (1966), EDGAR JUNG, PAPENKREIS UND ROEHMKRISE 1933/34. Phil. Diss., Heidelberg. Sodann die eher ideologiekritisch ausgerichtete Arbeit von Bernhard Jenschke (1971), Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologie in der Weimarer Republik. Weltanschauung und Politik bei Edgar Julius Jung, München: Beck. [Phil. Diss., München]; drittens die Dissertation von Hartmut Jahnke (1998), Edgar Julius Jung. Ein konservativer Revolutionär zwischen Tradition und Moderne. Pfaffenweiler: Centaurus. [Diss., Hannover]. – Aus Gründen der Authentizität habe ich aber auch herangezogen die Schrift des Zeitzeugen und persönlichen Bekannten Jungs, Edmund Forschbach (1984), EDGAR JULIUS JUNG, ein konservativer Revolutionär, 30. Juni 1934. Pfullingen: Neske. Diese eher als Bekenntnisschrift zu bezeichnende Publikation ist freilich nur mit großem Bedacht heranzuziehen, enthält jedoch einige persönliche Details, die im vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind. Gleiches gilt für Leopold Ziegler (1955), Edgar Julius Jung – Denkmal und Vermächtnis, Salzburg: Braumüller. (Ziegler galt als der Spiritus Rector Jungs. – Zum persönlichen Verhältnis Ziegler-Jung siehe Jahnke 1998:135.) 59 Nach Jenschke zeigt das von Jung „definierte Prinzip der Ungleichheit ... eine auffallende Übereinstimmung mit Paretos Lehre von der sozialen Heterogenität und der Rolle herrschender Eliten“ (1971:79). Streng genommen müsste man jedoch mit Jahnke 1998:66f. hinzufügen, dass Jung nur bedingt ein Elitetheoretiker war; vielmehr war es ihm im Endeffekt um die Einführung eines neuen, jungkonservativen Adels zu tun: In der auf Leistung basierenden bürgerlich-liberalen Elite sah Jung nur ein Übergangsphänomen, das in dem Maße, wie die angestrebte organische Gemeinschaft verwirklicht wurde, durch eine auf dem „Seinsprinzip“ gründende neue Aristokratie abzulösen war. Diese neue Aristokratie sollte allerdings nicht verkrustet sein wie das alte Junkertum, sondern sich aufgrund der prinzipiellen Offenheit der Stände personell und geistig stetig regenerieren. – Zu Paretos Elitentheorie bekannte sich Jung also nur mit Vorbehalt, da sie ihm „noch zu sehr dem Individualismus verhaftet zu sein schien“ (ebd.:69). Dennoch verzichtete er auch in den späteren Schriften nie ganz auf den Paretoschen Elitebegriff, da ihn „die offene Propagierung einer Adelsherrschaft ... sofort in den Verdacht reaktionärer Gesinnung“ (ebd.) gebracht hätte. 60 Vgl. Jahnke 1998:16f. – Diese Krankheit scheint auch eine psychische Komponente beinhaltet zu haben. Jung musste sich wiederholt in seinem Leben – insbesondere 1932 und Ende 1933 – in monatelange therapeutische Behandlung begeben. So ist die Charakterisierung Jungs durch seinen Freund Rudolf Pechel im Endeffekt höchst fragwürdig: Jung sei „von einem verzehrenden Ehrgeiz beseelt [gewesen], der aber nichts Ungesundes hatte, weil er das natürliche Korrelat zu seiner Begabung 22

Flieger ausgebildet, gelangte indes vor Ende des Krieges nicht mehr zum Einsatz. Übrigens bewahrte er sich jedoch ein Interesse an moderner Technik, was sich unter anderem in seiner Vorliebe für große Autos äußerte. Paradoxerweise schimmert aber auch bei ihm – wie bei vielen Vertretern der Konservativen Revolution – immer wieder eine grundsätzliche Technikfeindlichkeit durch.61 1919 trat Jung einem Freikorps bei (vgl. Graß 1966:7). 1920 nahm er sein Studium wieder auf und wurde 1922 in Staatswissenschaften promoviert. Danach war er als Anwalt in einer pfälzischen Kanzlei tätig (vgl. ebd.). In den Jahren 1923/24 beteiligt sich Jung am passiven Widerstand gegen die französische Pfalzbesetzung und gründet einen Kampfbund zur Abwehr der pfälzischen Separatisten. In diesem Zusammenhang ist er in die Ermordung eines pfälzischen Separatistenführers involviert (vgl. Graß 1966:8). Aufgrund seiner terroristischen Aktivitäten wird Jung aus der Pfalz ausgewiesen und lässt sich als Anwalt in München nieder, wo es auch zu ersten Kontakten mit Hitler kommt, den er jedoch als halbgebildeten Autodidakten verachtet. Dennoch ist es im Laufe der Jahre mehrfach zu Verhandlungen über Jungs Beitritt zur NSDAP gekommen, die indes alle an Jungs aus Hitlers Sicht überzogenen Forderungen scheiterten.62 Neben seiner Tätigkeit als Anwalt engagierte sich Jung in der rechtskonservativen Klubszene; 1926 veranlasste er in München die Gründung des Jungakademischen Klubs (vgl. Graß 1966:8; Jenschke 1971:21; Jahnke 1998:20 und 197ff.). Ziel des Klubs war die Schulung der Münchner Studentenschaft im jungkonservativen Sinne (Jahnke 1998:197).63 Folglich hielt auch Jung viele Vorträge vor Studenten.

war, die gebieterisch ein großes Wirkungsfeld verlangte.“ (Pechel 1947:75) Jung war in der Tat, was Pechel wohlgemerkt uneingeschränkt positiv meint: „ein brennender Mensch“ (ebd.) – womit viel eher jedoch seine prekäre psychische Verfassung eingestanden ist. 61 So klagt Jung in seinem Hauptwerk (1930:32): „Der Fortschritt der Technik fragt nicht mehr nach dem Wozu; er wird Selbstzweck.“ Und Jung ergänzt (ebd.:102): „Nie war die Sklaverei so verfeinert, so bis ins Letzte durchgeführt, wie im 20. Jahrhundert. Der Mensch machte sich von Gott frei, um sich knechtisch der Maschine zu beugen. Die künstlich geschaffene Welt der Mechanik, aus diesseitigem Freiheitsdrang entstanden, unterjochte ihren Schöpfer.“ (Zu dieser „stark antitechnischen Tendenz“, die „Jungs Ideen [durchzog]“, vgl. auch Graß 1966:21. Vgl. hierzu ferner Jahnke 1998:41f. und 112, insbesondere Fußnote 208, sowie Jenschke 1971:109.) – Verbunden mit dieser Kritik an der Technik als „Fetisch“ ist eine ebenso entschiedene Kapitalismus- und Großstadtkritik: Die „das schnelle Glück und den hemmungslosen Kommerz verheißende Stadt erlangt ein widernatürliches Übergewicht“ über das Land, so paraphrasiert Jahnke (1998:40), der sich hier auf Jung 1930:160ff. bezieht. – Zu Jungs „Verdammung der Großstadt“ vgl. auch Graß 1966:26. 62 Auch Jahnke, der die Konservative Revolution vom Vorwurf, Wegbereiter für den Nationalsozialismus gewesen zu sein, zu entlasten versucht (vgl. 1998:12), muss einräumen, dass Jung „bisweilen mit dem Gedanken [spielte], in die NSDAP einzutreten, doch überwog das Trennende das Gemeinsame bei weitem“ (1998:213). 63 Was die Jungkonservativen konkret wollten – dies wird unten noch deutlich werden – ist schwer zu elementarisieren, da es sich bei ihrer Ideologie um einen „schwammigen Ideenbrei“ (M. Schoeps) handelt; dennoch – dies sei vorweg schon angemerkt – lassen sich mit Schoeps zumindest zwei durchgängig vertretene Ideologeme „herauskristallisieren“, und zwar „neben dem aggressiven 23

Bereits seit 1925 engagierte er sich auch im Vorstand des Deutschen Schutzbundes, dem Dachverband zur Förderung des Auslandsdeutschtums. Auf einer Tagung des Schutzbundes hat Jung damals „wahrscheinlich auch den Wiener Soziologen Othmar Spann und dessen philosophische Vorstellungen eines Universalismus kennengelernt, die für Jungs eigenes Denken von entscheidender Bedeutung geworden sind.“64 „Wesentlich für den Universalismus ist ...: Daß das Primäre, die ursprüngliche Realität, von der sich alles ableitet, nicht das Individuum ist, sondern die Ganzheit, die Gesellschaft.“ (Spann 1921:29; vgl. Jenschke 1971:86) Wegen der überragenden Bedeutung von Spanns universalistischem Denken für Jung sei der Inhalt von Spanns grundlegender Schrift „Der wahre Staat“ (1921) hier mit Schoeps in seinen Grundzügen wiedergegeben: Spann vertritt die Auffassung, dass „die ständische Lebensform die Emanzipation des Individuums rückgängig machen und die Unruhe der modernen Welt durch ein statisches Gesellschaftsmodell überwinden werde, das sich durch ‚Ruhe, Innerlichkeit und Sammlung’ auszeichnet. Zugrunde liegt diesem Verständnis eine ‚organische’ Staatsauffassung, die das Gleichheitsprinzip als eine bösartige Verirrung des Menschengeistes ablehnt und stattdessen eine hierarchische Ordnung fordert, in der die Menschen der jeweils selben hierarchischen Stufe in Ständen zusammengefasst werden. Nur der Stand als Lebensgemeinschaft wird dem einzelnen ... wieder den festen existenziellen und geistigen Rahmen geben, den die ‚abstrakte’ Demokratie mit ihrem Vertrauen auf die Selbständigkeit des Individuums zerstört hat. Verquickt war die ständestaatliche Theorie Spann mit einer politischen Elitevorstellung, insofern er sein System nach dem Grad der Geistigkeit ableitete, den die Stände je für sich realisieren. Danach steht der ‚Stand der Weisen’, der ‚schöpferische Lehrstand’ an der Spitze. Der zweite Stand ist der allgemein politische Stand, der Stand der Staatsführer, in dem nicht das Geistige, sondern das Handeln das Primäre ist. Der dritte Stand ist der wirtschaftende Stand. Hier tritt die unterste Stufe des Handelns, nämlich die der Mittelbeschaffung, in Erscheinung. Er gliedert sich wieder in Wirtschaftsführer, höhere Arbeiter und niedere Arbeiter. Dabei sind die ‚niederen’ Arbeiter die unterste Stufe des wirtschaftlichen Standes und damit der Hierarchie überhaupt. Zur Beleuchtung des Charakters der von Spann entworfenen Ständehierarchie sei ausführlich zitiert, wie er die Menschen beschreibt, aus denen sich der Stand der niederen Arbeiter bildet: „Es sind die Menschen, die in den sinnlichen Empfindungen, im Kreis der Vitalität ihren Hauptlebensinhalt, ihr Um und Auf finden. Es ist dies der große Haufen, die große Menge

Nationalismus ihr unversöhnlicher Antiparlamentarismus“ (Schoeps 1974:12). – Diese gesamte ideologische Diskussion wird unten noch vertieft werden. 64 Jenschke 1971:19; vgl. auch Jahnke 1998:19, der betont, dass „der Kontakt zu Spann ... schließlich zu einer engen Freundschaft führte.“ – Zur geistigen Verwandtschaft zwischen Spann und Jung vgl. ferner Graß 1966:19f. – Der Dissertation von Bach (1977:119, Fußnote 9) zufolge kann Spann allgemein „als d e r Stände-Ideologe der Weimarer Zeit bezeichnet werden“. (Hervorhebung im Original) 24 der Menschen überhaupt. Zu ihnen gehören (fast durchweg) die Ungebildeten, ferner auch jener Teil der Gebildeten, deren Bildung keine innere ist, sondern nur eine mechanische Summe äußerer Kenntnisse, durch die sie daher über ein rein vitales Leben mitnichten hinauskommen; ferner gehören dazu nicht nur die meisten Armen, sondern auch jene Reichen und Wohlhabenden der heutigen Zeit, die ... als ‚Pöbel im Seidenhut’ bezeichnet [worden sind]. Vornehmlich triebhaftes und vegetatives Leben wäre das kennzeichnende Stichwort dieser Kreise, deren Vergemeinschaftung sich beim Stammtisch, in öden Einladungen, bei Volksbelustigungen, im Kino, im Varieté mit Negertänzen und bei ähnlichen Gelegenheiten abspielt. Die Mittel für diesen Kreis geistigen Lebens sind vornehmlich mit Nahrung, Wohnung, Kleidung, Beheizung, Wirtshausdingen, Ringelspielmusik, Operettenmusik und ähnlichen Dingen, die am Sinnlichen und Vegetativen haften, bezeichnet.’ Ohne Zweifel weist die Ständeidee Spanns einen extrem hierarchisch-aristokratischen Grundzug auf. Fast zwangsläufig fallen bei ihm deshalb ständestaatliche Ideen mit der Forderung nach einer autoritären Regierung bzw. einem autoritären Staat zusammen. Die ‚beste Staatsform’ kann nur diejenige sein ..., ‚die eine rangstufige, hierarchische Gliederung der Gemeinschaft vorsieht’. Grundlegendes Aufbauprinzip ist das ‚Gesetz der Abstufung der Herrschaft ..., die nur von oben nach unten gehen ... kann’. Innerhalb der hierarchischen Ordnung müssen deshalb Staat und Regierung selbst einen Stand, den sogenannten ‚Höchststand’, bilden. ‚Ist der Staat ein Stand [...,] so ist er doch nicht bloßer Stand unter Ständen, sondern ein durch umfassende Art vor den anderen ausgezeichneter Stand. Als allgemeinster und die Einheit allen Handels verbürgender Stand ist er Höchststand, d.h. Leiter und Richter aller anderen Stände’. Mithin verfügt der Staat ... über eine doppelte Souveränität, einmal über die ihm ‚arteigene Herrschergewalt’ und zweitens über die ‚oberleitende Herrschergewalt ... als Leiter des gesamten Handelns’. Zu den ‚arteigenen’ Aufgaben des Staates gehört vornehmlich die Außenpolitik, die der Innenpolitik des Staates gegenüber den Vorrang hat ...“ (Schoeps 1974:73-75). Mit der Anbindung an diese Spannsche Lehre des Universalismus will sich Jung „in die Tradition der ‚Großen der Staatsphilosophie’ stellen: Plato, Augustin, Dante, Thomas und die Romantiker Franz von Baader, Adam Müller bis [C]onstantin Frantz“ (Jenschke 1971:86). Des weiteren benennt „er noch die großen Konservativen Burke und Joseph de Maistre als die geistigen Ahnen“ (ebd.) seiner universalistischen Staatstheorie, die „er selbst ... allerdings nicht rückwärts gewandt wie die alten Konservativen, sondern revolutionär der zukünftigen Staatsgestaltung dienend“ (ebd.:86f.), umsetzen will.65

65 Wie auch Graß (1966:29) resümiert, waren somit Jungs Staatstheorien „keineswegs originell, sondern in politisch-ideologischer Auswahl aus Vorläufern aller Art entstanden.“ Auch Jahnke (1998:26) gesteht – zumindest indirekt – ein, dass Jungs Denken einen eklektischen Zug aufwies: „E. J. Jungs Weltanschauung ist nicht neu. Sie ist eine geschickt zusammengefügte, inhaltlich zumeist aufeinander abgestimmte Zusammenfassung überwiegend konservativer ... Anschauungen. Sie greift jene historischen (Baader, de Maistre) und zeitgenössischen (Moeller van den Bruck, Lagarde) konservativen 25

In diesem Sinne wurde Jung auch journalistisch tätig. So veröffentlichte er regelmäßig Artikel in der beim rechtsgerichteten Bildungsbürgertum sehr angesehenen Deutschen Rundschau, die sein politischer Freund Rudolf Pechel in Berlin herausgab;66 die Redaktionsräume der DR, hinter der seinerzeit maßgeblich die Industriellenfamilie Stinnes stand, befanden sich, wie schon angedeutet, im gleichen Gebäude wie die Versammlungsräume des einflussreichen Juni- bzw. Herrenklubs, zu dem auch Jung enge Kontakte pflegte. Ferner publizierte Jung in industrienahen Blättern wie den Münchner Neuesten Nachrichten und der Rheinisch-Westfälischen Zeitung.67 Speziell von der Ruhr- Industrie (namentlich Paul Reusch von der GHH) wurde er auch finanziell unterstützt.68 Als ein Hauptvertreter der Konservativen Revolution profilierte sich Jung durch sein Hauptwerk Die Herrschaft der Minderwertigen, das er in erster Auflage 1927 und in zweiter (um das Doppelte erweiterten) Auflage 1929 im Verlag der Deutschen Rundschau

Vorstellungen auf, die Jung geeignet schienen, den Konservatismus zu modernisieren“. Diese Traditionslinie ergänzt Jahnke an anderer Stelle noch durch den Hinweis auf Langbehn „und vor allem den Urvater der konservativen Revolutionäre, Friedrich Nietzsche“ (S. 29). – Zu de Maistre vgl. insbesondere (1998 [1919]), Politische Romantik, insbesondere S. 90f., 118ff. und 159f. (Auf Ähnlichkeiten zu Burkes Kritik an der französischen Revolution wird an passender Stelle noch einzugehen sein.) – Mit Blick speziell auf die Traditionslinie des preußischen Konservatismus konstatiert Schoeps (1974:71), dass „eine gerade geistesgeschichtliche Linie von den ersten Vertretern eines konservativen Standortes ..., wie den Gebrüdern Gerlach, Friedrich Julius Stahl ... durchgeht bis zu den letzten Vertretern, die in den braunen Strudeln des Jahres 1933 untergingen.“ 66 Vgl. hierzu die bereits erwähnte Göttinger Dissertation von V. Mauersberger. 67 Zu Jungs Tätigkeit für die Rheinisch-Westfälische Zeitung vgl. Jahnke 1998:130f. 68 Wie groß die Abhängigkeit Jungs von seinen Geldgebern war, wird bei Jahnke 1998:185 deutlich. – Übrigens lebte Jung trotz beträchtlicher Zuwendungen – laut Petzold 1983:225 handelte es ich immerhin um monatliche Raten von 2000 Reichsmark – ständig in Geldnöten. Jahnke verweist auf einen Brief Reuschs, in dem dieser „geschickt auf die finanziellen Schwierigkeiten an[spielt], in denen Jung, wohl auch bedingt durch seinen aufwendigen Lebensstil, fortwährend steckte.“ (1998:187) – So konnte sich Jung Ende Juni 1934 nicht ins sichere Ausland absetzen, da ihm die finanziellen Mittel fehlten. Als man ihm Geld besorgte, schickte Jung dies an seine Familie nach München. Forschbach (1984:152) merkt in diesem Zusammenhang lobend an, dass „die Familie ... für ihn [Jung] die Keimzelle des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens“ war; in seinem Hauptwerk habe Jung „mehr als 40 Seiten“ der Familienproblematik gewidmet: „Jungs Sorge galt der gefährdeten Familie.“ (Dass Jungs Gattin einen Ehebruchsprozess gegen ihn angestrengt hatte und im Herbst 1932 auch gewann – was Jung übrigens „an den beruflichen Abgrund führte“ (Jahnke 1998:22, Fußnote 32) – erwähnt Forschbach allerdings nicht.)

26 herausbrachte.69 Ab dieser zweiten Auflage findet sich der Untertitel „ihr Zerfall und ihre Ablösung“ durch den Zusatz „durch ein N e u e s R e i c h“ ergänzt.70 Jungs Hauptwerk gliedert sich in sechs Hauptteile mit den folgenden jeweils programmatischen Überschriften: „Die geistigen Grundlagen der Politik“, „Volk, Gesellschaft, Staat, Recht“, „Kultur“, „Wirtschaft“, „Bevölkerungspolitik“ und „Außenpolitik“. Die zentralen Aussagen ergeben sich bereits aus dem Titel und dem (1929 erweiterten) Untertitel: „Zum einen diffamiert Jung die politische Elite und das System der Weimarer Republik als Herrschaft der Minderwertigen, wobei sich diese Ablehnung nicht nur gegen die konkreten Erscheinungsformen, sondern auch gegen deren tragende Wertvorstellungen richtet: Es gebe ebensowenig ein für alle Völker und Stämme wie für alle Einzelmenschen geltendes gleiches Lebens- und Daseinsrecht. Individuelle Menschenrechte leugneten nicht nur die natürliche Ungleichheit der Menschen, sondern führten notwendigerweise auch zum Zerfall des Ganzen. Der Einzelmensch gewinne in seinem Dasein erst höheren Sinn[,] indem er sich als Glied der Gemeinschaft erfahre und sich in deren Dienst stelle.“71 Mit ‚Gemeinschaft’ ist hier natürlich das deutsche Volk gemeint, dem aufgrund seiner geistig-seelischen Beschaffenheit die Führung im abendländischen Kulturkreis zugestehe.72 Nach Jenschke erfährt das Volk in Jungs Weltanschauung eine geradezu sakrale Legitimierung (1971:78). Abgeleitet ist dieser Jungsche Volksbegriff zum einen aus dem „von Herder entwickelte[n] Gedanke[n] einer Volkspersönlichkeit, einer überindividualistischen Individualität, die von diesem vor allem als geistig-kulturelles

69 1930 folgte noch ein unveränderter Neudruck der 2. Auflage, aus dem ich nachfolgend zitiere. – Übrigens unterscheidet Jahnke in seiner Dissertation (1998:146f.) zwischen Jungs Frühwerk, zu dem er Die Herrschaft der Minderwertigen zählt, und seinem Spätwerk, zu dem er Die Sinndeutung der deutschen Revolution (1933) sowie die Marburger Rede vom 17. Juni 1934 zählt; Jahnke meint, dass „beide zusammen als zweites Hauptwerk und gleichberechtigtes Spätwerk neben die HdM gestellt werden müssen.“ (147) – Der im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehenden Marburger Rede kommt somit auch nach Jahnke große Bedeutung zu. Im Übrigen wird unten auch genauestens auf Kernpassagen der Spätschrift Die Sinndeutung der deutschen Revolution eingegangen werden, von der übrigens ein Auszug vorab in der im rechtsgerichteten Bürgertum einflussreichen Deutschen Rundschau publiziert wurde. 70 Die Anregung zu dieser Untertitelerweiterung in der zweiten Auflage dürfte auf Stefan Georges 1928 erschienenen Gedichtband „Das Neue Reich“ zurückzuführen sein. Vgl. hierzu die Dissertation von Jenschke (1971:72), der ein Manuskript zitiert, wonach Georges Dichtung zu Jungs „besondere[n] literarische[n] Neigungen“ (ebd.: 12, Fußnote 9) zählte. In Jungs Hauptwerk (1930:11) wird George als Leitfigur ausdrücklich erwähnt. – Der Einfluss von Jungs Herrschaft der Minderwertigen sollte übrigens nicht überschätzt werden: „Nur eine kleine Schicht Hochgebildeter war imstande, das Buch zu lesen; manches Exemplar wurde zwar wohlwollend behandelt, aber ungelesen beiseite gestellt. So darf die Breitenwirkung des Buches nicht allzu hoch veranschlagt werden“ (Graß 1966:15f.). 71 Armin Pfahl-Traughber (1998), „Konservative Revolution“ und „Neue Rechte“, Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Opladen: Leske + Budrich, S. 55f. 72 Vgl. ebd., S. 56. 27

Ganzes mit Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit verstanden worden war“ (Jenschke 1971:93). In seinem Hauptwerk (1930:118) definiert Jung dementsprechend: „Volk ist stärkste metaphysische Gebundenheit des Einzelmenschen. Sein innerstes Wesen ist bestimmt durch die Gemeinschaft der politischen, sozialen und kulturellen Geschichte. Boden, Blut und Schicksal sind der Schmelztiegel, aus welchem das geformte Volk heraussteigt.“ Zum anderen ist Jungs Volksbegriff von Fichte hergeleitet, dessen berühmte Definition von Volk aus den Reden an die deutsche Nation (1808) er ausdrücklich zitiert; auch für Jung ist das Volk demnach „das Ganze der in der Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht“ (Fichte 2008 [1808]:131). Und Jung fügt hinzu: „Gott individuiert sich also in einem Volke, wie auch der Mensch ohne seinen Willen in das Volk hineingeboren wird“ (1930:118). Wer sich also nicht zu seinem Volk bekennt, begeht praktisch Gotteslästerung. Hier wird in besonderer Weise die enge Verquickung deutlich, die zwischen der religiösen und biologischen Kategorie von Jungs Denken besteht.73 Im Sinne dieser übergeordneten Funktion der Volksgemeinschaft verdammt Jung in Bausch und Bogen das moderne Parteienwesen, das Ausdruck von bloßen Partikularinteressen sei.74 Mit den Minderwertigen sind dementsprechend die zeitgenössischen Parteipolitiker gemeint; Jung selbst ist auch – abgesehen von einer frühen kurzzeitigen Mitgliedschaft in der DVP – nie einer Partei beigetreten. Diese grundsätzliche Parteienskepsis war für konservative Revolutionäre ausgesprochen typisch. Ebenso auf der Linie der Konservativen Revolution liegt Jungs scharfe Kritik insbesondere am Liberalismus wie, nicht zuletzt, am Marxismus, den er aber nur für sozusagen eine ‚Entartungsform’ des Liberalismus hielt. Nuanciert kritisiert Jung übrigens auch den (italienischen) Faschismus. Trotzdem unterhielt er stets Kontakte zu Italien, speziell zu dem römischen Advokaten Giulio Evola, der ein ähnliches Reichskonzept vertrat wie Jung.75 Evola nahm freilich im italienischen Faschismus nur eine Außenseiterposition

73 Durch diese (wenn auch religiös verbrämte) Bezugnahme auf Kategorien wie ‚Blut und Boden’ näherte Jung seinen Volksbegriff dem der Völkischen (und damit auch der Nationalsozialisten) bedenklich an. Zwar wollte Jung nicht als Rassist erscheinen; aber „der rassische Gegensatz wurde bei Jung lediglich in einen Volkstumsgegensatz transponiert, was aber auf Grund seines Volksbegriffes als ‚blutsmäßiger Organismus’ praktisch das gleiche zur Folge hatte“ (Jenschke 1971:99). So werden die Juden zumindest indirekt abgewertet, indem sie als Volk des Individualismus und Kollektivismus, ergo als (rassisch) Minderwertige, abgestempelt werden (vgl. Jenschke 1971:96f.). 74 Vgl. Pfahl-Traughber, 1998:56; zu weiteren Details von Jungs Parteienkritik vgl. die Dissertation von Jahnke 1998:38. 75 Auf dieses mittelalterlich-ghibellinische Reichskonzept wird unten noch genau einzugehen sein. – Nach Georg Denzler gehörten „Reminiszenzen an das Sacrum Imperium Teutonicum ... [übrigens auch] in Papens [eigenen] Reden zum Standard.“ (2007:64) Hier ergab sich ein gewichtiger Bezugspunkt im Denken dieser ansonsten so unterschiedlichen Charaktere Papen und Jung. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. 28 ein; Jung wurde aber auch von Mussolini empfangen. Diese ausländischen Kontakte Jungs wurden von Hitler, der bekanntlich ein gespanntes Verhältnis zu Mussolini hatte, natürlich mit Argwohn verfolgt. Hier ist zusätzlich zu bedenken, dass Hitler erst kurz vor der Marburger Rede vom 17. Juni 1934 von einem weitgehend gescheiterten Treffen mit dem italienischen Diktator in Venedig zurückgekehrt war. Nicht zufällig wurde Jungs Internierung nur wenige Tage nach der Marburger Rede durch die SS mit seinen Kontakten zum Ausland begründet. Speziell wurden Jung indes seine Verbindungen zum Austrofaschismus resp. zum österreichischen Monarchismus vorgeworfen.76 Diese Angaben sind auf dem Hintergrund der seinerzeit extremen Spannungen zu sehen, die zwischen Hitler und dem damals diktatorisch regierenden österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß herrschten, der sich – mit Unterstützung Mussolinis – dem Anschluss Österreichs an Deutschland entgegenstemmte und deshalb noch im Juli 1934 von österreichischen Nazis ermordet wurde. Dollfuß gilt als Begründer des austrofaschistischen Ständestaates, der größtenteils nach Spanns oben schon dargestelltem ständestaatlichem Konzept modelliert werden sollte. Dieses Konzept Spanns übte speziell auf katholische Vertreter der Jungkonservativen beträchtlichen Einfluss aus.77 Auch Edgar Julius Jung ist von dieser katholisch- großdeutschen Richtung der Konservativen Revolution maßgeblich beeinflusst. Damit nimmt er sozusagen eine Zwitterstellung unter den Jungkonservativen ein, denn trotz seines pietistischen Hintergrunds neigte er zur katholischen Strömung innerhalb der Konservativen Revolution. Er ist deshalb als „katholisierender Protestant“78 bezeichnet worden. Von hier her erklärt sich auch die Zusammenarbeit Jungs mit dem rechtskatholischen deutschen Reichskanzler und späteren Vizekanzler von Papen. Offenbar wurde Jung der Zugang zu Papen unter Mitwirkung von Rudolf Pechel, dem Schriftleiter der

76 Vgl. hierzu Graß (1966:221): „... als Papen nach Jungs Verhaftung um Aufklärung bat, sagte Himmler, man habe Jung in Schutzhaft genommen; leider habe man dabei in seiner Wohnung belastendes Material über die Verbindung zu österreichischen Monarchisten gefunden.“ – In der Tat pflegte Jung Kontakte beispielsweise zu dem österreichischen Hochadeligen und Monarchisten Karl Anton Prinz Rohan, der sich mit der Herausgabe angesehener rechtskatholischer Zeitschriften hervortat. 77 Allerdings war Spanns Verhältnis nicht nur zu den österreichischen Nationalsozialisten allein schon wegen seiner (geistigen) Nähe zu dem NS-Gegner Dollfuß äußerst ambivalent: Zwar besaß Spann schon seit 1929 Kontakte zur NSDAP, begrüßte 1938 auch den ‚Anschluß’ Österreichs uneingeschränkt; danach geriet er jedoch aufgrund seiner der SS zu reaktionär erscheinenden ständestaatlichen Vorstellungen zunehmend in Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten, was unter anderem zu einer publizistischen Kampagne gegen ihn, sodann zu Lehrverbot und schließlich sogar zu einer zeitweiligen Inhaftierung führte. – Wenn Spann von der SS als reaktionär eingestuft wurde, so wohl auch deshalb, weil er sich seinerseits auf einen der führenden Vertreter der politischen Romantik resp. der romantischen Schule der Nationalökonomie, nämlich Adam Müller (1779–1829), bezog. Wie sehr sogar das nationalökonomische Denken Müllers christlich fundiert war, wird unten noch zu explizieren sein. Diese christliche Traditionslinie, die auch Jung einschließt, kommt besonders deutlich zum Ausdruck in der affirmativ kommentierten Edition: Adam Müller (1983), Nationalökonomische Schriften. Ausgewählt und eingeleitet von Albert Josef Klein, Lörrach: Albert Kern. 78 Heinrich August Winkler (2000), Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München: Beck, S. 524. 29 bildungsbürgerlich-rechtskonservativen Deutschen Rundschau, eröffnet. Jedenfalls nimmt Pechel, dessen Schriften freilich äußerst gefärbt sind, für sich in Anspruch, am Zustandekommen der – übrigens mit keinem offiziellen Amt verbundenen – Beratertätigkeit Jungs für Papen beteiligt gewesen zu sein: „Als Papen Reichskanzler wurde, fragte mich Kapitän zur See a. D. Humann, der seinen Kameraden Papen, die Unzuverlässigkeit seines Charakters und seine begrenzte Intelligenz sehr genau kannte, in dem Bemühen, ihm einen Kreis von Männern an die Seite zu stellen, die seine Unzulänglichkeit ausgleichen sollten, ob ich ihm einen geeigneten politischen Berater für Papen nennen könnte. Ich fragte Jung, unter ausdrücklicher Warnung vor den Gefahren, die in Papens Charakterlosigkeit lagen, ob er hier eine Chance für sich sähe. Jung bejahte das, darauf brachte ich ihn zu Humann und dieser Jung zu Papen. Trotzdem Jung der führende Kopf in der Umgebung Papens wurde, gelang es ihm nicht, Papen als Kanzler auf einer vernünftigen Linie zu halten. Er erkannte schnell, daß Papen weder charakterlich noch verstandesmäßig in der Lage war, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Aber in seiner erbitterten Feindschaft gegen den Nationalsozialismus wollte er selbst nach Papens Verrat und seinem Bündnis mit Hitler trotz der eindringlichen Vorstellungen seiner Freunde auch in dem Vizekanzler Papen einen Ansatzpunkt zu eigenem Handeln sehen.“79 Während seiner Tätigkeit als Berater für Papen nahm Jung auch an politischen Tagungen im Kloster Maria Laach teil, die der rechtskonservative Abt Ildefons Herwegen organisierte.80 Mitte Juli 1933, unmittelbar vor der bereits erwähnten Rückkehr Papens von den Konkordats-Verhandlungen, nahm Jung an einer solchen Tagung katholischer Akademiker teil, bei der sich Jung – wie sein politischer Freund Forschbach berichtet – sehr weit vorwagte: „Er, der Protestant, erhob als einziger Widerspruch gegen die von [dem Katholiken] Carl Schmitt verfochtenen Totalitätsvorstellungen. Er hatte den Mut, in Gegenwart hoher nationalsozialistischer Funktionäre zu sagen, es sei nur folgerichtig, nach der Liquidierung des parlamentarischen Systems und der Parteien auch die eine noch

79 Rudolf Pechel (1947), Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 76. – Der konkrete Beginn von Jungs Tätigkeit für Papen ist wohl auf den Oktober 1932 anzusetzen. Zu der Zeitangabe ‚Oktober 1932’ vgl. Jenschke 1971:163, Fußnote 8, der sich auf den pfälzischen Zeitgenossen Jungs Friedrich Graß bezieht, der „Papens Behauptung, Jung erst im Februar 1933 kennengelernt zu haben ... an Hand brieflicher Mitteilungen“ widerlegt hat. Dementsprechend hieß es auch schon in der Dissertation von Karl Martin Graß, dem Sohn Friedrich Graß’: „... vom Oktober 1932 an lassen sich die ersten Spuren der Wirksamkeit Jungs bei Papen feststellen.“ (Graß 1966:37) Jenschke (1971:165) ergänzt hierzu allerdings, dass „in den letzten beiden Monaten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme kaum mehr Kontakt zu Papen bestand“, so dass Jung als Redenschreiber Papens in der Tat erst frühestens ab Februar 1933 mehr oder weniger uneingeschränkt zum Zuge kam. So wurde z. B. die bereits erwähnte Herrenklubrede Papens vom 15. Dezember 1932 nach Graß (1966:45) definitiv nicht von Jung verfasst. (Vgl. hierzu auch Jenschke 1971:166 sowie ebd., Fußnote 1). Zu der Zusammenarbeit Papen-Jung vgl. auch Jahnke 1998:132. 80 Die rechtskatholischen Kreise in Maria Laach um den Abt Ildefons Herwegen (einen früheren Klassenkameraden Adenauers, der diesen 1933 – wie schon gestreift – in seinem Kloster versteckte) bezogen sich auf Jung gerne als den „Calviner“ (vgl. hierzu die bereits erwähnte Bekenntnisschrift des in der Zwischenkriegszeit mit Jung verkehrenden Edmund Forschbach 1984:100). 30

übriggebliebene Partei, die NSDAP, aufzulösen.“81 Nach der Tagung war „Edgar Jung ... sehr niedergeschlagen. Er hatte die Widerstandskraft des deutschen Katholizismus gewaltig überschätzt. Durch die Konkordatsbegeisterung waren seine Hoffnungen dahingewelkt. Was er befürchtet hatte, daß Hitler in einer Übergangszeit scheinbarer Gewaltlosigkeit seine Macht festigen würde, war eingetreten“.82 Forschbach (1984:81) machte sich auch deshalb größte Sorgen um Jung, weil er „zufällig mitgehört hatte, wie der nationalsozialistische Gauleiter von Westfalen-Süd ... gesagt hatte: ‚Der Kerl gehört nach Dachau!’“ Forschbach sieht Jung „jetzt längere Zeit nicht mehr. Er [Jung] litt unter schweren Depressionen. Schließlich erkrankte er an Gelbsucht, die ihn wochenlang an das Bett fesselte“ (Forschbach ebd.:82). Jung, der sich sogar mit Selbstmordabsichten trug,83 „schien zu resignieren. Während eines Erholungsurlaubs in Arosa gewann er [jedoch] seine Vitalität wieder.“84 Trotz seiner Bedenken gegen Papen hat Jung also weiterhin – so weit es seine Gesundheit zuließ – für den rechtskatholischen Vizekanzler gearbeitet. Wie Papen vertrat Jung in seinen letzten Lebensjahren Vorstellungen einer christlichen Gesellschaft, die an mittelalterliche Reichsvorstellungen anknüpften; in enger Verbindung mit diesen Reichsvorstellungen entwarf Jung, unter anderem im geistigen Austausch mit dem bereits erwähnten römischen Advokaten Giulio Evola, ein Europakonzept, das sich in die Tradition des spätmittelalterlichen Ghibellinismus stellte.85 Jung entwickelte sich damit von einem ursprünglich glühenden antifranzösischen Nationalisten zum Befürworter einer

81 Forschbach 1984:80. – Eine weitgehend ähnliche Darstellung, die sich auf eine Vorform (in Civis, 6 (Nov. 1959)) von Forschbachs Schrift von 1984 bezieht, findet sich auch bei Jenschke 1971:171f. 82 Forschbach 1984:81. – Zur Überschätzung der „Widerstandskraft des katholischen Konservativismus“ durch Jung vgl. auch Graß 1966:75f. 83 So Jahnke 1998:24. 84 Forschbach ebd.:83. – Eine sehr ähnliche Darstellung findet sich bereits bei Graß (1966:77) wie auch bei Jenschke (1971:172), der überdies die Vermutung äußert, dass sich bei Jung „wahrscheinlich ... in dieser Zeit erzwungener Ruhe, verlängert durch einen Erholungsurlaub in der Schweiz 1934, ... der Gedanke entwickelt [habe], statt wie bisher in kritischer Opposition eine geistige Durchdringung und Mäßigung des Nationalsozialismus zu betreiben, nun in aktivem Widerstand Hitler und sein immer totalitärer werdendes Regime zu beseitigen.“ 85 Auf diesen Ghibellinismus weist Jung auch in der für von Papen verfassten Marburger Rede hin. Wie gesagt, handelt es sich um ein Konzept, das er mit dem römischen Publizisten Giulio Evola teilte. „Beide griffen den Gedanken des im 12. Jahrhundert in Kalabrien lebenden Zisterzienserabtes Joachim von Flores auf. Joachim von Flores erwartete den Anbruch einer Zeit des Hl. Geistes; dies war für ihn ‚Das Dritte Reich’. Es war die Synthese zwischen Antike und Christentum. Auch Dante war diesem joachimitischen Ghibellinismus verpflichtet.“ (So Jungs politischer Freund Forschbach 1984:118) – Forschbach fügt noch hinzu, dass Moeller van den Bruck an diese Reichsvorstellung „nicht im entferntesten gedacht [habe], als er seinem Buch den Titel ‚Das Dritte Reich’ gab“ (ebd.). In der Tat hat Moeller den großdeutsch-ghibellinischen Reichsgedanken als illusionistisch abqualifiziert: In seinem mehrfach aufgelegten Werk Der preußische Stil (1916/Neue Fassung 1922) drückte er seine Sorge darüber aus, dass die Deutschen zu „ghibellinisch-mystischer Selbsttäuschung“ neigten (zit. nach Mohler 2005:130). 31 europäischen politisch-kulturellen Einheit (die freilich unter deutscher Führung statthaben sollte86). Mithin lässt sich als Zwischenresümee festhalten, dass der Untertitel von Jungs Hauptwerk mit dem Hinweis auf die ‚Ablösung’ der Herrschaft der Minderwertigen ‚durch ein Neues Reich’ bereits die von Jung anvisierte alternative Gesellschaftsordnung andeutet: Die ohnehin im Niedergang befindliche parlamentarische Demokratie soll durch ein europaweites föderatives Reich ersetzt werden, das mittelalterlich-ghibellinischen resp. ordensstaatlich-mystischen Vorstellungen nachempfunden ist.87 Diese künftige organische Gemeinschaft soll konkret – wie schon expliziert – als Ständestaat organisiert sein, mit dem Staat als Höchststand, der durch die – wie es auch in der Marburger Rede heißt – ‚parteimäßig nicht gebundenen Besten unseres Volkes’ regiert wird.88 Eine gewichtige Vorbedingung für die Zugehörigkeit zu dieser neuen Aristokratie ist übrigens auch nach Jung das rassisch hochwertige Blut. Denn Führereigenschaften vererben sich Jung zufolge auch, können jedenfalls nicht einfach anerzogen werden.89

86 Dass den Deutschen die Führung in Europa zusteht, hatte auch Fichte bereits begründet; in seinen Reden an die deutsche Nation definiert er die Deutschen als „Urvolk“ (2008 [1808]:131), dem aufgrund seiner Ursprünglichkeit eine Vorreiterrolle gegenüber den romanisierten Völkern zustehe. 87 Vgl. Pfahl-Traughber, 1998:56. – In diesem künftigen ‚Ordensstaat’ soll das Prinzip der Hochwertigkeit verwirklicht werden, das „im Grunde das Prinzip der ewigen herrschaftsbewußten Minderheit“ ist. (Jung 1930:105) – Zur Jungschen Reichskonzeption vgl. auch Graß 1966:22. 88 Siehe hierzu den Volltext der Rede im Anhang dieser Schrift. 89 Vgl. Pfahl-Traughber, 1998:56. – Jahnke (1998:99) zufolge kam der Kategorie „Blut in Jungs Weltanschauung [allerdings] eine untergeordnete Bedeutung“ zu (Hervorhebung im Original); tatsächlich bekennt sich Jung in seinem Hauptwerk (1930:121) zu der Maxime Lagardes, wonach das „Deutschtum ... im Gemüte, nicht im Geblüte“ liege. Dennoch konnte sich auch Jung, so Jahnke (ebd.), „nicht immer von der zeitgenössischen Blutschau freimachen. Zwar war sein Denken nie blutzentriert, jedoch sprach er dem Blut auch mythische Bedeutung zu“ (ebd.). So ist die das deutsche Volk auszeichnende geistig-seelische Überlegenheit „auch blutsmäßig bedingt, denn [auch] nach ‚seiner Blutmischung ist der Deutsche ... in einer Mittellage. Das nordische Blut, in Rußland ausgerottet, im Westen völlig verdünnt, im Norden und in den Niederlanden vorwiegend, aber geistig-willensmäßig dem Individualismus völlig untertan, ist in Deutschland noch hinreichend vorhanden’“ (Binnenzitat aus Jung 1930:648). Doch auch bei solchen Rassenbestimmungen darf nach Jung das Blut nicht die alleinentscheidende Kategorie sein: „Was [deshalb] ... keineswegs angeht, ist jenes verhängnisvolle Streben der Biologie, die gesamte Geschichte nur aus dem Gesichtswinkel der Rassenfrage beurteilen zu wollen. Es ist dies ein Materialismus des Blutes, eine Verleugnung des Geistes, die es unmöglich macht, die Geschichte als das Gebiet der freien Tat anzusehen. Wenn alle Menschen nur Gefangene ihres Blutes und ihres Erbgutes sind, dann hört jedes sinnvolle Streben nach echter Freiheit auf, dann brauchen nur die Rassen verbessert zu werden, und alles andere kommt von selbst.“ (1930:121) Dies läuft nach Jung jedoch auf einen „Selbstwiderspruch“ (ebd.) hinaus: Denn „man kann ... nicht in einem Atem freie Entschließung mit blutsmäßiger Gebundenheit alles Geistigen predigen“ (ebd.). Jung versucht also – wie Jahnke (1998:100) resümiert – „die Auseinandersetzung um den Rassebegriff von einer materiellen auf die übergeordnete geistig-seelische Ebene zu heben“. – Selbst wenn dieser Versuch realisierbar wäre, so muss man Jung vorhalten, dass er entschieden inkonsequent argumentiert; denn – nicht zuletzt mit Blick auf das Judentum – „bleibt [für Jung 1930:121] die Tatsache wertvoller und minderwertiger Rassen bestehen, und es folgt daraus die Forderung, das Wertvolle zu schützen.“ Kurzum: „Maßnahmen zur Hebung rassisch wertvoller Bestandteile des deutschen Volkes und zur Verhinderung minderwertigen Zustroms müssen ... eher heute als morgen getroffen werden“ (Jung 1930:126). 32

Nach dieser primär chronologischen Auflistung sollen nun zur weiteren Präzisierung von Jungs geistig-politischer Grundhaltung unter direkter Bezugnahme auf Jungs Hauptwerk die fünf wichtigsten Aspekte seines Denkens systematisch herausgestellt werden.90 a) Jungs lebensphilosophische Ausrichtung und seine Ablehnung des Rationa- lismus bzw. der Aufklärung Typisch für alle jungkonservative Philosophie war die Ablehnung des Rationalismus resp. der Prinzipien der Aufklärung.91 Von daher war es auch Jung, dem – wie bereits angedeutet – eine gewisse dämonische Haltung eigen war, weniger um rationale Begründungen zu tun; vielmehr argumentierte gerade er mit Setzungen, die angeblich keines empirischen Beweises bedurften. Mit Jungs vorgeblicher Sachlichkeit war es also – wie noch im Einzelnen gezeigt werden wird – nicht weit her. Überhaupt sollte nicht der kalte Verstand sein Denken kontrollieren, sondern seine Entschlüsse quollen gewissermaßen aus der Tiefenschicht des Dämonisch-Mystischen hervor.92 Wie schon angedeutet ging somit auch Jung davon aus, dass die Prämissen der jungkonservativen Geisteshaltung nicht rational vermittelt werden können, sondern im täglichen Lebenskampf erfühlt werden müssten. Aus dieser lebensphilosophischen Haltung leitet sich auch die überragende Bedeutung des Kriegserlebnisses für die Jungkonservativen her.93 Diese apodiktische Setzung geht – über die Lebensphilosophie hinaus – letztlich sogar auf die politische Romantik zurück.94 Auch die Bezugnahme auf politische Einbettungsmythen lässt sich auf diese romantische Tradition zurückführen.95 Ferner ergibt sich aus diesen Vorgaben eine ganz bestimmte Werthaltung. Hierzu spezifiziert Jung in seinem Hauptwerk: „Wert ist nicht die Eigenschaft eines Dinges, die als solche vom Menschen erkannt und festgestellt werden könnte. Wert ist vielmehr die Beziehung eines wertenden Ich-Bewußtseins zu dem Bewußtseins-Inhalte. Die Werthaftigkeit

90 Insbesondere die nachfolgende Auswahl der Aspekte lehnt sich an Pfahl-Traughber (1998:66ff.) an. 91 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 66. 92 Vgl. ebd., S. 66f., dessen Darstellung hier allerdings nicht ganz richtig ist, weil er zu wenig zwischen ‚Verstand’ und ‚Vernunft’ differenziert. Der Genauigkeit halber muss deshalb ergänzt werden, dass bei Jung die Vernunft positiver gewertet wird als der Verstand: Jung definiert in seinem Hauptwerk die Vernunft als „das ‚Vernehmen’ der metaphysischen Stimme“ und siedelt sie im „Reiche des Übersinnlichen“ an; hingegen ist „der Verstand von dieser Welt. Gegenstand seiner Erkenntnis ist nur, was die sinnliche Wahrnehmung ihm bietet. [...] Während also der Verstand gewissermaßen nur Bausteine liefert, schafft die Vernunft die Ganzheit des ordnungsbeherrschten Baues. Der Verstand gehört zur Welt des Stofflichen, ist diesseitig gerichtet. Vernunft ist Denken, Verstand nur erkennen. Denken ist aber mehr als Erkennen. Der Erkennende erforscht den Stoff, der Denkende wertet, ordnet und formt.“ Die (übersinnliche) Vernunft bildet also in vielfacher Weise den Gegenpol zum (rein diesseitigen) Verstand. 93 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 67. 94 Zur Beeinflussung des Rechtskonservatismus der Zwischenkriegszeit durch die politische Romantik, auf die weiter oben mit Blick auf Jung ja bereits angespielt wurde, vgl. insbesondere Carl Schmitt (1998 [1919]), der in diesem Zusammenhang insbesondere auf Adam Müller verweist (S. 42ff. und 128ff.), auf dessen „politische Theologie“ Jung 1933b:72 ebenfalls Bezug nimmt. 95 Vgl. Pfahl-Traughber, ebd. 33

wird entweder im Fühlen durch die Einwirkungen der Umwelt erlebt oder im Wollen als dem tätigen Ausdrucke des Bewußtseins. Gefühl und Wille sind sonach Voraussetzung jeder Wertung, ihre Eigentümlichkeit bestimmt die Richtung des Wertens.“ (HdM, S. 36f.) Wie sehr das Fronterlebnis als Grunderfahrung am Beginn seines politischen Denkens steht, streicht Jung in seinem Hauptwerk bereits auf den ersten Seiten heraus: Die Fronterfahrung steht für ihn im diametralen Gegensatz zum öden, an materialistischen Maßstäben ausgerichteten Bürgerleben. Das tägliche Todeserlebnis bildet ein neues Lebensgefühl heraus, das auch künftiges politisches Handeln prägen soll. Insofern glaubte der Frontkämpfer eine herausgehobene Position im heraufkommenden Reich beanspruchen zu dürfen. Mithin wurde das (Front-)Erlebnis, gerade weil es antirational ausgerichtet war, zur unhinterfragbaren Quelle aller Erkenntnis erhoben. Die „seelische Kraft der deutschen Kampfjugend“ speiste sich Jung zufolge aus „Quellen“, die „jenseits gedanklicher Vorstellungsreihen“ lagen und „aus verborgenen Tiefen [strömten]“. (HdM, S. 16) Aus dieser erlebnisphilosophischen Perspektive heraus musste Rationalität als Ausdruck bloßer mechanistischer Zivilisation erscheinen und somit als kulturwidrig abgelehnt werden. Nicht der Verstand, sondern allein das Gefühlsmäßig-Mystische galt als kulturschaffendes Prinzip. Der Verstand wurde als oberflächlich, ja tot, somit letztlich als lebensfeindlich abgewertet.96 Dieser Verstand ist aber – wie Jahnke (1998:47) resümiert – für Jung der verabscheuenswürdige „Diktator der Moderne“. b) Jungs prinzipieller Antiliberalismus sowie die Ablehnung von Individua- lismus und Menschenrechten Wie für sämtliche Jungkonservativen, so ist auch für Edgar Julius Jung eine grundsätzliche Ablehnung des Liberalismus typisch. Unter Liberalismus versteht Jung aber nicht nur eine liberale Wirtschaftsordnung. Vielmehr steht Liberalismus in Jungs politischem Denken als Chiffre für die gesamten geistigen und institutionellen Grundlagen des republikanischen, auf Volkssouveränität gründenden Verfassungsstaates wie er sich in der Französischen Revolution herausgebildet hat. Speziell das Gleichheitsprinzip, aber auch jegliche Form von Individualismus und Pluralismus werden stigmatisiert; ebenso wird entschieden bestritten, dass es so etwas wie ‚Menschenrechte’ überhaupt gibt. Der Liberalismus gilt Jung – letztlich noch mehr als der gefürchtete Kommunismus – als ideologischer Hauptfeind, als die zerstörerische Lehre schlechthin: Vor allem der mit dem Liberalismus verbundene Individualismus wird als ausgesprochen (wert-)zersetzend angesehen. Dementsprechend betont Jung in seinem Hauptwerk immer wieder, der Einzelmensch erhalte „erst Wert ... aus seinem Dienste an der Gemeinschaft“; überhaupt erfahre er „in seinem Dasein erst höheren Sinn und tiefere Weite ... als Glied der Gemeinschaft“. (HdM, S. 514) Deshalb stünde dem Individuum als solchem auch keine

96 Vgl. hierzu ebd., S. 67f. 34 eigene „Rechtssphäre“ zu; und weiter konstatiert Jung, unter indirekter Anspielung auf Hobbes: „Menschenrechte sind uferlos. Die Ausstattung aller Teile des Ganzen mit gleichen und unbedingten Rechten führt immer zum Kampfe aller gegen alle, zum Zerfall des Ganzen.“ (S. 49)97 Jungs Denken ist, wie das praktisch aller Jungkonservativen, entschieden dualistisch bzw. dichotomisch; immer wieder wird die deutsche Kultur der westlichen Zivilisation gegenübergestellt: „Die deutsche Freiheit ist die Freiheit der Gliedschaften, der Korporationen; westliche Freiheit die des Individuums, praktisch Anarchie ...“.98 Für Jung ist somit die Einheit des Volkes für jede auf Dauer gerichtete Staatsform unabdingbar. Ein pluralistisches Gesellschaftskonzept mit individueller Freiheit und unterschiedlicher Interessenartikulation würde die völkische Homogenität auflösen und ist deshalb kompromisslos abzulehnen.99 In ähnlicher Weise wie Spengler formuliert Jung demgemäß in seinem Hauptwerk: „Wir anerkennen ... die natürliche Ungleichheit der Menschen und lehnen das Trugbild der gleichen ‚Menschenrechte’ ab.“ (HdM, S. 368) Zwar liege, wie Jung unter Bezugnahme auf Lagarde einräumt, „das Deutschtum ... im Gemüte, nicht im Geblüte“. (S. 121) Trotzdem beharrt er, wie hier erneut deutlich wird, auf der „Tatsache wertvoller und minderwertiger Rassen“; daraus resultiert für ihn „die Forderung, das Wertvolle zu schützen“ (ebd.). Hier ist mithin ein Rassismus unübersehbar, der mit Jungs christlicher Ausrichtung schwerlich zu vereinbaren sein dürfte. Ungeachtet dieses Widerspruchs ergänzt Jung: „Die Besonderheit des Deutschtums ist ... eine seelische Kraft, die bisher schon der zivilisatorischen [spricht: westlichen] Entwicklung widerstrebte, nun aber, zur vollen Entfaltung gelangend, ihr ein willensmäßiges Halt entgegenruft. So wird das deutsche Volk des 20. Jahrhunderts zum Verkünder eines neuen Menschheitsideals“ (S. 82). Und konkret auf Europa bezogen heißt es: „Des deutschen Volkes schicksalhafte Sendung ... ist die Neugestaltung des Abendlandes.“ (S. 515) Aus dieser völkisch-nationalistischen Doktrin leitet Jung seine Absage an sämtliche Prinzipien der modernen Demokratie her: „Glückseligkeit, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Fortschritt, das sind die chaosgeschwängerten Trugbilder. Wenn der verlogene Gedanke der Menschenrechte ausgetilgt ist, wird vielleicht wieder Platz für Menschenliebe“ (S. 89).100

97 Vgl. ebd, S. 70f. 98 Edgar Julius Jung (1928), „Reform des Reiches. Meine Gründe zur Unterschrift der Leitsätze“, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 21. Oktober 1928. – Freiheit richtig verstanden läuft damit stets auf Gerechtigkeit hinaus, die „immer an die Gemeinschaft gebunden“ ist; folglich gibt es „im organischen Staat keine am Individuum ausgerichtete Gerechtigkeit“ (Jahnke 1998:63) – wie natürlich auch, so wäre hinzuzufügen – keine am Individuum ausgerichtete Freiheit. 99 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 71. 100 Vgl. ebd., S. 71f. 35 c) Jungs organisches Staatsverständnis und die Forderung nach identitärer Demokratie Wie bei allen konservativen Revolutionären ist auch bei Edgar Julius Jung eine radikale Ablehnung der parlamentarischen bzw. repräsentativen Staatsform festzustellen; mithin leiten sich seine Vorbehalte gegenüber der Weimarer Republik keineswegs nur von zeitbedingten Unzulänglichkeiten her; sie beruhen vielmehr auf fundamentalen politischen Wertvorstellungen. Allerdings geht diese Frontstellung bei Jung nicht – wie beispielsweise bei Spengler – mit einer grundsätzlichen Stigmatisierung des Begriffs ‚Demokratie’ einher.101 Vielmehr ist es Jung darum zu tun, den Begriff ‚Demokratie’ neu zu besetzen: Bezeichnenderweise wird dem repräsentativen parlamentarischen System rundweg abgesprochen, überhaupt demokratisch zu sein. Hingegen trat Jung wie die meisten konservativen Revolutionäre für eine identitäre Demokratie im Sinne des oben bereits angesprochenen organischen Staatsverständnisses ein.102 Konkret formuliert er in seinem Hauptwerk unter argumentationsstrategisch raffinierter Anspielung auf Rousseau, obgleich dieser üblicherweise als ‚Vater der französischen Revolution’ gilt: „Echte Demokratie, d. h. die Herrschaft der nur metaphysisch zu begreifenden volonté générale ist das höchste staatliche Ideal; es kann aus dem organischen Weltbilde nicht hinweggedacht werden. In diesem Sinne ist Demokratie vollendeter Konservativismus. Wenn die Volksherrschaft allerdings als mechanisches Mehrheitssystem aufgefaßt wird, dann beginnt eine Auslegung der Demokratie, welcher dieses Werk Kampf bis auf Messer angesagt hat.“ (HdM, S. 225) d) Jungs Antipluralismus und die Ablehnung der politischen Parteien Wie bei praktisch dem gesamten revolutionären Konservativismus folgt auch bei Jung aus dem dargestellten identitären Demokratieverständnis eine Frontstellung gegen die moderne pluralistische Gesellschaftsauffassung; wie schon angedeutet äußert sich diese Ablehnung vor allem durch die Stigmatisierung politischer Parteien.103 So schreibt Jung in seinem Hauptwerk: „Nichts verdient so sehr den baldigen Untergang als die Partei. Wer sie mit Feuer und Schwert austilgt, vollbringt ein frommes Werk“ (HdM, S. 246). Gemäß Jungs Organismuskonzept sind Parteien sogar kontraproduktiv: „Der rein organische Staat ist ... parteilos. Wer zetert, das Leben müsse darüber zu kurz kommen, wenn jede vernünftige Aussprache und positive Kritik unterbliebe, der lebt noch in den Vorstellungen der Aufklärung. ‚Das Richtige’ entsteht nicht durch Ausgleich von These und Antithese, sondern durch schöpferische Schau, die aus dem Erleben der Ganzheit kommt“ (S. 344f.). Dieses geradezu mystische Gespür für Ganzheit können die auf partikularistischen Interessen fußenden Parteien unmöglich zum Ausdruck bringen. Hingegen sollen die neuen

101 Das Obige nach: ebd., S. 72 102 Vgl. ebd., S. 72ff. 103 Vgl. hierzu und zum Folgenden, ebd., S. 75f. 36

Stände, die den rein organischen Staat tragen, von diesem Empfinden für Einheit ganz durchdrungen sein; dies ist freilich nur garantiert, wenn diese neuen Körperschaften sich organisch entwickeln können; auf alle Fälle dürfen sie keinesfalls durch den Irrglauben „an die schöpferische Kraft der Dialektik bestimmt [sein]. Hier liegt der letzte Unterschied zwischen versinkendem Parlamentarismus und Parteiwesen einerseits, den kommenden organischen Körperschaften im ‚Ordensstaate’ andererseits“ (S. 345). e) Die letzte Konsequenz: Jungs Befürwortung eines autoritären Staatsmodells mit cäsaristischer Diktatur Wie praktisch alle Rechtskonservativen ist auch Edgar Julius Jung ein entschiedener Anhänger der damals stark verbreiteten Volksgemeinschafts-Ideologie, die seinem organischen Staatskonzept zugrunde liegt. Ähnlich wie bei Carl Schmitt finden sich mit dieser autoritären Grundhaltung Vorstellungen von Elite und Führertum verknüpft. Von daher ist es letztlich nur folgerichtig, wenn Jung sich für eine cäsaristische Diktatur ausspricht.104 In seinem Hauptwerk rechtfertigt er den ‚Führergedanken’ dadurch, dass er eine gefühlsmäßige Übereinstimmung des cäsaristischen Diktators mit seinem Volk postuliert: „Die Fähigkeit, mit welcher ... [der Führer] die besten und edelsten Kräfte der Geführten herausfühlt und sie an sich selbst so vorbildlich entwickelt, daß er beispielhaft auf die Masse wirkt, bestimmt den Grad seiner Führereignung“ (HdM, S. 104). Wie schon gestreift sollte der ideale Führer wohlweislich aus einem neuartigen Adel hervorgehen. Selbstredend kann die Auswahl dieses Neuadels keinesfalls – wie in der repräsentativen Massendemokratie – durch ein Wahlverfahren auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts erfolgen; dieses mechanistische Auswahlverfahren müsste sich zwangsläufig als staatszersetzend herausstellen. Vielmehr wird die künftige Elite von dem jeweiligen Diktator aufgrund vererbter aristokratischer Eigenschaften ausgewählt; hier ist daran zu erinnern, dass bei dieser Auswahl auch biologische Eigenschaften eine Rolle spielen: „Die Vornehmheit des Blutes kommt zu der Gesinnung hinzu, die Züchtung wahrer Führer erleichternd. Erfahrene Völker mit alten Kulturen ... wissen sehr wohl, dass gezüchtete Familien Führereigenschaften vererben, die nicht durch Erziehung allein ersetzt werden können“ (ebd.). Zweifelsfrei muss somit „der Staat, als Höchststand organischer Gemeinschaft, ... eine Aristokratie sein: im letzten und höchsten Sinne: Herrschaft der Besten“ (S. 330f.). Eine derartige Eliteherrschaft ist nach Jung unabdingbar, denn einzig „der Gedanke, den Staat durch eine organisch gewachsene Oberschicht führen zu lassen, ist ... geeignet, die Krise der Demokratie zu überwinden“ (ebd.). In diesem Sinne sollte das von Jung ersehnte ‚Neue Reich’ gestaltet sein und die Weimarer Herrschaft der minderwertigen, weil aus unteren Schichten aufgestiegenen Parteifunktionäre ein für allemal überwunden werden.

104 Vgl. hierzu und zum Folgenden, ebd., S. 77-79. 37 f) Zwölf Thesen aus dem Jahre 1932 Die soeben dargestellte Grundhaltung ist im Wesentlichen zwar unverändert geblieben. 1932, wenige Jahre nach der Veröffentlichung der zweiten Auflage seines Hauptwerks, nimmt Jung im Nachwort zu einem Sammelband unter der Überschrift „Deutschland und die konservative Revolution“105 jedoch eine bezeichnende Aktualisierung seiner Geisteshaltung vor. Dieser Schlüsseltext sei deshalb hier, reduziert auf zwölf Thesen, als Hinführung zur Marburger Rede rekapituliert: 1. Auszugehen ist von Jungs einleitend bereits zitierter Definition der Konservativen Revolution, in der die dualistische Denkweise Jungs erneut mustergültig hervortritt: „Konservative Revolution nennen wir die Wiederinachtsetzung all jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft, an Stelle der mechanischen Wahl das organische Führerwachstum, an Stelle bürokratischen Zwangs die innere Verantwortung echter Selbstverwaltung, an Stelle des Massenglücks das Recht der Volkspersönlichkeit.“ (S. 380). Hier wird deutlich, dass es Jung um alles andere als eine soziale Revolution mit Umverteilung des Eigentums geht; vielmehr wird ‚Revolution’ zu einer rein geistig- ideellen Veränderung umdefiniert. 2. Wie wir sahen, spielt in diese Vorstellung von Revolution auch ein biologistischer Aspekt mit hinein: Denn der revolutionäre Konservatismus ist der „Aufstand des Blutes gegen das Geld, des Menschen gegen den Apparat, der Würde gegen die Sklaverei“ (ebd.). 3. Dementsprechend wird „die deutsche Revolution [...] rücksichtslos alle Menschenwerte revidieren und alle mechanischen Formen [genauer: den „formlosen Kollektivismus“] auflösen. Sie wird entgegengesetzt sein den geistigen Triebkräften, Formeln und Zielen wie sie die französische Revolution gezeitigt hat“ (ebd.). 4. Die ‚deutsche Revolution’ wird mithin „die große konservative Gegenrevolution sein, welche die Auflösung der abendländischen Menschheit verhindert, eine neue Ordnung, ein neues Ethos und eine neue abendländische Einheit unter deutscher Führung begründend“ (ebd.). 5. Diese ‚deutsche Führung’ dürfe jedoch nicht als Zwangsherrschaft verstanden werden: Denn „wie im Innern des gesellschaftlichen und staatlichen Seins die neue Führung nicht auf Gewalt, sondern auf freiwilliger Autorität gegenüber dem

105 Deutsche über Deutschland (1932). Die Stimme des unbekannten Politikers. Mit zusammenfassendem Nachwort „Deutschland und die konservative Revolution“ von Edgar Julius Jung, München: Albert Langen / Georg Müller, S. 369-383. 38

verantwortungsbereiten adeligen Menschen beruht, so wird die neue Führung Europas jenseits der Begriffswelt liegen, die Eroberung, Imperialismus, Militarismus oder Entnationalisierung heißt“ (ebd.). 6. Demgemäß wird die ‚deutsche Revolution’ „das Herzstück Europas, seine Mitte, wieder zu ihrem Recht kommen lassen.“ Insbesondere Frankreich darf sich nicht länger „der Erkenntnis [verschließen], dass das biologisch kräftigste Volk Europas die Deutschen sind“ (ebd.). 7. Außer dieser biologistischen spielt auch eine religiöse Komponente in Jungs Ordnungsvorstellung hinein: Denn „die Grundhaltung des neuen Menschen, der diese Ordnung begründet, die dadurch die Persönlichkeit und ihr Eigenstes erst wieder herstellt, dass sie diese in demütige Beziehung zum Ganzen setzt, mikrokosmischen Wert und makrokosmischen Vorrang verschmelzend, ist eine religiöse“ (S. 380f.).106

106 Wie bereits gestreift, charakterisiert diese geradezu fundamentalistische Ausrichtung auf das Religiöse schon den herausragenden Vertreter der romantischen Schule der Nationalökonomie, Adam Müller (1779-1829), von dem auch Othmar Spann (1878-1950) beeinflusst war, der wiederum – wie wir sahen – auf Jung wirkte. Jungs Gedankengut lässt sich somit auf die politische Romantik zurückverfolgen. Als Beleg seien einige Stellen aus Müllers nationalökonomischen Schriften zitiert, auf die oben bereits kurz hingewiesen wurde: In seiner Schrift von 1819 Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere heißt es: „Die Vernunft ist ein bloßes Werkzeug und die Natur ein rohes Material; erst unter Gottes Anleitung verbinden sie sich zu einem herrlichen Ganzen; ohne Gott zerstören sie sich untereinander“ (S. 399). Ferner betont Müller, der seinerseits mehrfach auf Edmund Burkes Reflexions on the Revolution in France, Oxford: UP, 2009 [1790], verweist, mit Blick auf die Französische Revolution und ihre Folgen, dass „das Geschrei des Zeitgeistes verstummen und kein Trost verbleiben [werde], als der stille Entschluß demütiger Rückkehr zur Religion“ (S. 426): „Wenn alle Wunden dieses Jahrhunderts verblutet und alle Leidenschaften, welche die Urteile verwirren, zur Ruhe gebracht sein werden, dann wird die spätere Nachwelt in den krampfhaften Bewegungen dieser Zeit nur das Erwachen der Religion wahrnehmen: sie wird das dumpfe Geschrei nach Verfassungen, welches alle ruhige politische Untersuchung übertäubt [sic], verstehen; erkennen wird sie, daß es allerdings eine Konstitution, eine Verfassung gegolten hat [sic], ein Hinanstreben zu jener ersten und einzigen politischen Verfassung, welche auf Erden bestanden hat, der christlichen nämlich; ein dringendes, unwiderstehliches Verlangen nach jenen natürlichen, aber von einem gehorsamen Herzen für das unmittelbare Werk Gottes anerkannten Stande oder Staate der Menschheit, welchen die eitle Vernunft, eben weil sie überhaupt ihrer innersten Natur nach zu keiner Anerkennung irgendeiner Verfassung gelangen kann, niemals erschwingen wird“ (S. 426f.). – Das hätte – wenn auch sicherlich weniger verklausuliert – auch Edgar Julius Jung sagen können. Das Gleiche gilt für die nachfolgenden Äußerungen Müllers, die der Schrift Die innere Staatshaushaltung; systematisch dargestellt auf theologischer Grundlage von 1820 entnommen sind; hier begründet Müller die Notwendigkeit einer Kirche als fester Institution wie folgt: „Offenbart sich Gott in keiner solchen sichtbaren Autorität auf Erden, kurz, gibt es keine sichtbare, über alle Appellation erhabene Kirche, so muß der menschliche Wille, in wie vortrefflichen irdischen Verfassungsformen er sich auch bewegen möge, sich notwendig in sich selbst aufreiben ...“ (S. 441f.). – Zudem verkündet Müller, „daß alle Ordnung unseres Weltteils am letzten Orte auf der gemeinschaftlichen Anerkennung einer positiven göttlichen Offenbarung über die Verknüpfung des Irdischen und Überirdischen, nämlich auf der Anerkennung der dreieinigen Gottheit, beruhe“ (S. 453). In diesem Sinne müsse „die lebendige Haushaltung der Staaten als d a s W e r k G o t t e s in demütiger Unterwerfung und unter der strengen Zucht der positiven göttlichen Offenbarungen dargestellt“ werden; ebenso müsse „das Faktum der Verderbtheit nicht nur überhaupt im leichten Sinne der Zeit, sondern positiv, als Sündhaftigkeit, in dem uralten strengen Sinne der christlichen Kirche und als Folge der ersten Sünde vorausgesetzt und die 39

8. Die hier angesprochene Demutshaltung steht nach Jung übrigens in keinem Gegensatz zum Herrenstatus des Einzelnen: Denn „der demütige Mensch, ... [kann] gerade deshalb Herr sein ..., weil er sich als Werkzeug Gottes fühlt“. Demzufolge wird er der „Träger der kommenden Neugestaltung sein“: „Demut vor dem Höheren, freiwillig übernommene Verantwortung, dafür Anspruch auf Herrschaft, das ist der Ausdruck jener religiösen Grundhaltung, die nur der Mensch guter Rasse aufzubringen vermag“ (S. 381). Aus dieser biologistischen Überzeugung, die zu einer„neuen Gläubigkeit“ stilisiert wird, leitet sich ebenso Jungs „Hoffnung“ her, „daß die konservative Revolution Gott einen neuen Altar errichten werde, wie ihn die französische der Göttin der Vernunft errichtet hat“ (ebd.). 9. Auf dem Hintergrund dieses christlich verbrämten Biologismus betont Jung den Elitegedanken: „Der grauenhafte sittliche Zerfall unserer Zeit [...,] das Chaos rührt ... daher, dass keine ‚Kaste’ vorhanden ist, welche sich selbst unerbittlich Gesetze gibt, die auch unerbittlich ausgeübt werden. Dies ist die eine Seite. Die andere heißt: gleiches Maß für Alle. Wer wundert sich unter der Herrschaft dieses gleichen Maßes, dass am Ende die Ehrauffassung des Pöbels die der Oberschicht vernichtet?“ (Ebd.) Wir leben „in einer Zeit, da auch schlechtestes Blut ohne weiteres in soziale Schichten sich drängt, die mit der Begriffswelt jener unberechtigten Emporkömmlinge einfach unvereinbar sind“ (ebd.). Die hier implizierte Kritik richtet sich übrigens nicht nur gegen Sozialdemokraten, sondern gerade auch gegen die Nationalsozialisten, speziell die (pöbelhafte) SA, wie unten noch im Einzelnen belegt werden wird. 10. „Das Dritte Reich wird also nicht als Fortsetzung des großen Säkularisierungsvorgangs möglich sein, sondern nur als seine Beendigung. Es wird germanisch-christlich sein oder nicht.“ „Der neue Nationalismus ist [mithin] ein religiös-kultureller Begriff“; zudem muss „... die deutsche Sache ... zur Sache aller Völker“ werden. Das bedeutet, die ‚deutsche Revolution’ muss „als europäische Aufgabe“ begriffen werden. Auch deshalb dem – nach Jung – zu deutsch-völkisch geprägten „Nationalsozialismus [nur] eine begrenzte historische Aufgabe“ zuerkannt werden (S. 382). 11. Letztlich zum Zweck einer Selbstimmunisierung räumt Jung zunächst ein: unbedingte Unfähigkeit der menschlichen Vernunft nicht nur zur Herstellung des Guten, sondern auch zu aller Bändigung des Verderbens behauptet“ werden (S. 455). Derlei Bezugnahmen auf die Erbsünde sind stets auch ein Charakteristikum der christlichen Strömungen der Konservativen Revolution gewesen. (Zum Stellenwert des Konzepts der ‚Erbsünde’ bzw. ihrer Leugnung vgl. z. B. Carl Schmitt (1998 [1919]:6f.) Von daher verwundert es nicht, wenn gerade Jung „die politische Theologie Adam Müllers“ lobend hervorhebt, weil für sie „der religiöse Ausgangspunkt, das Christentum,“ stets „außer Frage“ gestanden habe (1933b:72). 40

„Es wird uns vorgeworfen, wir liefen neben oder hinter den politischen Kräften her, wir seien Romantiker, welche die Wirklichkeit nicht sehen und sich in Träume einer Reichsideologie steigern würden, die rückwärts gewandt sei. Aber Form und Formlosigkeit sind zwei ewige soziale Prinzipien, so wie der Kampf zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos in ewiger Pendelbewegung anhält. Die Erscheinungsbilder, welche die Geschichte zeitigt, sind immer neu, die großen Ordnungsprinzipien (mechanistisch oder organisch) bleiben immer dieselben. Wenn wir deshalb an das Mittelalter anknüpfen und dort die große Form sehen, so verkennen wir nicht nur nicht die Gegenwart, sondern sehen sie realer als diejenigen, die nicht hinter die Kulissen zu schauen vermögen“ (S. 383). 12. Demgemäß lautet Jungs Fazit: „Die Zeit ist gekommen, da die Auflösung sich vollendet, da die Wirklichkeit der liberalen Weltauffassung sich als illusionär herausgestellt hat, da die Meisterung des Lebens durch Abstraktion und Verstandesherrschaft sich als unmöglich erwiesen hat. Wir sehen die Welt wieder wie sie ist, weil wir selbst nicht nur von d i e s e r Welt sind, sondern weil wir die metaphysische ahnen und als kosmisches Gesetz in uns fühlen. Deshalb ist unsere Stunde gekommen: die Stunde der deutschen Revolution“ (ebd.). g) 1933: Die Deutsche resp. Christliche Revolution Vielsagenderweise wird hier also nicht mehr von ‚Konservativer’, sondern von ‚Deutscher Revolution’ gesprochen. Diese Begriffserweiterung im völkisch-deutschen Sinne erfolgt offensichtlich aus dem Interesse heraus, sich gegen nationalsozialistische Vorwürfe, reaktionär zu sein, zu immunisieren. Dieser erweiterte Begriff erscheint deshalb in der 1933, ca. ein Jahr nach dem soeben referierten Nachwort, publizierten Spätschrift Sinndeutung der deutschen Revolution bewusst schon im Titel. Wie oben bereits angeschnitten, meint Jahnke (1998:147), nach meiner Auffassung berechtigterweise, dass diese Schrift zusammen mit der Marburger Rede „als zweites Hauptwerk und gleichberechtigtes Spätwerk neben die HdM gestellt werden“ müsse (147). Auf alle Fälle lässt sich an dieser Spätschrift mustergültig die Fortentwicklung von Jungs politischem Denken ablesen, das unmittelbar zum Duktus der Marburger Rede hinführt. Eine Kurzfassung des Schlusskapitels dieser Abhandlung wurde vorab in der bereits erwähnten Deutschen Rundschau veröffentlicht, und zwar unter der treffenden Überschrift: „Die Christliche Revolution“. Eine Paraphrase des Inhalts dieses Kerntextes sei hier angeschlossen,107 da in diesem Artikel die konkrete Form des autoritären Regierungssystems vorgeprägt ist, das Jung zu diesem Zeitpunkt anstrebt und das auch in der Marburger Rede zum Ausdruck

107 Hier zitiert nach dem Vorabdruck in: Deutsche Rundschau, 59 (1933), S. 142-147. – Wie gesagt handelt es sich bei diesem Text um das Schlusskapitel von Jungs zentraler Spätschrift Sinndeutung der deutschen Revolution, die er „im Frühjahr und Frühsommer 1933“ verfasst hat (Graß 1966:79). Gegenüber dem Buch, das übrigens in der Dissertation von Graß (1966:79-90) detailliert besprochen wird, wurde diese kompaktere Form bevorzugt, da sie speziell für die eigenständige Rezeption konzipiert ist, also auch ohne Kenntnis der vorangehenden Buchkapitel rezipiert werden kann. 41 kommt. Zur korrekten Einordnung in den historischen Kontext muss man sich vor Augen halten, dass Jung sein Konzept einer ‚Deutschen’ resp. ‚Christlichen Revolution’ in Anbetracht der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und in bewusster Abgrenzung zum Nationalsozialismus verfasste. Es handelt sich also – um mit Utz Maas zu sprechen – bereits um ein Beispiel für Sprache im Nationalsozialismus. Gerade deshalb beginnt Jungs Argumentation bewusst mit einer Einschätzung, die viele Nationalsozialisten wohl teilten: Er konstatiert eine „Empörung der Kräfte der Überlieferung“ (S. 142), die um sich greife: „Blut und geschichtlicher Geist“ (ebd.) wendeten sich zunehmend gegen einen ungesunden „Intellektualismus“, der aus einem entarteten Liberalismus entspringe. Als Alternative bietet sich nach Jung nur die Abkehr von mechanistischen und damit die Hinwendung zu organischen bzw. natürlichen Formen von Gemeinschaftsbildung an (vgl. ebd.). In diesem Kontext äußert sich Jung als religiös motivierter Monarchist: Nicht mehr unspezifisch die, wie noch 1932 dargestellt, cäsaristische Diktatur, sondern die legitime Krone stelle „das ewige Symbol der Herrschaft kraft göttlichen Rechts“ (S. 143) dar; sie sei „unmittelbar in die natürliche“ – und das bedeutet stets auch – „göttliche Ordnung (Erbfolge) eingereiht“ (ebd.). Die Implikatur ist hier, dass die uneingeschränkte Diktatur eines Parteiführers – eine offensichtliche Anspielung auf Hitler – unnatürlich und unchristlich ist. Mit der fortschreitenden Etablierung des totalitären Führerstaats strich Jung bewusst den Monarchiegedanken heraus, den er in der Konkretisierung einer ‚Reichsverweserschaft’ der Hitlerdiktatur entgegenzustellen hoffte.108 Das Abendland wurde Jung zufolge im 19. Jahrhundert „müde und entgottet“ (S. 145): „Vernunftgläubigkeit“, „Verdiesseitigung“ und „Materialismus“ (ebd.) sind die Schlagworte, die nach Jung diesen verhängnisvollen Trend benennen. Die Hellsichtigen haben jedoch erkannt, dass dieser Trend gestoppt werden muss: „Mit revolutionärer Kraft hebt deshalb der Akt der Wiederverchristlichung an“ (ebd.): Ein „neue[s] christliche[s] Reich“ (ebd.) müsse heraufgeführt werden, wobei indes jegliche Art von Totalitarismus (eine erneute Anspielung auf den Nationalsozialismus) abzulehnen sei, da sie der christlich- europäischen Kulturtradition widerspreche und überdies die katholische Bevölkerung – und damit die „rheinische Landschaft“, „die eigentliche Herzkammer des Reiches“ – ausschließe (vgl. S. 144-146). Ferner betont Jung – der, wie erinnerlich, enge Kontakte zu studentischen Kreisen hielt –, dass „in der deutschen Jugend ... der Gedanke an “ (S. 144) lebe: Die deutsche Jugend sei durchdrungen von einer „völkerverbindende[n] Achtung vor den gewachsenen Volkstümern“ (ebd.); auch Verkehr und Wirtschaft verlangten nach größeren

108 „Als Reichsverweser hatte Jung ‚natürlich’ Hindenburg ins Auge gefaßt.“ (Jahnke 1998:91, Fußnote 166) – Jungs Hinwendung zum Monarchismus war in der Tat wohl auf Hindenburg bzw. Papen gemünzt. Eigentlich hatte Jung, wie Graß (1966:218) zu bedenken gibt, „nie viel für die Monarchie übrig“. Auch Jungs politischer Freund Forschbach (1984:151) betont: „Jung war kein Monarchist.“ 42

Einheiten, so dass auf politischer Ebene ein „übervölkisches Gebilde“ geschaffen werden müsse. Hiermit spielt Jung auf seinen oben dargestellten Reichsgedanken an und grenzt sich durch die Benutzung der Vokabel übervölkisch erneut von den Nationalsozialisten ab.109 (Auch in der Marburger Rede greift Jung, wie unten noch zu zeigen sein wird, auf diese Vokabel zurück.), Trotz aller, auch sprachlichen, Abgrenzung vom (deutschen) Faschismus schwebt Jung freilich keine auch nur ansatzweise demokratische Gleichheit vor, die es in dem neuen Reich zu verwirklichen gelte. Vielmehr konstatiert er erneut, dass es eine klare „Rangordnung der Völker [gebe]‚ die nicht Willkür ist“ (ebd.): Dieser Unterschied ergibt sich für Jung gewissermaßen naturwüchsig durch „zahlenmäßige Größe, geschichtliche Entwicklung, geographische Lage, blutsmäßige Kraft und geistige Anlagen“ (ebd.). Impliziert ist hier, dass dieses neue europaweite Reich - im wahrsten Sinne des Wortes – natürlich unter deutscher Hegemonie stehen soll. Diese deutsche Vorherrschaft leitet sich auch aus christlichen Erwägungen her: Das deutsche Volk sei stets „Schirmer des Kreuzes, ... Schützer und Ordner der Völker Europas“ (ebd.) gewesen. Reich und Kaiser waren stets „Schirmherren gegen Heidentum und Antichrist“ (S. 145): „Das Wesen des deutschen Volkes befähigt es zu dieser überstaatlichen Aufgabe.“ (Ebd.) In dem Maße, wie diese Entwicklung zurück zum Christentum und damit zu natürlichen gesellschaftlichen Verhältnissen um sich greife, sei das „Ende der Volkssouveränität“ (S. 147) absehbar: Denn es kann nicht um eine angeblich demokratische, in Wahrheit aber mechanistische Parteiherrschaft gehen; vielmehr sehnt sich „eine neue Frömmigkeit ... nach Herrschaft von Gottes Gnaden“ (ebd.): „Diese Frömmigkeit weiß, es gibt nur eine Stelle, wo Menschen und Völker gleich sind: vor Gott.“ Das Diesseits aber ist zwangsläufig „vielgestaltig, beruht auf Unterschied und Kampf, erhält Sinn nur durch Rang und Wert“ (ebd.). Demnach ist „die große Aufgabe der Politik ... die Ordnung unter Ungleichen, sei es unter Menschen oder unter Völkern. Diese Ordnung wird es nicht geben ohne Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist unmöglich ohne Herrschaft. Berufen zur Herrschaft aber ist, wer die Macht in der Gnade Gottes ausübt. Im Reich enthüllt sich die Sehnsucht nach der Herrschaft des Göttlichen auf Erden, über dem Reich schwebt die unsichtbare Krone.“ (Ebd.) Das Implikat ist hier erneut, dass die nationalsozialistische Parteidiktatur bestenfalls eine Übergangslösung sei, jedenfalls den Ansprüchen an eine religiös fundierte, auf Dauer

109 Die Vokabel „übervölkisch“ ist bei Cornelia Schmitz-Berning (2000), Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin: de Gruyter, nicht belegt, dürfte also zunächst im offiziellen NS-Jargon nicht verwendet worden sein. Erst in dem vom Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Martin Bormann, abgezeichneten so genannten ‚Führererlass’ vom 19. Nov. 1940 gegen den Sprachpurismus ist plötzlich von den „übervölkischen Aufgaben unserer Sprache“ die Rede, was auf dem Hintergrund der Versuche zu sehen ist, die westeuropäischen Länder in den geplanten Kampf gegen den ‚Bolschewismus’ einzureihen. 43 angelegte Reichspolitik niemals gerecht werden könne. Dieses Argument wird, wie unten noch belegt werden wird, auch in der Marburger Rede wiederholt. h) Die Denkschrift von 1934 Um die Jahreswende 1933/34 kommt es jedoch noch zu einem weiteren Perspektivwechsel in Jungs politischer Strategie. Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass er in seinem oben angesprochenen längeren Erholungsurlaub „sich bewußt geworden [ist], daß seine bisherigen Methoden, den Totalitarismus Hitlers zu verhindern, zu keinem Erfolg führen würden“ (Forschbach 1984:83). Jung entwickelt nun konkrete Widerstandspläne, die von einer – wie zunächst geplant, an der Berliner Universität zu haltenden – Rede des Vizekanzlers eingeleitet werden sollen, die mithin sozusagen als ‚Fanal’ für den rechtskonservativen Aufstand dienen soll. Im Vorfeld dieser Widerstandsaktion fertigt Jung deshalb zunächst eine (geheime) Denkschrift an, die er im April dieses Jahres Papen vorlegte. Leider ist diese Denkschrift nicht voll erhalten; aber auch aus den Fragmenten wird deutlich, wie stark hier die Hauptgedanken der schließlich – aus Gründen der Geheimhaltung – in Marburg gehaltenen Rede bereits vorgeprägt sind110: Im Zentrum von Jungs Denkschrift steht seine Kritik am „rein-faschistischen System“; dieses sei bei einem „gebildeten, lesenden, denkenden Volke“ nicht haltbar, zumal das öffentliche Leben inzwischen an einem Mangel an Pressefreiheit leide. Was Jung hiermit implizit fordert, ist indes keine vollständige Wiederherstellung der Pressefreiheit: Die Links- wie auch die linksliberale Presse sollen – so steht zu vermuten – auch künftig ausgeschaltet bleiben; aber die (rechts-)konservative Presse sollte prinzipiell unzensiert erscheinen können: Sonst fehle es an den nötigen „öffentlichen Kontrollen“, die ein Großstaat unbedingt braucht, „um keine Korruption aufkommen zu lassen.“ Diese Kritik der nationalsozialistischen Pressezensur, die insbesondere auf die ausufernde nationalsozialistische Ämterpatronage anspielt, ergänzt Jung durch eine womöglich noch brisantere Invektive, nämlich dass „politische Gesinnung ... keine politische Auslese“ verbürge. Damit spielt Jung erneut auf die aus seiner Sicht unerträgliche NS- Parteiherrschaft an, die dazu führe, dass – im oben bereits angesprochenen Sinne –

110 Es ist nicht zutreffend – wie Petzold 1995:210 angibt –, dass sich die Marburger Rede „grundlegend“ von dieser Denkschrift unterschied. Trotz einer – sich allein schon aus der unterschiedlichen Textsorte ergebenden – ganz anderen (rhetorischen) Konkretisierung, sind die Grundgedanken ähnlich. Forschbach (1984:117) ist mithin zuzustimmen, wenn er betont, dass Jung in der Marburger Rede „wesentliche Passagen der Denkschrift“ vorträgt. Als Beleg für die Richtigkeit dieser Aussage reichen bereits die bei Forschbach 1984:106-109 zitierten Auszüge aus, die ich hier thesenartig referiere. Forschbachs Ausführungen basieren auf der „Abschrift beim Institut für Zeitgeschichte, München, Fotokopienarchiv 98, 2375/59“. – Zu dieser Denkschrift vgl. auch die Dissertation von Jenschke 1971:175, der ebenfalls den Zusammenhang mit der schließlich in Marburg gehaltenen Rede herausstreicht: „... trug sich Jung schon zu dieser Zeit mit dem Plan, durch eine im Reich vor breitem Publikum gehaltene Rede Papens eine Widerstandsaktion gegen Hitler auszulösen.“ – Vor Jenschke hatte schon Graß (1966:213ff.) die Denkschrift genauer interpretiert und herausgestrichen: „Die Denkschrift stellte Jungs neue politische Konzeption vor und war zugleich eine Vorstufe zur Marburger Rede.“ (Ebd.:213; eine im Prinzip identische Äußerung findet sich auf S. 224.) 44

‚unberechtigte Emporkömmlinge’ (und damit ‚schlechtestes Blut’) sozial aufsteigen: mithin eine Pöbelherrschaft drohe. Mit Blick auf die Wirtschaft fordert Jung eine Umorientierung vom Weltmarkt auf den europäischen Markt. Dementsprechend sei eine europaweite „Großraum- und Föderationspolitik“ zu verfolgen. Der von den Nazis propagierte „geschlossene Handelsstaat“ sei jedenfalls „im 20. Jahrhundert eine Utopie“. Im Hinblick auf den Europagedanken fordert Jung, die Deutschen müssten lernen, eine „europäische Sprache“ zu sprechen; damit ist gemeint, dass eine „Identität von deutschem und europäischem Wollen“ herbeizuführen sei: „jede Intoleranz ist ... für die europäische Politik des deutschen Volkes gefährlich“; vielmehr sei eine „europäische Gerechtigkeit“ zu begründen; dazu sei „die Bejahung übervölkischer Kulturgüter“ vordringlich: „Es geht nicht an, gemeinsame geistige Werte europäischer Wertprägung zu verneinen, weil sonst die Gefahr einer deutschen Übermacht und Vorherrschaft als unerträglich erscheint.“ Dementsprechend gehen die „Notwendigkeiten des 20. Jahrhunderts in die Richtung des Übervölkischen“. Und auch der christliche Gedanke wird wieder herausgestrichen. Denn zweifelsohne beruhe die europäische Kultur auf der „naturrechtliche[n] Humanität des Christentums“, die nicht angetastet werden dürfe. Indes seien „vom Faschismus keine europäischen Lösungen zu erwarten“. Auf jeden Fall sei „die Pflege eines eigenständigen Geisteslebens, das sich ohne Rücksicht auf Parteidoktrinen und Ideologien frei entfaltet“ – nach Jung eine unerlässliche „Vorbedingung“ für eine „europäische Sprache“ – im Faschismus unmöglich. Das Fazit der Denkschrift lautet demnach: „Die nationalsozialistische Ideologie ist wegen ihrer rassischen und völkischen Ausschließlichkeit dieser [europäischen] Aufgabe nicht gewachsen und muss deshalb ergänzt werden durch die Ideologie des christlichen und revolutionären Konservativismus, der in ganz Europa aus geistesgeschichtlichen Gründen den entsprechenden Boden besitzt.“ Bereits in diesen kurzen Thesen wird erkennbar, dass Jung seine politische Argumentation zumindest im Hinblick auf die künftige Staatsform erkennbar modifiziert: Angesichts der sich etablierenden Hitler-Diktatur ist nicht mehr unspezifisch von der Errichtung einer cäsaristischen Diktatur die Rede; hingegen wird nun konkret die Wiedereinführung einer legitimen Monarchie gefordert. Hitler schloss diese an das italienische Vorbild angelehnte Lösung seinerzeit in der Öffentlichkeit bewusst nicht aus, obgleich er faktisch nicht die geringste Absicht hatte, eine Monarchie wiedereinzuführen. Wie sehr sich Jung auch in diesem Punkte getäuscht hat, wird unten am konkreten Beispiel der Marburger Rede noch zu belegen sein. i) Zusammenfassung Mit den obigen Darlegungen ist die nötige Einordnung der Marburger Rede sowohl in den ereignisgeschichtlichen als auch den strukturgeschichtlichen Kontext erfolgt. Zum besseren 45

Überblick soll aber noch die Zusammenfassung der Jungschen politischen Philosophie wiedergegeben werden, die Jahnke zum Abschluss seiner Dissertation denkbar kompakt leistet. Nach Jahnke (1998:230) beruhen die wichtigsten Facetten von Jungs Denken „vornehmlich auf dem Kriegserlebnis, und hier auf den Erfahrungen des Heroismus, des Opferwillens und des Persönlichkeitswertes“: „Träger des Kriegserlebnisses war der neue deutsche Mensch, der seinen Lebens- und Handlungstrieb aus jener transzendental begründeten universalistischen Weltanschauung bezog, deren Verbindung zur diesseitigen Welt der metaphysische Trieb war. Dieser metaphysische Trieb, von Jung auch als Drang ins Übersinnliche bezeichnet, bietet die Gewähr dafür, daß sich im neuen deutschen Menschen die jenseitig-übersinnliche und die diesseitig-rationale Welt wieder zu jener harmonischen Einheit verbinden, die, beginnend mit der Aufklärung, endgültig mit der Französischen Revolution aufgebrochen worden ist. Jung forderte die Wiederherstellung des organischen Ausgleichs zwischen Seele, Vernunft und Geist einerseits, und zwischen Intellekt und Verstand andererseits. Mit dem metaphysischen Trieb wird die Diktatur des Verstandes gebrochen, und Seele, Geist und Vernunft werden wieder als die wahren, die entscheidenden menschlichen Eigenschaften anerkannt. Daher sieht der Universalist im Individualismus mit all seinen Formen (Liberalismus, Demokratie, Sozialismus, Nationalismus...) seinen Hauptfeind. Dieser hat die wahren, d.h. konservativen Werte wie z.B. Freiheit, Autorität, Elite, Eros, Familie und Recht zerstört. Aus diesen Überlegungen leitete Jung nun u.a. die Folgerung ab, daß die Doppelung von Staat und Gesellschaft schnellstens wieder durchgesetzt werden muß, das Partei- und Parlamentswesen in seiner damaligen Form abgeschafft gehört, und daß das Individuum als gesellschaftlich-rechtliche Grundeinheit von der Gemeinschaft abzulösen ist. Jungs Weltanschauung ist gemeinschaftsorientiert, da sowohl die Gesellschaft, als auch der Staat, das Volk und die Familie den Vorrang vor dem Individuum haben. Die universalistische Gemeinschaft wird von der berufsständisch gegliederten Gesellschaft und dem Staat als Höchststand gebildet. Die umfassende politische Freiheit des Individuums gibt es in ihr nicht mehr, da die deutsche Freiheit innere Freiheit und die Freiheit der Körperschaften ist. Demokratie im Sinne von Mitbestimmung und Teilhabe herrscht in der universalistischen Gemeinschaft vor allem durch die Selbstverwaltung und den Föderalismus. Ausdruck deutscher Eigenart, sowohl staatlich, gesellschaftlich als auch weltanschaulich, ist das auch von Jung angestrebte ‚Dritte’ oder ‚Neue Reich’. Es bricht mit dem westlichen Nationalstaatsdenken, verachtet die Masse, verherrlicht das Volk, ist ständisch gegliedert, wird von einer dem Sein- und Leistungsprinzip verpflichteten neuen Elite (Adel) geführt, und verhilft der wahren Kunst und Kultur wieder zu ihrem Recht. Schule, Erziehung und Bekenntnis werden wieder eine Einheit bilden, und die Religion die Grundlage des Staates sein.“ (Ebd.)

46 j) Die unmittelbare Vorbereitung des Staatsstreichs Bevor konkret auf die Marburger Rede eingegangen werden kann, müssen allerdings noch einige Aspekte in Erinnerung gebracht bzw. vertieft werden, die mit Edgar Julius Jungs Funktion als „Ghostwriter“ von Papens zusammenhängen: Nachdem er die Politik Franz von Papens bereits seit geraumer Zeit publizistisch unterstützt hatte, wird Jung – wie erinnerlich – ab Herbst 1932 als Verfasser von Reden des damaligen Reichskanzlers herangezogen: „Papen sollte sein Sprachrohr sein.“111 Die Papensche Rede zum großen Jahresessen des Herrenklubs im Dezember 1932 hat Jung zwar – wie erwähnt – nicht verfasst; aber nach der Bildung des Kabinetts Hitler Ende Januar 1933 wurden Papens Reden offensichtlich ohne Ausnahme von Jung entworfen: In einem Brief vom 10. März 1933 an den Verleger Stalling in Oldenburg erhebt Jung jedenfalls den Anspruch, dass er „ihm [Papen] sämtliche Reden [entworfen]“ habe: „Sie stammen auch in der Stilisierung zu 90 % aus meiner Feder. Ich versuchte in diesen Reden einen staatsmännisch neuen konservativen Stil zu entwickeln, der sich von dem Chaos der üblichen Propaganda abheben sollte.“112 Auch Papens Marburger Rede vom 17. Juni 1934 ist von Jung verfasst, wie z. B. ein Bekannter Jungs (E. Forschbach) glaubwürdig versichert:113 „... kann ich mit völliger Sicherheit bezeugen, daß Edgar Jung und niemand anders der Verfasser der Marburger Rede ist.“114

111 So Edmund Forschbach, ein politischer Weggefährte Jungs, 1984:55. 112 Ebd.; diese Darstellung findet sich auch in der Dissertation von Jenschke 1971:166. 113 Forschbach verfolgte die Live-Übertragung der Marburger Rede im Rundfunk über den Frankfurter Sender: „Bis auf geringfügige Abweichungen war es wörtlich das gleiche, das ich vier Tage zuvor in dem Manuskript [Jungs] ... gelesen hatte.“ (1984:115) 114 Forschbach 1984:115. – In seinen Memoiren Der Wahrheit eine Gasse von 1952, S. 364, gesteht von Papen die Autorschaft Jungs indirekt sogar ein: „Meine Feinde und Hasser haben sich nicht genugtun können mit der Behauptung, ich sei viel zu unintelligent, um auch nur einen dieser Gedanken [die Jung in der Marburger Rede zum Ausdruck gebracht hatte] selbst produzieren zu können.“ Und mit Blick auf Jung fügt er hinzu: „Ist es nicht das Vorrecht eines Staatsmannes, sich mit den besten Köpfen zu umgeben, die er finden kann, und bleibt nicht die volle und letzte Verantwortung für das, was er sagt, dem Staatsmanne – und nicht dem Mann im Hintergrund? Man hat nie gehört, daß man nach dem Meisterschuß den Kugelgießer verherrlicht und des Schützen vergißt.“ Außerdem habe er Jungs Redemanuskript das hinzufügen müssen, „was mir vom speziell katholischen Gesichtspunkt aus als wesentlich erschien. Jung, obwohl überzeugter evangelischer Christ, war doch weniger durchdrungen als ich von der Notwendigkeit und ständigen Betonung einer Erneuerung des christlichen Lebens im Sinne des mittelalterlichen Universalismus der [katholischen] Kirche.“ (Ebd.) – Wie oben bereits angerissen wurde und unten noch spezifiziert werden wird, benötigte Jung diese Nachhilfe in keiner Weise. Auch wird unter Bezugnahme auf Papens Adjutant Tschirschky noch näher auszuführen sein, dass der Eindruck, den Papen in seinen Memoiren (S. 363f.) zu erwecken versucht, dass er an der wochenlangen Ausfeilung der Marburger Rede mitbeteiligt war, gewiss nicht zutrifft. Im Übrigen sei an die Aussage in der Dissertation Bachs (1977:119) erinnert, wonach „der Versuch Papens, seinen konkreten politischen Zielen ein theoretisches Fundament zu errichten, ... nicht darüber hinwegtäuschen [konnte], daß er selbst gar nicht in der Lage war, die von Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Othmar Spann und Leopold Ziegler übernommenen konservativen Theorien in ein eigenes, fundiertes Konzept einzubauen.“ Zudem wird Papen als sehr unstet geschildert: Bach (ebd.:171) spricht von „der sprunghaften Begeisterung, mit der Papen sich Lösungsvorschläge zu eigen machte, diese wieder fallen 47

Graß zufolge weist die Marburger Rede „in ihren Entstehungsspuren in den Dezember 1933, als Röhm zunehmend an die Öffentlichkeit trat und sich die Differenzen in der NSDAP zeigten. [...] In den folgenden Monaten wurde die Rede von Jung in mehreren Entwürfen ausgearbeitet, mit den Freunden in der Vizekanzlei besprochen“.115 Wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, artikuliert die Rede die jungkonservative Kritik am Nationalsozialismus. Oben sahen wir, dass die Rede auf dem Hintergrund von Jungs Absicht einzuordnen ist, einen gegen die NSDAP gerichteten konservativen Staatsstreich zu initiieren: Dieser sollte, wie aufgezeigt, im Rahmen eines vom Reichspräsidenten verhängten Ausnahmezustands durchgeführt werden. In dieser Phase der unmittelbaren Vorbereitung des Staatsstreichs musste Jung erfahren, dass der bisherige Chef der Geheimen Staatspolizei, den Jung gut kannte, politisch kaltgestellt wurde. Im April 1934 rücken stattdessen die SS-Führer Himmler und Heydrich in die Leitung der Gestapo auf; in diesem Zusammenhang wird Jung ferner zugetragen, dass Heydrich „geäußert hatte, diesen Jung müsste man kaltmachen“ (Forschbach 1984:109f.). Dennoch verhält sich Jung äußerst unvorsichtig: Am 13. Juni 1934 – so berichtet der Augenzeuge Forschbach (1984:114) – lässt sich Jung das soeben erst getippte Manuskript der Marburger Rede ausgerechnet in einem Lokal am Kurfürstendamm von seiner Schreibkraft überreichen, obwohl er doch wissen musste, dass dieses Lokal von der Gestapo bespitzelt wurde. Überdies gibt Jung das fertiggestellte Manuskript sogleich an Forschbach weiter, der einräumen muss, dass dies von Gestapo-Beamten beobachtet worden sein könnte, die „vielleicht ... auch Gesprächsfetzen aufgefangen“ haben; man habe aber über den Inhalt der Rede – so Forschbach (ebd.) – „nicht [etwa] diskutiert oder gar laut gesprochen, so daß man am Nachbartisch hätte wissen können, um was es sich handelt.“ Schon gar nicht habe Jung die Marburger Rede „so laut vorgelesen, daß die Tischnachbarn sie hätten hören können.“ Eben dies – so muss Forschbach (ebd.) eingestehen – wird jedoch in der Nachkriegspublikation eines ehemaligen höheren Gestapo-Beamten behauptet, dessen Spitzel das besagte Lokal an jenem Abend demnach tatsächlich observierten. Auf diesen Hintergrund ist Papens kritische Bemerkung zu Jung in seinen Memoiren (1952:364) einzuordnen: „Wenn er einen Fehler hatte, so war es der, es von allen Dächern zu rufen, daß er die Seele des Papenschen Widerstandes sei. Ohne den gewiß berechtigten Ehrgeiz, sein

ließ, wenn sich kein schneller Erfolg zeigte, um sich darauf mit der gleichen Begeisterung neuen Plänen zuzuwenden.“ Der konservative Politiker Gottfried Treviranus hielt Papen sogar für einen „Kurzschlußdenker“ (zitiert nach Bach, ebd.:120). 115 Graß 1966:226. – Papen wurde, wie gesagt, nur bedingt einbezogen. Dafür diskutierte Jung die Rede aber auch mit Außenstehenden, wie z. B. seinem Freund Rudolf Pechel und dem ihm ebenfalls eng vertrauten Journalisten Franz Mariaux (ebd.), den der langjährige französische Botschafter in Berlin bzw. Bonn allerdings für einen Verräter hielt, wie er Forschbach 1955 mitteilte (siehe Forschbach 1984:125). – Forschbach bliebt jedoch überzeugt: „Ein Verräter war Mariaux nicht, wenn ihm auch eine journalistische Wichtigtuerei zu eigen war. Ich habe ihn in den kritischen Stunden so eindeutig als Freund Edgar Jungs erlebt, daß ich jede Verstellungskunst ausschließen möchte.“ (Ebd.:126) – Zu Mariaux vgl. auch Graß 1966:296. 48

Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, wäre er sicher heute noch unter uns.“ – Auch wenn man in Betracht zieht, wie äußerst einseitig Papen in seinen Memoiren argumentiert,116 so muss man doch einräumen, dass Jung unter den obwaltenden Umständen äußerst leichtsinnig agierte.117 Jungs Plan eines konservativen Staatsstreichs118 wurde ohnehin durch die Einigung Hitlers mit der Reichswehr (auf Kosten der SA) vereitelt. Wie gesagt, wurde Jung am 25.

116 Es sei daran erinnert, dass dieser Papensche Rechtfertigungsversuch z. B. von Rudolf Pechel, einem rechtskonservativen Freund Edgar Julius Jungs, als „Gassenhauer der Wahrheit“ abqualifiziert wurde; und der Historiker Theodor Eschenburg – seines Zeichens ehemaliges Herrenklub-Mitglied – spricht nicht weniger kritisch von „Sackgasse der Wahrheit“ (zitiert nach Petzold 1995:8). 117 Nach Forschbach (1984:84) hatte sich Jung zeitweilig sogar mit Attentatsplänen getragen, von denen ihn der Philosophieprofessor Leopold Ziegler, Jungs Spiritus Rector, erst Pfingsten 1934 abbrachte (vgl. ebd.:110-112). Vgl. auch Leopold Ziegler (1955), Edgar Julius Jung – Denkmal und Vermächtnis, Salzburg: Braumüller, S. 60ff., der dies bestätigt. Auch hier wird Jungs Verhalten als sehr irritierend beschrieben. Litt er infolge seiner – angesichts der immer geringer werdenden Aussichten, Hitler noch aufhalten zu können – zunehmenden Depressionen bereits an einer Art Realitätsverlust? – Ziegler schildert das Gespräch an Pfingsten 1934, an dem auf ausdrücklichen Wunsch Jungs auch Zieglers Frau teilnahm (vgl. S. 57), wie folgt: „... ich hatte das Gefühl, aus traumferner Abwesenheit aufgeschreckt zu werden, als eine Stimme mir ans Ohr Schlug, die keinem von uns Dreien eigen schien. Laut und Mitlaut überaus deutlich artikulierend, fast skandierend, sprach ‚Es’ im Zimmer scharf, abgesetzt und hart: Man sollte ihn wegknallen! [...] Darauf eine Stille, die erst Jung selbst wieder unterbricht. Als sei nichts von Bedeutung weiter vorgefallen, fährt er in leichtem Plauderton fort: Es wäre nicht schwer ins Werk zu setzen. Oh ja, er habe sich alles genau überlegt. Er habe die derzeitigen Gewohnheiten Hitlers ... gut beobachtet. Derart vermochte der Freund [Jung] vor uns [dem Ehepaar Ziegler] einen Plan zu entwickeln, den er bis in die Einzelheiten ausgedacht hatte und von dessen Gelingen er überzeugt war. Unsicherheit und Zweifel beunruhigten ihn lediglich über das Ob, während das Wie ihn kaum besorgt machte. Was ich selber davon halte? Offenbar in der Absicht solcher Fragestellung war Jung an diesem Pfingstabend gekommen. [...] ... was mußte das in mir aufgerufene Gewissen antworten? Wahrscheinlich hätte ich jedem anderen ins Gesicht gelacht oder in etwa gegengeredet: Hunde, die bellen, beißen nicht. Wer ein Attentat vorhat, wünscht keine Mitwisser, noch darf er sie durch unerbetene Mitwisserschaft zu Mitschuldigen machen. Vermutlich so ... würde ich jedem anderen ausgewichen sein ... Aber Jung war ja nach seinen eigenen Worten der Mann, ‚vaterländische Überzeugungen unter Umständen mit der Waffe in der Hand zu vertreten’, und hatte wohl auch darnach gehandelt. [...] ... dem so verfänglich Fragenden ... antwortete ich mit der für mich entscheidenden Gegenfrage: Ob er Hitlers Nachfolger wo nicht in der Macht, so doch im Amte ... anzutreten trachte? Und da dies rundweg bejaht wurde: Dann dürfen Sie sich nicht mit Blut beflecken. Ein Reichskanzler muß makellos vor seinem Volke stehen. Heute mehr denn je, weil sonst der Teufel nur mit Beelzebub vertrieben würde. Entweder sind Sie Attentäter, und haben dann den Anspruch auf die Staatsführung verwirkt. Oder sie erheben diesen Anspruch, und dann dürfen Sie sich keine Blutschuld leisten. Die Personalunion zwischen politischem Mörder und Führer richtete Volk und Reich zu Grunde ... Damit war unser Pfingstgespräche zu Ende ...“. (Zu Jungs Attentatsplänen und seinem Treffen mit Ziegler siehe auch Jahnke 1998:216.) 118 Nach Graß (1966:235, der sich hier auf eine persönliche Mitteilung von Franz Mariaux stützt) wollte Jung in einem neuen Kabinett jedoch nur Innenminister werden; das Amt des Reichskanzlers sollte Papen vorbehalten bleiben. „Dieses Kabinett hätte die Rückendeckung Hindenburgs und die Sicherung durch die Reichswehr erhalten sollen; darin bestand die entscheidende Aufgabe im Augenblick der Krise. Die SA-Krise hätte den auslösenden Faktor für Krise und Entlassung der Regierung Hitler und für die Übernahme der Macht durch Konservative und Reichswehr bedeutet.“ – Doch in Papens Beraterkreis bestand keine Übereinstimmung über das weitere Verfahren: Denn „soweit wie Jung wollten die übrigen Berater Papens ... nicht gehen. Sie fürchteten eine Märtyrerrolle Hitlers und die Mobilisierung der Massen gegen eine konservative Regierung, die keine plebiszitäre Deckung besessen 49

Juni 1934 verhaftet und in der Nacht vom 30. Juni auf den 01. Juli 1934 ermordet.119 Ebenso wurden im Zuge der Röhm-Affäre die Mitarbeiter Papens Heinrich von Bose und (Näheres siehe unten) ermordet; insbesondere von Bose, mit dem Jung eng zusammenarbeitete, kooperierte mit Jung bei der Verbreitung der Marburger Rede, unter anderem bei der Verschickung von 1000 Vorabdrucken ins Ausland noch vor dem 17. Juni. Der Druck der vollständigen Rede erfolgte im Verlag der ‚Germania AG‘, Berlin, an der – wie ausgeführt – Papen beteiligt war. Bis auf einige wenige zur Rechnungslegung erforderliche Exemplare wurde die gesamte gedruckte Auflage auf Anordnung von Goebbels noch am Sonntag beschlagnahmt (Graß 1966:237). Hierauf wird weiter unten noch näher einzugehen sein. – In Deutschland wird die Rede erst nach dem Krieg wieder publiziert.120

3.2.2 Der Beraterkreis: Herbert von Bose Herbert von Bose (*1893 in Straßburg) entstammte einem alten katholischen sächsischen Adelsgeschlecht. Im Krieg war er Nachrichten-Offizier gewesen. Faktisch war er auch in der Vizekanzlei mit Geheimdienst-Angelegenheiten befasst.121 Offiziell fungierte er als politischer Referent Papens und Chef der Presseabteilung. In dieser Funktion war Bose an der Verbreitung der Marburger Rede beteiligt. Am 30. Juni 1934 wurde Bose in seinem Dienstzimmer in der Vizekanzlei von der SS ermordet.

hätte“ (ebd.; vgl. auch die inhaltlich analoge Aussage ebd.:264). – Bei Jungs Plan zeigt sich meines Erachtens erneut sein ans Krankhafte grenzender Realitätsverlust. 119 Graß zufolge wurde Jung übrigens „schon am 21. Juni“ vor einer drohenden Verhaftung gewarnt. „Er blieb [aber] zunächst allen Warnungen unzugänglich“ (1966:242). Überdies fehlten ihm zu einer Flucht ins Ausland die finanziellen Mittel: „... einen Betrag, den er erhielt, schickte er seiner Familie, wo er nie ankam. [...] Einen weiteren größeren Geldbetrag, den Pechel sofort beschaffte, wollte er am 25. Juni abwarten und dann [vermutlich nach Österreich] abreisen ... Pechel hatte sich für den Nachmittag des 25. Juni mit Jung verabredet. Er wollte ihm sichere Nachricht über die bevorstehende Verhaftung zukommen lassen. [Graß stützt sich hier auf eine persönliche Mitteilung Pechels.] Die Freunde verfehlten sich jedoch. Am späten Abend wurde Edgar Jung in seiner Haalenseer Wohnung verhaftet“ (ebd.). 120 Vgl. „Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund. Marburg am 17. Juni 1934“, in: DER PROZESS GEGEN DIE HAUPTKRIEGSVERBRECHER VOR DEM INTERNATIONALEN MILITÄRGERICHTSHOF. NÜRNBERG. 14. NOVEMBER 1945 – 1. OKTOBER 1946, Bd. XL, AMTLICHER TEXT, DEUTSCHE AUSGABE, URKUNDEN UND ANDERES BEWEISMATERIAL, NÜRNBERG 1949, S. 543-558. 121 In seinen Memoiren Der Wahrheit eine Gasse (1952:362) stellte von Papen die geheimen Unterlagen, die von Bose in den Tresoren der Vizekanzlei (wie gesagt, einem ehemaligen Bankgebäude) aufbewahrte und die hauptsächlich Informationen über die SS enthielten, als „Boses persönliche Akten“ dar. – Zum bürokratischen Aufbau der ‚Vizekanzlei’, in der Papen nur über ca. vierzig Angestellte, darunter „sechs bis acht Referenten“, verfügte, siehe Graß 1966:50f. 50

3.2.3 Der Beraterkreis: Fritz Günther von Tschirschky Zu den engen Mitarbeitern von Papens gehörte, wie bereits angedeutet, auch Fritz Günther von Tschirschky. Der aus altem Adelsgeschlecht stammende Offizier firmierte als der Adjutant Papens. Unentbehrlich ist sein Bericht über die Hintergründe der Veröffentlichung der Marburger Rede in seinen Erinnerungen eines Hochverräters:122 Papen hat demnach erst auf der Reise123 von Berlin nach Marburg das Rede- Manuskript durchgesehen. Erst als ihm bedeutet wurde, dass die Rede bereits in 1000 Exemplaren gedruckt und an wichtige Stellen im Ausland verschickt worden sei, habe er auf Korrekturen verzichtet. Tschirschky berichtet auch, Papen habe die Marburger Rede vor ihrer Drucklegung genehmigt. Dieser Widerspruch nährt nach Forschbach (1984:116) den Verdacht, dass die Genehmigung erfolgte, ohne dass Papen den Entwurf überhaupt gelesen hatte.124

122 Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1972:171f. 123 In seinen Memoiren Erinnerungen eines Hochverräters (1972:172) betont von Tschirschky ausdrücklich, dass er und Papen mit der Bahn nach Marburg gereist seien. Der Marburger Rechtshistoriker Stephan M. Buchholz spricht indes davon, dass von Papen mit dem Flugzeug angereist und in Gießen abgeholt worden sei (siehe hierzu: „Wie Papen in Marburg baden ging. Die Rede des Reichsvizekanzlers vom 17. Juni 1934 vor der Hauptversammlung des Universitätsbundes“, unter http://www.uni-marburg.de/aktuelles/unijournal/15/Papen, zuletzt eingesehen am 13. Januar 2010). Jedenfalls fanden auf dem Weg zum Veranstaltungsort wichtige Auseinandersetzungen zwischen Papen und Tschirschky statt, wie unten noch zu erläutern sein wird. Papen geht auf diese peinlichen Vorgänge in seinen Memoiren nicht ein. 124 Zum weiteren Beraterkreis von Papens gehörte ebenfalls der Zentrumspolitiker Erich Klausener, der hier jedoch nur am Rande Erwähnung finden soll, da er nicht zur Konservativen Revolution gerechnet werden kann und z. B. auch von Forschbach in seiner Schrift über Jung nur nebenbei erwähnt wird: Nicht nur für die Nazis handelte es sich bei ihm um einen verhassten Erfüllungs- und (linkskatholischen) Parteipolitiker, der von den ansonsten streng konservativen Beratern Papens nicht in die Vorbereitung der Marburger Rede einbezogen worden sein dürfte, zumal er erst seit seiner Verdrängung aus der preußischen Regierung zu Papens Beratern gehörte. – Erich Klausener (* 1885 in Düsseldorf; † 30. Juni 1934 in Berlin) wurde als Sohn streng katholischer Eltern geboren. 1903 nahm er das Studium der Rechtswissenschaften auf, das er 1911 mit der Promotion abschloss. Am I. Weltkrieg nahm Klausener als hochdekorierter Offizier teil. Gegen Kriegsende wird er zum Landrat des Landkreises Recklinghausen ernannt. Klausener war, gerade auch vor dem Hintergrund seiner christlichen Überzeugung, sozial engagiert, was ihm den Beinamen roter Landrat und die Gegnerschaft rechtsgerichteter Kreise eintrug. 1924 erfolgte die Berufung zum Ministerialdirektor und Abteilungsleiter für Jugend- und Erwerbslosenfürsorge im preußischen Wohlfahrtsministerium. 1926 wechselte Klausener in das preußische Innenministerium auf den Posten des Leiters der für die Polizei zuständigen Abteilung, der gemäß Parteienproporz vom Zentrum zu besetzen war. In dieser Funktion war er insbesondere auch mit dem Vorgehen gegen die Ausschreitungen von Nationalsozialisten befasst. 1933 wurde Klausener als Leiter der Schifffahrtsabteilung im Reichsverkehrsministerium politisch kalt gestellt. Auch nach der Machtübernahme der Nazis provozierte Klausener, der ein ausgesprochen talentierter Redner war, mit demonstrativen Treuebekundungen zur Kirche die NS- Machthaber. Am 24. Juni 1934, anlässlich des Katholikentages, hielt Klausener eine leidenschaftliche Rede, in der er sich gegen die Ausgrenzung von Menschen anderer Weltanschauung durch die Nationalsozialisten wandte. Diese Rede wird als unmittelbarer Anlass für seine sechs Tage später erfolgende Ermordung angesehen: Am 30. Juni 1934 wurde Klausener auf Befehl Görings bzw. Heydrichs in seinem Dienstzimmer, im zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen der Röhm- 51

4 Die Marburger Rede vom 17. Juni 1934

4.1 Vorbemerkungen zur konkreten „Verwendungssituation“ Der Vortrag der Rede erfolgte am Sonntagmittag im Landgrafenhaus, dem damaligen Hörsaalgebäude der Universität Marburg, im Hauptvorlesungssaal vor der 14. Jahreshauptversammlung des Marburger Universitätsbundes, einer Vereinigung der Freunde und Förderer der Universität. Auch Studenten waren zu der Veranstaltung zugelassen. Wie bereits angesprochen, hat von Papen die für ihn vorbereitete Rede erst auf der Fahrt nach Marburg (näher) zur Kenntnis genommen. Über den Inhalt einiger Passagen war er so entsetzt, dass er sogleich mit Korrekturen begann, da die Jungschen Formulierungen „ihn Kopf und Kragen kosten könnten.“125 Erst als sein Adjutant von Tschirschky ihm bedeutete, dass bereits Vorabdrucke der Rede an die in- und ausländische Presse verschickt worden seien, nahm er von Korrekturen Abstand.126 Die Rede wurde direkt durch den Frankfurter Sender übertragen; Edmund Forschbach beschreibt detailliert, wie er sie im Hotel Venusberg bei Bonn unter anderem zusammen mit Carl Duisberg, dem damaligen Generaldirektor der Farbenfabrik Bayer, verfolgt hat.127 Der Intendant des Frankfurter Senders wurde nach erfolgter Ausstrahlung der Rede unverzüglich abberufen. Auch eine für den darauffolgenden Montag über alle deutschen Sender geplante Wiederholung wurde unterbunden. Jungs Redemanuskript war erst am 13. Juni fertig gestellt und getippt worden. Eigentlich hatte, wie gesagt, die Rede an der Berliner Universität gehalten werden sollen. Aus Geheimhaltungsgründen entschied man sich jedoch für Marburg; aus den gleichen Gründen wurde das Marburger Rektorat trotz mehrfacher Rückfragen, worüber der Vizekanzler denn reden werde, über den Inhalt der Rede vorab nicht informiert. Dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wurde bewusst erst am Samstag, dem 16. Juni, also sozusagen im allerletzten Augenblick, in Gestalt einer Kurzfassung die

Affäre, von der SS erschossen. Offiziell wurde zunächst Selbstmord als Todesursache angegeben. Auf einer Pressekonferenz räumte Göring indirekt schließlich den Tatbestand des Mordes ein, indem er von einem ‚bedauerlichen Irrtum’ sprach. Insbesondere von katholischer Seite gab es empörte Stellungnahmen. 125 Tschirschky 1972:172. 126 Vgl. ebd. – Dass Papen über den genauen Redetext nicht informiert war, lag unter Umständen auch daran, dass seine Mitarbeiter ihn bewusst umgingen. Jedenfalls schreibt Tschirschky in seinen Memoiren (1972:214): „Unsere Erfahrung hatte uns gelehrt, daß es gefährlich war, ihn [Papen] in jedem Fall bis ins letzte zu informieren“. Im Übrigen sei Papen ja schließlich auch „nicht das Haupt der Widerstandsgruppe“ gewesen (ebd.). – Vielmehr war nach Graß (1966:201) „Edgar Jung ... der entscheidende politische und ideelle Planer in dieser Gruppe, der ‚führende Kopf’.“ Auch schließt sich Graß (1966:201f.) der Auffassung an, dass „Papen vom Ausmaß und der Konzeption der oppositionellen Verschwörung seiner Mitarbeiter wenig wußte“. 127 Vgl. Forschbach 1984:115. – Forschbach (ebd.:119) merkt ferner an: „Frenetischer Beifall aus der Versammlung folgte der Rede.“ 52

Rede angezeigt. Joachim Petzold, der in Moskauer Archiven auf einschlägige Urkunden zu diesem Vorgang gestoßen ist, schreibt hierzu: „Um dem Vorwurf zu entgehen, man habe gegen den [im so genannten „Schriftleitergesetz“ vom 04. Okt. 1933] vorgeschriebenen Dienstweg verstoßen, hatte man sich in der Vizekanzlei folgenden Plan ausgedacht: Während Papen nach Marburg fuhr, sollte der zusammenfassende Auszug seiner noch gar nicht gehaltenen Rede mit der Bemerkung ‚Sofort auf den Tisch’ dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda übergeben werden. Im zuständigen Referat des Propagandaministeriums, dem das Material am Abend des 16. Juni durch Sonderboten zugestellt wurde, erkannte man sofort die Tragweite des Unternehmens. Der Referatsleiter ... arbeitete das Manuskript durch und ließ es mit dem handschriftlichen Vermerk ‚Sofort’ auf dem [sic] Tisch von Goebbels legen. Dieser wiederum übersandte das ihm vorgelegte Exemplar direkt an Hitler ...“ (1995:210f.). Wie aus seinen zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen zu ersehen ist, erkannte der diensthabende Referatsleiter im Reichspropagandaministerium die Brisanz der Rede sofort. Goebbels reiste an diesem Wochenende zu einer Gauleitertagung nach Gera, an der auch der soeben erst aus Italien zurückgekehrte Hitler teilnahm. Für Forschbach (1984:121) „unterliegt [es] ... keinem Zweifel, daß Hitler sofort die Unterdrückung der Marburger Rede veranlaßt hat.“ Trotzdem konnte nicht mehr verhindert werden, dass die Rede gehalten wurde. Aber bereits Sonntagnachmittag, keine drei Stunden später, spielte Hitler in einer Rede in Gera auf die Marburger Ausführungen von Papens an, indem er – allerdings ohne Namensnennung – von einem „kleinen Wurm“ bzw. „kleinen Zwerg“ sprach, der „sich einbildet, durch ein paar Redensarten die gigantische Erneuerung des Volkes hemmen zu können.“128 Zu den zuvor in Umlauf gebrachten Vorabdrucken der Rede ist noch anzumerken, dass diese zwar nur teilweise abgefangen wurden, aber „die Presse durfte sie nicht einmal auszugsweise bringen. Nur der Frankfurter Zeitung gelang es, sie noch fast ungekürzt in einer Spätausgabe zu drucken.“129 Meiner linguistischen Analyse liegt die in der Druckerei der Berliner Germania verfertigte Druckschrift zugrunde. Sie besteht einschließlich Überschrift aus 5676 Wörtern und findet sich vollständig abgedruckt bei Forschbach 1984:153-174. Diesen Text habe ich abgeglichen mit dem amtlichen Text der Nürnberger Prozessakten.130

128 Zitiert nach Forschbach 1984:120f. 129 Forschbach 1984:121, der ferner anmerkt, dass an der Schleusung von zahlreichen Druckexemplaren ins Ausland maßgeblich auch Jungs enger politischer Freund Rudolf Pechel, der Schriftleiter der Deutschen Rundschau, beteiligt war. 130 Siehe: „Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund. Marburg am 17. Juni 1934.“ In: DER PROZESS GEGEN DIE HAUPTKRIEGSVERBRECHER VOR DEM INTERNATIONALEN MILITÄRGERICHTSHOF. NÜRNBERG. 14. NOVEMBER 1945 – 1. OKTOBER 1946. VERÖFFENTLICHT IN NÜRNBERG, DEUTSCHLAND, 1949, Bd. XL, AMTLICHER TEXT, DEUTSCHE AUSGABE. URKUNDEN UND ANDERES BEWEISMATERIAL, S. 543-558. Näheres 53

Die Rede weist praktisch keine formelle Gliederung auf; es gibt keine Zwischenüberschriften oder gar eine durchnummerierte Gliederung, sondern nur Absätze, die unregelmäßig lange Passagen markieren. Nur eine, zudem kurze Passage (von 42 Wörtern [dies entspricht gerade einmal 0,74 % der gesamten Textlänge]) geht eindeutig auf Papen zurück. Dieser Papensche Einschub ist auch leicht dadurch zu identifizieren, dass er in den inhaltlichen Zusammenhang nicht passt. Auffallend an der Rede ist eine Reihe von direkten und indirekten Zitaten, gerade auch von NS-Größen: insbesondere drei Hitler-Zitate, 104 W. [1,83 % der Gesamtwortzahl] umfassend: Hier zeigt sich, wie auch Jung sich diverser Führerreden resp. Hitlers „Mein Kampf“ als Zitatlieferanten zu bedienen weiß. Auf solche damals sehr verbreiteten Absicherungsstrategien wird unten noch näher einzugehen sein.

4.2 Konkretisierungen zum methodischen Vorgehen Wie einleitend bereits erläutert, will ich mich im Aufbau meiner sprachwissenschaftlichen Analyse grundsätzlich nach dem im Prinzip drei-, genau genommen fünfteiligen Schema von Utz Maas (1984:18) richten. Demgemäß beginne ich mit einer Wiedergabe des Inhalts, gehe dann zu einer Oberflächenanalyse über, die Anregungen des erwähnten DIMEAN- Schemas aufgreift, und versuche schließlich, die „Botschaft unter der Oberfläche“ zu eruieren. Nach einer (vorläufigen) Zusammenfassung der Analyse (Teil IV) wären ggf. noch verschiedene Lesweisen (Teil V) anzusprechen. – Zunächst also zur Angabe des Inhalts:

4.2.1 Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts resp. des Gegenstandes131 der Marburger Rede Die Hauptforderungen, die Jung Papen vortragen lässt, sind folgende: Nur die Orientierung auf Gott gibt der Forschung und der Wissenschaft ihren Sinn. Es wird eine verantwortungsbewusste Freiheit der Presse angemahnt. Indirekt wird zugegeben, dass das Ausland mit seiner Kritik am neuen Regime (teilweise) recht hat. Der berechtigte Kampf gegen den (linken) Intellektualismus darf sich nicht in grundsätzliche Geistfeindlichkeit wandeln. Das NS-Schlagwort gegen die ‚Reaktion’ sei vom Marxismus übernommen.

siehe unten, wo im Anhang der abgeglichene vollständige Text vorgehalten wird. – Eine, in mehrfacher Hinsicht fehlerhafte, Online-Version ist einsehbar auf der Homepage einer so genannten Monarchieliga unter http://www.monarchieliga.de/text/jung-edgar-julius/marburger-rede.htm (zuletzt eingesehen am 13. Januar 2010). 131 Wie eingangs erwähnt sieht Utz Maas, 1984:18, in seinem Analyseschema zunächst die „Angabe des (selbstdeklarierten) Inhaltes/Gegenstandes des [zu analysierenden] Textes“ vor. 54

Grundsätzlich bestehe die Gefahr der Herrschaft des Schlagwortes: „Wir dürfen uns ... nicht in den Bann des polemischen Schlagworts ... begeben.“ [Hiermit wird auf Ernst Röhms Rede vom 18. April 1934 angespielt: „Als unerschütterliches Bollwerk gegen Reaktion ... steht die SA, – denn in ihr verkörpert sich alles, was den Begriff der Revolution ausmacht!“132] Die politische Reform darf nicht zu totalitärer Lebensreform ausarten. Der heroische Einzelne ist das Ziel, Kollektivismus hingegen ist der Individualismus der Masse, die nicht mehr das Ganze, sondern nur noch sich selber will. Die Klassen- oder Standesrevolution zerstört jede natürliche und göttliche Ordnung, es droht die Revolution in Permanenz. [Hier ist daran zu erinnern, dass Hitler bereits in einer Rede vom 06. Juni 1933 das Ende der ‚nationalen Revolution’ verkündet hatte.] Eine anti-liberale Revolution kann nur dann zu Ende gedacht werden, wenn sie mit dem Grundsatz der Volkssouveränität bricht und wieder zu dem der natürlichen und göttlichen Herrschaft zurückkehrt. Die Vorherrschaft einer einzigen Partei ist lediglich ein Übergangszustand. Das völkische Bewusstsein muss im Gegensatz zum Staats- Nationalismus stehen. Die geschichtliche Logik verlangt, dass auf den liberalen, weltlichen Staat von 1789 der religiös fundierte Staat der deutschen Gegenrevolution folge. Die Herrschaft des (NS-)Schlagwortes ist das gleiche wie der angeblich bekämpfte übelste linke Intellektualismus. Der Slogan „Du bist nichts, dein Volk ist alles” wird vom Grundsatz her abgelehnt. Der Glaube, ein Volk mit Terror einen zu können, ist verwerflich. In diesem Sinne wird die von der parteiinternen Opposition (um Röhm) gewünschte Zweite Revolution (auch zweite Welle genannt) verworfen. Vielmehr gelte es, das Eigentum wieder „unter Verantwortung [zu] stellen“: „Es ist an der Zeit, in Bruderliebe und Achtung vor dem Volksgenossen zusammenzurücken ...“.

132 Hervorhebung R.K. – Vgl. zu dieser bedeutsamen Rede auch Graß 1966:127ff. 55

Denn kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es vor der Geschichte bestehen will.133 Zusammenfassend lässt sich mit Jahnke (1998:152) festhalten, dass sich bei der Marburger Rede „drei verschiedene Absichtenbündel“ ausmachen lassen: Erstens „aktuell politische, besonders die Revolution, ihre Ausrichtung, Dynamik und ihr Ende betreffend; dann grundsätzliche Forderungen über die Ausformung des Staates und der Gesellschaft (Volk) und ihr Verhältnis betreffend, hier konkret Abwehr des nationalsozialistischen Totalitarismus; und schließlich wieder konkrete Ansprüche, diesmal auf Teilhabe an der Macht und die Androhung möglicher Konsequenzen bei Nichtgewährung.“

4.2.2 Beschreibung der Inszenierung des Inhaltes der Marburger Rede, d.h. sprachliche ‚Oberflächenanalyse’ im Sinne traditioneller Stilanalyse134 Das eingangs erwähnte Diskursanalytische Mehrebenen-Schema DIMEAN (das als ‚bottom-up’-Schema zu lesen ist) sieht als Ausgangspunkt die Analyse der Schlüsselwörter vor. Auch für die vorliegende Untersuchung ist die Schlüsselwortanalyse grundlegend. Wie bei einer Rede angemessen, sei hier jedoch mit einer rhetorischen Einordnung begonnen. (An diese rhetorische Untersuchung schließt die Schlüsselwortanalyse dann unmittelbar an). a) Textsorte und vorherrschende Argumentationsart resp. -strategie Es handelt sich bei der zu analysierenden Quelle um einen informativ-persuasiven Text, konkret eine deliberative Rede, die (einschließlich Überschrift) aus 5.675 Wörtern besteht. Da es sich um eine politische Rede handelt, ist der zu analysierende Text (im Sinne Wittgensteins) dem „integrativen Sprachspiel“ zuzuordnen. Als Diskursebenen sind die Ebenen der Politik sowie der Religion anzusetzen; als mediale Ebene ist die des mündlichen (Rundfunk-)Vortrags sowie die der Printmedien zu benennen. Zudem handelt es sich um eine kontrastive Textform mit vorherrschend antithetischer argumentativer Struktur: Die dominanten Konjunktionen bzw. Adverbien sind dementsprechend ‚deshalb, denn, wenn ... so; andererseits, aber’. Der Verfasser der Rede erhebt ferner den Anspruch, dass es ihm um eine sachliche Auseinandersetzung gehe; insofern spricht Jung hier in seiner Eigenschaft als Jurist, der vorgeblich jede dogmatische Bewertung ablehnt.135 In für die ‚Konservative Revolution’

133 Zur genaueren Orientierung vergleiche den im Anhang wiedergegebenen Volltext der Rede. 134 Wie eingangs erläutert ist bei Utz Maas als zweiter Hauptpunkt seines Analyseschemas vorgesehen: Die „Beschreibung der Inszenierung des Inhalts, d.h. sprachliche „Oberflächenanalyse“ durchaus im Sinne traditioneller Stilanalyse ...“ (1984:18). 135 Die tiefere philosophisch-politische Herleitung dieses Anspruchs auf ‚Sachlichkeit’ erhellt mustergültig aus einer Stelle in dem grundlegenden Werk Othmar Spanns, Der wahre Staat, 1921:109: 56 typischer Weise grenzt sich Jung damit bewusst gegen das von (diffamierenden) Schlagwörtern geprägte politische ‚Tagesgeschwätz’ ab: Jungs eigene Argumentation, da sie vom ‚Geist’ her erfolge, ist mithin vom Anspruch her stets nüchtern, die der Gegenseite stets polemisierend. Derlei A b g r e n z u n g s t e n d e n z e n durchziehen auch die Marburger Rede. Spätestens seit dem Erscheinen seines Hauptwerks Die Herrschaft der Minderwertigen galt Jung trotz seines vergleichweise geringen Alters als führender Vertreter der Konservativen Revolution, dem somit unzweifelhaft das zugesprochen werden muss, was die angelsächsische Critical Discourse Analysis (CDA) ‚Voice’ nennt. Jung gehörte damit zweifelsfrei zu den damals einflussreichen ‚Ideology Brokers’. Da die Rede durch das hochrangige Regierungsmitglied, den Vizekanzler von Papen vorgetragen wurde, kam der Äußerung noch zusätzliches Gewicht zu. Die vorherrschende Argumentationsart, die die Rede charakterisiert, entspricht der conciliatio, worunter nach Lausberg „eine Argumentationsart“ zu verstehen ist, „in der ein Argument der Gegenpartei zum Nutzen der eigenen Partei ausgebeutet wird“.136 Es geht also um „die Ausnutzung eines gegnerischen Arguments für die eigene Sache“.137 Im politischen Parteienkampf hat die conciliatio wie die „Gedanken-Ironie“ bzw. sermocinatio „ihren technisch passenden Platz in der refutatio..., wo sie der Wiedergabe des gegnerischen Standpunkts dient“.138 (Als konkreter Hintergrund zu dieser rhetorischen Strategie ist hier im Blick zu behalten die am Rande bereits erwähnte „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ vom 21. März 1933 sowie die von Goebbels im Mai 1934 eingeleitete Propaganda-Kampagne „gegen Miesmacher und Kritikaster“.139) Die conciliatio kann nach Lausberg auch eine „entschärfende“ Funktion haben, die „in der parteiischen Verwischung der Bedeutungsunterschiede zwischen diversivoken ... oder multivoken ... Wörtern [besteht] derart, daß ein der eigenen Partei ungünstiges Wort des Gegners ... entschärft wird, und zwar durch eine der eigenen Partei günstige (>verdrehte<) Definition dieses Wortes ... oder durch verbessernden Ersatz ... des Wortes (correctio

„Universalistisch gesehen ist die Substanz der Gesellschaft nicht der Einzelne, sondern ein überindividuelles Geistiges“. Dementsprechend kann „der Grundsatz der Herrscherstellung und Leitungsform ... nur von der S a c h e hergenommen werden, nur von der Beschaffenheit jener Geistigkeit, die das Ganze bildet“. Wenn man also im Sinne dieser überindividuellen Geistigkeit argumentiert, so auch die Auffassung Jungs, dann argumentiert man zwangsläufig ‚sachlich’ – und alle politischen Gegner automatisch unsachlich und polemisch. 136 Heinrich Lausberg (1990a), Handbuch der literarischen Rhetorik, 3. Aufl., Stuttgart: Franz Steiner, § 783. 137 Ebd., § 853. 138 Ebd., § 902. 139 Eine kritische Bewertung dieser Kampagne findet sich bei Graß 1966:197. Zur Situation unmittelbar nach der Marburger Rede vgl. ebd.:250ff. 57

...).“140 Ausgesprochen typisch im Kontext der hier zu analysierenden Rede ist überdies die simulatio, die nach Lausberg zwar meistens in der „affektisch provozierenden ..., manchmal [aber] auch [in der] sich emphatisch harmlos gebenden (also die Wirkungs-Absicht dissimulierenden) positiven Vertretung der Meinung des Parteigegners“ besteht.141 Exakt auf diese sich bewusst harmlos gebende, mithin die Wirkungsabsicht dissimulierende positive Vertretung der Meinung des Parteigegners greift Jung in der Marburger Rede regelmäßig zurück. Die grundlegende Argumentationsstrategie, die Jung in der Marburger Rede anwendet, ist dreigliedrig: Allem voran steht die Versicherung absoluter Loyalität gegenüber dem Situationsmächtigen. So lässt Jung Papen versichern: „... meine innere Verpflichtung an Adolf Hitler und sein Werk ist so groß, und so sehr bin ich der in Angriff genommenen Erneuerung Deutschlands mit meinem Herzblut verbunden ...“ Aus dieser uneingeschränkten Loyalität heraus wird sodann das Recht zur Kritik abgeleitet: „Dieses Recht erwirbt sich allerdings nur, wer sich ohne Vorbehalte dem Nationalsozialismus und seinem Werke zur Verfügung gestellt ... hat.“ Es erfolgt sogar noch eine Verschärfung, indem dieses Recht auf Kritik sogar als moralische Verpflichtung bezeichnet wird: Denn „... vom menschlichen wie vom staatsmännischen Gesichtspunkt aus [wäre es] eine Todsünde ..., nicht das zu sagen, was in diesem entscheidenden Abschnitt der deutschen Revolution gesagt werden muß.“ Schließlich erfolgt die Absicherung der geäußerten Kritik durch Rückgriff auf programmatische Aussagen führender Persönlichkeiten der Gegenseite (im Sinne der oben aufgeführten conciliatio bzw. simulatio). Aus dieser grundsätzlichen Strategie leiten sich folgende Detailstrategeme her: Die Heranziehung von Aussagen der NS-Führung als Zitatlieferanten: In der Marburger Rede erfolgt die Wiedergabe des gegnerischen Standpunkts – wie bereits angerissen – durch Anführung direkter oder indirekter Zitate von (mündlichen und schriftlichen) Aussagen der Führungsriege der Gegenpartei (speziell Hitlers [4 x], aber auch Goebbels und Rosenbergs). Als Beispiel sei angeführt: „War die liberale Revolution von 1789 die Revolution des Nationalismus gegen die religio ..., so kann die Gegenrevolution, die sich nun im 20. Jahrhundert vollzieht, nur eine konservative in dem Sinne sein, als sie ... alles Leben wieder unter die natürlichen Gesetze der Schöpfung stellt. Dies ist wohl der Grund,

140 Heinrich Lausberg (1990b), Elemente der literarischen Rhetorik, 10. Aufl., München: Hueber, § 381. 141 Ebd., § 429. – Übrigens „ist die conciliatio [in diesem Zusammenhang] eine entschärfende Form der Ironie.“ (Ebd.). – Vgl. hierzu auch das nach ebd., § 66, Ausgeführte zum ductus subtilis. 58

weshalb auch der Kulturleiter der NSDAP, Alfred Rosenberg, in Königsberg von einer konservativen Revolution sprach.“ Mit solchen Strategien ist unausweichlich die Übernahme von Wortschatz, unter Umständen auch Stil der Gegenseite verbunden. Als für eine linguistische Analyse besonders wichtiges Resultat ist damit eine zwangsläufige Angleichung an die Sprache der Herrschenden zu konstatieren. Verdeckte Anspielungen: An folgendes Beispiel sei erinnert: Bereits am 06. Juli 1933 führte Hitler in einer Rede vor den Reichsstatthaltern aus: „Revolution darf kein Dauerzustand werden, als ob der ersten Revolution nun eine zweite, der zweiten eine dritte zu folgen hätte“. Papen bzw. Jung beziehen sich hierauf in der Marburger Rede wie folgt: „Wer verantwortungslos mit solchen Gedanken [an eine zweite Welle der Revolution] spielt, der soll sich nicht verhehlen, daß einer zweiten Welle leicht eine dritte folgen kann ... Mit ewiger Dynamik kann nicht gestaltet werden.“142 Der vorherrschende Duktus: Die Rede ist durch einen ductus mixtus gekennzeichnet, speziell durch den ductus subtilis, aber auch durch den ductus obliquus: − Nach Lausberg simuliert der Redner „im ductus subtilis ... vordergründig ... eine Meinung mit der hintergründigen Absicht (consilium), beim Publikum eine dieser Meinung entgegengesetzte Wirkung provokatorisch zu erzielen.“143 Gerade in diesem Punkte erwies sich die Marburger Rede im Sinne des rhetorischen aptum als äußerst erfolgreich: Denn, wie oben bereits belegt, erscholl am Schluss der Rede „frenetischer Beifall“. (Aber auch die anwesenden örtlichen NS-Parteigrößen durchschauten Jungs Strategie und gaben ihr Missfallen kund.) − Der ductus obliquus bietet sich nach Lausberg an, wenn den Redner „die Furcht (etwa vor einem Tyrannen) ... daran hindert, sich im ductus simplex auszudrücken.“144 Von daher muss Jung mit Anspielungen operieren. Als Belege für diese Strategie seien angeführt: Der Gebrauch unscharfer Adjektive/indefiniter Pronomen, etc., wie z. B.: „gewisse“, „mancher / von manchen / „wer ..., der“. Typischerweise erfolgt ferner keine namentliche Nennung der kritisierten Rufer

142 Graß (1966:233) zufolge „drohte Papen [damit] ganz offen mit einer konservativen Aktion für den Fall einer Revolution der SA.“ 143 Lausberg 1990b, § 66. – Graß (1966:234) fast diese Strategie wie folgt zusammen: „Auf der Folie positiver Wendungen überreichte Papen Hitler und seinen Gefolgsleuten eine offene Mißtrauenserklärung.“ 144 Lausberg 1990b, ebd. 59

„nach einer Zweiten Welle“ der Revolution: Hieraus erhellt das Tarnungskonzept, das Jung anwendet. Weitere Belege für eine solche verschlüsselte Kritik sind die Zitate aus der Novelle Die Versuchung des Pescara von C. F. Meyer, der im Kontext der Bauernkriege Luther folgende Aussage unterschiebt: „Ein weltbewegender Mensch hat zwei Ämter: er vollzieht, was die Zeit erfordert, dann aber – und das ist ein schweres Amt – steht er wie ein Gigant gegen den aufspritzenden Gischt des Jahrhunderts und schleudert hinter sich die aufgeregten Massen und bösen Buben, die mittun wollen, das gerechte Werk übertreibend und schändend.“ Mit den „aufgeregten Massen und bösen Buben“ sowie der an anderer Stelle konstatierten „Charakterlosigkeit ... unter dem Deckmantel der deutschen Revolution“ wird in der konkreten Verwendungssituation (siehe oben) natürlich auf die SA, speziell deren Stabschef Ernst Röhm, angespielt. Diese zwar versteckte, aber gezielte Einzelkritik fungiert auch als Fähre im Sinne von Utz Maas,145 und zwar in der Form, dass der Zuhörer, der diese Einzelkritik teilt, zumindest tendenziell bereit ist, die gesamte Kritik des Redners am Nationalsozialismus zu akzeptieren. b) Lexik Nach der Klärung dieser primär rhetorischen Rahmenbedingungen soll sogleich zur lexikalischen Analyse übergegangen werden, die gerade nach dem DIMEAN-Schema grundsätzlich am Anfang jeder Diskursanalyse stehen sollte. Auch Cornelia Schmitz- Berning (2000:V) argumentiert, dass „es letzten Endes doch der Wortschatz [ist], der zum Ausdruck von Ideologie dient, und nicht die Summe der rhetorischen, stilistischen Eigentümlichkeiten ..., die ... ebensogut in anderen ... Formen werbenden Sprechens aufweisbar sind. Allerdings erschließt sich der Wortschatz [so räumt Schmitz-Berning ein] ... nur aus dem Kontext von Texten und Verwendungssituationen, aus Kontrastwörtern und terminologischen Systemen.“ Analog zu Utz Maas verweist Schmitz-Berning damit auf die Bedeutung des (historischen) Kontexts, den es einleitend – einschließlich des Denksystems ihres Verfassers E. J. Jung sowie der konkreten Verwendungssituation der Marburger Rede – zu skizzieren galt. Im Anschluss an die Schilderung der Verwendungssituation bot es sich aus meiner Sicht – dies sei nochmals betont – an, zunächst die rhetorischen Rahmenbedingungen zu beleuchten, bevor zur zweifellos grundlegenden Analyse der Schlüsselwörter übergegangen wird. Wie eingangs begründet, soll diese Analyse im Sinne Fritz Hermanns (1994:19) die Stigma- und Fahnenwörter herausarbeiten und gegeneinanderstellen. Denn diese Verfahrensweise wird dem dichotomischen Weltbild Jungs wie auch der antithetischen Struktur der Marburger Rede besonders gerecht. Unter Zuhilfenahme des Konkordanzprogramms SCP146 ergibt sich folgendes Bild:

145 Vgl. hierzu Maas 1984, insbesondere S. 229. – Auf der nachfolgenden Seite erläutert Maas auch den „Zusammenhang [mit] dem, was in der traditionellen Rhetorik als Metonymie bezeichnet wurde. 146 Simple Concordance Program 4.0.9 (build 10) in der neuesten Version für PPC MacOS 10.3 or better. 60

1. Die häufigsten Fahnenwörter sind: Volk (einschließlich Volkstum, Volksgemeinschaft, Volksganze, Volksgesamtheit, Volksordnung, Volksgenossen, Volksverbundenheit, Volksnähe, Volksaufklärung, Volksstimmung, Volksfreiheit, Volksteile, (über)völkisch, etc.): 66 Zitationen; Staat (einschließlich Staatsmann / staatsmännisch, (groß)staatlich, staatsschöpferisch, Staatsauffassung, Staatsspitze, Staatsführung, Staatsgewalt, Staatliche/(groß)staatlich, Staatsbürger, etc.): 54 Zitationen; hiermit semantisch eng zusammenhängend: a) Nation (einschließlich nationalstaatlich, national, Nationalismus, Nationaldemokratie, Patrioten, Vaterlandsliebe): 14 Zitationen; b) Herrschaft (einschließlich Herrschaftsstaat, Herrschaftsprinzip, Herrschaftsmitte): 11 Zitationen; c) Regierung: 7 Zitationen; d) Ordnung: 5 Zitationen; e) Einheit (einschließlich Vereinheitlichung, Einigung, einheitlich): 6 Zitationen; Stand: 6 Zitationen; f) Auslese (einschließlich Ausleseprinzip): 5 Zitationen; aristokratisch (einschließlich Rangordnung): 4 Zitationen; g) konservativ (einschließlich Konservativismus und konservativ-revolutionär): 6 Zitationen; Gerecht(igkeit): 5 Zitationen; Revolution (im Sinne von deutscher, konservativer, anti-marxistischer, wirklicher, wahrer (Gegen-)Revolution): 31 Zitationen; Zeitenwende (einschließlich Kurswechsel, Neuordnung): 8 Zitationen; Geschichte (z. B. ‚gemeinsame’ Geschichte, einschließlich Geschichtsauffassung, Geschichtsdeutung, geschichtlich): 25 Zitationen. Natur (einschließlich natürlich, etc.): 10 Zitationen; organisch (einschließlich Organ, Wurzel(n), gewachsen, fruchtbar): 12 Zitationen; Leben (einschließlich Lebensäußerungen, Lebensumstände, Lebensreformator, Lebensraum, Lebenssphäre, Lebensnerv, lebenskräftig, lebendig, Energie, Vitalität, Kampf): 28 Zitationen; biologisch: 2 Zitationen; Blut(squellen) und Boden: 6 Zitationen; Tat (einschließlich Tatwille, Tatkraft, Kraft, Selbstbehauptungswille): 8 Zitationen; Opfer (einschließlich Opferwille): 3 Zitationen; Wesen (einschließlich arteigen): 4 Zitationen. Geist(e) (einschließlich geistig, etc.): 29 Zitationen; Religion (einschließlich religio, religiös, (religiöse) Überzeugung, (Jenseits-)Glaube, Glaubensgrundlage, Glaubenskämpfe, glauben, gläubig, Heiligung): 26 Zitationen; Gott (einschließlich (Gottes-)Bekenntnis, gottverbunden, göttlich): 15 Zitationen; Christus (einschließlich christlich, Christentum): 9 Zitationen; Seele: 5 Zitationen; Sinn(e) (u. a. in der quasi-religiösen Bedeutung von ‚letzter’ Sinn): 5 Zitationen; Kultur (einschließlich Kulturleistung, Kulturerbe): 5 Zitationen; Wahrheit (einschließlich Wahrhaftigkeit, wahrhaft, wahr): 18 Zitationen; Wert(gefühl) (einschließlich Ideal): 12 Zitationen; Verantwortung (einschließlich verantwortungsbewußt): 4 Zitationen; 61

Zucht(voll) (einschließlich Disziplin, Sitte, Gesittung, charaktervoll): 8 Zitatonen. 2. Die häufigsten Stigmawörter sind: liberal (einschließlich Liberalismus, liberalisiert, liberalistisch): 12 Belege; ebenso häufig ist belegt: sozial (einschließlich Sozialisierung): 12 Belege, von denen allerdings sechs positiv konnotiert sind im Sinne von ‚natürlicher sozialer Ordnung’; Masse (einschließlich Massenpartei): 8 Belege; Partei (einschließlich Parteienzerklüftung, Parteibuch, parteimäßig, parteilich): 8 Belege; Totalitätsanspruch (einschließlich Staats-totalismus, total, etc.): 6 Belege; Revolution (im Sinne von französischer Revolution, einschließlich in diesem negativen Sinne revolutionär): 6 Belege; Marx(ismus) (einschließlich marxistisch, Bolschewismus, Materialismus, materialistisch, Planwirtschaftsweise, Halbreligion, Entgöttlichung, Entheiligung, ungläubig, Säkularisation): 15 Belege; Klasse (einschließlich Klassenherrschaft und Klassenkampf): 5 Belege; Kollektivismus (einschließlich Kollektivierung, kollektiv): 5 Belege; Propaganda(welle): 5 Belege; Demokratie (einschließlich Demokratisierung): 4 Belege (abzüglich des hier positiv besetzten Einzelbegriffs ‚direkte Demokratie’); Volkssouveränität: 2 Belege; Intellektualismus (einschließlich Intellektueller, Individualismus): 6 Belege; Mechanik (einschließlich Mechanisierung, mechanisiert, Technisierung, Industrialisierung): 6 Belege; Entartung (einschließlich entartet): 3 Belege; Verantwortungslosigkeit bzw. verantwortungslos (einschließlich Charakterlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Unritterlichkeit): 5 Belege. Es liegt auf der Hand, dass allein schon durch diese Stigmawörter ein ausgesprochenes Bedrohungsszenarium aufgebaut wird. (Wie unten noch zu zeigen sein wird, verstärkt die Metaphorik diesen Eindruck der Bedrohung noch beträchtlich.) Bereits aus dieser begrenzten Auswahl von Schlüsselwörtern lässt sich erschließen, dass Jung in der Marburger Rede die gleichen ideologischen Gegenüberstellungen vornimmt, die seiner weiter oben dargelegten dichotomischen Weltsicht entsprechen, die übrigens eine frappierende Analogie zu Carl Schmitts bekannter ‚Freund-Feind-Theorie’ aufweist.147 Von daher verwundert es nicht, dass Jung auch vor der Verleumdung der Gegenseite nicht zurückschreckt: Die Front verläuft entlang der Unterscheidungslinie zwischen ‚gläubig‘ und ‚ungläubig‘. Hauptgegner sind der profane ‚Liberalismus‘ und damit die Weimarer Republik, die als ‚Parteienstaat‘ diffamiert wird; aber natürlich auch der atheistische

147 Zu dieser Theorie siehe Carl Schmitt (2009 [1932]), Der Begriff des Politischen, S. 25ff. – Jung drückte übrigens noch 1933 seine Übereinstimmung mit Schmitts Theorie aus: „Die Freund-Feindtheorie Carl Schmitts wird ihr Recht behalten, weil geistiges Leben ohne Kampf undenkbar ist.“ (Jung 1933b:63) – Vgl. auch Jenschke 1971:101. 62

‚Marxismus’ bzw. ‚Bolschewismus‘ (überhaupt jeglicher ‚Kollektivismus‘). Schließlich gehören aber auch zu den Hauptgegnern die ‚linken‘ Nationalsozialisten (wie Röhm), die eine Zweite Revolution mit Vermögensumverteilung fordern. Als Belege seien folgende Beispiele aufgeführt: − Von der Weimarer Republik wird nur verächtlich als von dem „Weimarer Regime“ gesprochen, das die „Erziehung ... [des] Volkes zum Dienst am Staat“ vernachlässigt habe. − „Der Bolschewismus ist ... nicht die wirkliche Revolution des 20. Jahrhunderts, sondern ein Sklavenaufstand, der die endgültige Mechanisierung des Lebens herbeiführen möchte.“ − Offensichtlich mit Blick auf die Kreise um Röhm gesprochen: Es gelte, „den Dualismus zwischen Partei und Staat einer befriedigenden Lösung zuzuführen“. − Jung lässt Papen resümieren: „Ich habe deshalb die Probleme der deutschen Revolution und meine Stellung dazu so scharf umrissen, weil das Gerede von der zweiten Welle, welche die Revolutionen vollenden werde, kein Ende nehmen will. Wer verantwortungslos mit solchen Gedanken spielt, der soll sich nicht verhehlen, daß einer zweiten Welle leicht eine dritte folgen kann, daß, wer mit der Guillotine droht, am ehesten unter das Fallbeil gerät. Auch ist nicht ersichtlich, wohin diese zweite Welle führen soll. Es wird viel von der kommenden Sozialisierung gesprochen. Haben wir eine antimarxistische Revolution erlebt, um das Programm des Marxismus durchzuführen? Denn Marxismus ist jeder Versuch, die soziale Frage durch Kollektivierung des Eigentums zu lösen.“ − „Wenn deshalb eine zweite Welle neuen Lebens durch die deutsche Revolution gehen sollte, so nicht als soziale Revolution, sondern als schöpferische Vollendung des begonnenen Werkes.“ Als Zwischenresümee sei mit von Polenz zunächst daran erinnert, dass eine Anhäufung stereotyper Wert- und Unwertvokabeln wie die obige „zum ... Erbe der nationalromantischen Germanistik“ gehört (Polenz 1999:552). Jungs Redeweise ließe sich somit – erneut mit von Polenz (1978:171) – als „Jargon der Geisteswissenschaften“ identifizieren: Dieser Jargon diente nicht zuletzt zur Befriedigung der „Tiefsinnsbedürfnisse der schöngeistig Gebildeten“ (ebd.), zu denen die akademisch gebildeten Zuhörer der Marburger Rede zweifellos zu rechnen sind. Zur Befriedigung solcher Bedürfnisse trugen auch Euphemismen, respektive Archaismen bei – hier z. B. Begriffe wie ‚Juwel’, ‚Opferwille‘, ‚Schicksalsbuch’. Gerade Archaismen wurden immer schon gerne „als historischer bürgerlicher Bildungskitzel“ (ebd.) eingesetzt. – Wer so auf Archaismen, Euphemismen und – wie unten noch näher belegt werden wird – deontische Begriffe rekurrierte, empfahl sich „als treuer Schüler der ‚humanistischen‘ deutschen Gymnasial-

63 und Universitätsbildung“ (ebd.), auf die sich Jung – man denke an seine abschätzigen Äußerungen über den Autodidakten Hitler – viel zugutehielt. c) Exkurs Im Folgenden will ich einige weitere Wortschatzvergleiche vornehmen, um Ähnlichkeiten des Jungschen Sprachgebrauchs mit dem NS-Jargon bzw. gegebenenfalls auch Unterschiede aufzuweisen. Ziel dieses Exkurses ist es, die implizite Annahme der älteren Sprachkritik zu problematisieren, dass es eine typische, isolierbare NS-Sprache gegeben habe. 1. Vergleich mit der bei W. Minnerup148 aufgeführten Liste von Schlüsselwörtern nach Victor Klemperer (LTI):149 Wie oben aufgezeigt, ist das LTI-Stammwort ‚Staat‘ (bzw. das Lemma ‚staatlich‘) auch in der Marburger Rede stark vertreten; in der ‚frequency order‘ wird es nur durch folgende Wörter übertroffen: ‚Revolution’, das auch in Klemperers Liste vertreten ist, und den Eintrag ‚Volk‘ (plus Komposita wie das ‚Volksganze’), der in der Marburger Rede am häufigsten vorkommt. Weitere Schlüsselwörter nach Klemperer kommen in der Marburger Rede seltener vor: So das Wort ‚System‘ nur einmal; ‚Organisation‘ dreimal, ebenso ‚Art‘, das zudem nicht im rassistischen Sinne gebraucht wird. (Dafür allerdings je zweimal der verwandte Begriff ‚Entartung‘ sowie das Stichwort ‚biologisch’.) Das ebenfalls für den Kommunismus resp. Bolschewismus typische NS-Wort ‚total‘ erscheint in der Marburger Rede nur dreimal und wird zudem nicht affirmativ verwendet (ebenso wie der Begriff ‚Totalitätsanspruch‘). ‚Ewig’ wird sechsmal herangezogen (davon zweimal im negativen Sinne wie ‚ewiger Aufstand‘). – Andere Schlüsselwörter wie ‚Erhebung‘ oder ‚Gefolgschaft‘ sowie ‚Gleichschaltung‘ bzw. ‚gleichschalten‘ kommen gar nicht vor. 2. Vergleich mit der bei W. Minnerup150 aufgeführten Liste von Schlüsselwörtern nach dem Wörterbuch des Unmenschen:151 . ‚Mensch(en)‘ (13 Belege); ‚echt‘ (5 Zitationen); ‚Propaganda‘ (4 Belege, davon nur zweimal im negativen Sinne sowie einmal als Amtsbezeichnung); ‚Leistung‘ (2 Zitationen); ‚Problem‘ (2 Belege); ‚wissen‘ (2 Zitationen); ‚Gestaltung‘ (1 Beleg); ‚Intellektuelle‘ (1 Zitation); ‚Raum‘ (1 Beleg).

148 Willi Minnerup (1995), Pressesprache und Machtergreifung am Beispiel der Berliner Germania, in: Konrad Ehlich (Hg.), Sprache im Faschismus, 3. Aufl., Frankfurt: Suhrkamp, S. 206ff.. 149 Siehe Victor Klemperer (1975), LTI, Notizbuch eines Philologen, Leipzig: Reclam [Nachdruck der 3. Aufl., Halle: Max Niemeyer, 1957]. 150 Minnerup 1995:208ff. 151 Siehe Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind (1968), Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 3., erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites über die Sprachkritik, Hamburg: Claassen [1957]. 64

. Andere Schlüsselbegriffe wie ‚Ressentiment‘ / ‚organisieren‘ / ‚Vertreter‘ / ‚Auftrag‘ / ‚durchführen‘ / ‚Einsatz‘ / ‚Charakter‘ / ‚Lager‘ kommen in der Marburger Rede nicht vor; ebenso das Stichwort ‚Härte‘ nicht (dafür jedoch einmal der Komparativ ‚härter‘). 3. Vergleich mit der bei W. Minnerup152 aufgeführten Liste von Schlüsselwörtern nach W. W. Sauer:153 . ‚deutsche‘ (auch in Großschreibung) (50 Belege); ‚Welt‘ (4 Zitationen); ‚Stand‘ (4 Belege); ‚Boden‘ (3 Belege, davon einmal ‚Blut und Boden‘); ‚national‘ (2 Zitationen); ‚schaffen‘ (2 Belege (als Verb)); ‚entstehen‘ (1 Beleg); ‚Arbeit‘ (1 Zitation); ‚international‘ (1 Beleg). Es kommen in der Marburger Rede nicht vor: ‚erzeugen‘ / ‚ehrlich(e/n)‘ / ‚Bauer‘ / ‚groß‘ / ‚Finanz‘ / ‚Kapital‘ / ‚Bank‘ / ‚Börse(n)‘ / ‚Tribut‘ / ‚ausländisch‘ / ‚fremd‘ / ‚privat‘. 4. Fazit Trotz des beschränkten Korpus sind im Bereich der Lexik Überlappungen zwischen der Jungschen Terminologie und dem NS-Wortgebrauch unübersehbar. Hier erweist sich mithin die Berechtigung der These von U. Maas (1984:19), wonach „auch oppositionelles Verhalten als ‚Reaktionsbildung‘ gegenüber den faschistischen Zumutungen der gesellschaftlichen Verhältnisse“ einzustufen ist. Diese ‚Reaktionsbildung’ ist aber nicht unbedingt ein Beweis für ideologische Übereinstimmung bzw. Verwandtschaft, sondern kann auch, wie wir oben sahen, Taktik sein: Z. B. bewusste Anbiederung oder auch indirekte Beweisführung.154 Es gibt aber auch signifikante Unterschiede: Im Zusammenhang mit Jungs Wortschatz ist nur partiell von einer mit den obigen NS-Schlüsselwortlisten übereinstimmenden Terminologie zu sprechen, zumal Jung typische NS-Schlagworte teilweise in einem abweichenden, unter Umständen sogar entgegen gesetzten Sinn benutzt. Auch ergeben sich die Überlappungen aus der vorherrschenden Argumentationsart der Marburger Rede, nämlich die Gegenpartei durch Hinweise auf deren eigene Publikationen (beispielsweise Mein Kampf oder Führerreden) zu überzeugen. Hier sei, weil dieser Aspekt bereits ausgeführt wurde, nur auf ein weiteres Beispiel verwiesen, nämlich eine Bezugnahme auf Hitlers Mein Kampf:

152 Minnerup 1995:210ff. 153 Wolfgang Werner Sauer (1978), Der Sprachgebrauch von Nationalsozialisten vor 1933, Hamburger philologische Studien, Bd. 47, Hamburg: Buske. 154 Erinnert sei in diesem Kontext an das oben mit Bezug auf Lausberg Ausgeführte; zudem wäre – wiederum mit Lausberg – die „taktische Ironie des politischen ... Parteienkampfes“ (Handbuch, § 902) resp. die ‚Wort-Ironie’ als „Waffe der Parteilichkeit“ anzuführen, d.h. konkret: „der Redner ist sich der Überzeugungskraft seiner eigenen Partei sowie der Sympathie des Publikums so sicher, daß er ... die lexikalische Wertskala des Gegners verwendet und deren Unwahrheit durch den (sprachlichen und situationsmäßigen) Kontext evident werden läßt“ (ebd., § 582).

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„Auch hier gilt ein Wort des Führers aus dem Werk Mein Kampf, wo er schreibt: ‚Ich stehe nicht an zu erklären, daß ich in den Männern, die heute die völkische Bewegung in die Krise religiöser Streitigkeiten hineinziehen, schlimmere Feinde meines Volkes sehe, als in dem nächstbesten international eingestellten Kommunisten.‘“ Solche Bezugnahmen auf Hitlers Hauptwerk garantierten stets eine optimale Absicherung. Diese Bezugnahmen konnten aber auch in indirekter Rede bzw. überhaupt in freier Form erfolgen, wie dies in der Marburger Rede ebenfalls an einer Stelle geschieht. Nicht zuletzt deshalb ist somit festzuhalten, dass auch die nähere Untersuchung der älteren Sprachkritik zu dem Ergebnis führt, dass eine typische NS-Sprache praktisch nicht zu isolieren ist, insonderheit die Grenzen zwischen (rechts-)konservativem und nationalsozialistischem Diskurs unvermeidbar oszillieren. Dieser Befund gilt gerade auch für die nachfolgend näher zu analysierenden weiteren stilistischen Eigentümlichkeiten. d) Der Stilzug der Ästhetisierung Unter dem Begriff ‚Ästhetisierung’ werden stilistische Handlungen zusammengefasst, bei denen die ästhetische Funktion dominiert. Dieser Stilzug ist von daher eher philosophisch- literarischen, weniger aber gebrauchssprachlichen Texten angemessen. Kennzeichnend für die allermeisten Vertreter der Konservativen Revolution war jedoch das Bemühen, auch Gebrauchstexte ästhetisch anspruchsvoll zu gestalten155 und sich damit wieder einmal vom politischen ‚Tagesgeschwätz’ resp. reiner Propaganda abzugrenzen. In der hier zu analysierenden Marburger Rede sind folgende Stileme dominant: Die Verwendung von Hypotaxen mit Nebensätzen aller Art (d. h., die Vielfalt der logischen Beziehungen wird voll ausgeschöpft); dagegen kommen nur sechs Kurzsätze vor.156 Die Type-Token-Ratio (TTR) beläuft sich auf 0,34; der Yulesche K-Wert beträgt 71,49.157 Für einen Gebrauchstext sind dies ansehnlich hohe Werte, die einen variantenreichen Stil

155 Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicherlich Carl Schmitt, der seine juristischen Texte möglichst durch einen besonders prägnanten Einführungssatz einleitete; in einigen Fällen wurden diese Einleitungssätze bald bekannter als der eigentliche Texttitel. 156 Konkret umfasst die Satzlänge im vorliegenden Analysebeispiel 5 - 81 Wörter (im Einzelnen: 42 meist wohl gefüllte Einzelsätze; 75 zweigliedrige, 74 dreigliedrige, 46 vier- und mehrgliedrige Sätze; insgesamt mithin 237 Sätze): Der Durchschnitt liegt bei 24,5 Wörter pro Satz, 11,6 pro Satzglied. 157 G. Udny Yule hatte bereits 1943 in seiner Studie A Statistical Study of Vocabulary (Cambridge) einen so genannten K-Wert (‚Characteristic’ K) ermittelt, der – im Gegensatz zur TTR – den Vorteil aufweisen sollte, unabhängig von der Länge des zu untersuchenden Textes zu sein. Diese These wurde 1950 von dem Linguisten A. S. C. Ross in der Publikation: Philological Probability Problems, J. Roy. Statist. Soe., BJ, 12, Nr. 1, 39, angezweifelt. Mitte der fünfziger Jahre wies jedoch Gustav Herdan von der Universität Bristol nach, dass dieser Zweifel weitestgehend unbegründet ist, da sich der Wert N für die Textlänge aus der Yuleschen Berechnung herauskürzen lässt: Auf diese Weise ergebe sich, dass der K-Wert „sensibly constant for samples of any size” bleibe. (G. Herdan, „A New Derivation and Interpretation of Yule's ‘Characteristic’ K”, Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Physik, 6 (1955), H. 4, S. 332-339.) Siehe hierzu auch: http://www.springerlink.com/content/p4034w742n145316/fulltext.pdf?page=1 66 indizieren. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Jung den Anspruch hatte, einen neuen staatsmännischen Stil zu entwickeln. Dementsprechend sticht die Orientierung an der gehobenen bürgerlichen Schriftsprache hervor. Vorbild für diese Ausdrucksweise waren nach von Polenz (siehe oben) die wortreichen Gefüge der am humanistischen Gymnasium vermittelten antiken Muster. Dieser anspruchsvolle Stil verweist wieder auf die bereits erwähnten elitären A b g r e n z u n g s t e n d e n z e n . 1. Inversionen und Reihungen Typische Stilmerkmale für die Marburger Rede sind ferner die regelmäßigen Inversionen (zwecks Hervorhebung einzelner Satzglieder). Als Beispiele seien angeführt: „Gefährlich sind...“; „Verwerflich aber wäre...“; „Als alter Soldat weiß ich...“; „Ihm gilt...“; „Hüten wir uns...“, etc. Zur Verlängerung der Satzgefüge tragen nicht zuletzt die (bis zu fünffachen) Reihungen von Satzgliedern bei. Dieses stilistische Element ist insgesamt 33mal und damit in knapp 15 % der Sätze belegt. Hinzu kommen noch die Reihungen von Einzelbegriffen, die ebenso wie die Satzglied-Reihungen eine poetische Wirkung erzeugen können: Folgende Beispiele für Reihungen seien aufgeführt: „... wo sich Mängel eingeschlichen haben, wo sich Korruption eingenistet hat, wo schwere Fehler gemacht werden, wo ungeeignete Männer am falschen Platze stehen, wo gegen den Geist der deutschen Revolution gesündigt wird.“ – „... die gewaltigen Veränderungen der Industrialisierung, der Verstädterung, der Technisierung und der Kapitalisierung ...“. 2. Tendenz zum Nominalstil Der Nomenanteil liegt in der Marburger Rede bei ca. 23 % der Wörter; der Anteil der Verben beläuft sich auf knapp 12 %. – Zum Vergleich: nach den klassischen Untersuchungen von Erk, Hoffmann und Benes ist bei standardsprachlicher Prosa (unter besonderer Berücksichtigung künstlerischer Prosatexte) von einem Verbanteil von 14 % auszugehen. Nach Fluck ist ein Nomenanteil von 28 % für künstlerische Prosa durchschnittlich, für Fachtexte ein Anteil von 44 %.158 Der Verbanteil in der hier zu untersuchenden Marburger Rede entspricht somit in etwa den Vorgaben für standardsprachliche bzw. künstlerische Prosa. Der Nomenanteil liegt zwar signifikant unter dem Durchschnittswert für Fachtexte, ist von der Vorgabe für künstlerische Prosa jedoch nicht allzu weit entfernt. Diese relative Nähe eines Gebrauchstextes an den Vorgaben für Texte mit künstlerischem Anspruch dürfte auf die oben angesprochenen Ästhetisierungstendenzen zurückzuführen sein.

158 Die obigen Angaben, auch die zu Erks (1972/75), Hoffmanns (1976) und Benes’ (1981) Korpora, nach: Hans-Rüdiger Fluck (1997), Fachdeutsch in Naturwissenschaft und Technik, 2. Aufl., Heidelberg: Groos, S. 45f. – Der hier herangezogene Vergleichsmaßstab ist freilich insofern ungenau, als auch diese schon älteren Befunde aus der Nachkriegszeit stammen. Streng genommen müssten selbstverständlich Untersuchungen aus der Zwischenkriegszeit zum Vergleich herangezogen werden, die es meines Wissens zumindest für den Bereich Fachsprache jedoch nicht gibt. 67

3. Abstrakta, Personalisierungen und Passivformen In der Marburger Rede zeigt sich Jungs ausgeprägte Neigung zu abstrakter Begrifflichkeit, die sich aus seiner Weltanschauung herleitet: Über 87 % der Nomen sind Abstrakta wie „Gott“, „Geist“, „Werte“. Besonders typisch für Jungs Stil ist, dass diese Abstrakta regelmäßig personalisiert werden. Folgende Beispiele seien genannt: „Die Geschichte wartet auf uns ...“; „... sei die Freiheit gestorben ...“; „Das deutsche Volk weiß ...“; „... das Ausland behauptet ...“. Der kollektive Singular ist aber nicht nur ein wirksames Mittel der Typisierung (und damit auch der Simplifizierung); seine Funktion besteht ferner in der „Erzeugung eines kollektiven Gruppenegoismus“ (Polenz 1978:168). Gruppenindizierende Funktion haben insonderheit die Possessiv- und Personalpronomen: Insbesondere Pronomina der Ersten Person Plural erzeugen Gemeinschaftsgefühl: Diese Verbalkategorie kommt in der Marburger Rede 28mal vor und ist somit in 4,2 % der Satzgefüge belegt; zu verweisen ist in diesem Kontext auch auf die 18 Belege für die entsprechenden Possessivpronomen (‚uns‘ / ‚unser‘). Aber auch die Erste Person Singular kann in gruppenindizierender Funktion gebraucht werden, und zwar immer dann, wenn der Redner die Zuhörer von seiner Meinung überzeugen bzw. sie zu etwas auffordern resp. verpflichten will: Dies ist in der Marburger Rede häufig der Fall; sie enthält nämlich nicht weniger als 23 Belege für diese Verbalkategorie; hinzu kommen 13 Belege für die entsprechenden Pronomen (‚mein‘ bzw. ‚mir / mich‘). Zusätzlich einzubeziehen sind die obigen Belege für ‚gemeinsam‘, etc. Gruppenegoistische Gefühle werden überdies mithilfe von biologisch-pathologischen Begriffen wie ‚entartet’ hervorgerufen. Wie oben nachgewiesen, tritt dieses Lexem auch in der Marburger Rede auf. Bekanntlich war gerade im Nationalsozialismus „eines der beliebtesten diffamierenden Stilmittel, das unreflektierte Ängste erwecken soll[te], ... [eben diese] Darstellung politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse und Vorgänge mit biologisch- pathologischer Metaphorik“ (Polenz 1978:169). Stets werden hierbei implizit Rangordnungen postuliert. Von hierher ist es berechtigt, dass den genannten Stilzügen generell eine Tendenz zur Entmenschlichung zugeschrieben wird. Auch Jungs Stil ist von dieser Tendenz keinesfalls frei. Eine vergleichbare Entmenschlichung (konkret dadurch, dass das Agens aus dem Bild genommen wird) kann bekanntlich durch Passivformen erfolgen. Dementsprechend sind die Handlungsträger fast niemals Menschen. Hier dokumentiert sich erneut Jungs Bemühen um abstrakte Sachlichkeit. Konkret sind ungefähr 17 % der Verbformen der hier zu analysierenden Quelle Passivformen (einschließlich Ersatzkonstruktionen). Als Beispiele seien herangezogen: „Weltgeschichte wird heute dort gemacht ...“; „Man soll sich deshalb nicht darüber hinwegtäuschen ...“; „... diesseitige Werte an Stelle des Jenseitsglaubens gesetzt und mit religiösen Lehren verbrämt werden.“ „Es ist an der Zeit ... zusammenzurücken ...“. 68

Hiermit ergibt sich ein Wert, der zwar deutlich unter dem bei Fluck genannten Durchschnittswert für (technische) Fachtexte von 35 % liegt; der Durchschnittswert von 9 % für Standardtexte wird jedoch fast um das Doppelte überschritten. Wie in anderem Zusammenhang schon angedeutet, spiegelt sich vielleicht auch in diesem Stilzug Jungs Sozialisation als Jurist, der durch seine (Fach-)Sprache den Eindruck abstrakter Sachlichkeit hinterlassen möchte. Der Anspruch auf Sachlichkeit ergab sich bei Jung – daran ist zu erinnern – aber auch schon dadurch, dass er vom ‚Geist’ und der ‚Ganzheit’ – und nicht von einem ‚entarteten Rationalismus’ – her philosophierte. Gerade mit Blick auf Jung könnte man somit von „pervertiertem Wissenschaftsstil“ (Polenz 1999:554) sprechen. In diesem Kontext ist es bezeichnend, dass der Anteil der Relativsätze in der Marburger Rede an den literaturwissenschaftlicher Fachtexte heranreicht.159 Wie bereits angerissen, geht es Jung um die elitäre Abgrenzung von dem, was er (parteipolitisches) Tagesgeschwätz nannte. Als Fazit lässt sich festhalten, dass auch bei Jung der für die gesamte Konservative Revolution typische Stilzug der Ästhetisierung ins Auge springt; konkret heißt dies: Er greift gezielt auf „poetisch-präziöse Elemente“ zurück, die eingesetzt werden als „politische Werbemittel an die Adresse der ‚Gebildeten’“.160 In der Tat wird hier dem bildungsbürgerlichen Zuhörerkreis der Marburger Universitätsangehörigen nicht zuletzt mittels Ästhetisierung Glaubwürdigkeit suggeriert. 4. Metaphorik bzw. (Kollektiv-)Symbolik Wie einleitend ausgeführt, ist die Untersuchung der sprachlichen Bilder für eine Diskursanalyse von besonderer Aussagekraft. Neben der bereits genannten Arbeit von Karin Böke (1996) sowie den grundlegenden Studien von Jürgen Link zur Kollektiv-Symbolik161

159 Exakt sind 18,4% der Nebensätze Relativsätze. – Bei P. Schefe (1981), Zur Funktionalität der Wissenschaftssprache am Beispiel der Medizin, in: Wissenschaftssprache, hg. Th. Bungarten, München, S. 351-371, hier S 370, ist für literaturwissenschaftliche Fachtexte ein Richtwert von 21,9% genannt; vgl. ferner Fluck (1997:82) wie auch Th. Roelcke (1999), Fachsprachen, Berlin: Erich Schmidt, S. 81ff. 160 Polenz 1978:171, wo Polenz mit Blick auf den Nationalsozialismus, speziell Goebbels, zu diesem Befund gelangt. Hier zeigt sich erneut, wie sich die Sprache der Konservativen Revolution in mancher Hinsicht mit dem Sprachgebrauch der NS-Größen überlappte. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Konservativen Revolutionäre auch Nationalsozialisten gewesen wären; denn die besagten Stilzüge waren ja im Rahmen des persuasiven Redens immer schon bekannt. In diesem Sinne war der Jargon der Nazis „nicht neu; die Nazis warben mit einer zynisch-virtuosen Mischung aus Schlag- und Fangwörtern – zur Betäubung des eigenen Denkens bei einfachen Gemütern – und aus allem, was den konservativ- konformistischen Deutschen in den 20er und 30er Jahren vertraut und angenehm im Ohr klang: im Geist der Freiheitskriege und der bonapartistisch korrumpierten Reichsidee, in Obrigkeitsdenken und Staatskirchentum, in preußischem Militarismus und wirtschaftlichem Expansions-Chauvinismus, in Historismus und Antisemitismus, in Romantik und Biedermeier, in Jugendbewegung und Georgekreis ...“ (Polenz 1978: 164f.). – Außerdem ist mit U. Maas zu bedenken, dass es sich bei Jungs hier zu analysierendem Beitrag bereits um ein Beispiel für ‚Sprache im Nationalsozialismus’ (Hervorhebung R.K.) handelt. D. h., da Hitler bereits an der Macht war, musste es zu Jungs oben geschilderter (Tarnungs-)Strategie gehören, seine implizite Kritik an Hitler in NS-Jargon einzubetten. 161 Vgl. hierzu, abgesehen vom dem frühen Artikel Links von 1982, die neueren und ausführlichen Darstellungen in: Drews, Axel, Gerhard, Ute und Jürgen Link (1985), „Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie“, Internationales Archiv für 69 beziehe ich mich hier insbesondere auf die neue Studie von Anja Lobenstein-Reichmann (2008:284-364), die sich ihrerseits (S. 288f.) auf B. Pörksen (2005:212ff.) bezieht.162 Pörksen hat eine Aufstellung so genannter ideologischer Metaphern vorgenommen, die acht Metaphernfeldern zuzuordnen sind (2005:223f.). Auch Jung zieht regelmäßig solche Ideologiemetaphern heran. So sind die Bilder, die er in der Marburger Rede verwendet, vorzugsweise dem Metaphernfeld ‚Natur’ entlehnt (man denke an Metaphernlexeme wie „geboren, natürlich, lebendig/Leben, organisch, Wachstum, Wurzeln, einnisten, keimen“); konkret handelt es sich oft um Körpermetaphorik („Herz/Blut“). Auch Krankheits- bzw. Gesundheitsmetaphorik ist dominant (z. B. Syntagmen mit „entartet“ resp. „gesund“); ferner fällt die Militär- und Kriegsmetaphorik ins Auge („erobern, (im Lebensnerv) treffen“);163 schließlich kommt auch Wasser-, ja sogar Blutmetaphorik ins Spiel („zusammenfließen, Blutsquellen“). Die genannten Metaphernfelder sind oft mit einer Metaphorik des Religiösen bzw. Metaphysischen verwoben (man denke an Metaphernlexeme wie „Schöpfung/schöpferisch, ewige Werte, Geist/geistig, metaphysische Rückbesinnung“). Als typische Belege können auch Phrasen wie die folgenden angeführt werden: „aus der Not geborene Gesetze“; „so sehr bin ich der ... Erneuerung Deutschlands mit meinem Herzblut verbunden ...“; „... sich die Herzen seiner Volksgenossen eroberte“; „... wo sich Korruption eingenistet hat ...“; „organische Volksordnung“; „lebendige[r] Geist“; „die nach neuem Leben drängenden ewigen Werte in ihrem Wachstum zu fördern, sie der

Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 1. Sonderheft Forschungsreferate, Tübingen, S. 256- 375; Becker, Frank, Gerhard, Ute und Jürgen Link (1997), „Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 22, H. 1, S. 70-154. 162 Ich zitiere hier abweichend von Lobenstein-Reichmann aus der inzwischen erschienenen 2. Aufl.: Berhard Pörksen (2005), Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neonazistischen Medien, 2. Aufl., Wiesbaden [2000]. 163 Wie die Metaphorik beweist, ist der Jargon der Marburger Rede somit auch von der besonders für den Faschismus charakteristischen Militarisierung nicht gänzlich frei. – Allerdings muss auch diesbezüglich differenziert werden. Deshalb sei folgende, auf den ersten Blick sehr militaristisch anmutende Passage angeführt, die Jung dem bekanntermaßen alten Generalstabsoffizier und Herrenreiter von Papen in den Mund legt: „Als alter Soldat weiß ich, daß straffste Disziplin durch gewisse Freiheiten ergänzt werden muß. Auch der gute Soldat, der sich mit Freude bedingungslosem Gehorsam unterwarf, zählte die Tage seiner Dienstzeit, weil das Freiheitsbedürfnis der menschlichen Natur eingewurzelt ist. Die Anwendung militärischer Disziplin auf das Gesamtleben eines Volkes muß sich deshalb in Grenzen halten, die der menschlichen Anlage nicht zuwiderlaufen. [...] Verwerflich aber wäre der Glaube, ein Volk gar mit Terror einen zu können. Die Regierung wird dahin laufenden Versuchen begegnen, denn sie weiß, daß jeder Terror Ausfluß eines bösen Gewissens ist, das ungefähr der schlechteste Berater ist, den sich die Führung erlauben darf. Die wahre Erziehung, die immer Zucht ist, kann nur aus sittlichen Grundsätzen hergeleitet werden. Wahrhaft sittliche Grundsätze vermag aber nur der Glaube an eine höhere Weltordnung zu vermitteln. Vaterlandsliebe, Opferwille und Hingabe sind nur dann von Bestand, wenn sie als göttliches Gebot im Einzelmenschen wurzeln.“ Bei näherer Analyse stellt sich allerdings heraus, dass gerade unter Bezugnahme auf den militärischen Bereich eine Ablehnung von Totalitarismus und Terror hergeleitet wird, die wiederum in der Anrufung letzter religiöser Werte gipfelt. 70 staatsschöpferischen Gestaltung zugrunde zu legen“; „die natürlichen Gesetze der Schöpfung“, „die gesunden ständischen Bindungen“; „die geistigen Wurzeln“; „jene fast metaphysische Rückbesinnung auf die eigenen Blutsquellen“; „Volkstum und Staat in eins zusammenfließen“; „entarteter Rationalismus“; „eine neue ... Partei zu keimen beginnt“; „der im Blut wurzelnde Geist...“; „England im Lebensnerv traf ...“ Hier zeigt sich, neben der religiösen, nicht zuletzt wieder die biologistische Ausrichtung von Jungs Denken. Zwischen seinen religiösen Grundsätzen und seinen biologistischen Vorstellungen scheint Jung indes keinen Gegensatz zu sehen; dahinter steht offensichtlich die Grundvorstellung, dass das Natürliche auch immer das Gottgewollte sei. Zudem wird deutlich, dass gerade auch Jungs ideologische Metaphern „einen potentiell polarisierenden Effekt“ (Pörksen 2005:249) aufweisen. Sie suggerieren (im Sinne Carl Schmitts) Freund-Feind-Gegensätze, zwischen denen es keine Kompromisse geben kann. Man denke an Dualismen wie die eines „entarteten Rationalismus“ vs. eines „im Blut wurzelnden Geistes“. Eine wichtige Implikatur, die durch die Metaphorik zum Ausdruck kommt, ist die gerade auch für Jung typische Kontrastierung von Natur und moderner Technik. Wie schon angedeutet, verwundert diese Polarisierung insofern, als Technikfeindlichkeit von dem Weltkriegsflieger und Autonarren Jung eigentlich nicht zu erwarten ist. Dennoch werden Technikmetaphern gerade auch zur Verunglimpfung der Weimarer Republik herangezogen, die implizit als mechanistisch hingestellt wird. Dieses Ideologem ist übrigens bereits für die bündische Jugend nachgewiesen, die das mehrheitsdemokratische System als ‚Rechenmaschine’ abqualifizierte, die unbedingt vom Tisch gefegt werden müsse.164 Jung wendet diese Metapher von der Maschine allerdings auch gegen Hitler, der eine totalitäre Einparteienherrschaft anstrebe, die ebenfalls mechanistisch – und damit unorganisch, undeutsch und auch unchristlich sei. Die Implikatur lautet hier erneut, dass der kranke Liberalismus totalitäre Systeme hervorbringe, die ebenfalls nur als Krankheitszustand anzusehen seien. Dieses Implikat läuft auf eine Kritik nicht nur am Stalinismus, sondern auch am entstehenden weltlich-totalitären NS-Staat hinaus. Hier zeigt sich wieder, dass Jungs Marburger Rede ganz unter dem Eindruck der zunehmenden Etablierung der faschistischen Diktatur verfasst wurde. Damit

164 Als Beleg für diesen Befund vgl. die Dissertation von Hiltraud Casper-Hehne (1989), wo auf S. 197 folgende Aussage aus einem Organ der Bündischen Jugend zitiert wird: „Man muß sich darüber klar sein, daß man der Mechanik dieses Betriebs verfällt, wenn man darauf verzichtet, diese ganze Rechenmaschine kurzerhand vom Tisch zu fegen.“ – Wie Carl Schmitt (2009 [1932]), Der Begriff des Politischen, 8. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, S. 86f., hervorhebt, war in der damaligen Zeit diese Auffassung, „die im Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik sah“, weit verbreitet. Obgleich er selbst der Konservativen Revolution zugerechnet wird, hielt Schmitt es für „falsch ..., ein politisches Problem mit Antithesen von mechanisch und organisch, Tod und Leben zu lösen. ... und die bequeme Antithese vom Organischen und Mechanischen ist in sich selbst etwas Roh- Mechanisches. Eine Gruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, ... hat nur den Wert einer romantischen Klage.“ (S. 87) 71 ist schon in dieser frühen Phase der NS-Herrschaft erkennbar, wie Hitler sozusagen als „stummer Gast“ (im Sinne Jean Pierre Fayes)165 allen aktuellen politischen Äußerungen, einschließlich denen seiner Kritiker, beiwohnt. 5. Apodiktische Qualität der Aussage und Deontik Aus der Bezugnahme auf derlei abstrakt-philosophische Grundhaltungen erklärt sich auch das Phänomen, dass ungefähr 22% der Adjektive bzw. Adverbien von abstrakter und gleichzeitig apodiktischer Qualität sind. Als Beispiele seien erwähnt: „ewige Werte / Ordnungen“; „jede natürliche und göttliche Ordnung“; „jeder Stand“ / „jeder einzelne“; „das große Kulturerbe“; „wahre Revolution / wahrer Staatsmann“; „echte Persönlichkeit“; „wirkliche Religion“; „unerschütterlicher Glaube“; „letzte Dinge / Garant“; „geschichtliche Wahrheit“; „göttliches Gebot“; „jenes gesunde Gefühl“; „natürliche Auslese“; „zu allen Zeiten“ / „allezeit“ / „alles Leben“; „alles Große“; „unabweislich“; „unbestrittene Staatsgewalt“; „was unerbittlich getan werden muß“; „ungeheure Aufgabe“ / „gewaltiges Amt“; „bedingungsloser Gehorsam“; „unerschütterliche Treue“; „restlose Autorität“, etc. Gleichzeitig kommt in den obigen Belegen eine deontische Qualität im Sinne des eingangs bereits erwähnten Fritz Hermanns zum Ausdruck.166 Denn wenn Jung z. B. von „göttlichem Gebot“ spricht, dann findet sich damit implizit eine Verpflichtung ausgedrückt, die für Widerspruch keinerlei Raum lässt. – Damit ist bereits zum Stilzug der Anleihen beim Religiös-Erhabenen übergeleitet – ein Stilmerkmal, das bei Jung ebenso auffällig ist wie die Heranziehung deontischer Begriffe. Anleihen beim Religiös-Erhabenen Dass in der Marburger Rede fortwährend Anleihen beim Religiös-Erhabenen zu verzeichnen sind, ist bei Jungs dezidiert religiöser Ausrichtung nicht verwunderlich. Hinzu kommt, dass auch Papen – wie wir oben sahen – sich stets als entschieden religiös ausgab. Sogar für Hitler, der sich z. B. gerne auf die ‚Vorsehung’ berief, war bekanntlich das Bemühen um eine pseudo-religiöse Legitimation kennzeichnend. – Signifikante Beispiele aus der Marburger Rede für Anleihen beim Christlich-Religiösen sind: − „Die letzte Wahrheit ... [liegt] allein bei Gott“; − Es wird die „Auflösung aller natürlichen und von Gott gewollten Verbindungen“ in der Weimarer Republik beklagt; − „die Scheidung in gläubige und ungläubige Menschen“;

165 Siehe Jean Pierre Faye (1972), Langages totalitaires, Paris: Hermann, S. 350f.; vgl. auch Maas (1984: 238). 166 Vgl. hierzu Fritz Hermanns (1995), Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik, in: Gardt, Andreas, Mattheier, Klaus J. und Oskar Reichmann (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen, insbesondere S. 85. 72

− „Ein Staat muß sich entscheiden, ob er religiös oder weltlich sein will“; − „Die geschichtliche Logik verlangt, daß auf den liberalen, weltlichen Staat von 1789 der religiös fundierte Staat der deutschen Gegenrevolution folge“; − „den religiösen Staat, der sich auf ein lebendiges Gottesbekenntnis stützt“; − „... daß wirkliche Religion die Bindung an Gott und nicht an jene Ersatzmittel ist, die gerade durch die materialistische Geschichtsauffassung eines Karl Marx in das Bewußtsein der Völker eingeführt worden sind“; − „Wenn nun weite Kreise, gerade aus dem Gesichtspunkt des totalen Staates und der restlosen Einschmelzung des Volkes heraus, eine einheitliche Glaubensgrundlage fordern, so sollten sie nicht vergessen, daß wir glücklich sein müssen, eine solche Grundlage im Christentum zu besitzen.“ Schon durch diese wenigen Beispiele wird deutlich, wie sich die Bezugnahmen auf religiöse Kategorien in geradezu aufdringlicher Weise wiederholen. Damit wäre zu einem weiteren typischen Stilzug der Marburger Rede überzuleiten. Wiederholungen Einleitend ist hervorzuhaben, dass Wiederholungen gerade auch zum Grundrepertoire des NS-Jargons gehörten: Auf Großveranstaltungen sollten bestimmte Doktrinen regelrecht ‚eingehämmert‘ werden.167 Von ‚Einhämmern‘ kann bezüglich der Marburger Rede indes nicht gesprochen werden; dies ergibt sich allein schon aus dem erlauchten akademischen Rahmen der Veranstaltung. Dennoch kommt es auch in der hier zu analysierenden Rede ständig zu (sinngemäßen) Wiederholungen, speziell im Bereich sakraler Konnotationen. Verwiesen sei auf folgende Beispiele: − „lebendiges Gottesbekenntnis“ − „wirkliche Religion“ − „die Bindung an Gott“ − die „von Gott gewollten Verbindungen“ − „Wahrheit liege allein bei Gott“ − „gottverbundenen Persönlichkeit“ − „göttliches Gebot im Einzelmenschen wurzelt“

167 Mit diesem Hinweis will ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, ein Befürworter der problematischen Manipulationsthese zu sein. Nach dieser These wird „der Sprache eine totale Macht über die Menschen zugeschrieben ...: Das Volks [sic] ist Opfer des ihm aufgezwungenen eindimensionalen Denkens“. Vgl. hierzu Maas 1984:248 (Hervorhebung im Original). 73

− „ göttlichen Funkens“ − „Glaube an die Transzendenz“ − „Glaube an eine höhere Weltordnung“ − „jenen ewigen Ordnungen“. Derlei (sinngemäße) Wiederholungen können natürlich auch die Form von Steigerungen annehmen. Steigerung des Ausdrucks Der NS-Jargon ist bekanntlich durch alle erdenklichen Steigerungsformen charakterisiert; eine ähnliche, obgleich abgeschwächte Tendenz zur Steigerung des Ausdrucks ist auch in der Marburger Rede zu verzeichnen, speziell wieder, wenn es um quasi-religiöse Werte geht. Beispiele wären Syntagmen wie: „letzte Wahrheit“ / „letzte Tiefe“ / „letzte Dinge“ / „der letzte Garant“ / „alleinige Macht“. Selbstredend bieten sich speziell Adjektive zur Steigerung an. Man denke auch an Formulierungen wie: − „schlechtester Berater“. − „straffste Disziplin“; − „höhere Weltordnung“; Freilich ist, wenn es wieder einmal um die „höhere Weltordnung“ geht, erneut jeder Widerspruch seitens der Adressaten ausgeschlossen. Zur weiteren Steigerung des immer wieder zum Ausdruck kommenden Verpflichtungscharakters verwendet Jung punktuell sogar einen Elativ: „elementarste Grundlage“. Derlei Elative waren bekanntlich gerade ein Spezifikum von Hitlers Stil. Als weitere Beispiele für Ausdruckssteigerungen seien angeführt: − „was sich in Europa heute in den besten Köpfen und den edelsten Seelen vollzieht“; − die „Besten unseres Volkes“; − „Sehnsucht der Besten“. Der apodiktische Zug der Aussage, der die Marburger Rede charakterisiert, wird überdies durch einen spezifischen Gebrauch der Modalverben (immerhin 1,23 % des Gesamtwortschatzes) verstärkt: . Das in der Marburger Rede am häufigsten vorkommende Modalverb ist zwar können, das ca. ein Drittel der Modalverben ausmacht; dieses Modalverb wird aber in über zwei Drittel der Fälle negativ (kann nicht) oder einschränkend (kann nur bzw. niemals) verwendet. In diesen Fällen tritt der Verpflichtungscharakter wieder ganz unumwunden zutage. (Ergänzt wird das Modalverb können noch durch das

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bedeutungsverwandte vermögen, das ebenfalls häufig negativ verwendet wird: vermag nicht.) . Das zweithäufigste Vorkommen weist das Modalverb müssen (ca. 26 %) auf. Hier ist bezeichnenderweise keine Verneinung belegt. . Das dritthäufigste Vorkommen entfällt auf das Modalverb dürfen (ca. 10 %), das typischerweise stets verneint auftritt. Auch die Analyse der Modalverbstruktur erweist mithin die starke persuasive Funktion des Redetextes. Dieses Ergebnis wird durch die Untersuchung der Satzarten ergänzt. Denn 98,7 % der Sätze sind (meist starke Verpflichtung ausdrückende) Aussagesätze, unterstützt durch einen Ausrufesatz und zwei rhetorische Fragen (übrigens an emotional besonders aufgeheizter Stelle, wo es um die Eigentumsumverteilung geht, die seitens der SA im Rahmen der besagten „Zweiten Welle“ der nationalen Revolution gefordert wird). 6. Pathos und Schwulst Der oben erwähnte deontische Stilzug geht stellenweise mit einem gerüttelt Maß an Pathos (bzw. sogar Schwulst) einher. Folgende Belege mögen genügen: − „um in dem deutschen Schicksalsbuch eine neue Seite aufzuschlagen“; − „so sehr bin ich der in Angriff genommenen Erneuerung Deutschlands mit meinem Herzblut verbunden, daß es vom menschlichen wie vom staatsmännischen Gesichtspunkt aus eine Todsünde wäre, nicht das zu sagen, was in diesem entscheidenden Abschnitt der deutschen Revolution gesagt werden muß“; − „Die wahre Revolution des 20. Jahrhunderts ... ist die der heroischen und gottverbundenen Persönlichkeit gegen unlebendige Fesselung, gegen Unterdrückung des göttlichen Funkens, gegen Mechanisierung und Kollektivierung, die nichts anderes ist als letzte Entartung des bürgerlichen Liberalismus.“ Hierbei wird erneut vor einem Rückgriff auf den biologistisch-rassistischen Begriff ‚Entartung‘ nicht zurückgescheut. Im Übrigen sind viele der aufgeführten pathetischen Ausdrücke ausgesprochen vage. Aus Sicht des Redners können bzw. sollen sie dies auch sein. Denn oft genügt eine bloße Anspielung, um bestimmte Konnotationen zu evozieren. Hinzu kommt, dass jeder Zuhörende genau diejenige Bedeutung aus einem polyphonen Begriff heraushören wird, die ihm am nächsten liegt: Wenn beispielsweise in der Marburger Rede undifferenziert von Christentum gesprochen wird, so kann der einzelne Zuhörer mit diesem Oberbegriff genau

75 diejenige Denomination assoziieren, der er selbst angehört. Diese Assoziation wird bei nicht wenigen Zuhörern (zunächst) sogar unbewusst erfolgen.168 7. Topoi Wie bei vielen konservativen Revolutionären könnte auch bei Jung der vorherrschende Topos als Grundlagen- oder Einheitstopos bezeichnet werden. Jungs ganzem politischen Denken – so sicherlich sein subjektives Empfinden – liegen letztlich immer religiöse Prämissen zugrunde,169 was sich auch an seiner oben geschilderten Idealvorstellung von einem in der Tradition des Ghibellinismus stehenden christlichen Reiches aufzeigen lässt: Angestrebt wird eine von einer neuen Frömmigkeit durchwirkte übervölkische Einheit unter der Herrschaft des Heiligen Geistes.170 Damit erweist sich Jung als ausgesprochener Schwarmgeist, der sich in Nostalgie nach einem ‚Goldenen Zeitalter’ verzehrt.171 Diese romantische172 Schwärmerei ist schon insofern fragwürdig, als es sich hierbei auch um ein Tarnungskonzept handelt, hinter dem sich deutscherseits handfeste – auch wirtschaftliche – Hegemonieinteressen verbergen.173

168 Vgl. hierzu erneut U. Maas’ Konzept der Polyphonie resp. der Fähre (1984, insbesondere S. 229). 169 Dementsprechend betont Jung im Nachwort zu dem eingangs zitierten Sammelband von 1932a: „Die Grundhaltung des neuen Menschen ... ist eine religiöse.“ (S. 380f.) Konkret gibt er der „Hoffnung“ Ausdruck, dass „die konservative Revolution Gott einen neuen Altar errichten werde, wie ihn die französische der Göttin Vernunft errichtet hat.“ (S. 381) 170 Hierzu passt eine Episode, die sich nach Forschbach (S. 110) am 09. Mai 1934, am Abend vor Christi Himmelfahrt in Berlin zutrug: „Jung fuhr mich mit seinem Wagen schließlich zu meinem Hotel ... Dort angekommen, ließ er mich nicht sogleich aussteigen. Ganz unvermittelt fragte er mich: ‚Morgen ist Himmelfahrt?’ Als ich dies bejahte, führte er fast ein Selbstgespräch: ‚Und dann kommt Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes. Wie erhaben ist doch die Religion, die den Geist als Gott anbetet.’ Er wiederholte, in Gedanken versunken, die Worte ‚Heiliger Geist, Heiliger Geist.’ Dann gab er mir schließlich wortlos die Hand zum Abschied.“ 171 Diesen Vorwurf greift Jung (1932a: 383) wie folgt auf: „Es wird uns vorgeworfen, wir liefen neben oder hinter den politischen Kräften her, wir seien Romantiker, welche die Wirklichkeit nicht sehen und sich in Träume einer Reichsideologie steigern würden, die rückwärts gewandt sei.“ Doch, so wendet Jung ein: „Die Erscheinungsbilder, welche die Geschichte zeitigt, sind [zwar] immer neu, die großen Ordnungsprinzipien (mechanistisch oder organisch) bleiben [aber] immer dieselben. Wenn wir deshalb an das Mittelalter anknüpfen und dort die große Form sehen, so verkennen wir nicht nur nicht die Gegenwart, sondern sehen sie realer als diejenigen, die nicht hinter die Kulissen zu schauen vermögen.“ (Ebd. – Hervorhebung R.K.) Nicht das katholisch-ghibellinische Reichskonzept, sondern „die Wirklichkeit der liberalen Weltauffassung [habe] sich als illusionär herausgestellt“ (ebd.). 172 Ich ziehe hier – wie z. B. auch Rüdiger Safranski (2009), Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt: Fischer Tb, S. 356f. – „ein[en] erweiterte[n] Begriff des Romantischen“ heran im Sinne einer „romantische[n] Geisteshaltung“. 173 Wie fragwürdig (und zudem unrealistisch) dieses eingangs genau dargestellte, maßgeblich von Spann übernommene organisch-ghibellinische Reichsdenken war, erweist sich bereits dadurch, dass es – wie sogar namhafte Vertreter der Konservativen Revolution erkannten – politisch unattraktiv war, und zwar gerade auch für „die Kreise, die sich in der Herrschaftsstellung des Großkapitals befinden“. (So der Ständetheoretiker Heinz Brauweiler (1930), „Bemerkungen zum organischen Staatsgedanken“, Der Ring, 3, H. 31, S. 532.) Es wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass Brauweiler mit speziellem Blick auf Spann zu dem Fazit gelangt, dass „die organische Theorie keine Heilmittel als den Appell an die Tugend und die Dienstwilligkeit der Menschen [habe]. Für die Politik ist das ein schlechtes Vehikel. 76

Ferner könnte man noch von einem ‚Unsagbarkeitstopos’ sprechen. Denn die oben erwähnten sakralen Prämissen, die Jungs Denken zugrunde liegen, reichen so tief ins Mystische, dass sie mit rationaler Begrifflichkeit grundsätzlich nicht zu erfassen sind. Hier gerät Jung zwangsläufig an seine sprachlichen Grenzen. In Ermangelung spezifischer Begriffe muss er sich mit vagen Adjektiven wie ‚wahr(haft)’, ‚wirklich’, ‚echt’ behelfen.174 Die letzten Dinge sind eben auch für den Staatsmann unsagbar.175 8. Harmonisierungstendenzen Ein einiger ‚Volksgeist‘ wird in der Marburger Rede beschworen. Die Devise lautet: ‚Gemeinschaft‘ statt ‚Gesellschaft‘: − Zum einen bringen (als Artikelwörter gebrauchte) Indefinitivpronomen wie alle oder jeder diese Harmonisierungsabsicht zum Ausdruck; − das Gleiche gilt für Gemeinsamkeit indizierende Adjektive resp. Adverbien wie gleich und gemeinsam oder allgemein: Folgende Beispiele stechen ins Auge: „jeder einzelne (von uns)“; „die allgemeine Ansicht“; „alle Volksteile“; „die gemeinsame Geschichte“; „alle europäischen Völker“; „gemeinsame europäische Kultur“, etc.

Wer sich auf die Kraft des organischen Staatsgedankens zu sehr verläßt, kann leicht erleben, daß er ... eines Tages auf eine höchst unorganische Weise zu Grunde geht.“ (Ebd.) – Zu Brauweiler und seinem im Ring-Verlag erschienenen Werk ‚Berufsstand und Staat’ vgl. auch Schoeps 1974:76ff., der als grundlegenden Unterschied zwischen Spann und Brauweiler angibt: „Bei Brauweiler herrschte sachlich- politisches, bei Spann weltanschauliches Denken vor... [...] Obgleich die romantische Staatstheorie sich Brauweilers besonderer Hochschätzung erfreute, ist seine Auffassung vom Staat nüchtern und sachlich und orientiert sich an den politischen Gegebenheiten der Zeitlage“ (1974:80). 174 Gerade ‚echt’ war bekanntlich auch ein Lieblingswort Hitlers. – Indes, wie Carl Schmitt schon 1919 wusste: „Man schafft ... keinen neuen Begriff dadurch, dass man einem alten das Prädikat echt beifügt.“ (Schmitt 1998 [1919]:100) 175 In einem vergleichbaren Zusammenhang taucht dieser Topos der Unsagbarkeit auch bei dem bereits zitierten Leopold Ziegler in seiner Gedenkschrift über Jung von 1955, S. 47, auf, wo Ziegler zunächst folgende rhetorische Fragen stellt: „Oder lässt uns die mitteilsame Sprache hier im Stich, Worte, Begriffe, Namen, Zeichen gleichermaßen vorenthaltend? Wäre für solchen Fall die Sprache etwa nicht geschaffen? Verhielte es sich so, daß solcher ‚Fall’ vom Schöpfer-Wort nicht vorgesehen wäre und so der Sprache Atem verschlüge und Stimme? Wir zögern mit der Antwort nicht: so ist es. Einzig dies Eingeständnis deucht uns die der Stunde geziemende Gebärde. Die Gestummtheit des Mundes. Der Verzicht auf Rede, Spruch und Sage. Die Sprachlosigkeit, die Ent-Sagung.“ – An diese engen Grenzen von Sprache als Ausdruck rationaler Begrifflichkeit sind Dichter bekanntlich immer schon gestoßen. Ein Dokument hierfür ist der berühmte ‚Chandos-Brief’ (1902) Hugo von Hofmannsthals, wo es heißt: „Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist’, ‚Seele’ ... nur auszusprechen ... Die abstrakten Worte, deren sich die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“ (Hugo von Hofmannsthal (1979), „Ein Brief“, in: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, Frankfurt: Fischer, S. 465.) – Abstrakte Begriffe wie Geist oder Seele gehören ja auch, wie wir sahen, zu Jungs Schlüsselbegriffen. Auch Jung lotet – insofern als es ihm letztlich immer um den Ausdruck geistig-religiöser Tiefe geht – die Grenzen der Sprache aus. Demnach verwundert es nicht, dass auch sein „staatsmännisch neuer konservativer Stil“ (siehe oben) vom Unsagbarkeitstopos geprägt ist. 77

(Hier kann die Ausdrucksweise auch wieder biologistisch werden: Man denke an Formulierungen wie „gemeingültige organische Formen“!) Hinter diesen sprachlichen Charakteristika steht die schon bei Othmar Spann erkennbare Sehnsucht nach „Harmonie und Ordnung“ in einem universalistischen Ständestaat.176 e) Zusammenfassung der Oberflächenanalyse: Metaphysischer sowie biologistischer Stil Ein metaphysischer Wortschatz (speziell religiöse Termini wie „Gott: göttlich / Entgöttlichung“; „Christentum: christlich“; „Glaube: gläubig / ungläubig; Bekenntnis“; „Religion: religiös“; „(Ent-) Heiligung“; „Schöpfung: schöpferisch“; „(Tod-)Sünde“; „Gebot“; „Anbetung“; „Seele“ / „Geist“; „Ideal“) ist verwoben mit einem der Biologie entlehnten Wortschatz (insonderheit Lemmata wie „Keim: keimen“; „Wurzel: (ein)wurzeln“; „einnisten“; „Entartung: arteigen“; „Wachstum: wachsen“; „Natur: (wider)natürlich / organisch / biologisch“; „Frucht(bar)“; „Auslese / Zucht“; „Zersetzung / Zerfall / Auflösung / Zerfleischung“). Das Verhältnis dieser beiden lexikalischen Felder177 zueinander beträgt in etwa 1 : 2. Zusammengenommen übertrifft dieser metaphysisch-biologistische Wortschatz sogar noch den politisch-soziologischen Wortschatz. Mit das meistbenutzte Lexem ist, wie oben genauer aufgeführt, das Wort „Volk“, das, einschließlich Komposita, insgesamt 66mal belegt ist. Dieser Wert entspricht immerhin ca. 1,6 % der Gesamtwortzahl der Marburger Rede von 5.675 Wörtern. (Der Terminus „Gesellschaft“ kommt bezeichnenderweise nicht vor.)

176 Diese Sehnsucht, verbunden mit einer entsprechenden Abscheu gegen die Demokratie, bringt Spann (1921:273) wie folgt zum Ausdruck: „Während in der demokratischen Ordnung unwissende Agitatoren über Dinge reden, beraten und beschließen müssen, von denen sie nichts verstehen, ist hier [im Ständestaat] alles in der Hand der Beteiligten selbst. Demokratie gleicht dem Urgemenge vor der Erschaffung der Welt, ständische Gliederung gleicht der Harmonie und Ordnung nach ihrer Vollendung.“ Nach Jung können die Stände deshalb auch kein Widerstandsrecht gegen den ‚Höchststand’, den Staat, beanspruchen; dazu bestünde auch keine Notwendigkeit, weil es soziale Konflikte in der organischen Gemeinschaft ja gar nicht mehr geben kann: Der den Staat „tragende Gemeinwille [läßt] jegliche Konflikte im Vorfeld hinfällig werden“ (Jahnke 1998:75). Demgemäß besteht auch keinerlei Notwendigkeit mehr für die Gewaltenteilung. (Vgl. hierzu Jahnke 1998:117, der sich hier auf Jung 1930:334 bezieht.) Gewerkschaften wird es in einem solchen Gemeinwesen ebenfalls nicht geben; in ihnen sieht Jung nur „das wirtschaftliche Pendant zu den Parteien“ (Jahnke 1998:97). – Nicht zuletzt erhebt sich die Frage, wie in einem solchen Ständestaat, der „universale Homogenität des politischen Denkens von den individuellen Gliedern der Gemeinschaft verlangte“, Minderheiten wie die „Juden mit ihrer Eigenart leben könnten“ (Graß 1966:23). – Ein so realitätsfernes Harmoniemodell, das Jung als die ‚wahre Demokratie’ ansieht, kann als Modell für die moderne multikulturelle Industriegesellschaft selbstredend nicht überzeugen. 177 Gemeint ist hier nicht der Wortschatz (type), sondern dessen Vorkommen (im Sinne von token). 78

In schematisierter Form sei die oben geleistete Oberflächenanalyse wie folgt resümiert:

4.2.3 Analyse des Sinnes der Inszenierung als Botschaft unter der Oberfläche des selbsterklärten Textinhaltes unter Rückgriff auf den sozialgeschichtlichen Kontext178 Der politische Freund Edgar Julius Jungs, Edmund Forschbach, interpretiert die Marburger Rede wie folgt: „Man erkennt Jungs Stil und sein Wollen am besten an den Stellen, wo er von der Kraft des Geistes spricht, von der geistigen Umkehr, die mit einem sozialen Umbruch zusammentrifft“ (1984:117).179 Und Forschbach fährt fort: „Die Vorstellung von der Kraft des Geistes gegen den widernatürlichen Totalitätsanspruch durchzieht die Rede wie ein roter Faden. Sie ist geradezu ihre ratio, ihr Grundgedanke; alles folgt aus ihr“ (ebd.). In diesem Sinne sei Jungs erneute „Forderung nach Auflösung der NSDAP“ (ebd.) zu verstehen. In der Tat warnt Jung vor einer ‚anonymen Tyrannis‘: „Er wehrt sich dagegen,

178 Wie eingangs erläutert sieht Utz Maas als dritten Hauptpunkt in seinem Analyseschema vor: „Analyse des Sinnes der Inszenierung (II), gewissermaßen als Botschaft unter der ‚Oberfläche’ des selbsterklärten Textinhaltes (I). Dabei ist auf den spezifischen sozialgeschichtlichen Kontext zurückzugreifen, in dem die Inszenierung erfolgt bzw. der Text aufgenommen wurde (werden sollte)“ (1984:18). 179 Jungs weltanschauliche Basiskategorie ‚Geist’ wurde oben, insbesondere unter Bezugnahme auf Jahnke 1998:47f., näher expliziert. – Der Begriff ‚Geist’, einschließlich ‚geistig’, ist, wie oben ebenfalls aufgeführt, immerhin 29mal belegt. 79 dass für Konservative kein Freiheitsraum bestehe“ (ebd.).180 Der Kampf gegen den Geist sei nach Jung ein ‚Unrecht‘ (in diesen Zusammenhang ist übrigens Jungs Einforderung von ‚eiserner Gerechtigkeit‘ einzuordnen); überhaupt werde – „unmittelbar an die Nazis gewandt“ (ebd.) – ‚Gerechtigkeit‘ sowie ‚die Sicherheit und Freiheit der privaten Lebenssphäre‘ eingeklagt (wobei für Jung die Freiheit ‚in Wahrheit urgermanisch‘ ist). Jung fordert, so Forschbach, nichts weniger als eine „geistige Umkehr“ (ebd.). Insoweit wird die Botschaft unter der Oberfläche nachvollziehbar gewesen sein; Forschbach zufolge enthielt die Marburger Rede aber auch „einige Stellen“, die für die meisten damaligen Zuhörer „nicht ganz verständlich gewesen sein“ (ebd.) dürften: „Es waren gewissermaßen verschlüsselte Funksprüche an Wissende und Vertraute“ (S. 118). Hier wird Jungs elitäre Tendenz erneut deutlich.181 Als Beispiel sei angeführt, dass Jung von einer ‚neuen Ghibellinenpartei‘ spricht. Hier spielt er auf Vorstellungen des kalabrischen Zisterzienserabtes Joachim von Floris (ca. 1130-1202) von einem Dritten Reich an, worunter dieser eine „Zeit des Hl. Geistes“ (ebd.) verstand: „Es war die Synthese zwischen Antike und Christentum. Auch Dante war diesem joachimitischen Ghibellinismus verpflichtet. Daran hat Moeller van den Bruck nicht im entferntesten gedacht, als er seinem Buch den Titel ‚Das Dritte Reich‘ gab“ (ebd.). Und Hitler, so schließt Forschbach an, war ohnehin „ein Gedankendieb“ (ebd.), der unter diesem Begriff „die geistesfeindlichste“ (ebd.) Diktatur errichtete: Und dies, obgleich „Drittes Reich in seiner ursprünglichsten Bedeutung [doch] die Herrschaft des Geistes“ (ebd.) meinte. In diesem Sinne wird schon in Jungs Hauptwerk (1930:65f.) die „religiöse Grundlage“ des angestrebten Dritten Reiches herausgestrichen: „Das dritte Reich der Deutschen wird deshalb nicht nur ein vergrößerter Staat sein, der etwa mit dem Schlagworte ‚großdeutsch’ zu kennzeichnen ist“; vielmehr geht es um „neue Vorstellungen vom Reiche Gottes auf Erden“, darum also, „den wahren und lebendigen Gott wieder einzusetzen.“182 Nach Forschbach war dieser Verweis auf die mittelalterlich-ghibellinische Reichsidee ebenfalls „ein Signal an den römischen Advokaten Giulio Evola, der dem Reichsgedanken, so wie ihn Jung verstand, auch huldigte“ (ebd.). Wie einleitend genauer dargestellt pflegte Jung in der Tat enge Kontakte zu dem römischen pro-faschistischen Kulturphilosophen Evola (1898-1974), der – wohl auch aufgrund seiner esoterischen Ausrichtung – unter

180 Freiraum wird aber wohlgemerkt nur für die Konservativen eingeklagt! (Vgl. oben.) 181 In dieser elitären Ausrichtung lag jedoch – wie Graß 1966:58, herausstellt – auch „ein wesentlicher Grund für die mangelnde Wirksamkeit der Reden [Jungs]. Völlig deutlich verstand sie nur der Eingeweihte“. Auch die durchweg hoch gebildeten Mitglieder des Marburger Universitätsbundes dürften nicht jede einzelne Anspielung verstanden haben. Wie der starke Beifall am Ende der Rede zeigte, wusste sich Jung jedoch zumindest vor diesem akademischen Publikum durchaus verständlich zu machen. Trotz aller schwer verständlichen Nuancen hat Jung das rhetorische aptum, das Grundprinzip aller erfolgreichen Rhetorik, nicht aus den Augen verloren. 182 Zu Jungs Reichsgedanken vgl. auch Jahnke 1998:94, der ebenfalls die bereits erwähnte Bedeutung der Dichtung Stefan Georges für Jungs Reichsvorstellungen anspricht. 80

Mussolini allerdings nur eine Außenseiterrolle spielte. Indem Jung sich auf solche Außenseiter stützte, wird ein weiteres Mal sein mangelnder Realitätsbezug deutlich. Wenn es gilt, Jungs Botschaft unter der Oberfläche systematisch zusammenzufassen, so sind nach meiner Auffassung im Wesentlichen drei Aspekte hervorzuheben: a) Jungs christlich-mittelalterliche. Geisteshaltung Die Marburger Rede basiert auf Jungs joachimitisch-mittelalterlicher Konzeption: Ein ‚neues Mittelalter‘ werde die ‚aufklärerische Moderne‘ ablösen: Wie Jung in seiner oben zitierten Zusammenfassung eines Sammelbandes von 1932 anmerkte, war es ihm darum zu tun: „Gott einen neuen Altar [zu] errichten“! Diese vormoderne Geisteshaltung sah Jung als Allheilmittel auch für soziale Probleme an. Basis für den anstehenden „sozialen Umbruch“ könne nur der christliche Glaube183 sein, der „den rationalisierten und liberalisierten Menschen“ wieder nahe gebracht werden müsse: Dem „sozialen Umbruch“ soll mithin hauptsächlich durch „geistige Umkehr“184 gesteuert werden. Der Marburger Rede liegt mithin ein verschwommenes Konzept einer christlich- mittelalterlichen Geistes- und Reichsvorstellung zugrunde, die geradezu als Allheilmittel auch für alle sozialen Probleme angesehen wird. Gerade die Bezugnahme auf die Vorstellungen des Abts Joachim von Floris von einem Dritten Reich als einer Herrschaft des Heiligen Geistes deutet darauf hin, dass Jungs Konzeption Ähnlichkeiten mit einem so genannten Einbettungsmythos aufweist: In der Tat ist „der metaphysische Trieb ... das Herzstück von E. J. Jungs Weltanschauung.“185 Jungs politische Metaphysik ist aber nicht einseitig rückwärtsorientiert; vielmehr gründet sein Denken – und das ist wiederum typisch für die gesamte Konservative Revolution – auf „zukunftsorientierten ‚Ganzheitsmythen’“.186 Angeregt ist Jung in dieser Ausrichtung von führenden Rechtskatholiken, so von dem bereits erwähnten Othmar Spann, der eine universalistische Position vertrat;187 oder auch von Karl Anton Prinz Rohan (1898-1975), der in der rechtskatholischen Bewegung ‚renouveau catholique‘ maßgeblich tätig war und angesehene Zeitschriften wie Abendland (Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft) sowie die Europäische Revue herausgab; gerade Rohan vertrat einen Reichs- bzw. Europagedanken,

183 Welche christliche Denomination hier nun konkret gemeint ist, erwähnt Jung wohlweislich nicht. Damit liegt erneut ein Beispiel für ‚Polyphonie’ im Sinne von Utz Mass (1984:18 und öfter) vor. Die bewusst vage Formulierung erlaubt es jedem, seine eigenen religiösen Vorstellungen in diese Formulierung hineinzulegen. 184 Hervorhebung R.K. 185 Jahnke 1998:44. Hervorhebung im Original. 186 Polenz 1999:553. Hervorhebung R.K. 187 Vgl. das bereits erwähnte Grundlagenwerk Spanns von 1921 Der wahre Staat, insbesondere S. 29ff., wo das „Wesen des Universalismus“ dargestellt wird. Jahnke zufolge war der Universalismus für Jung „das von Gott der diesseitigen Welt vorgegebene Weltanschauungsprinzip“ und dementsprechend „der Feind des Individualismus“ (Jahnke 1998:58). 81 dem nicht nur Jung, sondern auch von Papen, der seinerzeit vom Saarland aus sogar Kontakte zu französischen Rechtskatholiken unterhielt, einiges abgewinnen konnte. Ungeachtet der (auch Jung nicht verborgen gebliebenen) Tatsache, dass die soziale Schieflage letztlich durch die „gewaltigen Veränderungen der Industrialisierung, der Verstädterung, der Technisierung und der Kapitalisierung“ verursacht war, geht Jung auch in der Marburger Rede davon aus, dass der erforderliche Umbruch „in der Hauptsache durch Erziehung, Zucht und Propaganda“ zu erfolgen hat; es müsse „die Seele ... [der] Massen zunächst für Volk und Staat“ zurück gewonnen, sodann aber auch der „Zusammenhang mit Blut und Boden“ wiederhergestellt werden; ferner sollen „die gesunden ständischen Bindungen und Rangordnungen“ wiederbelebt werden. An diesem Punkt der Marburger Rede schimmert erneut Spanns ständestaatliches Konzept durch.188 Eine soziale Schieflage wird also indirekt eingeräumt, zumal von „der Notwendigkeit der Stiftung einer neuen sozialen Ordnung“189 gesprochen wird; wie dieser Umbruch aber erfolgen soll, bleibt auch in der Marburger Rede vage: Letzte Basis auch für diese Neuordnung ist nach Jung wieder einmal der christliche Glaube, der „den rationalisierten und liberalisierten Menschen“ – denen „weitgehend die innere Fähigkeit, das Mysterium Christi zu erfassen, abhandengekommen ist“ – wieder nahe gebracht werden muss: Dem „sozialen Umbruch“ soll mithin – dies sei nochmals betont – primär durch „geistige Umkehr“ gesteuert werden. b) „Zweite Welle“ der nationalen Revolution resp. Eigentumsfrage Ich möchte die These wagen, dass sich Papen, der wie Jung enge Kontakte zur Wirtschaft unterhielt, erst an die Spitze der Opposition stellt, als durch die SA bzw. Röhm die Unantastbarkeit des Eigentums in Frage gestellt wird. Als Belege seien folgende Passagen aus der Marburger Rede herangezogen: Eine „zweite Welle“ der nationalen Revolution „läuft Gefahr von jener Dynamik beeinflusst zu werden, welche seinerzeit schon politisch den Marxismus trug.“ Es geht nicht an, dass sich ein „neuer Klassenkampf unter anderen Feldzeichen ... wiederholt“: „Haben wir eine antimarxistische Revolution erlebt, um das Programm des Marxismus durchzuführen?“ Es dürfe überdies, so Papen, keine „Planwirtschaftsweise“ eingeführt werden, die immer Verantwortungslosigkeit bedeute; vielmehr gelte es, das „Eigentum wieder unter Verantwortung“ zu stellen. Hierbei handelt es sich um ein irreales Konzept, das auch in seiner sprachlichen Ausformung an die Jugendbewegung erinnert.190

188 Vgl. hierzu insbesondere Spann 1921:197ff. 189 Hervorhebung im Original. 190 Vgl. hierzu die Dissertation von H. Casper-Hehne (1986): Demnach ist die Jugendbewegung grundsätzlich fortschrittsfeindlich, lehnt die Industrialisierung resp. Modernisierung, überhaupt ein modernes ökonomisches Denken ab: ‚Das rasende Tempo der Mechanisierung frißt den Menschen‘ (Zitiert nach Casper-Hehne, 197). Im Einzelnen ist für die Jugendbewegung typisch: 82

Sogar der politische Freund Jungs, E. Forschbach, muss einräumen: „mit den sozialen Problemen tat sich Jung oft sehr schwer“ (1984:86). Statt realisierbare Lösungen auszuarbeiten, flüchtet Jung in die Fiktion einer sozialen Harmonie: Wie bereits ausgeführt, sind diese Harmonisierungstendenzen auch in seiner Sprache nachweisbar. In diesem Kontext ist es bezeichnend, dass das häufigste Wort ‚Volk‘ ist. Wie bereits ausgeführt ist dieses Lexem einschließlich Komposita wie ‚Volkstum’ immerhin 66mal belegt. Zu solchen -tum-Bildungen wie ‚Volkstum’ ist noch nachzutragen, dass sie zunächst einmal Wir-Bewusstsein schaffen sollen; überdies ist zu bedenken, dass hier Gruppenbezeichnung und Qualitätsbezeichnung ineinander fließen;191 stets lautet die Implikatur also auch hier, dass es eine (natürliche, gottgewollte) Rangordnung gibt – unter den Völkern wie unter den Einzelmenschen! Der Eindruck der sozialen Harmonie, den Jung zu erwecken versucht, erweist sich damit als fingiert; zumindest ist die hochgepriesene soziale Harmonie eine entschieden undemokratische. Der „Wirtschaftsnot“, die das Volk „spürt“ – so heißt es in der Marburger Rede –, könne nur durch „schwere Opfer“, die eben diesem Volk „zugemutet werden“, gesteuert werden. Eine „zweite Welle“ der so genannten nationalen Revolution würde die Situation jedenfalls nur noch verschlimmern, denn sie „läuft Gefahr von jener Dynamik beeinflusst zu werden, welche seinerzeit schon politisch den Marxismus trug.“ Es geht, wie schon erwähnt, Jung zufolge nicht an, dass sich ein „neuer Klassenkampf unter anderen Feldzeichen ... wiederholt.“ Denn „kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es vor der Geschichte bestehen will.“ Auch in der Marburger Rede gehen Jungs Lösungsvorschläge somit über die bereits zitierte Forderung, dass es gelte, „in Bruderliebe und Achtung vor dem Volksgenossen zusammenzurücken“, praktisch nicht hinaus. Gleichzeitig ist es Jung immer auch um eine Art Selbstimmunisierung durch „Suggerierung undiskutierter, respektive undiskutabler Gemeinsamkeit“ (von Polenz 1978:168) zu tun. Hierbei dienen solche angeblichen Gemeinsamkeiten als Fähre (im Sinne

• Der demokratische Staat wird als ‚mechanisierter Apparat, Sklave der Wirtschaft und des Geldes‘ (ebd.) gesehen: Zur Bewertung der Weimarer Regierungen wird, wie schon angedeutet, ein mathematisch- naturwissenschaftlich-wirtschaftlicher Wortschatz herangezogen: ‚Man muß sich darüber klar sein, daß man der Mechanik dieses Betriebs [= Weimarer Republik] verfällt, wenn man darauf verzichtet, diese ganze Rechenmaschine kurzerhand vom Tisch zu fegen.‘ (ebd.) Die parlamentarische Demokratie resp. die politischen Parteien stehen für unwürdige Zerrissenheit. Besonders wichtig ist es demzufolge: eine eigene Sprache zu finden, die sich von dem aktuellen Parteienjargon abgrenzt. • Großstadtfeindlichkeit (‚moderner Turmbau zu Babel‘ / ‚Vereinzelung‘ statt ‚organische Gemeinschaft‘) • Technikfeindlichkeit: ‚Die Jugendbewegung stand nicht in den Laboratorien der Städte.‘ (Zitiert nach ebd., 196.) – Damit ist ein weiterer Traditionsstrang, in dem Jungs Denken steht, skizziert. Auch Jahnke 1998:30 weist darauf hin, dass „Jung ... der Jugendbewegung geistig nahe[stand] und ... von [Hans] Blüher [1888-1955] beeinflusst [war]. Er maß den Bünden für das neue Deutschland eine federführende Rolle bei ... Aus ihnen sollten sich ... die neuen Führer rekrutieren.“ In seinem Hauptwerk lobt Jung die Bünde „als Inseln der Mannestugenden inmitten der Niedergangsflut“ (Jung 1930:671). 191 Vgl. von Polenz 1978:173. 83 von Utz Maas): Unter dem Deckmantel dieser Gemeinsamkeiten werden (unhinterfragte) Präsuppositionen in den Diskurs eingeschmuggelt, um die Leserschaft auf diese subtile Weise in das eigene geistig-politische Lager herüberzuziehen. Aber auch diese rhetorischen Finessen können nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Jung über kein auch nur annähernd konkretes, umsetzbares soziales Konzept verfügte. c) Abgrenzungstendenzen Jungs Auseinandersetzung mit den seinerzeit brennenden sozial-politischen Fragen ist nur insofern als sachlich zu bezeichnen, als sie sich formalsprachlich – durch eine bewusste bildungsbürgerliche Stilisierung – gegen das politische ‚Tagesgeschwätz‘ und das polemische Schlagwort (wie beispielsweise das Lemma ‚reaktionär‘) abgrenzt.192 In Wirklichkeit sind Jungs Ansichten keineswegs sachlich, sondern geradezu gespickt mit unbewiesenen und unbeweisbaren Suppositionen. Inhaltlich sind seine Aussagen mithin durch Mehrdeutigkeit und Verschwommenheit charakterisiert. Der tiefsinnige Rückgriff auf vormoderne Ideologeme führt dazu, dass gerade die wirtschaftlichen Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft zu wenig Beachtung finden. Jungs Denken ist also zutiefst irreal. Jedenfalls fußt Jungs Sachlichkeit, wie schon erörtert, lediglich auf dem Anspruch, von der ‚Ganzheit’ (und nicht vom Individualismus) her zu philosophieren; Jung bildet sich mithin ein, durch diesen ganzheitlichen Ausgangspunkt seines Denkens über jede tagespolitische Polemik per se erhaben zu sein. Wie oben am Rande schon bemerkt, kann sich Jung gerade in diesem Punkte auf Othmar Spann beziehen, demzufolge eine Argumentation auf der Grundlage „jener Geistigkeit, die das Ganze bildet“, stets sachlich ist.193 Ähnlich dachten auch die Führer [sic] der Jugendbewegung; auch ihnen ging es stets um Aussagen, die aus ‚letzten geistigen Tiefen‘ schöpften und deshalb den Tag überdauern sollten. Dieses Vorstoßen zu den letzten Prämissen muss sich auch in der Sprache ausdrücken, die sich der hehren Gedanken als „würdig“ erweisen soll. Ein so hoher Anspruch bringt es jedoch mit sich, dass auf Allgemeinverständlichkeit weitgehend verzichtet werden muss. Auf diese Weise grenzt sich auch Jung gegen unterbürgerliche Schichten wie auch gegen die gesprochene Sprache entschieden ab.194 Ungeachtet dieses Elitebewusstseins ist es Jung jedoch – hier zeigt sich eine weitere Parallele zur Jugendbewegung – darum zu tun, eine Integrationsideologie für die bürgerlichen Mittelschichten vorzuhalten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Jung – im Gegensatz zur Jugendbewegung – nicht nur den protestantischen, sondern auch den

192 Zitat aus der Marburger Rede zum Thema „Herrschaft des Schlagwortes“: „Wir dürfen uns ... nicht in den Bann des polemischen Schlagworts ... begeben.“ 193 Vgl. Spann 1921:109. 194 Ein besonders krasses Beispiel für diese gestelzte Sprache ist der nur schwer lesbare Stil von Jungs Spiritus Rector, dem Philosophieprofessor Leopold Ziegler (vgl. hierzu die obigen Zitate aus Zieglers Schriften). 84 katholischen Mittelstand integrieren möchte. Auch in diesem Punkte dürfte Jung wieder von dem österreichischen Ständetheoretiker Othmar Spann beeinflusst sein, für den – wie wir sahen – Demokratie stets Chaos bedeutet, wohingegen der Ständestaat eine vollendete „Harmonie und Ordnung“ garantiert.195 Insgesamt handelt es sich bei Edgar Julius Jung somit um eine schillernde Persönlichkeit: − Er lebte in Großstädten, war Weltkriegsflieger, Autonarr (lebte nicht zuletzt deshalb immer über seine Verhältnisse); − gleichzeitig charakterisiert ihn eine unendliche Sehnsucht nach einer ‚neuen‘, sprich vormodernen Gemeinschaft, die ein Leben in Würde ermöglichen sollte. Dass neben dem Begriff Geist auch das Wort Würde als ein zentrales Schlüsselwort des Jungschen Denkens angesehen werden muss, leitet sich auch aus dem letzten Satz der Marburger Rede her: „Die Geschichte wartet auf uns, aber nur dann, wenn wir uns ihrer als würdig erweisen.“196 Als ideengeschichtlicher Hintergrund zu Jungs Lebenseinstellung ist im Blick zu behalten: Der (wie bei praktisch allen Konservativen, so auch bei ihm) stets virulente Vergleich der hochfahrenden Ideen von 1914 resp. des heroischen Fronterlebnisses mit dem allzu prosaischen Alltag der Weimarer Krisenzeiten. Die Implikation ist hier, dass die Gegenwart ‚keine Gestalt‘ habe: Es fehle der ‚Wille zur Form‘. Dieser Wille zur Form bzw. Anspruch auf Würde drückt sich auch aus in Jungs bewusst stilisierter Sprache: Es sei nochmals daran erinnert, dass es ihm ja darum ging, einen „staatsmännisch neuen konservativen Stil“ zu entwickeln. Dieser Stil muss jedoch – trotz bzw. gerade wegen aller Ästhetisierung – als epigonal bezeichnet werden; denn auch Jungs Sprachgebrauch ist charakterisiert durch Stilmerkmale, die seit Generationen der politischen Werbesprache der einflussreichsten Gruppen eigen waren; überdies sind offensichtliche Anleihen Jungs bei der älteren Generation der Konservativen Revolution (speziell aus dem Kreis des Juli-Klubs), aber auch bei österreichisch-katholischen Vorbildern (wie Spann oder Rohan) anzusetzen.197 Als Resultat bleibt mithin festzuhalten, dass es sich bei Jungs Diskurs um eine diffuse Mischung bzw. spezielle ‚Legierung‘ der klassischen konservativen Topoi handelt: Manches darin war schon längst vorgedacht worden: Ein beträchtlicher Eklektizismus ist jedenfalls unübersehbar.

195 Siehe Spann 1921:273. 196 Hervorhebung R.K. – Nach Graß (1966:227) kann dieser Appell geradezu als das „Motto der Rede“ angesehen werden. 197 Die Traditionslinie reicht sogar zurück bis zur politischen Romantik, partiell – wie wir oben gesehen hatten – sogar darüber hinaus. 85

4.2.4 Vorläufige Zusammenfassung der Analyse: Rückbezug der in 4.2.2 und 4.2.3 entwickelten Lesweise des Textes auf die selbstdeklarierte „Botschaft“198 Wie oben am Rande angemerkt ist die Vermischung von quasi-religiöser und biologistischer Formulierungsweise in der Zwischenkriegszeit konventionell. Gerade die Jugendbewegung befleißigte sich solcher Stilzüge. Auch das Ethos der Sachlichkeit199 entspricht dem Zeitgeist, wobei die Behauptung, nur die von der eigenen Gruppe benutzte Wortbedeutung sei die ‚nicht-ideologische‘, selbst ausgesprochen ideologisch ist. Jedenfalls stellt sich auch bei Jungs Stil die Frage, ob es sich um einen „Sprachgebrauch“ handelt, „der z u m Nationalsozialismus hin[führt]“?200 Diese Frage stellt sich umso entschiedener, als Jung sich – wie wir oben sahen – ausdrücklich als Wegbereiter des Nationalsozialismus bekennt. Auf dem Hintergrund dieser Wegbereiterthese ist die ideologische Abgrenzung per se schwierig; aber auch die sprachliche Abgrenzung stößt auf größte Schwierigkeiten, zumal Jungs Stil – wie gezeigt – allein schon aus argumentationsstrategischen Gründen durch die Übernahme von NS- Begriffen geprägt ist.201 Auch die immer wieder auffallende Vagheit bzw. „Leerformelhaftigkeit“ von Jungs Stil ist in ähnlicher Weise für den Sprachgebrauch vieler Nationalsozialisten typisch. Diese Ähnlichkeit leitet sich jedoch nicht daher, dass die (führenden) Nationalsozialisten diese oder ähnliche Redeweisen sozusagen ‚erfunden’ hätten. Bekanntlich haben die Nazis praktisch überhaupt nichts – außer vielleicht den Rangbezeichnungen ihrer Parteiarmee – neu eingeführt; die biologistisch-rassistische Sprache, durchmischt mit religiösen Anspielungen, ist bekanntlich viel älter;202 so handelt es sich z. B. bei der

198 Auch diese Kapitelüberschrift lehnt sich an das eingangs erläuterte Analyseschema von Utz Maas an, wo als vierter Hauptpunkt vorgesehen ist: „Vorläufige Zusammenfassung der Analyse: Rückbezug der in (II) und (III) entwickelten Lesweise des Textes auf die selbstdeklarierte ‚Botschaft’“ (1984:18). 199 Es sei daran erinnert, dass neben Klaus Theweleit (2000 [1977]), Männerphantasien, Bd. 1 u. 2, München: Piper, gerade auch Helmut Lethen aufgezeigt hat, was es mit diesem Habitus der Sachlichkeit auf sich hat, den viele Denker der Zwischenkriegszeit kultivierten; siehe dazu: Helmut Lethen (1994), Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt: Suhrkamp, insbesondere S. 64ff.; siehe ferner: ders. (1975), Neue Sachlichkeit 1924-1932, Studien zur Literatur des ‚Weißen Sozialismus’, 2. Aufl., Stuttgart: Metzler. – Vgl. hierzu auch die Benn-Biographie Lethens von 2006: Der Sound der Väter, Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin: Rowohlt. 200 Polenz 1999:545. 201 Eine Ausnahme bildet allerdings das bereits mehrfach problematisierte Lemma „übervölkisch“. 202 Erinnert sei hier auch an Houston S. Chamberlain (vgl. hierzu die bereits zitierte Habilitationsschrift von Anja Lobenstein-Reichmann (2008)), der sich auf Gobineau beruft, aber auch – als Biologe – Darwin kennt wie auch die (antisemitischen) Schriften seines Schwiegervaters Richard Wagner, der seinerseits von der Romantik herkommt. Auch Nietzsche, dessen Werke zu Jungs „bevorzugte[r] Lektüre gehörten“ (Jenschke 1971:12) und auf den in der Marburger Rede ausdrücklich Bezug genommen wird, darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben: Z. B. in Ecce Homo [1888] spricht er vom „entartenden Instinkt“ (S. 1109); vor allem drückt er seine Hoffnung auf ein künftiges Zeitalter aus, in dem eine „neue Partei des Lebens [auftritt], welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung aller Entartenden und Parasitischen“ (S. 1111); dementsprechend setzt er sich von denjenigen ab, die „schlechtes Blut im Leibe“ haben (S. 1098). – Sogar schon Herder scheut bekanntlich vor Blutsmetaphorik nicht zurück, so 86

„Leerformelhaftigkeit“ um „ein potentielles Merkmal politisch-persuasiver Sprache überhaupt“ (Polenz 1999:554). Erinnert sei in diesem Kontext auch an den Befund C. Schmitz-Bernings (2000:V), wonach die „Summe der rhetorisch-stilistischen Eigentümlichkeiten ... ebensogut in anderen Texten, anderen Formen werbenden Sprechens“ vorkommt. So gesehen ist die These Schmitz-Bernings vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es „letzten Endes doch der Wortschatz [ist], der zum Ausdruck von Ideologie dient“ (ebd.). Das Beispiel ‚übervölkisch‘, das bei Schmitz-Berning wohlgemerkt nicht belegt ist, wurde oben ja schon mehrfach problematisiert. Jedenfalls bestätigt sich auch von sprachwissenschaftlicher Seite her, was in einschlägigen historisch-politischen Darstellungen schon seit längerem zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung der jungkonservativen von der NS-Ideologie angeführt wird. Zur Abrundung meiner linguistischen Analyse soll im Folgenden deshalb mit Blick auf Jung und in engem Anschluss an das eingangs Ausgeführte auf einschlägige historisch- politische Darstellungen zur Abgrenzungsproblematik Bezug genommen werden.

beispielsweise in dem Gedicht „Der Nachhall der Freundschaft“, wo es heißt: „Als Du ... beym Heldenväter-Mahle / Jünglinge beseeltest, sich mit Muth / Dir zu weihen, dich in schönem Blut, / Sympathie, im Tode dich zu singen, / Sich auf Ruhmesflügeln aufzuschwingen, / Wo der Freund zu harren ihm verhieß / Hinterm Grab’ im Väterparadies.“ (Herder 2006 [1815]:39; zu ähnlichen Formulierungen in Herders Lyrik vgl. Katharina Mommsen et al. (1976), „Nachwort“, in: Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, Historisch-kritische Ausgabe, Stuttgart: Reclam, S. 238.) Auch das – lt. Duden schon für das Mittelhochdeutsche belegte – Lexem ‚entarten’ wird von Herder herangezogen; so spricht er im Siebenten Buch des Zweiten Bandes seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit (1786) „von manchen europäischen Nationen, wie sie, versunken in die freche Ueppigkeit und den fühllosesten Stolz, an Leib und Seele entarten ...“ (Herder 2010 [1869]:58). – Auch Fichte beklagt in Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1943 [1806]), Zweite Vorlesung, bereits „entartete Geschlechter“ (S. 36). Um Missverständnisse zu vermeiden, sei allerdings ergänzt, dass es umstritten ist, inwieweit schon Fichte Rassismus vorgeworfen werden kann. So behauptet Alexander Aichele (2008), „Einleitung“, in: Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation [1808], Hamburg: Meiner, S. LXXIV, „daß Fichte trotz des nicht übersehbaren chauvinistischen Grundzugs des philosophischen wie politischen Konzepts, wie er es in den Reden an die deutsche Nation entwirft, keine rassistische Theorie vertritt. Denn trotz aller Bevorzugung des Deutschtums nimmt er zu dessen Differenzierung vom Ausland an keiner Stelle ethnische oder gar biologische Kriterien in Gebrauch.“ In diesem Sinne wendet sich Aichele (ebd., Fußnote 99) gegen Christian Strub (2004), „Absonderung des ‚Volks der lebendigen Sprache’ in deutscher Rede. Die Performanz von Fichtes Reden an die deutsche Nation“, in: Philosophisches Jahrbuch, 111, S. 384-415, der Fichtes Reden „als Rassismus für Gebildete vermittels philosophischer Legitimation der Ausgrenzung alles Undeutschen (vgl. ebd., 386)“ einstufe. – Es ist hier nicht der Ort, dieser Kontroverse im Einzelnen nachzugehen, aber wie das obige Zitat aus Fichtes Grundzügen zeigt, ist Fichtes Weltanschauung letztlich doch nicht völlig frei von biologischen Kriterien. Wenn, wie oben in Anlehnung an Jahnke (1998:100) bereits angeschnitten, „Jung versuchte, die Auseinandersetzung um den Rassebegriff von einer materiellen auf die übergeordnete geistig-seelische Ebene zu heben“, dann könnte „Rassismus für Gebildete“ eine nicht ganz unzutreffende Bezeichnung auch für Jungs weltanschauliche Konzeption sein. Blickt man zurück in die Geschichte, so erscheinen die Grundthesen der Konservativen Revolution der Weimarer Zeit jedenfalls eher eklektisch. 87

5 Historisch-linguistisches Fazit

5.1 Das Verhältnis der Jungkonservativen zum NS Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die generellen anti-demokratischen Zielsetzungen der Jungkonservativen sich mit denen der Nationalsozialisten unzweifelhaft überlappten, punktuell hier sogar von einer Identität zu sprechen ist.203 Noch 1931 schätzte gerade E. J. Jung die NS-Bewegung jedenfalls im Grundsatz positiv ein: In Hitler sah er zwar „kein[en] Staatsmann“, aber nichtsdestoweniger den „Verkünder eines neuen sozialen und politischen Ethos“; er sei zugegebenermaßen der „meisterhafte Formulierer der Massensehnsucht“.204 Auch 1932 sah Jung den Nationalsozialismus als eine im Prinzip politisch verwandte Bewegung an: „Der Nationalsozialismus ist unsere Volksbewegung ... [...] Denn hinter ihm steht als Massensehnsucht das konservative Erbbild“, und es gebühre dem Nationalsozialismus das „geschichtliche Verdienst ... die liberale Republik liquidiert zu haben, ein so gewaltiges Werk, dass der Dank der Konservativen ihm sicher ist“.205 Gleichzeitig wichen die ideologischen Standpunkte der Konservativen Revolution und der Nazis in zahlreichen Punkten aber auch voneinander ab. Trotz aller Verdienste im Kampf gegen die liberale Republik fehle der NSDAP, so Jung angesichts des damaligen Legalitätskurses Hitlers, letztlich doch die entschieden konservativ-revolutionäre Ausrichtung: Denn Hitler habe sich „in dem Kampf zwischen autoritärer Regierung und Parlament ... für das letztere entschieden“.206 Nach 1933 räumte Jung jedoch ein, dass sich Hitlers Legalitätstaktik ausgezahlt habe. Dies klingt auch in der Marburger Rede an, wo sich die reichlich hochtrabende Formulierung findet: „Die Geschichte hat der nationalsozialistischen Taktik recht gegeben, eine Erkenntnis, welche die konservativen Staatsmänner zum Bündnis mit der nationalsozialistischen Bewegung in jenen Stunden zu Beginn des Jahres 1933 veranlaßte.“ Meinungsdifferenzen gab es aber nicht nur in derlei eher tagespolitischen, sondern auch in ideologischen Grundsatzfragen. So sind speziell in der Kardinalfrage des Rassismus Unterschiede wie Ähnlichkeiten zu konstatieren: Zwar kann zumindest Jung nicht ein Rassismus in der Radikalität völkisch-nationalsozialistischer Vorstellungen unterstellt werden, dennoch finden sich auch bei ihm – wie wir sahen – Aussagen, die auf einen biologistischen Rassismus hindeuten. Diese These sei mit zwei Zitaten aus Jungs Hauptwerk Die Herrschaft der Minderwertigen untermauert, wo es zum einen heißt: „Ebensowenig wie das Lebens- und Daseinsrecht für alle Einzelmenschen gleich ist, ebenso

203 Vgl. Pfahl-Traughber, S. 93. Auch die nachfolgenden Abschnitte sind primär in Anlehnung an ebd., S. 93ff., formuliert. 204 E. J. Jung (1931), „Aufstand der Rechten“, in: Deutsche Rundschau, Nov. 1931, S. 84. (Vgl. Jenschke 1971:157) 205 E. J. Jung (1932b), „Neubelebung von Weimar?“, in: Deutsche Rundschau, Juni 1932, S. 160. 206 E. J. Jung (1932c), „Revolutionäre Staatsführung“, in: Deutsche Rundschau, Oktober 1932, S. 1-8, hier S. 1. 88 wenig für die Völker und Stämme“ (S. 98). Zum anderen betont Jung: „[Es] ... bleibt die Tatsache wertvoller und minderwertiger Rassen bestehen, und es folgt daraus die Forderung, das Wertvolle zu schützen“ (S. 121). Andererseits sprach Jung (wie eingangs bereits erläutert) unter Bezugnahme auf Lagarde davon, dass die Rasse mehr eine Sache des Gemütes als des Geblütes sei. Dies erklärt vielleicht, weshalb sich in Jungs politischer Konzeption – wie aufgezeigt – immerhin Raum für eine „übervölkische“ Europaidee fand, für die im einseitig völkischen Weltbild der damaligen Nationalsozialisten zweifellos kein Platz war. Letztlich ist Jungs Haltung zur Rassenfrage jedoch zumindest ambivalent. Ein ähnlich ambivalenter Befund ergibt sich bezüglich des Antisemitismus. Auch dieser ist zumindest latent bei den meisten konservativen Revolutionären vorhanden. Insbesondere vor der Meinungsführerschaft jüdischer Intellektueller in den Massenmedien entwickelten sich gerade in konservativen Kreisen starke Ängste. Dies belegt z. B. folgende Aussage Jungs: „Heute haben die Juden diese geistige Machtstellung inne und verteidigen sie mit einer Kraft, die Gegenwirkungen erzeugen muß.“207 Aber ein Holocaust war für Jung gewiss undenkbar. Wichtige Unterschiede zwischen konservativen Revolutionären und Nationalsozialisten zeigen sich zudem in Haltungsfragen. Die Jungkonservativen waren ja durchweg akademisch gebildete Intellektuelle und kultivierten eine dementsprechend elitäre Haltung; aus dieser Überlegenheitsposition heraus verabscheuten sie die auf niedrigstes Niveau abgestellte NS-Propaganda; insonderheit widerte sie das pöbelhafte Auftreten der SA an. Dementsprechend sah Jung in dem immer stärker vernehmbaren Ruf der SA nach einer ‚zweiten Revolution’ zweifellos eine Bedrohung für die eigenen, radikalkonservativen Positionen. Insbesondere die SA, letztlich aber die gesamte NSDAP wurde aus Jungs Sicht zweifellos nicht von Politikern angeführt, die jenen sozialen Schichten entstammten, denen das Vertrauen der konservativen Revolutionäre galt. Statt der erhofften neuen, von (Gesinnungs-)Adel geprägten Aristokratie schien mit den Nazis, deren Führungsriege bestenfalls aus mittleren Schichten stammte, eher der Pöbel an die Macht zu gelangen; um in Jungs eigener Terminologie zu bleiben, drohte sich 1933/34 eine bloße neue Variante der ‚Herrschaft der Minderwertigen’ zu etablieren. Eine Lösung, wie diese drohende Fehlentwicklung verhindert werden könnte, hatte Jung indes nicht vorzuweisen. Wie die meisten konservativen Revolutionäre besaß er wenig realpolitischen Sinn, und sein Versuch, Hitler im jungkonservativen Sinne zu leiten,

207 E. J. Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, S. 123. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat u. a. auch von Papen in einer Befragung im Rahmen der Nürnberger Prozesse. Auch in diesem Punkt gab es also eine weitestgehende Übereinstimmung zwischen dem Vizekanzler und seinem Redenschreiber, der in seinem Hauptwerk (1930:246) „Geld, Masse und Presse“ als „die drei großen Anonymen des zusammenbrechenden individualistischen Zeitalters“ identifiziert. (vgl. hierzu auch Jahnke 1998:64) – Eine ähnliche Furcht vor der (wirtschaftlichen) Überlegenheit der Juden („Jews and jobbers“ (S. 54)) klingt sogar schon bei Edmund Burke (2009 [1790]) an: „The next generation of the nobility will resemble the artificers and clowns, and money-jobbers, usurers, and Jews, who will be always their fellows, sometimes their masters.“ (S. 49) 89 scheiterte bekanntlich auf der ganzen Linie. Stattdessen musste Jung mit ansehen, wie Hitler zunehmend auch politisch nahestehende Kreise kompromisslos ausschaltete. Jungs zeitweilige Attentatspläne (siehe oben) können meines Erachtens nur als Verzweiflungsakt eines Politikers eingestuft werden, der sich längst als Verlierer wusste. Andernfalls müsste man Jung einen schier „totale[n] Verlust an Wirklichkeitssinn“ (Jenschke 1971:46) attestieren. Jedenfalls bewahrheitete sich für Jung genau das, was der bereits erwähnte Ständetheoretiker Heinz Brauweiler mit Blick auf die organische Staatstheorie schon 1930 zu bedenken gab, nämlich dass „die organische Theorie keine Heilmittel als den Appell an die Tugend und die Dienstwilligkeit der Menschen [habe]. Für die Politik ist das ein schlechtes Vehikel. Wer sich auf die Kraft des organischen Staatsgedankens zu sehr verläßt, kann leicht erleben, daß er ... eines Tages auf eine höchst unorganische Weise zu Grunde geht.“208 Genau dies ist Jung widerfahren. Dennoch erhob er immer wieder den Anspruch, ein ausgemachter Realpolitiker zu sein. Wie er selber indirekt zugab, war er aber eher ein rückwärtsgewandter Romantiker. Denn 1932 räumte er, wie erinnerlich, ein: „Es wird uns vorgeworfen, wir liefen neben oder hinter den politischen Kräften her, wir seien Romantiker, welche die Wirklichkeit nicht sehen und sich in Träume einer Reichsideologie steigern würden, die rückwärts gewandt sei.“ Doch, so wendet Jung ein: „Die Erscheinungsbilder, welche die Geschichte zeitigt, sind immer neu, die großen Ordnungsprinzipien (mechanistisch oder organisch) bleiben immer dieselben. Wenn wir deshalb an das Mittelalter anknüpfen und dort die große Form sehen, so verkennen wir nicht nur nicht die Gegenwart, sondern sehen sie realer als diejenigen, die nicht hinter die Kulissen zu schauen vermögen.“ (1932a:383 – Hervorhebung R.K.) Nicht das katholisch- ghibellinische Reichskonzept, vielmehr „die Wirklichkeit der liberalen Weltauffassung [habe] sich als illusionär herausgestellt“ (ebd.). Wie Carl Schmitt209 etwa zur gleichen Zeit konstatiert, war die gerade auch für Jung typische Aufteilung der Geschichte nach den Ordnungsprinzipien mechanisch und organisch ebenfalls ein Ausdruck romantischen Denkens. Zwar war diese Auffassung, „die im Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik sah“, gerade in Kreisen der Konservativen Revolution weit verbreitet. Doch obgleich er selbst der Konservativen Revolution zuzurechnen ist, hielt Schmitt es für „falsch ..., ein politisches Problem mit Antithesen von mechanisch und organisch, Tod und Leben zu lösen.“ Und er ergänzt: „die bequeme Antithese vom Organischen und Mechanischen ist in sich selbst etwas Roh-Mechanisches. Eine Gruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, ... hat nur den Wert einer romantischen Klage.“

208 Heinz Brauweiler (1930), „Bemerkungen zum organischen Staatsgedanken“, Der Ring, 3, H. 31, S. 532. 209 2009 [1932], S. 86f. 90

Aus diesem mangelnden Realitätssinn des Romantikers heraus hat Jung auch mit von Papen sozusagen ‚auf das falsche Pferd’ gesetzt,210 nicht zuletzt weil dieser es unterließ, sich, nachdem das Fanal für den rechtskonservativen Aufstand in Gestalt der Marburger Rede gesetzt war, unverzüglich mit dem Reichspräsidenten ins Benehmen zu setzen.211 Aber vielleicht gab man sich ja auch in weiten (rechts-)konservativen Kreisen mit der Ende Juni 1934 erfolgenden Entmachtung Röhms zufrieden. Jedenfalls ist bekanntlich die Reichswehrführung auf Kosten der SA ein Bündnis mit Hitler eingegangen, das die Etablierung des Führerstaates vollenden half. Spätestens seit Anfang 1934 dürfte Jung schmerzlich empfunden haben, welchen Anteil er selber mit seiner am autoritären Staatsideal ausgerichteten Publizistik an der fatalen Entwicklung zum Faschismus hatte.212 Die Wegbereiterfunktion der Konservativen Revolution im Allgemeinen wie seine eigene im Besonderen hat er sogar schon 1932 ausdrücklich hervorgehoben: „Die geistigen Voraussetzungen für die deutsche Revolution wurden außerhalb des Nationalsozialismus geschaffen. [...] Der Nationalsozialismus hat gewissermaßen das ‚Referat Volksbewegung’ in dieser großen Werksgemeinschaft übernommen. Er hat es grandios ausgebaut und ist zu einer stolzen Macht geworden. Wir freuen uns darüber nicht nur, sondern wir haben das Unsrige zu diesem Wachstum beigetragen. In unsagbarer Kleinarbeit, besonders in den gebildeten Schichten, haben wir die Voraussetzungen für jenen Tag geschaffen, an dem das deutsche Volk den nationalsozialistischen Kandidaten seine Stimme gab. Diese Arbeit war heroisch, weil sie auf den Erfolg, auf die äußere Resonanz verzichtete. [...] Ich habe Achtung vor der

210 Forschbach (1984:104f.) betont zwar unter Bezugnahme auf Leopold Ziegler (1955:53), dass Jung sich schon Anfang 1933 über Papens „Urteilslosigkeit“ sowie dessen „Mangel an Unterscheidungsvermögen und Menschenkenntnis“ durchaus im Klaren gewesen sei; dennoch hat Jung weiterhin versucht, Papen für die geplante Aktion gegen Hitler zu instrumentalisieren, was sich schließlich als äußerst unrealistisch erwies. 211 Dies wäre in den ersten Tagen nach der Marburger Rede, also noch bevor die Maßnahmen gegen Röhm und die SA einsetzten und Papen tagelang unter Hausarrest gestellt war, grundsätzlich möglich gewesen; allerdings hielt sich der kranke Hindenburg auf seinem Gut in Ostpreußen auf, und Besuche wurden grundsätzlich nicht zugelassen. Aber von Papen scheint, wie aus dem Beweisdokument PAPEN-19 der Nürnberger Prozessakten hervorgeht (1949:559f.), gar keine ernsthaften Anstalten für einen solchen Besuch unternommen zu haben: In der eidesstattlichen Versicherung eines mit Papen eng bekannten Grafen, die sich auf den damaligen Leibarzt des Reichspräsidenten, Prof. Adam, beruft, heißt es nämlich: „Professor Adam erklärte mir, daß Reichspräsident von Hindenburg damals mehrfach sein Erstaunen darüber geäußert hätte, daß Papen so lange entgegen dem beim Reichspräsidenten bestehenden Wunsche nicht bei ihm erschienen sei. Der Reichspräsident habe im Zuge der vorangegangenen Ereignisse Hitler und Herrn von Papen zusammen sprechen wollen, tatsächlich sei jedoch nur Hitler erschienen, der auf die Frage Hindenburg’s [sic] nach dem Verbleib Papen’s [sic] angegeben habe, Herr von Papen sei krank und könne deswegen nicht kommen. Professor Adam erklärte mir auch, daß der Gesundheitszustand Hindenburgs damals und auch vorher ohne weiteres einen Besuch erlaubt hätte.“ – So gesehen hat Jung von Papen in der Tat in jeder Hinsicht überschätzt. 212 Wie erinnerlich litt Jung in dieser Phase nach Forschbach (1984:82f.) schon seit längerem wieder „unter schweren Depressionen. Schließlich erkrankte er an Gelbsucht, die ihn wochenlang an das Bett fesselte. [...] Er schien zu resignieren.“ 91

Primitivität einer Volksbewegung, vor der Kämpferkraft siegreicher Gauleiter und Sturmführer. Aber ihre Arriviertheit gibt ihnen noch nicht das Recht, sich als das Salz der Erde zu betrachten und den geistigen Vorkämpfer gering zu achten. [...] Es geht nicht an, daß eine revolutionäre Bewegung ihre Gesetze von kleinbürgerlichen Parteibeamten empfängt, statt von den geistigen Repräsentanten.“213 Trotz der zum Schluss anklingenden Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus belegt dieses Zitat zweifelsfrei gerade Jungs intellektuelle Wegbereitung sowohl bei der Zerstörung der Weimarer Republik wie auch bei der Etablierung des Führerstaates.214 Jung war also nicht nur Widerständler, sondern – sogar vom eigenen Anspruch her – auch Wegbereiter.215 Auch seine Sprache führt, so wäre man geneigt zu sagen, zum nationalsozialistischen Sprachgebrauch hin. Allerdings ist bei solchen Zuschreibungen stets an die fachlichen Schwierigkeiten zu erinnern, die sich daraus ergeben, dass – wie bereits Utz Maas (1984) gezeigt hat – eine ‚Sprache des Nationalsozialismus’ nicht eindeutig zu isolieren ist.216 Jedenfalls sollte der Stil der Marburger Rede keineswegs mit dem undifferenzierten ‚wir- und unser-Stil‘ (Polenz 1978:168) der Nationalsozialisten gleichgestellt werden; der Versuch einer präzisen Abgrenzung dieser beiden Stilvarianten stößt indes auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Vielfältige Überlappungen sind unausbleiblich. Diese rühren allerdings auch daher, dass die Nationalsozialisten – bis vielleicht auf einige Partei- oder Rangbezeichnungen – auch sprachlich ja nichts neu erfunden haben: Praktisch der gesamte rassistische Sprachgebrauch – dies kann nicht oft genug betont werden – war schon längst vorgeprägt. Und vieles ist ja auch mit der so

213 E. J. Jung (1932b), „Neubelebung von Weimar?“, in: Deutsche Rundschau, Juni 1932, S. 158-160. – Zur Unterscheidung der Begriffe Konservative Revolution, Deutsche Revolution und Christliche Revolution sei mit Jahnke (1998:121) Folgendes hinzugefügt: Für Jung waren die drei genannten Begriffe grundsätzlich gleichbedeutend; es ergeben sich nur zeitbedingte Nuancen: „Betonte er [Jung] in den Jahren zwischen 1928 und 1932 noch vornehmlich die Zielkongruenz zwischen der KR und dem Nationalismus, und hob er ab 1932/33 den Führungsanspruch der KR gegenüber dem Nationalismus – und hier besonders gegenüber dem Nationalsozialismus hervor –, so verwies er ab der Jahreswende 1933/1934 verstärkt auf das christliche Fundament der KR.“ 214 Vgl. hierzu Pfahl-Traughber, S. 103f. 215 Vgl. hierzu u. a. Rudolph 1971:273: „Daß das Denken der radikalen ‚konservativen Revolution’ ... dem Faschismus und dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet hat, kann eigentlich kaum geleugnet werden“. Meist stehen diese Einschätzungen in der Tradition von Politologen wie Kurt Sontheimer. Vgl. dessen klassische Darstellung Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 1. Aufl. 1962, z. B. S. 282f. – Auch Jenschke kommt in seiner Dissertation zu dem Schluss, dass Jung den Nationalsozialismus „mitheraufbeschworen“ habe: „Erst als die durch solches Denken mitheraufbeschworene Gewaltherrschaft die Gefährdung des Menschen in seiner Personalität aufs äußerste sichtbar machte, besann sich Jung darauf, daß vor dem Begriff der Ordnung der der Freiheit zu stehen habe“ (Jenschke 1971:85). Diese späte Einsicht steht auch, wie wir oben sahen, hinter der Marburger Rede. 216 Vgl. hierzu unter anderem ebd.:236, wo Maas auf das in diesem Kontext aufschlussreichen Faktum verweist, dass es noch nicht einmal möglich ist, „den faschistischen Diskurs von vor der ‚Machtergreifung’ (etwa aus der Frühzeit der NSDAP als unbedeutender Sekte) mit dem Diskurs der Organisation des faschistischen Staates gleichzusetzen; von einem Diskurs der Herrschaft, der die Polyphonie der Texte in der Zeit nach 1933 bestimmt, kann in der Zeit vorher keine Rede sein.“ 92 genannten Stunde Null keineswegs untergegangen, ja lebt gerade in jüngster Zeit fatalerweise wieder auf, worauf unten noch einzugehen sein wird.

5.2 Ästhetischer Radikal-Konservatismus als diskurssemantische Grundfigur Festzuhalten bleibt, dass sich in Jungs Argumentation ein religiöser, ein reichisch- übervölkischer sowie ein sozialdarwinistisch-biologistischer Diskurs miteinander verschränken und gegenseitig stützen.217 Wie bei vielen konservativen Revolutionären offenbart sich auf diese Weise auch bei Jung ein entschieden elitärer Habitus,218 der sich nicht zuletzt in dem oben beschriebenen Ästhetizismus äußert,219 so dass als diskurssemantische Grundfigur220 auch bei Jung von einem – für die gesamte Konservative Revolution typischen – ästhetischen Radikal-Konservatismus gesprochen werden kann. Jungs Diskursposition kann plakativ als antiliberale Grundhaltung des heroischen Einzelnen,221 respektive der parteilosen (hoch)konservativen Besten dargestellt werden: Wie oben dargelegt geht es um den „Aufstand des Blutes gegen das Geld, des Menschen gegen den Apparat, der Würde gegen die Sklaverei.“222 Dieser elitäre Standpunkt ist mit einer Parteidiktatur, auch mit einer NS-Parteidiktatur, unvereinbar, wie Jung von Papen in der Marburger Rede andeuten ließ. Diese Anspielung wurde von den Mitgliedern des

217 Jenschke wirft Jung sogar eine „Verbindung von sozialdarwinistischen Ideen mit nacktem Machtdenken“ (1971:54) vor. 218 Wie sehr dieser elitäre Habitus der Kälte, im Sinne der bei Helmut Lethen (1994) beschriebenen ‚kalten persona’ (insb. S. 53ff.), auch auf Jung zutraf, zeigt das – beschwichtigend gemeinte (!) – Eingeständnis Forschbachs (1984:86), wonach sich Jung „mit den sozialen Problemen ... oft sehr schwer [tat]“. Eine fast wortgleiche Formulierung findet sich übrigens bereits bei Graß 1966:67. Und auf der folgenden Seite ergänzt Graß noch: „Das Problem der sozial Schwachen, Depossedierten und zur Selbstvorsorge Unfähigen wußte Edgar Jung charakteristischerweise nicht zu erfassen.“ (S. 68) 219 Auch Jung, der gerade mit der Marburger Rede den Anspruch verband, einen neuen staatsmännischen Stil zu konzipieren, vertritt die Auffassung, dass die prekäre soziale Position des Künstlers in der modernen liberalen Massendemokratie literarische Hochleistungen behindert und nur noch journalistische Flachheiten auf dem Niveau des politischen Tagesgeschwätzes instigiert. 220 Zu diesem Grundbegriff, der auch in das DIMEAN-Schema Aufnahme gefunden hat, vgl. Warnke/Spitzmüller 2008:40f. 221 Jenschke zufolge geht „diese Wertschätzung des Heroischen, des Helden als Idealgestalt der neu zu errichtenden gegliederten Gesellschaftsordnung ... sicher auch auf eine Rezeption der Vorstellung des von Jung in vielem bewunderten Nietzsche zurück. So ist es auch jenes von Nietzsche empfundene ‚Mitleid mit dem höheren Menschen’, das Jung selbst als einen höheren und würdigeren Wert dem ‚humanitären Allerweltsmitleid’ entgegensetzt.“ (Jenschke 1971:82f.; vgl. Jung 1930:95) – Nach Jahnke 1998:33 fasste Jung „unter dem Begriff Heroismus ... die wichtigsten psychologisch-seelischen Kriegserlebnisse zusammen.“ – Sontheimer (1992 [1962]:105) beschreibt den heroischen Menschen wie folgt: „Der Typus des stahlharten Frontkämpfers, der ohne Mitleid und grenzenlos selbstsicher mit der Rute des polemischen Wortes auf die Zeit einschlägt, kann vom Krieg nicht lassen, sondern muß die Fortsetzung des Krieges als seinen nationalen Auftrag proklamieren.“ Diese Beschreibung, die in ersten Linie auf Ernst Jünger gemünzt ist, scheint indes auch für Jung nicht unpassend. Gerade auch aus Jungs Sicht (vgl. 1930:15ff., 98 und 219ff.) sind die drei grundlegenden Komponenten des Heroismus Opferwille, Kameradschaft und Ehre, wobei der Ehrbegriff eng „an die Kategorien des Gewissens und der Würde“ (Jahnke 1998:33f.) gebunden ist. (Hervorhebungen bei Jahnke.) 222 Jung 1932a:380. 93

Marburger Universitätsbundes (wie der brausende Beifalls am Schluss der Rede beweist), sondern darüber hinaus in weiten (zumindest bürgerlichen) Kreisen sofort verstanden. Jedenfalls wurden die der Beschlagname entgangenen Exemplare der Rede wie auch der in der Frankfurter Zeitung erschienene Artikel unter der Hand vielfach verbreitet.

5.3 Frappierende Analogien zur Argumentation im Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr (Juli 1934) Aus heutiger Sicht darf man darüber allerdings nicht vergessen, dass auch Jung entschieden antidemokratisch argumentierte, sich als Identifikationsfigur für die heutige Jugend also entschieden nicht eignet, zumal die partielle Ähnlichkeit seiner Argumentation mit der nationalsozialistischen Hitler – wie Jung ja selber für sich in Anspruch nimmt – auch den Weg bereiten half. Einen besonders krassen Fall von argumentativer Überlappung schildert Jenschke (1971:104f.). Demzufolge gilt auch nach Jung: „Da die Gemeinschaft ... von sich aus schon immer einen Höchstwert darstellt, ist der von ihr ausgehende Machtgebrauch, sofern er nur nicht demokratischer Natur ist, in jedem Fall gerechtfertigt. In diesem Sinne ist für Jung dann auch durchaus vorstellbar, ‚daß ein Einzelner das wahre Recht in höherem Maße vertritt als die Gesamtheit, wenigstens in einer Gesellschaft, die individualistisch zersplittert und jeden Wertgehaltes entleert ist. Wenn deshalb eine wertfreie oder gar wertlose Herrschaft der Philister oder der Spießbürger besteht ..., so kann die Machtanmaßung des Führers aus eigenem Rechte sittlich gerechtfertigt sein ...’“ (Binnenzitat aus: Jung 1930:275f. – Hervorhebung im Original) Es liegt durchaus auf der Linie dieser Argumentation Jungs, wenn die Regierung Hitler in dem berüchtigten Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934 verkündete: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.“223 Diesen angeblichen Maßnahmen der Staatsnotwehr ist, wie wir sahen, Jung selber zum Opfer gefallen. Diese bittere Ironie des Schicksals wird noch verstärkt durch das Faktum, dass ein anderer Vertreter der Konservativen Revolution, der Staatsrechtler Carl Schmitt, „mit fast der gleichen Begründung [wie die oben zitierte Jungs von 1930] ... die vom Führer des deutschen Volkes veranlaßten Morde ... für rechtens erklärt, da der Führer ‚kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft ... [und] Inhalt und Umfang seines Vorgehens selbst bestimmen’ kann. Auch hier stammte alles Recht wie bei Jung aus dem Lebensrecht des Volkes.“224 Und noch 1933 hatte Jung sich über diejenigen mokiert,

223 Zitiert nach: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, hg. und kommentiert von Walther Hofer, Frankfurt 1957 u.ö., S. 70. – Vgl. hierzu auch Graß 1966:291, der resümiert: „Mit diesem Gesetz war auch politisch die Röhm-Krise beendet. Hitler hatte sich, vielleicht schneller und deutlicher als er selbst erwartete, so durchgesetzt, daß sein Griff nach dem höchsten Amt im Staate kaum noch behindert werden konnte.“ 224 Jenschke 1971:105; Binnenzitat aus: Carl Schmitt (1940), „Der Führer schützt das Recht“, in: Positionen und Begriffe im Kampf gegen Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg, S. 200. 94 die „in den Vorstellungen des Rechtsstaates [wurzeln] und ... sich bei mancher Gewalttat nicht beruhigen [können]. Ihnen sei gesagt, daß die Gewalt ein Element des Lebens ist. ... eine treibende Kraft, die zu Zeiten notwendig wird und Gutes schafft. Ein Volk, das zu keiner Gewaltäußerung mehr fähig ist, steht im Verdachte biologischen Niedergangs.“225 Bei diesen frappierenden Analogien dürften viele Zeitgenossen schlicht überfordert gewesen sein, wenn es darum ging, die zum Teil hauchfeinen Unterschiede, durch die sich Jung diskursiv vom Nationalsozialismus abgrenzte, wahrzunehmen.226 Gerade deshalb ist auch heute das Wiederaufkommen rechtskonservativer Diskurse unter Bezugnahme auf die Konservative Revolution der Zwischenkriegszeit besorgniserregend.

6 Aktuelle Lesweisen Diskurse können unterirdisch weiter fließen und wieder an die Oberfläche treten. Mit Siegfried Jäger muss man in der Tat zu dem Schluss kommen: „Der Spuk ist noch nicht vorbei“: „Diese Rechte ist immer noch Bestandteil unserer Welt".227 Einschlägige Organe der heutigen Rechtspresse, wie die Junge Freiheit, greifen die Argumentation der Konservativen Revolution auf; solche Organe können deshalb mit einigem Recht als

225 Jung 1933,b:62; vgl. auch Jenschke 1971:181. 226 Graß 1966:57 resümiert hierzu, dass sich Jung bei „der Abgrenzung zum Nationalsozialismus“ „mehr und mehr der versteckten Anspielung, der subtilen Distanzierung, der Abdeckung eigener Thesen durch Lobpreisungen des Nationalismus, also der literarischen Camouflage [bediente]. Jung beherrschte diese Methode ausgezeichnet, überforderte aber zu jenem Zeitpunkt sowohl Papen wie dessen Zuhörer.“ – Diese Überforderung zeigte sich auch bei einem Vortrag, den Jung am 07. Februar 1934 in Zürich vor Studenten hielt. Die vielleicht mit den internen deutschen Verhältnissen nicht im Detail vertrauten Zuhörer verstanden Jungs Vortrag weniger als Kritik, sondern „im wesentlichen als Verteidigung des Nationalsozialismus“ (Graß 1966:204). „Natürlich hielt sich Jung im Ausland noch mehr zurück, um [den Nazis] keine Handhabe zu bieten“ (ebd.). Und trotz des grundsätzlichen Missverständnisses „fand [Jungs Vortrag] ... große Beachtung“ (ebd.:205). – Wir haben gesehen, wie Jung diesen ductus obliquus gerade auch in seiner Marburger Rede meisterhaft handhabt, die trotzdem ebenfalls große Beachtung fand. Hier konnten (hochgebildete) „Konservative ... bei Aufmerksamkeit ihre Anschauungen entdecken“ (Graß 1966:58). – Was generell die Breitenwirkung von Jungs Reden angeht, lag in dieser Taktik jedoch auch ein entschiedener Nachteil: „Völlig deutlich verstand sie nur der Eingeweihte“ (ebd.). 227 Vgl. Siegfried Jäger u. a. (1998), Der Spuk ist nicht vorbei. Völkisch-nationalistische Ideologeme im öffentlichen Diskurs, Duisburg: DISS (Internetausgabe) 2004; vgl. ebenso: Jäger, Siegfried und Jobst Paul, Hgg. (2001), „Diese Rechte ist immer noch Bestandteil unserer Welt". Aspekte einer neuen Konservativen Revolution. Duisburg: DISS, Münster: Unrast.

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‚Plagiate’ bezeichnet werden.228 In der Tat scheint in jüngster Zeit zumindest in Deutschland konservativ-revolutionäres Denken sozusagen ‚geklont’ zu werden.229 Gerade die Polyphonie der Marburger Rede, d. h., die gezielte Vagheit der Ideologeme und Stileme, bietet sich auch heute für abweichende Lesweisen an. Wir hatten oben bereits die Problematik gestreift, dass auch heute noch – z. B. durch die so genannte Monarchieliga – monarchistische Lesweisen der Marburger Rede (sogar im Netz – zusammen mit einem Abdruck der Rede) vorgehalten werden. Es überrascht nicht, dass sich Monarchisten insbesondere auf folgende Stelle beziehen, wo Jung von Papen sagen lässt: „... meine ich, wird der deutsche Staat dermaleinst seine Krönung in einer Staatsspitze finden, die ein- für allemal den politischen Kämpfen, der Demagogie und dem Streit der wirtschaftlichen und ständischen Interessen entrückt ist“. Derlei Stellungnahmen sollen in ihrer abstrusen Romantik hier allerdings nicht weiter verfolgt werden, zumal es ja – wie oben gezeigt – durchaus zweifelhaft ist, ob Jung je Monarchist war. Weit schwieriger dürfte gerade für jüngere Menschen indes die Auseinandersetzung mit Stellungnahmen sein, deren Einseitigkeit ohne genaueres Hintergrundwissen nicht zu erkennen ist. So heißt es im evangelischen Pfälzischen Pfarrerblatt: „Als einen doppelten Märtyrer darf man den fast vergessenen Ludwigshafener Lehrersohn Edgar Julius Jung bezeichnen. Seine christliche Gesinnung wurde Jung bereits 1934 im Zuge des sog. Röhm- Putsches zum Verhängnis.“ Um einen ‚doppelten’ Märtyrer handele es sich bei Jung insofern, als er auch heute – zumindest in kirchlichen Kreisen – totgeschwiegen werde: Denn „in einer vom Verein Pfälzischer Pfarrerinnen und Pfarrer im Jahre 2004 veranstalteten Neuauflage [eines wichtigen kirchlichen Dokumentenbandes] ... findet sich [zwar] der Auszug aus von Papens [Marburger] Rede wieder, aus dem Namensregister [des Dokumentenbandes] ist Jung aber herausgefallen, was zum Vergessen des Blutzeugen weiter beitragen mochte ...“.230 Immerhin wird eingestanden, dass Jung sich „aufgrund seiner protestantisch konservativen Einstellung ... wie führende Protestanten seiner Zeit in politischen Gruppierungen [betätigte], die der Weimarer Republik kritisch bis ablehnend gegenüberstanden“ (ebd.). Auch wird eingeräumt, dass Jung „zunächst ... den Aufstieg der NSdAP“ [sic] begrüßte. Dann wird jedoch Jungs entschiedener Widerstand gegen das Hitler-Regime hervorgehoben, und zwar ohne zu problematisieren, dass Jung – ähnlich wie

228 Vgl. hierzu Helmut Kellershohn, der diesen Begriff speziell auf die Junge Freiheit anwendet: Siehe H. Kellershohn (Hg.) (1994), Das Plagiat. Der völkische Nationalismus der Jungen Freiheit, [DISS- Publikation], Münster: Unrast. Vgl. auch als neuere Publikation: Stefan Kubon (2006), Die bundesdeutsche Zeitung ‚Junge Freiheit’ und das Erbe der ‚Konservativen Revolution’, Eine Untersuchung zur Erfassung der Kontinuität ‚konservativ-revolutionärer’ politischer Ideen, Würzburg: Ergon [Phil.-soz. Diss., Augsburg, 2005] sowie Stephan Braun und Ute Vogt (Hgg.) (2007), Die Wochenzeitung ‚Junge Freiheit’, Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten und Kunden, Wiesbaden: VS Verlag. 229 Siehe Jahnke 1998:222, der zudem speziell von der Jungen Freiheit sagt, dass „sie sich dezidiert als publizistischen Nachlassverwalter der KR versteht.“ (Ebd.:225) 230 Zitiert nach: http://www.pfarrerblatt.de/text_145.htm, zuletzt eingesehen am 21. Jan. 2010. 96

Stauffenberg – als Vorbild für die gegenwärtige demokratische Jugend entschieden nicht geeignet ist. Denn eines darf doch nicht vergessen werden (wie Karl Martin Graß bereits 1966 in seiner Heidelberger, von Werner Conze betreuten Dissertation klarstellt): „Jung war kein Demokrat und wünschte auch nicht die Erhaltung der Demokratie“ (S. 25). Vergleichbar affirmative Stellungnahmen lassen sich gerade auch in der heutigen Rechtspresse nachweisen. Ein exemplarisches Beispiel bietet der Artikel von Jürgen W. Gansel aus dem Parteiorgan der NPD: „KONSERVATIVE REVOLUTION. Aus tiefstem Willen zur Erhaltung zerstören. Edgar Julius Jung, der den Klassiker ‚Die Herrschaft der Minderwertigen’ verfasste, starb vor 70 Jahren“.231 Dieser Artikel aus dem Parteiorgan der NPD, dem inzwischen ein weitgehend gleichlautender zum 75. Todestag Jungs gefolgt ist,232 beginnt mit dem Zitat der oben angeführten Definition Jungs von Konservativer Revolution aus dem Jahre 1932. Bezeichnenderweise wird zum Schluss des Zitats der Begriff „Volkspersönlichkeit“ durch den – zumindest mit Blick auf den heutigen Leser – verdaulicheren Begriff „Volksgemeinschaft“ abgemildert. Man scheut offensichtlich auch vor unrichtigen Zitaten nicht zurück, wenn es darum geht, unbedarfte (junge) Leser für rechtslastige Positionen einzunehmen. Eine dezidiert rechtskonservative Argumentation wird noch deutlicher in einem Artikel aus der Wochenzeitung Junge Freiheit, der ebenfalls zum 70. Todestag Jungs erschienen ist: „Denker der organischen Revolution – Geist und Tat: Vor 70 Jahren wurde der konservative Publizist und NS-Gegner Edgar Julius Jung ermordet“, von Baal Müller.233 Dieser durchweg affirmative Artikel endet nämlich mit einer bezeichnenden Kritik: „Zwar wollte Jung keinen neuen Mythos verkünden, aber er glaubte, ein neues mythisches Zeitalter, das sich erst noch seine Formen schaffen muß, heraufziehen zu sehen. Es bleibt fraglich, ob er mit seinem Versuch, zu dieser Formbildung ein politisches Programm beizusteuern, nicht selbst in den Konstruktivismus von Aufklärung und Moderne zurückfallen mußte“ (ebd.). Jung, so muss man dieser Kritik doch wohl entnehmen, war dem Verfasser offenbar noch nicht rechtsextrem genug. In einem Artikel der Jugendzeitschrift Blaue Narzisse aus dem Jahre 2007„Edgar Julius Jung – Vordenker eines neuen Staates“234 bedauert Daniel Bigalke, dass Jung heute – sofern man ihn überhaupt noch kennt – oft als Wegbereiter des Nationalsozialismus hingestellt wird: „Der Jurist und politische Philosoph Edgar Julius Jung (1894-1934) ist heute entweder gar nicht mehr bekannt oder wird von den wenigen, die sich seines

231 In: Deutsche Stimme, 06 (2004), S. 16. 232 Jürgen W. Gansel, „Zerstörung aus dem Willen zur Erhaltung“, Deutsche Stimme vom 28. Mai 2009. 233 Aus: Junge Freiheit vom 25. Juni 2004; zuletzt eingesehen am 21. Jan. 2010 unter: http://www.jungefreiheit.de/Archiv.611.0.html. 234 Siehe: http://www.blauenarzisse.de/v3/index.php/anstoss/172-edgar-julius-jung--vordenker-eines-neuen-staates, zuletzt eingesehen am 31. Jan. 2010. 97

Namens erinnern und dies mit Abneigung tun, als Vordenker des Nationalsozialismus gewertet. Seine publizistische Tätigkeit in der Weimarer Republik hätte Hitler den Weg bereitet und sei nationalistisch, so schreibt selbst der CDU-Politiker Friedbert Pflüger in einem Buch von 1994“ (ebd.).235 Es sei deshalb dringend geboten herauszustreichen, so Bigalke, dass Jung vielmehr „als Vordenker einer Theorie von Demokratie und Staat gesehen werden muß, die allein aus dem Phänomen seiner Zeit zu verstehen und mit heutigen Maßstäben von ‚Demokratie’ nicht zu messen ist“ (ebd.). Diese durchsichtige Immunisierungsstrategie gegen Kritik aus heutiger demokratischer Sicht (wobei vor einer Umdefinition des Begriffs ‚Demokratie’ im Sinne der KR nicht zurückgescheut wird) ist nicht akzeptabel, zumal die vorliegende Ausarbeitung gezeigt hat, dass Jung keinesfalls nur Widerständler, sondern in der Tat auch Wegbereiter war. Wenn diese Arbeit einen Beitrag dazu leistet, derartige Vereinfachungen, wie Bigalke sie im obigen Zitat vornimmt, zu problematisieren, dann hat sie ihnen Sinn erfüllt. Dann ist überdies der Beweis erbracht, dass unter Umständen gerade sprachwissenschaftliche Analysen zur Klärung historisch-politischer Fragen einen unterstützenden Beitrag leisten können. In gewissem Sinne haben linguistische Untersuchungen rein inhaltlich ausgerichteten Quellenanalysen sogar etwas voraus: Hier konkret insofern, als die Sprachwissenschaft dem dezidiert künstlerisch-aphoristischen Zug, durch den sich die damalige KR auszeichnete, eher gerecht werden kann; denn dieser künstlerisch- aphoristische Aspekt ist meines Erachtens ohne die Bezugnahme auf sprachliche Phänomene (wie beispielsweise den hier so bezeichnenden Stilzug der Ästhetisierung) nicht vollgültig zu erfassen.236

235 Mit der erwähnten Publikation Pflügers ist offensichtlich gemeint: Friedbert Pflüger (1994), Deutschland driftet: Die Konservative Revolution entdeckt ihre Kinder, München: ECON. – Mit dieser „parteipolitische[n] Streitschrift“ setzt sich allerdings auch Jahnke 1998:227 (vgl. hier auch die Fußnoten 532 und 533) – offensichtlich berechtigterweise – kritisch auseinander. 236 Eine ähnliche Argumentation – wenn auch in etwas anderem Zusammenhang – findet sich, wie eingangs schon angedeutet, auch in der Dissertation von Schoeps (1974:9). 98

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8 Anhang

Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund237

Marburg, 17. Juni 1934

Am 21. Februar 1933, also in den stürmischen Tagen, da der Nationalsozialismus seine Herrschaft im Deutschen Reiche antrat, versuchte ich in einer Rede vor der Berliner Studentenschaft, den Sinn der Zeitenwende zu erläutern. Ich spräche - so führte ich damals aus - an einer Stelle, welche der Erforschung der Wahrheit und der geistigen Freiheit gewidmet sei. Damit wolle ich mich nicht zu den liberalen Vorstellungen von Wahrheit und Freiheit bekennen. Die letzte Wahrheit läge allein bei Gott, und das Forschen nach ihr erhielte nur von diesem Ausgangspunkt her seinen letzten Sinn. An meine damaligen Ausführungen knüpfe ich heute, wo es mir wiederum vergönnt ist, auf akademischem Boden – in dem mittelalterlichen Juwel, in der Stadt der heiligen Elisabeth – zu stehen, an und füge hinzu, daß, mag auch das Ideal der objektiven Wahrheit unbestritten sein, die Pflicht zur subjektiven Wahrheit, also zur Wahrhaftigkeit, von uns Deutschen gefordert wird, wollen wir nicht auf die elementarste Grundlage menschlicher Gesittung verzichten. Diese der Wissenschaft gewidmete Stätte scheint mir deshalb als besonders geeignet, eine Rechenschaft der Wahrhaftigkeit vor dem Deutschen Volke abzulegen. Denn die Stimmen, die fordern, daß ich grundsätzliche Stellung nähme zum deutschen Zeitgeschehen und zum deutschen Zustande, werden immer zahlreicher und drängender. Man sagt, ich hätte durch die Beseitigung des Weimarer Preußenregimes und durch die Zusammenfassung der nationalen Bewegung einen so entscheidenden Anteil an der deutschen Entwicklung genommen, daß mir die Pflicht obliege, diese Entwicklung schärfer zu beobachten als die meisten anderen Deutschen.

237 Nach: http://www.monarchieliga.de/text/jung-edgar-julius/marburger-rede.htm; punktuell korrigiert nach Abgleich mit: a) „Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund. Marburg am 17. Juni 1934.“, In: DER PROZESS GEGEN DIE HAUPTKRIEGSVERBRECHER VOR DEM INTERNATIONALEN MILITÄRGERICHTSHOF. NÜRNBERG. 14. NOVEMBER 1945 – 1. OKTOBER 1946. VERÖFFENTLICHT IN NÜRNBERG, DEUTSCHLAND, 1949, Bd. XL, AMTLICHER TEXT, DEUTSCHE AUSGABE. URKUNDEN UND ANDERES BEWEISMATERIAL, DOKUMENT PAPEN-11, S. 543-558. – b) Edmund Forschbach, Edgar J. Jung, ein konservativer Revolutionär, 30. Juni 1934, Pfullingen: Neske, 1984, S. 153-174. (Forschbach gibt an (S. 154), dass der von ihm wiedergegebene Text „der Druckschrift [entnommen ist], die ... im Juni 1934 im Verlag ‚Germania AG’ Berlin SW68 erschienen ist.“ Dennoch gibt es vereinzelt Abweichungen zum amtlichen Text, bei dem es sich um eine „vom Verteidiger begl[aubigte] Ab[schrift]“ eben dieser Druckschrift handelt (S. 543). Aber auch diese beglaubigte Abschrift ist nicht fehlerfrei. In den meisten Fällen handelt es sich indes um offensichtliche Schreibfehler, die im vorliegenden Zusammenhang kaum erheblich sind und meinerseits bereinigt wurden. Die Absatzeinteilung erfolgt der amtlichen Vorgabe. Sperrdruck wird hier der besseren Lesbarkeit halber kursiv wiedergegeben; dies erleichtert auch die Bearbeitung durch computerlinguistische Konkordanzprogramme.) 107

Ich habe nicht die Absicht, mich dieser Pflicht zu entziehen. Im Gegenteil – meine innere Verpflichtung an Adolf Hitler und sein Werk ist so groß, und so sehr bin ich der in Angriff genommenen Erneuerung Deutschlands mit meinem Herzblut verbunden, daß es vom menschlichen wie vom staatsmännischen Gesichtspunkt aus eine Todsünde wäre, nicht das zu sagen, was in diesem entscheidenden Abschnitt der deutschen Revolution gesagt werden muß. Das Geschehen der letzten anderthalb Jahre hat das ganze deutsche Volk erfaßt und in seinen Tiefen aufgewühlt. Fast wie ein Traum liegt es über uns, daß wir aus dem Tal der Trübsal, der Hoffnungslosigkeit, des Hasses und der Zerklüftung wieder zur Gemeinschaft der deutschen Nation zurückgefunden haben. Die ungeheueren Spannungen, in denen wir seit den Augusttagen 1914 gestanden, sind aufgebrochen, und aus ihnen erhebt sich wieder einmal die deutsche Seele, vor der die glorreiche, und doch so schmerzhafte Geschichte unseres Volkes, von den Sagen der deutschen Helden bis zu den Schützengräben von Verdun, ja bis zu den Straßenkämpfen unserer Tage, vorüberzieht. Der unbekannte Soldat des Weltkrieges, der mit hinreißender Energie und mit unerschütterlichem Glauben sich die Herzen seiner Volksgenossen eroberte, hat diese Seele frei gemacht. Mit seinem Feldmarschall hat er sich an die Spitze der Nation gestellt, um in dem deutschen Schicksalsbuch eine neue Seite aufzuschlagen und die geistige Einheit wiederherzustellen. Diese Einheit des Geistes haben wir in dem Rausch von tausend Kundgebungen, Fahnen und Festen einer sich wiederfindenden Nation erlebt. Nun aber, da die Begeisterung verflacht, die zähe Arbeit an diesem Prozeß ihr Recht fordert, zeigt es sich, daß der Läuterungsprozeß von solch historischem Ausmaße auch Schlacken erzeugt, von denen er sich reinigen muß. Schlacken dieser Art gibt es in allen Bezirken unseres Lebens, in den materiellen und den geistigen. Das Ausland, das uns mit Mißgunst betrachtet, weist mit dem Finger auf diese Schlacken und deutet sie als einen ernsten Zersetzungsprozeß. Es möge sich nicht zu früh freuen, denn wenn wir die Energie aufbringen, uns von diesen Schlacken zu befreien, dann beweisen wir gerade damit am besten, wie stark wir innerlich sind und wie entschlossen, den Weg der deutschen Revolution nicht umfälschen zu lassen. Wir wissen, daß die Gerüchte und das Geraune aus dem Dunklen, in das sie sich flüchten, hervorgezogen werden müssen. Eine offene und männliche Aussprache frommt dem deutschen Volke mehr als beispielsweise der ventillose Zustand einer Presse, von welcher der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda festgestellt hat, daß sie „kein Gesicht mehr“ habe. Dieser Mangel besteht ohne Zweifel. Die Presse wäre ja eigentlich dazu da, die Regierung darüber zu unterrichten, wo sich die Mängel eingeschlichen haben, wo sich Korruption eingenistet hat, wo schwere Fehler gemacht werden, wo ungeeignete Männer am falschen Platze stehen, wo gegen den Geist der deutschen Revolution gesündigt wird. Ein anonymer oder geheimer Nachrichtendienst, mag er noch so trefflich organisiert sein, vermag nie diese Aufgabe der Presse zu ersetzen. Denn der Schriftleiter steht unter

108 gesetzlicher und gewissensmäßiger Verantwortung, die anonymen Lieferanten von Nachrichten dagegen sind unkontrollierbar und der Gefahr des Byzantinismus ausgesetzt. Wenn aber die berufenen Organe der öffentlichen Meinung das geheimnisvolle Dunkel, welches zur Zeit über die deutsche Volksstimmung gebreitet scheint, nicht genügend lichten, so muß der Staatsmann selber eingreifen und die Dinge beim Namen nennen. Ein solches Vorgehen soll beweisen, daß die Regierung stark genug ist, anständige Kritik zu ertragen, daß sie sich des alten Grundsatzes erinnert, wonach nur Schwächlinge keine Kritik dulden. Wenn das Ausland behauptet, in deutschen Landen sei die Freiheit gestorben, so soll es durch die Offenheit meiner Darlegungen darüber belehrt werden, daß die deutsche Regierung es sich leisten kann, von sich aus brennende Fragen der Nation zur Debatte zu stellen. Dieses Recht hierzu erwirbt sich allerdings nur, wer sich ohne Vorbehalte dem Nationalsozialismus und seinem Werke zur Verfügung gestellt und ihm seine Loyalität bewiesen hat. Diese einleitenden Worte waren nötig, um zu zeigen, in welchem Geiste ich an meine Aufgabe, rückhaltlose Rechenschaft über den deutschen Zustand und die deutschen Ziele abzulegen, herangehe. Nun lassen Sie mich kurz die Lage umreißen, wie ich sie vorfand, als das Schicksal mich für die Leitung der deutschen Geschicke mitverantwortlich machte. Die staatlichen Autoritäten standen im Verfall und vermochten der Auflösung aller natürlichen und von Gott gewollten Verbindungen nicht zu steuern. Der Mangel an Führung und Tatkraft hatte einen Grad erreicht, der im deutschen Volke den Wunsch nach einer festen Hand immer stärker werden ließ. Die Opposition der Frontgeneration und der Jugend war unwiderstehlich geworden. Der allgemeinen Parteienzerklüftung entsprach das Umsichgreifen einer verhängnisvollen Mutlosigkeit. Die Arbeitslosigkeit wuchs und mit ihr der soziale Radikalismus. Daß diesen Übeln nicht mit kleinen Mitteln zu begegnen sei, sondern durch einen geistigen und politischen Umschwung, sahen nicht nur die rechtsstehenden Gruppen des deutschen Volkes, vor allen Dingen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, sondern war die allgemeine Ansicht der parteimäßig nicht gebundenen Besten unseres Volkes. Die Umwertung aller Werte, wie Nietzsche sagt, war gerade geistig vorbereitet worden, und es ist deshalb ein Unrecht, wenn der berechtigte Kampf gegen einen gewissen „Intellektualismus“ heute in einen solchen gegen den „Geist“ überhaupt umgemünzt wird. Die geschichtliche Wahrheit ist, daß die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Kurswechsels auch von solchen Menschen anerkannt und betrieben wurde, die den Weg des Umschwungs über eine Massenpartei scheuten. Ein Anspruch auf ein revolutionäres oder nationales Monopol für bestimmte Gruppen erscheint mir deshalb als übersteigert, ganz abgesehen davon, daß er die Volksgemeinschaft stört. Ich habe am 17. März 1933 in Breslau darauf hingewiesen, daß sich in den Nachkriegsjahren eine Art von konservativ-revolutionärer Bewegung entwickelt hat, die sich vom Nationalsozialismus wesentlich nur durch die Taktik unterschied. Da die deutsche Revolution gegen die Demokratisierung und ihre verhängnisvollen Folgen kämpfte, so

109 lehnte der neue Konservativismus folgerichtig jede weitere Demokratisierung ab und glaubte an die Möglichkeit des Ausschaltens pluralistischer Kräfte von oben. Der Nationalsozialismus dagegen ging zunächst den Weg der Demokratie zu Ende, um dann vor der allerdings nicht leichten Frage zu stehen, wie die Ideen der unbedingten Führung, der restlosen Autorität, des aristokratischen Ausleseprinzips und der organischen Volksordnung zu verwirklichen seien. Die Geschichte hat der nationalsozialistischen Taktik recht gegeben, eine Erkenntnis, welche die konservativen Staatsmänner zum Bündnis mit der nationalsozialistischen Bewegung in jenen Stunden zu Beginn des Jahres 1933 veranlaßte. Auf diesen Tatbestand muß verwiesen werden, wenn allzu eifrige, manchmal sogar allzu jugendliche Revolutionäre mit dem Schlagwort „reaktionär“ auch diejenigen abtun wollen, die sich in vollem Bewußtsein der Aufgabe unterzogen, welche die Zeit an sie stellte. Denn für den echten Politiker sind nur folgende Grundhaltungen möglich: Er kann die Notwendigkeiten der Zeit verkennen, und an diesem Mangel scheitern; er kann sich dem Zuge der Zeit entgegenstemmen und deshalb unterliegen; er kann sich aber auch zum Vorkämpfer dessen machen, was unerbittlich getan werden muß und so das Gebot der Geschichte erfüllen. Wer diese Haltung angenommen hat, ist über hohle Schlagworte erhaben, insbesondere über das der Reaktion, welches übrigens verdächtig an die Gott sei Dank überwundenen marxistischen Zeitläufte erinnert. Außerdem muß sich der Staatsmann noch über ein zweites Erfordernis klar werden, nämlich darüber, daß eine Zeitenwende zwar eine totale ist, also alle Lebensäußerungen und Lebensumstände erfaßt und verändert; daß aber vor diesem gewaltigen Hintergrund das politische Geschehen des Vordergrunds sich abspielt, auf welches allein der Begriff der Politik angewandt werden darf. Der Staatsmann und Politiker kann den Staat reformieren aber nicht das Leben selbst. Die Aufgaben des Lebensreformators und des Politikers sind grundverschiedene. Aus dieser Erkenntnis heraus hat der Führer in seinem Werk „Mein Kampf“ erklärt, die Aufgabe der Bewegung sei nicht die einer religiösen Reformation, sondern die einer politischen Reorganisation unseres Volkes. Die Zeitenwende als totaler Begriff entzieht sich deshalb bis zu einem gewissen Grade der staatlichen Formung. Nicht alles Leben kann organisiert werden, weil man es sonst mechanisiert. Der Staat ist Organisation, das Leben ist Wachstum. Gewiß bestehen zwischen dem Leben und der Organisation Beziehungen und Wechselwirkungen, sie haben aber Grenzen, die ohne Gefahr für das Leben nicht überschritten werden dürfen. Denn gerade darin besteht das Wesen einer Revolution, daß der lebendige Geist gegen die Mechanik anrennt. Der Bolschewismus ist deshalb nicht die wirkliche Revolution des 20. Jahrhunderts, sondern ein Sklavenaufstand, der die endgültige Mechanisierung des Lebens herbeiführen möchte. Die wahre Revolution des 20. Jahrhunderts – so führte ich schon in meiner Berliner Universitätsrede aus – ist die der heroischen und gottverbundenen Persönlichkeit gegen unlebendige Fesselung, gegen Unterdrückung des göttlichen Funkens, gegen Mechanisierung und Kollektivierung, die nichts anderes ist als letzte Entartung des

110 bürgerlichen Liberalismus. Kollektivismus ist der Individualismus der Masse, die nicht mehr das Ganze, sondern nur noch sich selber will. Wie ein neues Zeitgefühl in einem Volke entsteht und wächst, darüber weiß zumeist der sehr wenig, der selber an einer Wende steht. Er macht es sich nicht leicht, ihren Sinn zu begreifen. Aber soviel wissen wir aus der Geschichte, daß eine Revolution gewissermaßen nur der politische Stempel auf eine von der Geschichte vorgelegte Urkunde ist. Der neue Mensch, als das Ergebnis einer Zeitenwende, wächst; der Staat dagegen muß von der menschlichen Vernunft gestaltet werden. Wohl formt der Staat auch den Menschen, es wäre aber eine Illusion, wollte man annehmen, daß die grundsätzliche Änderung des menschlichen Wertgefühls vom Staat aus gemacht werden könnte. So kann der Staat wohl eine Geschichtsauffassung begünstigen und um ihre Vereinheitlichung besorgt sein. Aber er kann sie nicht kommandieren. Entspringt sie doch der Weltanschauung die jenseits des Staatlichen wurzelt. Sie fußt auch auf exakter Forschung, deren Mißachtung sich immer rächt. Wenn ich an das Problem der Geschichtsdeutung für die Gegenwart denke, so erinnere ich mich mit Vergnügen der Frage, die mein Geschichtsprofessor an mich zu richten pflegte: „Wie hätte sich die deutsche Geschichte entwickelt, wenn Friedrich der Große Maria Theresia geheiratet hätte?“ Der Sinn der Zeitenwende ist klar: Es geht um die Entscheidung zwischen dem gläubigen und dem ungläubigen Menschen, es geht darum, ob alle ewigen Werte verweltlicht werden sollen oder nicht, ob der Vorgang der Säkularisation, der Entheiligung, wie er vor einigen Jahrhunderten einsetzte, zur Entgöttlichung des Menschengeistes und damit zum Zerfall jeglichen Kultur führt, oder ob der Glaube an die Transzendenz und die ewige Weltordnung wieder das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen grundlegend bestimmt. Auf diesem geschichtlichen Hintergrund vollzieht sich das politische Geschehen auch der deutschen Revolution. Der Staatsmann hat die Aufgabe, morsche Formen und zerfallene Werte abzuschreiben, die nach neuem Leben drängenden ewigen Werte in ihrem Wachstum zu fördern, sie der staatsschöpferischen Gestaltung zugrunde zu legen. War die liberale Revolution von 1789 die Revolution des Rationalismus gegen die religio, gegen die Bindung, so kann die Gegenrevolution, die sich nun im 20. Jahrhundert vollzieht, nur eine konservative in dem Sinne sein, als sie nicht rationalisiert und auflöst, sondern alles Leben wieder unter die natürlichen Gesetze der Schöpfung stellt. Dies ist wohl der Grund, weshalb auch der Kulturleiter der NSDAP, Alfred Rosenberg, in Königsberg von einer konservativen Revolution sprach. Daraus ergehen sich auf politischem Gebiet folgende klare Folgerungen: Die Zeit der Emanzipation des jeweils niedrigsten Standes gegen die höheren Stände ist vorüber. Dabei geht es nicht darum, einen Stand niederzuhalten – das wäre reaktionär –, sondern zu verhindern, daß ein Stand aufsteht, sich des Staates bemächtigt und für sich den Totalitätsanspruch erhebt. Jede natürliche und göttliche Ordnung muß so verlorengehen; es droht die Revolution in Permanenz. Der Staat ist vielmehr die Herrschaftsmitte des

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Volksganzen, in welchem jeder Stand biologisch ausgegliedert wird und jeder einzelne durch natürliche Auslese an seinem Platze steht. Wahre Herrschaft aber umfaßt das Volksganze und drängt jeden Sonderanspruch irgendeines Standes oder einer Klasse zurück. Ziel der deutschen Revolution, wenn sie für Europa gültig und vorbildlich sein will, muß deshalb die Begründung einer natürlichen sozialen Ordnung sein, die dem unablässigen Kampf um die Herrschaft ein Ende macht. Wahre Herrschaft kann nicht von einem Stand oder einer Klasse hergeleitet werden. In diese Klassenherrschaft aber ist noch immer das Prinzip der Volkssouveränität gemündet. Deshalb kann eine antidemokratische Revolution nur dann zu Ende gedacht werden, wenn sie mit dem Grundsatz der Volkssouveränität bricht und wieder zu dem der natürlichen und göttlichen Herrschaft zurückkehrt. Damit darf nicht etwa die Entrechtung des Volkes verwechselt werden. Aus der Demokratie kann eine anonyme Tyrannis werden, während aus echter verantwortlicher Herrschaft niemals die Vernichtung der Volksfreiheit hergeleitet werden kann. Ich weiß, wie sehr der Führer wünscht, daß im Volke das Gefühl für echte verantwortliche, gerechte Herrschaft lebendig bleibt. Deshalb meine ich, wird der deutsche Staat dermaleinst seine Krönung in einer Staatsspitze finden, die ein für allemal den politischen Kämpfen, der Demagogie und dem Streit der wirtschaftlichen und ständischen Interessen entrückt ist. Neben dem Erfordernis eines Herrschaftsprinzips aus höherer Verantwortung und überpersönlicher Dauer steht – sich gegenseitig bedingend – die Notwendigkeit der Stiftung einer neuen sozialen Ordnung. Das Gefühl ihrer Notwendigkeit bewegt alle europäischen Völker, welche die gewaltigen Veränderungen der Industrialisierung, der Verstädterung, der Technisierung und der Kapitalisierung durchgemacht haben. Daß diese Sehnsucht nach sozialer Neuordnung insbesondere im Faschismus und Nationalsozialismus lebt, braucht nicht besonders betont zu werden. Andererseits aber erkennen wir, wie ungemein schwierig es ist, Masse, die den Zusammenhang mit Blut und Boden verlor, wieder in Volk zurückzuverwandeln, da doch die gesunden ständischen Bindungen und Rangordnungen im liberalen Zeitalter verlorengegangen sind. Der Nationalsozialismus legt deshalb entscheidenden Wert darauf, die Seele dieser Massen zunächst für Volk und Staat zurückzugewinnen. Dies geschieht in der Hauptsache durch Erziehung, Zucht und Propaganda. Das nationalsozialistische System erfüllt somit zunächst die Aufgabe, zu welcher der Parlamentarismus zu schwach geworden war: den unmittelbaren Kontakt mit den Massen wieder herzustellen. Es ist so eine Art von direkter Demokratie entstanden, der es gelungen ist‚ die dem Staat entgleitenden Massen wieder zu gewinnen. Hinter dieser zeitbedingten Notwendigkeit steht aber als revolutionäres Ziel ein viel größeres: die Stiftung einer sozialen Ordnung, die auf gemeingültigen organischen Formen beruht und nicht nur auf einer geschickten Beherrschung der Masse. Während die Französische Revolution im Parlament und im allgemeinen Wahlrecht grundlegende Formen schuf, muß es das Ziel der konservativen Revolutionen sein, durch organisch ständischen Aufbau zu solch allgemeinen gültigen Prinzipien vorzustoßen. Die Vorherrschaft einer einzigen Partei an Stelle des mit

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Recht verschwundenen Mehr-Parteiensystems erscheint mir geschichtlich als ein Übergangszustand, der nur so lange Berechtigung hat, als es die Sicherung des Umbruchs verlangt und bis die neue personelle Auslese in Funktion tritt. Denn die Logik der antiliberalen Entwicklung verlangt das Prinzip einer organischen politischen Willensbildung, die auf Freiwilligkeit aller Volksteile beruht. Nur organische Bindungen überwinden die Parteien und schaffen jene freiheitliche Volksgemeinschaft, die am Ende dieser Revolution stehen muß. Eine weitere entscheidende Tatsache dieser Revolution des 20. Jahrhunderts ist das Ende des Kosmopolitismus, der nichts ist als die Frucht der liberalen Vorstellung von der alles beherrschenden Macht der Weltwirtschaft. Dem gegenüber steht das völkische Erwachen, jene fast metaphysische Rückbesinnung auf die eigenen Blutsquellen, die geistigen Wurzeln, die gemeinsame Geschichte und den Lebensraum. Erst heute entwickeln wir wieder jenes gesunde Gefühl für die geschichtliche Einheit von Körper und Seele, von Sprache und Sitte, die ihrem Wesen nach außerstaatlich und als Gegenpol zum Staate notwendig ist. Während in der Nationaldemokratie Volkstum und Staat in eins zusammenfließen, begreifen wir jetzt wieder die fruchtbare Spannung zwischen Volk und Staat, aus der heraus dem Staate jene Kräfte zugeführt werden, ohne die er zum leeren Mechanismus wird. Deshalb ist auch völkisches Bewußtsein etwas anderes als der nationalstaatlich empfundene Nationalismus. Während dieser zur Abschließung der Völker voneinander, zu gegenseitiger Zerfleischung und damit zur Balkanisierung Europas führt, hat das gestärkte völkische Bewußtsein die Tendenz, die Heiligkeit aller Volkstümer anzuerkennen. Das völkische Erwachen macht somit die Bahn frei für übervölkische Zusammenarbeit. Ich habe in Dortmund bereits darauf hingewiesen, daß die moderne Technik die Schaffung wirtschaftlicher Großräume verlange; daß das von den überseeischen Kontinenten unter schärfsten Wettbewerb genommene Europa seinen Lebensstandard nur dann notdürftig erhalten könne, wenn gewissermaßen die europäischen Gesamtunkosten geringer werden. Der Weg zu dieser Bildung wirtschaftlicher Großräume, wie sie vom Zeitalter des Flugzeuges mit des Kraftwagens verlangt werden, führt über jene Heiligung der Volkstümer und über die Vorstellung von großstaatlichen Zusammenschlüssen, welche die Volkstümer unberührt und ungekränkt lassen. Dazu gehört aber die freiwillige Preisgabe eines Staatstotalismus, der kein gewachsenes Eigenleben anerkennt. Dazu gehört vor allem die Einsicht in das Wesen des Herrschaftsstaates, der zwar nichts zuläßt, was gegen den Staat angeht, aber auch nicht beansprucht, daß alles durch den Staat geschehe. Bei der Entwicklung dieses Zielbildes der deutschen Revolution bin ich mitten in die Problematik der gegenwärtigen Lage geraten, der ich getreu meinen einleitenden Worten nicht aus dem Wege gehen möchte. Die Frage, die als Grundproblem der Zeitenwende von mir aufgeworfen wurde, die Scheidung in gläubige und ungläubige Menschen, berührt die Auseinandersetzung um die Staatsauffassung. Ein Staat muß sich entscheiden, ob er religiös

113 oder weltlich sein will. Die geschichtliche Logik verlangt, daß auf den liberalen, weltlichen Staat von 1789 der religiös fundierte Staat der deutschen Gegenrevolution folge. Man soll aber den religiösen Staat, der sich auf ein lebendiges Gottesbekenntnis stützt, nicht etwa verwechseln mit einem verweltlichten Staat, in dem diesseitige Werte an Stelle des Jenseitsglaubens gesetzt und mit religiösen Ehren verbrämt werden. Auch hier gilt ein Wort des Führers aus dem Werk „Mein Kampf“, wo er schreibt: „Ich stehe nicht an zu erklären, daß ich in den Männern, die heute die völkische Bewegung in die Krise religiöser Streitigkeiten hineinziehen, schlimmere Feinde meines Volkes sehe, als in dem nächstbesten international eingestellten Kommunisten.“ Gewiß ist die äußere Achtung vom dem religiösen Bekenntnis ein Fortschritt gegenüber jener ehrfurchtslosen Haltung, wie sie ein entarteter Rationalismus zeitigte. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wirkliche Religion die Bindung an Gott und nicht an jene Ersatzmittel ist, die gerade durch die materialistische Geschichtsauffassung eines Karl Marx in das Bewußtsein der Völker eingeführt worden sind. Wenn nun weite Kreise, gerade aus dem Gesichtspunkt des totalen Staates und der restlosen Einschmelzung des Volkes heraus, eine einheitliche Glaubensgrundlage fordern, so sollten sie nicht vergessen, daß wir glücklich sein müssen, eine solche Grundlage im Christentum zu besitzen. Sie sollten sich auch überlegen, ob die behauptete Krise des Christentums nicht – wie häufig behauptet wird – Folge der Überlebtheit oder der Unlebendigkeit der christlichen Heilswahrheit ist, sondern ob nicht vielleicht den rationalisierten und liberalisierten Menschen weitgehend die innere Fähigkeit, das Mysterium Christi zu erfassen, abhandengekommen ist. Ich bin der Überzeugung, daß die christliche Lehre schlechthin die religiöse Form alles abendländischen Denkens darstellt, und daß mit dem Wiedererwachen der religiösen Kräfte eine neue Durchdringung auch des deutschen Volkes mit christlichem Gute stattfindet, dessen letzte Tiefe eine durch das 19. Jahrhundert gegangene Menschheit kaum mehr erahnt. Um diese Entscheidung, ob das neue Reich der Deutschen christlich sein wird oder sich in Sektierertum und halbreligiösem Materialismus verliert, wird gerungen werden. Sie wird einfach sein, wenn alle Versuche, sie von der Staatsgewalt her in Richtung einer gewaltsamen Reformation zu beeinflussen, unterbleiben. Es ist zuzugeben, daß in dem Widerstand christlicher Kreise gegen staatliche oder parteiliche Eingriffe in die Kirche ein politisches Moment liegt. Aber nur deshalb, weil politische Eingriffe in den religiösen Bezirk die Betroffenen zwingen, aus religiösen Gründen den auf diesem Gebiet widernatürlichen Totalitätsanspruch abzulehnen. Auch als Katholik habe ich Verständnis dafür, daß eine auf Gewissensfreiheit aufgebaute religiöse Überzeugung es ablehnt, sich von der Politik her im Ureigensten kommandieren zu lassen. Man soll sich deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, daß etwa aufgezwungene Glaubenskämpfe Kräfte auslösen würden, an denen auch Gewalt scheitern muß. Man sollte auch in jenen Kreisen, die eine neue arteigene religiöse Einigung erhoffen, sich einmal die Frage stellen, wie sie sich die Erfüllung der deutschen Aufgabe in Europa vorstellen, wenn wir uns freiwillig aus der Reihe der christlichen Völker ausschalten. Jedes Wirken in den

114 europäischen Raum hinein erscheint mir unter solchen Voraussetzungen als unmöglich. Die Tatsache einer gemeinsamen europäischen Kultur und Zivilisation, für die wir selbst so viel beigesteuert haben, verpflichtet trotz aller völkischen Besonderheiten der einzelnen Kulturleistung. Wir dürfen uns nicht geistig an den Grenzen abschließen und uns freiwillig ins Ghetto begeben. Hier liegt die wirkliche Reaktion, das Sichverschließen gegenüber der geschichtlichen Notwendigkeit und der Sendung eines Volkes, das, wenn es ein wirklich großes Volk war, noch immer den Gedanken des Reiches pflegte. Der alte Zwiespalt zwischen Welf und Waibling, der sich durch die ganze deutsche Geschichte hinzieht, wird wieder lebendig und fordert eine Entscheidung. Wer darüber unterrichtet ist, was sich in Europa heute in den besten Köpfen und den edelsten Seelen vollzieht, der fühlt förmlich, wie eine neue Ghibellinen-Partei in Europa zu keimen beginnt, die in sich das Ideal jenes aristokratischen Grundgedankens der Natur trägt, von dem der Führer spricht, und die getrieben wird von der Sehnsucht nach einem glücklicheren Erdteil. Erneuerer sein heißt, über die zeitlichen Vorteile und Vorurteile hinwegblicken, nach jenen ewigen Ordnungen streben, die zu allen Zeiten und bei allen Nationen in der Sehnsucht der Besten lebte. Es hat keinen Zweck, vor sich selber zu verbergen, daß eine gewisse Kluft zwischen dem geistigen Wollen und der täglichen Praxis der deutschen Revolution sich aufgetan hat. Das ist auch nicht erstaunlich! Um dieser Gefahr zu begegnen, soll man sich die Frage nach den Ursachen dieses Zustandes vorlegen. Sie sind darin zu suchen, daß in der deutschen Revolution – wie dies häufig in der Geschichte der Fall ist – die geistige Umkehr mit einem sozialen Umbruch zusammentrifft. Die geistige Umkehr strebt nach dem erwähnten aristokratischen Grundgedanken der Natur, der soziale Umbruch dagegen läuft Gefahr, bis zu einem gewissen Grade von jener Dynamik beeinflußt zu werden, welche seinerzeit schon politisch den Marxismus trug. In einer solchen Lage steht die Führung vor einer ungeheuren Aufgabe, deren Lösung den ganzen schweren und großen Entschluß des wahren Staatsmannes erfordert. Diese Aufgabe hatte für eine ähnliche geschichtliche Situation Conrad Ferdinand Meyer in seiner meisterhaften Novelle „Die Versuchung des Pescara“ erschöpfend umschrieben, wenn er Martin Luthers Stellung zu den Bauernkriegen folgendermaßen umreißt: „Ein weltbewegender Mensch hat zwei Ämter: er vollzieht, was die Zeit erfordert, dann aber – und das ist sein schwereres Amt – steht er wie ein Gigant gegen den aufspritzenden Gischt des Jahrhunderts und schleudert hinter sich die aufgeregten Narren und bösen Buben, die mittun wollen, das gerechte Werk übertreibend und schändend.“ Daß dieses gewaltige Amt, das zu allen Zeiten dem Revolutionär aufgegeben ist, noch auszuüben ist, wird nicht verkannt. Die Führung wird darüber zu wachen haben, daß kein neuer Klassenkampf unter anderen Feldzeichen sich wiederholt. Sie will das Volksganze und lehnt es deshalb bei aller Anerkennung nationaler Verdienste ab, das Volk für alle Zeiten in eine bevorrechtete Klasse und eine solche minderen Rechts einzuteilen. Eine solche Haltung entspräche dem fast hundertprozentigen Bekenntnis des deutschen Volkes

115 vom 12. November 1933 zur neuen Staatsführung. Zwar ist es selbstverständlich, daß die Träger des revolutionären Prinzips zunächst auch die Machtpositionen besetzen. Ist aber eine Revolution vollzogen, so repräsentiert die Regierung nur die Volksgesamtheit, niemals aber ist sie der Exponent einzelner Gruppen; sie müßte sonst bei der Bildung der Volksgemeinschaft scheitern. Dabei muß man auch mit falschen romantischen Vorstellungen brechen, die in das 20. Jahrhundert nicht passen. So können wir nicht daran denken, die Einteilung des Volkes nach altgriechischem Muster in Spartiaten und Heloten zu wiederholen. Am Ende einer solchen Entwicklung hatten die Spartiaten nichts zu tun, als die Heloten niederzuhalten, wodurch die außenpolitische Kraft Spartas geschwächt wurde. Im Staate der wahren Volksgemeinschaft muß endlich einmal der innenpolitische Schlachtruf verstummen. Gewiß muß es eine Auslese geben. Aber das natürliche Ausgliederungs- und Ausleseprinzip ist nicht durch das Bekenntnis zu einer bestimmten Formation zu ersetzen, solange die Motive dieses Bekenntnisses unerforschbar bleiben. Darum hat der Nationalsozialismus immer darum gekämpft, das Parteibuch durch menschliche Bewährung und Leistung abzulösen. Andererseits ist Adel nicht nur ein Bluts-, sondern auch ein geistiges Prinzip. Es geht deshalb nicht an, den Geist mit dem Schlagwort Intellektualismus abzutun. Mangelnder oder primitiver Intellekt berechtigen noch nicht zum Kampfe gegen Intellektualismus. Und wenn wir uns heute manchmal über 150prozentige Nationalsozialisten beklagen, dann sind es solche Intellektuellen ohne Boden, solche, die Wissenschaftlern von Weltruf ihre Existenz bestreiten möchten, weil sie kein Parteibuch besitzen. Der im Wesen und im Blute wurzelnde Geist aber ist charaktervoll, unbestechlich, der Erkenntnis und dem Gewissen verhaftet. Ihm gilt unter allen Umständen die Achtung der Nation, weil sie eine Sünde wider die Schöpfung begeht und sich selbst verleugnet, wenn sie den Geist verneint. Hüten wir uns vor der Gefahr, die geistigen Menschen von der Nation auszuschließen, und seien wir des Umstandes eingedenk, daß alles Große aus dem Geiste kommt, auch in der Politik. Man wende auch nicht ein, die geistigen Menschen entbehrten der Vitalität, ohne die ein Volk nicht geführt werden könne. Der wahre Geist ist so lebenskräftig, daß er sich für seine Überzeugung opfert. Die Verwechslung von Vitalität und Brutalität würde eine Anbetung der Gewalt verraten, die für ein Volk gefährlich wäre. Übelster Intellektualismus ist allerdings die Herrschaft des Schlagwortes. Da gibt es grundliberale Leute, die keinen Satz aussprechen, ohne das Wort „liberalistisch“ zu mißbrauchen. Sie meinen, die echte Humanität wäre liberalistisch, wo sie doch in Wahrheit eine Blüte der antik-christlichen Kultur ist. Sie bezeichnen die Freiheit als liberalen Begriff, wo sie doch in Wahrheit urgermanisch ist. Sie gehen an gegen die Gleichheit vor dem Richter, die als liberale Entartung angeprangert wird, wo sie doch in Wirklichkeit die Voraussetzung jedes gerechten Spruches ist. Diese Leute unterdrücken jenes Fundament des Staates, das noch allezeit, nicht nur in liberalen Zeiten, Gerechtigkeit hieß. Ihre Angriffe richten sich gegen die Sicherheit und

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Freiheit der privaten Lebenssphäre, die sich der deutsche Mensch in Jahrhunderten schwerster Kämpfe errungen hat. Auch der Satz „Männer machen Geschichte“ wird häufig mißverstanden. Mit Recht wendet sich deshalb die Reichsregierung gegen einen falschen Personenkult, der das Unpreußischste ist, was man sich nur vorstellen kann. Große Männer werden nicht durch Propaganda gemacht, sondern wachsen durch ihre Taten und werden anerkannt von der Geschichte. Auch Byzantinismus kann über diese Gesetze nicht hinwegtäuschen. Wer deshalb von Preußentum spricht, soll zunächst an stillen und unpersönlichen Dienst, aber erst zuletzt, am besten gar nicht, an Lohn und Anerkennung denken. Die Erziehung eines Volkes zum Dienst am Staate ist ein selbstverständliches Gebot und muß um so härter einsetzen, je lässiger sie von dem Weimarer Regime gepflegt wurde. Aber man soll sich über die biologischen und psychologischen Grenzen der Erziehung nichts vormachen. Auch der Zwang endet an dem Selbstbehauptungswillen der echten Persönlichkeit. Gefährlich sind die Reaktionen auf den Zwang. Als alter Soldat weiß ich, daß straffste Disziplin durch gewisse Freiheiten ergänzt werden muß. Auch der gute Soldat, der sich mit Freude bedingungslosem Gehorsam unterwarf, zählte die Tage seiner Dienstzeit, weil das Freiheitsbedürfnis der menschlichen Natur eingewurzelt ist. Die Anwendung militärischer Disziplin auf das Gesamtleben eines Volkes muß sich deshalb in Grenzen halten, die der menschlichen Anlage nicht zuwiderlaufen. Jeder Mensch braucht Stunden, in denen er der Familie, der Erholung oder sich selbst gehört. In dieser Erkenntnis hat der Reichsunterrichtsminister verfügt‚ den Sonntag wieder zu einem Tag zu machen, welcher der Kirche und der Familie gehört. Verwerflich aber wäre der Glaube, ein Volk gar mit Terror einen zu können. Die Regierung wird dahin laufenden Versuchen begegnen, denn sie weiß, daß jeder Terror Ausfluß eines bösen Gewissens ist, das ungefähr der schlechteste Berater ist, den sich die Führung erlauben darf. Die wahre Erziehung, die immer Zucht ist, kann nur aus sittlichen Grundsätzen hergeleitet werden. Wahrhaft sittliche Grundsätze vermag aber nur der Glaube an eine höhere Weltordnung zu vermitteln. Vaterlandsliebe, Opferwille und Hingabe sind nur dann von Bestand, wenn sie als göttliches Gebot im Einzelmenschen wurzeln. Wir dürfen uns deshalb nicht in den Bann des polemischen Schlagwortes vom Einzelnen, der nichts bedeutet, begeben. Der Führer fordert von seiner Bewegung, „daß sie nie zu vergessen habe, daß im persönlichen Wert der Wert alles Menschlichen liege, daß jede Idee und jede Leistung das Ergebnis der schöpferischen Kraft eines Menschen ist, und daß die Bewunderung vor der Größe nicht nur ein Dankeszoll an diese darstellt, sondern auch ein einendes Band um die Dankenden schlingt.“ Ich habe deshalb die Probleme der deutschen Revolution und meine Stellung dazu so scharf umrissen, weil das Gerede von der zweiten Welle, welche die Revolutionen vollenden werde, kein Ende nehmen will. Wer verantwortungslos mit solchen Gedanken spielt, der soll sich nicht verhehlen, daß einer zweiten Welle leicht eine dritte folgen kann,

117 daß, wer mit der Guillotine droht, am ehesten unter das Fallbeil gerät. Auch ist nicht ersichtlich, wohin diese zweite Welle führen soll. Es wird viel von der kommenden Sozialisierung gesprochen. Haben wir eine antimarxistische Revolution erlebt, um das Programm des Marxismus durchzuführen? Denn Marxismus ist jeder Versuch, die soziale Frage durch Kollektivierung des Eigentums zu lösen. Wird dadurch das deutsche Volk reicher‚ wird sein Volkseinkommen größer, geht es irgend jemanden besser als allenfalls denen, die bei einem solchen Raubzug Beute wittern? Gewiß gibt es ein soziales Problem, hervorgerufen durch wirtschaftliche und bevölkerungspolitische Vorgänge. Diese sind aber nur zu meistern, wenn das Eigentum wieder unter Verantwortung gestellt wird, nicht dadurch, daß die kollektive Verantwortungslosigkeit zum herrschenden Prinzip erhoben wird. Sie darf daher auch nicht zum Prinzip einer sich immer mehr von eigener Initiative und Verantwortlichkeit entfernenden Planwirtschaftsweise gemacht werden. Denn wer noch nicht gemerkt hat‚ daß jede Form des Kollektivismus zu unausrottbarerer Korruption führt, der ist bisher blind durch die Welt gegangen. Kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es vor der Geschichte bestehen will. Einmal muß die Bewegung zu Ende kommen, einmal ein festes soziales Gefüge, zusammengehalten durch eine unbeeinflußbare Rechtspflege und durch eine unbestrittene Staatsgewalt, entstehen. Mit ewiger Dynamik kann nicht gestaltet werden. Deutschland darf nicht ein Zug ins Blaue werden, von dem niemand weiß, wann er zum Halten kommt. Die Geschichte fließt von allein, es ist nicht notwendig, sie unablässig zu treiben. Wenn deshalb eine zweite Welle neuen Lebens durch die deutsche Revolution gehen sollte, so nicht als soziale Revolution, sondern als schöpferische Vollendung des begonnenen Werkes. Der Staatsmann ist dazu da, Formen zu schaffen; seine einzige Sorge gilt Staat und Volk. Der Staat ist die alleinige Macht und der letzte Garant für das, worauf jeder Staatsbürger Anspruch hat: auf eiserne Gerechtigkeit. Der Staat kann deshalb auf die Dauer auch keinen Dualismus ertragen, und von dem Frage, ob es gelingt, den Dualismus zwischen Partei und Staat einer befriedigenden Lösung zuzuführen, hängt der Erfolg der deutschen Revolution und die Zukunft unseres Volkes ab. Die Regierung ist wohlunterrichtet über all das, was an Eigennutz, Charakterlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Unritterlichkeit und Anmaßung sich unter dem Deckmantel der deutschen Revolution ausbreiten möchte. Sie täuscht sich auch nicht darüber hinweg, daß der reiche Schatz an Vertrauen, den ihr das deutsche Volk schenkte, bedroht ist. Wenn man Volksnähe und Volksverbundenheit will, so darf man die Klugheit des Volkes nicht unterschätzen, muß sein Vertrauen erwidern und es nicht unausgesetzt bevormunden wollen. Das deutsche Volk weiß, daß seine Lage eine ernste ist, es spürt die Wirtschaftsnot, es erkennt genau die Mängel mancher aus der Not geborenen Gesetze, es hat ein feines Gefühl für Gewalt und Unrecht, es lächelt über plumpe Versuche, es durch eine falsche Schönfärberei zu täuschen. Keine Organisation und keine noch so gute Propaganda wird auf die Dauer allein imstande sein, das Vertrauen zu erhalten. Ich habe deshalb die

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Propagandawelle gegen die sogenannten „Kritikaster“ anders aufgefaßt, als dieses von manchen geschah. Nicht durch Aufreizung, insbesondere der Jugend, nicht durch Drohungen gegenüber hilflosen Volksteilen, sondern nur durch eine vertrauensvolle Aussprache mit dem Volke kann die Zuversicht und die Einsatzfreude gehoben werden. Das Volk weiß, daß ihm schwere Opfer zugemutet werden. Es wird sie ertragen und dem Führer in unerschütterlicher Treue folgen, wenn man es mitraten und -taten läßt, wenn nicht gleich jedes Wort der Kritik als Böswilligkeit ausgelegt wird, und wenn verzweifelnde Patrioten nicht zu Staatsfeinden gestempelt werden. Als der deutsche U-Bootkrieg England im Lebensnerv traf, machte die englische Presse das englische Volk auf die ganze Schwere der Gefahr aufmerksam. Der Erfolg war, daß die Engländer wie ein Mann zur Abwehr zusammenstanden. Gerade angesichts des geistigen und materiellen Boykotts, dem wir in der Welt ausgesetzt sind, zeigt dieses Beispiel, wie stark das Verhältnis zwischen Führung und Volk auf Vertrauen aufgebaut sein muß, wenn es um letzte Dinge geht. Ein entmündigtes Volk hat kein Vertrauen zu verschenken. Es ist an der Zeit, in Bruderliebe und Achtung vor dem Volksgenossen zusammenzurücken, das Werk ernster Männer nicht zu stören und doktrinäre Fanatiker zum Verstummen zu bringen. Die Regierung warnt diejenigen, die nicht sehen wollen, daß die Deutschen ein Volk unter Völkern inmitten Europas sind, daß die spärlichen, überlieferten Güter, die wir gerettet haben, zusammengehalten werden müssen und wir uns keine leichtfertige Zerstörung überkommener Werte leisten können. Verleugnen wir das große Kulturerbe, mißachten oder mißhandeln wir die tausendjährige Geschichte unseres Volkes, die dreitausendjährige unseres Erdteils, so werden wir die großen Chancen, die das 20. Jahrhundert nochmals dem Kernvolke Europas bietet, verpassen. Weltgeschichte wird heute dort gemacht, wo man lächelnd auf das kranke Europa herabsieht. Wenn Europa seinen Anspruch auf Führung in der Welt aufrechterhalten will, dann ist keine Stunde mehr zu verlieren, um alle seine Kräfte der geistigen Wiedergeburt zu widmen und die kleinlichen Querelen zu begraben. Die Welt steht in gewaltigen Veränderungen, nur ein verantwortungsbewußtes, zuchtvolles Volk wird führen. Wir Deutschen können uns aus Ohnmacht zu der gebührenden Stellung emporarbeiten, wenn wir Geist mit Energie, Weisheit mit Kraft, Erfahrung mit Tatwillen paaren. Die Geschichte wartet auf uns, aber nur dann, wenn wir uns ihrer als würdig erweisen.

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