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Lothar Müller (Berlin)

Die Schattenbeschwörerin Festrede zum 150. Geburtstag von , 18. Juli 2014

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Das Jahr 1864 war ein Kriegsjahr. Im Frühjahr hatte die Erstürmung der Düppeler Schanzen nach wenigen Wochen den ersten der drei Kriege entschieden, deren letzter 1871 mit der Kaiserkrönung und Proklamierung des Deutschen Reiches in Versailles endete. Ricarda Huch wurde im Juli 1864 in diese Entwicklung zum kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung hineingeboren, sie gehörte der ersten Generation an, die im neuen Deutschen Kaiserreich aufwuchs. Sie erlebte die rasch voranschreitende technisch-industrielle Modernisierung, die Deutschland von einem agrarisch geprägten Land in eine moderne Industrienation verwandelte, das Wachstum der Großstädte. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war sie gerade fünfzig Jahre alt geworden, und sie wurde alt genug, um nicht nur den Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Novemberrevolution zu erleben, sondern auch die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Deutschland, den Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches, das es noch nicht gegeben hatte, als sie geboren war. Es ist vielleicht kein Zufall, daß aus der Generation, zu der Ricarda Huch zählte, die Gründungsfiguren der Soziologie in Deutschland stammten, die etwas älteren Ferdinand Tönnies und Georg Simmel, der mit ihr gleichaltrige Max Weber. Sie machten die Soziologie zum Beobachtungsinstrument der modernen Gesellschaft, und auf dieses Beobachtungsobjekt wirkten nicht nur die Kräfte der Rationalisierung, Bürokratisierung und Versachlichung ein, sondern auch die Energien der Auflösung, Neuformierung und Verflüssigung traditioneller Lebensformen. Die Liebesverwirrungen und Affektspannungen, von denen die Biographie des Soziologen Max Weber durchzogen ist, standen mit den Veränderungen des Wirtschaftslebens, die er erforschte, in enger Verbindung. Sie waren Teil der Turbulenzen, von denen die Welt des Bürgertums insgesamt erfasst wurde. Georg Simmel prägte im Blick auf die verstörenden Seiten dieser Turbulenzen die Formel, der Zugewinn an Freiheit, den das moderne Leben mit sich bringe, müsse sich im Bewußtsein derjenigen, die ihn erleben, nicht notwendig als Wohlbefinden niederschlagen. Ricarda Huch hat der Soziologie in ihrem eigenen Werk entschlossen den Rücken gekehrt. Aber wer das Pathos und die Intensität in ihrer Hinwendung zur Geschichte und Geschichtsschreibung des alten, im 19. Jahrhundert untergegangenen Deutschland verstehen will, der tut gut daran, sich die bürgerliche Welt, in die sie hineingeboren wurde, so vorzustellen, wie es die Soziologie der Modernisierung nahelegt: vom Brüchigwerden der Traditionen erfaßt, statt solide in sich ruhend. Gewiß, der Vater Ricarda Huchs Vater, Richard Huch, war Kaufmann, aber er war es nicht gerne, sein Vater hatte ihn, der lieber studiert hätte, dazu gezwungen, und er mußte um des Familiengeschäftes willen nach Brasilien gehen, wo der Vater, nachdem er in Braunschweig eine gut gehende Gastwirtschaft betrieben hatte, in den Überseehandel eingestiegen war. Richard Huch kehrte 1864 wegen des Gesundheitszustandes seiner schwangeren Frau aus Porto Alegre nach Deutschland zurück, so wurde Ricarda Huch, sein drittes Kind, anders als die beiden älteren, Lilly und Rudolf, in Braunschweig geboren. Ihr Großvater, der Auswanderer, hatte sich einen gewissen Ruf als Abenteurer erworben, der Vater, leidenschaftlicher Verehrer des Kanzlers Bismarcks, war nicht nur Kaufmann, der zwischen seinen Kontoren in Hamburg und Porto Alegre pendelte, er war zudem ein Büchermensch mit einer schöngeistigen Bibliothek. Der Besuch der privaten höheren Mädchenschule, der Gesangs- und Klavierunterricht, die Lese- und Gesangsabende im elterlichen Haushalt, all das gehört zum bürgerlichen Repertoire, aber die heranwachsende Ricarda Huch wird mit 19 Jahren, 1883, in dem Jahr, in dem die Mutter stirbt, zu einem Unruheherd. Es ist keine kleine Unruhe, es ist eine Erschütterung der Gesamtfamilie. Sie verliebt sich in ihren Vetter Richard, der seit einigen Jahren mit ihrer älteren Schwester Lilly verheiratet ist. Richard, 33 Jahre alt, Rechtsanwalt und Notar mit Doktortitel, erwidert die Liebe. Als Ricarda Anfang 1887 nach Zürich geht, um dort ein Studium

2 aufzunehmen – in Deutschland gab es das Frauenstudium noch nicht –, steht dahinter der Versuch der Familie, der verbotenen Liebesbeziehung ein Ende zu machen. Zu den alteingesessenen Familien der Stadt gehört man ohnehin nicht, und das gesellschaftliche Klima in Braunschweig ist nicht so, daß dergleichen ruchbar werden sollte. Außerdem ist der endgültige Niedergang der Firma Huch, nicht zuletzt durch Investitionen in erfolglose Erfindungen, unabwendbar, eine universitäre Ausbildung verspricht eine gewisse Zukunftssicherung, ein Teil des Geldes aus dem unvermeidlichen Verkauf des Elternhauses fließt in das Geschichtsstudium der Tochter. Das Bürgertum hatte die Liebesheirat erfunden, die Kräfte, die damit freigesetzt waren, unterminierten die Institution der bürgerlichen Ehe, wie heftig, kann man in den Briefen nachlesen, die Ricarda Huch zwischen 1887 und 1897 an Richard Huch, den Geliebten, geschrieben hat. Sie wurden lange nach ihrem Tod aus dem Nachlaß publiziert. Die Gegenbriefe sind nicht erhalten, so wie auch die Briefe der jungen Ricarda Huch an ihre Großmutter vernichtet sind, aus Sorge, daß die Familie durch sie kompromittiert werden könnte. Diese Liebesbriefe scheuen den schwärmerischen Ton nicht, sie sprechen die Sprache der unbedingten, unbedenklichen und bedenkenlosen Liebe, sie sind aber zugleich eine Chronik des Studiums, das Ricarda Huch 1891 mit der Dissertation „Die Neutralität der Eidgenossenschaft, besonders der Orte Zürich und Bern, während des spanischen Erbfolgekrieges“ und der Promotion zum Dr. phil. abschließt. Und vor allem: sie halten fest, wie das wissenschaftliche Studium von Beginn an von Fanfarenstößen eines Autorenehrgeizes begleitet ist, der nicht geringer wird, als die junge Doktorin eine Anstellung als Bibliothekarin an der Stadtbibliothek Zürich findet, dann das Oberlehrerexamen macht und an einer privaten Mädchenschule Deutsch unterrichtet und schließlich 1896 nach geht, an ein neu gegründetes Mädchengymnasium. „Das kann ich Dir aber sagen“, so lautet ein Fanfarenstoß vom Januar 1888, „wenn ich das Examen bestehen sollte, stürze ich mich sofort wie ein Tiger über das Dichten; glaub nicht, daß ich mich durch Mißerfolge

3 abschrecken lasse, ich habe bereits mehrere Dramen im Kopfe und ein Epos, außerdem den angefangenen Roman.“ Der Roman, von dem hier die Rede war, erschien 1893 unter dem Titel „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ bei Wilhelm Hertz in Berlin, dem Verleger Theodor Fontanes. Er wird gelegentlich mit den „“ von verglichen, die wenige Jahre später herauskamen, denn hier wie dort geht es um den Verfall einer hanseatischen Familie. Aber was Ludolf Ursleu bei Ricarda Huch zu berichten hat über die ökonomisch abschüssige Bahn, auf der sein Vater und sein Onkel sich bewegen, wenn, wie in Gottfried Kellers „Martin Salander“ Kreditgeschäfte die Solidität des Wirtschaftens zu unterminieren beginnen, wenn Verbesserungen des Wasserwerks, die sie in Angriff nehmen mißlingen, wenn eine Choleraepidemie, an deren Ausbreitung ihnen die Verantwortung zugerechnet wird, die Stadt ergreift und den Tod auch in die eigene Familie bringt, bis schließlich Vater und Onkel des Erzählers, von Melancholie, Depression und Schwindel des Untergangs erfaßt, im Selbstmord enden – all das ist nur die Rampe für die eigentliche Katastrophe, die nicht vom ökonomischen Verfall, sondern von der Sprengkraft und Dämonie der Liebe bewirkt wird. Diese Liebe zwischen Ludolf Ursleus Schwester Galeide und dem verheirateten Ezard ist der Konstellation nachgebildet, die Ricarda Huch lebte, während sie an dem Roman schrieb und über den Roman in den Briefen an ihren Geliebten, den Vetter Richard Huch. Dieser Lebensstoff war so leicht erkennbar, daß ihr realer Bruder Rudolf nach Lektüre des Manuskripts Protest einlegte, weil er befürchtete, er selbst und die gesamte Familie würden bei einer Publikation zum Stadtgespräch in Braunschweig werden. Daß im Roman die ungehörig liebende Schwester Galeide zum Studium nach Genf ging statt nach Zürich, würde daran nichts ändern, ebensowenig der Umstand, daß sie, die musikalisch hochbegabte Violinistin, sich am Ende des balladenhaften Romans, von einer bösen Laune des Dämons Liebe erfaßt, vom Geliebten entfernte, obwohl er nach dem Choleratod seiner Frau zu einer neuen Ehe bereit gewesen wäre, und wie die Vätergeneration im Selbstmord endete.

4 Der Ehebruchsroman war, von Flauberts „Madame Bovary“ über Tolstois „Anna Karenina“ bis zu Theodor Fontanes „Effi Briest“, zu einer literarischen großmacht im 19. Jahrhundert geworden, aber es war darin stets die verheiratete Frau, an der die Krise der bürgerlichen Ehe sichtbar wurde, hier, bei Ricarda Huch, forderte die erste große Liebe einer Heranwachsenden erfolgreich eine im Nahbereich der Familie geschlossene Ehe heraus, und wenn wir, über den Verweis auf die autobiographischen Züge dieser Konstellation hinaus, das Zeittypische daran beleuchten wollen, dann müssen wir uns der ersten großen Epochendarstellung zuwenden, mit der die Geschichtsschreiberin Ricarda Huch ihren Ruhm bei den Zeitgenossen begründete, ihrer zweibändigen Studie „Die Romantik. Blüte, Ausbreitung und Verfall“, die in den Jahren um 1900 erschien. Noch 1924 wird sich Thomas Mann in seiner Würdigung zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs nahezu ausschließlich auf die Lektüre dieses Werk stützen, das sich in der landläufigen Glorifizierung des romantischen Gefühls nicht erschöpft, sondern, statt Geist und Natur gegeneinanderzusetzen, sie sich durchdringen lässt, das die lange als intellektualistisch verschriene Frühromantik im des ausgehenden 18. Jahrhunderts rehabilitiert, den Kreis um die Zeitschrift Athenäum, um Friedrich und , Schelling und ihre Frauen, mit Karoline Schlegel- Schelling an der Spitze. Hie erprobte Riacarda Huch erstmals das kaleidoskopartige Prinzip ihrer Geschichtsdarstellungen, den Reigen von Figuren und Motiven, der hier weit über die Literatur hinausgeht, die romantische Medizin, die romantischen Wissenschaften überhaupt, ihre politischen Ambitionen im Deutschland der napoleonischen Ära umfaßt, die auf Nietzsche vorausweisende Spannung zwischen Apollo und Dionysos. In diesem Buch finden wir, im Kapitel über die romantische Liebe, einen Schlüssel zur Biographie Ricarda Huchs wie zu ihrem ersten Roman. Leicht würde dieser Schlüssel in das Schloß der modernen Soziologie passen, ihrer Diagnosen der stets drohenden Überlastung und Gefährdung der bürgerlichen Institution Ehe durch das Ideal der Liebesheirat. „Soll die Frau dem Manne nur Gattin im körperlichen Sinne, Regiererin seines Hauswesens und Wärterin seiner kleinen Kinder sein,“ schreibt Ricarda Huch, „so

5 ist kein Grund, warum er nicht mit jeder gesunden und tüchtigen Frau zufrieden sein sollte. Etwas ganz anderes ist es, wenn wir eine mystische Seelenverbindung mit jemandem eingehen wollen, wenn das eheliche Verhältnis die Grundlage unseres ganzen, auch des innerlichen Lebens sein soll. Wäre nun ein ruhiges Wählen des ganzen, gesammelten Menschen möglich, wären wir unfehlbar, so könnte die erste Liebe uns dauernd befriedigen und die einzelne bleiben. Aber die Sinnlichkeit ist nicht weniger tätig als früher, im Gegenteil, da sich das Geistige von ihr abgelöst hat, ist der pure Trieb, der zurückgeblieben ist, umso hitziger und gewaltsamer. Er wirft sich auf einen beliebigen Gegenstand, blindlings, hastig, ehe noch das geistige Gefühl sein Urteil bilden oder ihm Gehör verschaffen kann. Gerade in der ersten Jugend ist dieser Trieb am unbändigsten. Wie unmoralisch, ja unheilig erscheint es von diesem Gesichtspunkt aus, wenn man die erste Liebe ewig machen will. Es heißt, den Instinkt sanktionieren. Die Kirche würde hier einwerfen, daß die Ehe eine erziehliche Einrichtung sei und daß das Individuum desto gründlicher erzogen werde, je widerstrebender das andere sei, dem es sich anpassen müsse. Aber dieser strenge, unpraktische Idealismus, der Menschen voraussetzt, wie sie in der Wirklichkeit nie oder fast nie zu finden sind, ist dem modernen Menschen fremd. Das Gefühl, daß jeder Organismus etwas Lebendiges, Bewegliches, Veränderliches, Sichentwickelndes ist, durchdringt die Anschauungen auf jedem Gebiete. Zwischen toter Starrheit und gesetzloser Ungebundenheit soll sich die freie Ausbildung bewegen.“ Diese Theorie der romantischen Liebe erschöpft sich, wie leicht zu sehen ist, nicht in der Apologie der Unmittelbarkeit und Unwiderleglichkeit des Gefühls. Sie ist ebensosehr eine Apologie der Trennung wie der Liebe – und damit der Rechtsform, die einen Ausweg aus der auf den Tod zulaufenden Geschichten weisen soll, die in den Ehebruchsromanen erzählt wird: der Scheidung einer Ehe. Die Romantik als Laboratorium, in dem zwischen diesen beiden Polen experimentiert wird, produziert als Rückseite der höchsten Forderungen an die Liebe die Lizenz zur Untreue: „Es ist wunderbar, wie in dieser Zeit die höchste Idee von der Wichtigkeit und Ewigkeit der Liebe mit der weitherzigsten Nachsicht

6 gegen Untreue und allerhand Liebesirrungen zusammengeht.“ Mit Sympathie verweilt Ricarda Huch bei den vielen Geschiedenen in der Welt Schleiermachers, der Brüder Schlegel und Schellings. Über keine ästhetische Bewegung oder Künstlergruppe hat Ricarda Huch eindringlicher, nuancierter und umfassender geschrieben als über die deutsche Romantik. Die französische Literatur des 18. Jahrhunderts war ihr weitgehend gleichgültig, zur ästhetischen Moderne ihrer eigenen Gegenwart wahrt sie durchgängig Distanz. Arnold Böcklin ist für sie der Maler, der einlöst, was die Romantiker von der Malerei erhofften. Was ihre Zeitgenossen bewegt, darüber schreibt sie nicht, an den Debatten über den Impressionismus nimmt sie nicht teil, weder Manet noch Monet oder Cézanne scheinen ihr etwas zu bedeuten, die Kunst der Avantgarden, des Expressionismus oder gar des Dadaismus, blieb ihr zeitlebens fremd, in der Literatur ist sie von Beginn an eine Feindin des Naturalismus, sie kritisiert Emile Zola, und Arno Holz, sowohl Joyce wie Proust bleiben außerhalb ihres Wahrnehmungshorizontes, und als in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen werden soll, schreibt sie am 18. Dezember 1931 an Oskar Loerke: „den Gottfried Benn finde ich unmöglich. Es giebt viel Ekelhaftes im Leben; aber man ist nicht deshalb ein Dichter, weil man viele Ekelhaftigkeiten aneinanderreiht; es ist auch wahr, daß unsere Sprache abgegriffen ist, aber man wird dieser Hemmung nicht dadurch Herr, daß man lauter ungewöhnliche, abseitige und auffallende Wörter gebraucht. Ich würde es sehr beklagenswert finden, wenn dieser Schriftsteller Mitglied einer Akademie würde.“ Wenn man dem hinzufügt, dass die Sprache ihrer eigenen Bücher in der Prosa des 19. Jahrhunderts wurzelt, dass ihre Lyrik in den vertrauten Konventionen bleibt, weder von den Herausforderungen erfaßt wird, die von Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud und Verlaine ausgehen, noch von der Spannung zwischen den Antipoden und oder dem Expressionismus zwischen Trakl, und Jakob van Hoddis, wenn man all dies bedenkt, scheint das Urteil unausweichlich, Ricarda Huch sei eine durch und durch anachronistische Autorin,

7 die mit dem Rücken zur ästhetischen Moderne steht. Und in der Tat ist die Distanz zur ästhetischen Moderne, zumal zu den Avantgarden, ein Grundmotiv ihrer intellektuellen Existenz. Fragt man aber nach der Modernität nicht der Ansichten, sondern der Lebensweise, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Dann steht sie da als eine der ersten Frauen ihrer Generation, die ein Studium absolviert und promoviert haben, als Abenteurerin, die früh die Institutionen – die Zürcher Bibliothek, das Bremer Mädchengymnasium – verläßt, um das Risiko einer Existenz als freie Autorin einzugehen, und der dies als doppelt geschiedene Frau gelingt, die ihren Lebensunterhalt nicht einem neuen Ehemann verdankt. Nur im Roman endet die autobiographisch fundierte Liebesgeschichte tödlich, in ihrem Leben mildert die moderne Institution der Scheidung die Dramen. Als ihr der geliebte Richard 1897 die Hoffnung raubt, er werde seine Familie verlassen, zieht sie wenig später mit ihrer Freundin Marie Baum nach Wien, lernt dort den italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi kennen, heiratet ihn im Sommer 1898, lebt mit ihm zunächst in Triest, dann in München, wo das Ehepaar sich mit Karl Wolfskehl und seiner Frau befreundet und im ästhetischen Milieu Schwabings verkehrt, ohne daß Ricarda Huch ihre Distanz zum Kreis um Stefan George aufgibt, dem die Wolfskehls angehören. Als sie sich 1905 von Ermanno Ceconi trennt, und 1906 die Ehe förmlich geschieden wird, aus der ihre Tochter Marie Antonie, genannt Marietta hervorgegangen ist, bereitet inzwischen der Geliebte der frühen Jahre, Richard Huch, endlich doch seine Scheidung vor, die Liebe flammt wieder auf, und 1907 heiraten die beiden in Braunschweig, da ist sie 43 Jahre alt, Richard Huch 57. Die Einmündung in ein spätes Glück ist diese Ehe nicht, sie wird nach nur drei Jahren 1910 geschieden. Der Kriminalroman „Der Fall Deruga“, den Ricarda Huch 1917 bei Ullstein veröffentlichen wird, angeblich nur um der 20 000 Mark willen, die sich damit verdienen lassen, enthält nicht nur ein Porträt ihres ersten Ehemanns. Der Gerichtsroman, in dem der Titelheld sich gegen den Vorwurf verteidigen muß, seine Ex-Frau aus Habsucht vergiftet zu haben, ist zugleich ein Scheidungsroman, der dem Einverständnis längst getrennter Ehepartner – und damit dem Verhältnis

8 Ricarda Huchs zu Ermanno Ceconi, das bis zu dessen Tod im Jahr 1927 andauerte – ein literarisches Denkmal errichtet. Ihren wachsenden Ruhm als Schriftstellerin beim Publikum wie bei den Kollegen, die Stabilisierung ihrer freiberuflichen Existenz verdankt Ricarda Huch nicht ihren Gedichten oder Dramen und auch nicht den Kriminalromanen, sondern dem Zentrum ihrer Autorschaft: der Geschichtsschreibung des alten Deutschland, dessen Untergang Voraussetzung für die Entstehung des Kaiserreichs war, in dem sie aufwuchs. Theodor Fontanes Romane wie seine „Wanderungen in der Mark Brandenburg“ hatten die Erinnerung an das ältere Preußen wachgehalten, das er im vom Bismarck geschaffenen Kaiserreich nicht so sehr aufgehen als vielmehr untergehen sah. Ricarda Huch stellte dem in ihren historischen Schriften die Erinnerung an das mittelalterliche Deutschland und an das „Alte Reich“, das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ an die Seite. Darin war Preußen nicht der berufene, energische Vollender der Reichseinigung, sondern der selbstermächtigte, mit Mißtrauen betrachtete Exekutor der Ausgestaltung des Kaiserreichs zum Machtstaat nach innen und außen, der das Erbe der alten Reichsidee wie das der Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts ausschlägt. Hier, in der kontrafaktischen Geschichtsschreibung der ausgeschlagenen Möglichkeiten findet sie ihr Lebensthema, und das erste große Projekt, das sie ihm widmet, heißt „Der große Krieg in Deutschland“, erschienen in drei Bänden zwischen 1912 und 1914, ein aus den Quellen gearbeitetes Kaleidoskop über den Dreißigjährigen Krieg, in der Form der Studie über die Romantik verwandt, eine Darstellung, die von der Mehrzahl der zünftigen Historiker ignoriert und von den Zeitgenossen zu Recht als entschlossener Versuch aufgefaßt wurde, das romanhafte Erzählen in den Dienst der Geschichtsschreibung zu stellen. Einen biographischen Essay über Wallenstein gliederte sie aus dem „großen Krieg“ aus, der im Stoff, aber nicht in der Form Schillers Geschichte des dreißigjährigen Krieges folgte, und für zum Vorbild seiner eigenen Fusion von Literatur und Historiographie wurde, bis hin zu dem Experiment, in seinem „Wallenstein“ dem Helden einen inneren Monolog als „Nachtphantasie“ zuzuschreiben. Ricarda Huch hatte ihre

9 Darstellungsform in ihren Büchern über Garibaldi und das italienische Risorgimento erprobt und die Biographie eines der Protagonisten der italienischen Rebellion gegen Österreich unter dem Titel „Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri“ in Romanform erzählt. Eine Minderung der Wahrheitsansprüche der Geschichtsschreibung war damit nicht verbunden, und es blieb in diesen historischen Schriften voller Alltagsbegebnisse, individuell gezeichneter Figuren und ausführlich geschilderter Ereignisse ein Grundmotiv wirksam, das schon die Studie über die deutsche Romantik geprägt hatte und selber ein Erbe der Romantik war: die Gegenüberstellung des Mechanischen und des Organischen, auf die Geschichtsschreibung angewandt: der organisch sich entwickelnden und der mechanisch-machttechnisch konstruierten Geschichte. Schon in der Romantikstudie war diese Opposition gegen die französische Revolution in Stellung gebracht, sie erschien als doktrinäre Durchsetzung des Neuen als Bruch mit der Tradition aus abstrakten Prinzipien, Napoleon als Exekutor des Prinzips der „Zentralisation“, der dem Alten Reich und seinem Prinzip Einheit in der Vielfalt den Garaus machte und „das kahle, dürftige lebentötende Prinzip des Mechanismus“ beerbte, das schon den französischen Absolutismus so erfolgreich wie despotisch gemacht habe. In diese Opposition des Organischen und des Mechanischen fügte Ricarda Huch in ihren Schriften vor und nach dem Ersten Weltkrieg immer deutlicher Preußen ein, und zwar meist als historische Kraft der Vereinigung von Zentralisation, Despotismus und Macht. Den Freiherrn vom Stein, eines ihrer großen Idole, der Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon wieder aufzurichten suchte, schlug sie dem organischen Pol zu, der Vision einer Reform des preußischen Staates im Rückgriff auf die Reichsidee, die im 1806 zugrundegegangenen Alten Reich am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Bismarck aber, bei allen Würdigungen seiner politischen Tatkraft und seines Genies, rückte in den Schriften Ricarda Huchs mehr und mehr an den Pol des Mechanisch-Despotischen heran. Die „Ellipse mit zwei Brennpunkten, Preußen und Österreich“, auf die Romantiker wie Joseph Görres ihre Hoffnung gerichtet hatten, war 1806 zerbrochen, Bismarck

10 hatte in ihren Augen die Reste von Vielfalt im Deutschen Staatenbund zugunsten der Dominanz Preußens beiseitegeschoben. Als Bürgerin einer anderen Zeit, eines vergangenen Deutschland lebte Ricarda Huch im Kaiserreich, gern setzte sie ihr leidenschaftliches Bekenntnis zu Deutschland vom modernen Nationalismus ab, der im Wilhelminismus blühte und 1914 die Begeisterung beim Kriegsausbruch nährte. An ihre Freundin Marie Baum schrieb sie am 8. August 1914, da war der Krieg eine Woche alt: „Ich persönlich stehe allem fern, und ich bin ja nun einmal für das Komische empfänglich, ich kann nichts dafür, – ich muß über manches lachen –, zum Beispiel, daß jetzt schon jeder ein Schurke ist, außer den Deutschen und der zu ihnen hält , und daß alle Gott anrufen und überzeugt sind, er würde die verfluchten Feinde vertilgen etc. Das Hetzen der Spione berührt mich auch so schrecklich, besonders hier, wo fast nur ganz harmlose Leute darunter zu leiden hatten. Schon jetzt leben die häßlichsten populären Instinkte auf – unter der Maske patriotischer Begeisterung, d.h. Maske ist nicht das richtige Wort, denn sie glauben es wohl selbst.“ Zugleich erteilte sie dem Pazifismus eine Absage und teilte die zeitgenössische Illusion, man sei in einen Krieg eingetreten, der rasch zu Ende sein würde. Und als nach der Beschießung der Kathedrale von Reims der Barbarei-Vorwurf gegen die Deutschen erhoben wurde, antwortete sie – wie übrigens auch Alfred Döblin im Kriegsheft der Neuen Rundschau im Herbst 1914 – mit einer freilich dann wieder abgeschwächten Kritik an der Sorge um die Kunst, wo doch das Leben sein Recht forderte – und sei es das Leben im Kriegszustand. Als dann das Deutsche Kaiserreich mit der Niederlage im Weltkrieg und der Novemberrevolution unterging, war Ricarda Huch kurzzeitig Mitglied des „Rates geistiger Arbeiter“ in München, trat aber als Kritikerin der Räterepublik rasch wieder aus, hielt die Exekutionen der konterrevolutionären „weißen“ Truppen für schrecklich, aber notwendig und unterzeichnete im Mai 1919 gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein, , Heinrich und Thomas Mann und anderen einen Aufruf an das deutsche Bürgertum, „seiner

11 Schicksalsgemeinschaft mit dem arbeitenden Volk inne zu werden“, und wenig später einen Aufruf zur Amnestie aller Revolutionäre, „die Gewalt weder gepredigt haben, noch Gewalttaten sich selbst haben zuschulden kommen lassen“. Am 23. Juni 1919 billigte die Nationalversammlung in Weimar die bedingungslose Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Ricarda Huch billigte diese Unterzeichnung so wenig wie den Vertrag selbst, mehrfach schrieb sie in Zeitschriftenartikeln gegen die Ratifizierung der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands an, das sie nicht zur „Verbrechernation“ gemacht sehen wollte. Es führte aber bei ihr von dieser empörten Selbstbehauptung kein Weg zu den deutschnationalen Parteien der Weimarer Republik oder an die Seite der Nationalsozialisten, die ihren Aufstieg zu einem nicht geringen Anteil der Propaganda gegen den Versailler Vertrag verdankten. Stattdessen erprobte sie die Fusion ihrer eigenen „organischen“ Geschichtsauffassung mit Vorstellungen vom Sozialismus, wie sie der Jurist Siegmund Rubinstein, stellvertretender Chefredakteur des „Neuen Wiener Tagblattes“, der in seiner 1921 erschienenen Schrift „Romantischer Sozialismus“ den Zentralismus der staatlichen Machtausübung kritisierte die „organische“ Gliederung der Gesellschaft forderte, durch genossenschaftliche Institutionen, die in der modernen Welt mittelalterliche Organisationsformen erneuern sollten. Der Begeisterung Ricarda Huchs für die Schrift Rubinsteins hinterließ Spuren in ihrem eigenen Werk. Die Flüchtlinge aus dem russischen Zarenreich, die zahlreich in die Schweiz geströmt waren, hatte sie schon in den 1890er Jahren in Zürich kennengelernt. Nun stellte sie den russischen Anarchisten Michael Bakunin an die Seite der Vorkämpfer des Risorgimento, die sie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg porträtiert hatte. „Michael Bakunin und die Anarchie“ erschien 1923 und stellte den Anarchisten als Figur der Kritik sowohl am herrschenden Machtstaat seiner Zeit wie an der Staatsfixierung von Karl Marx vor. Und wieder geriet damit auch Bismarck in die Kritik: „Als Bismarck an Preußens Spitze trat, genial als Staatsmann, die prächtige Verkörperung eines öden, unfruchtbaren Prinzips, stieß er anfänglich auf Widerstand und Abneigung auf allen Seiten. Die Deutschen empfanden ihn als

12 wesensfremd: es fehlte ihm das Breite, Weltbürgerliche, Schweifende, Abenteuerliche und Tragische, das seine früheren großen Führer ausgezeichnet hatte. Er knüpfte zwar dem Buchstaben an die Ideale der Männer von Achtundvierzig an; aber es war nicht das Reich auf breiter Grundlage voll mannigfaltigen organischen Lebens, das er baute, sondern der Staat, die Maschine.“ Bakunin, wie Ricarda Huch ihn schildert, ist nicht so sehr der Theoretiker des Anarchismus, sondern der scharfblickende Fremde, der früh durchschaut, „daß Deutschland nach Zentralisation, nach Einheit und Macht, nicht nach Freiheit strebte.“ In ihrem 1930 publizierten Buch „Alte und neue Götter“ über die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland, eine Porträtgalerie weithin vergessener Figuren aus dem Umkreis der Revolution von 1848, schrieb sie dieses Motiv fort: „Macht, Gewalt, Geld, Masse, das waren die Prinzipien des neuen Reiches, auch der Opposition; der Sozialismus kämpfte unter denselben Zeichen, wenn auch zum Besten der Arbeiter. Gemessen an den immer mehr sich zentralisierenden Verhältnissen wurde alles Kleine und Kleinstädtische lächerlich, verächtlich; der Großstaat, die Großstadt, der Großbetrieb konnten allein im allgemeinen Wettbewerb bestehen. Versenkt man sich in die Betrachtung des neunzehnten Jahrhunderts, so kann man sich der Trauer nicht erwehren, wenn man sieht wie die alte deutsche Kultur zwischen den zwei Ungeheuern Geld und Masse, lautlos unterging.“ Man muß sich neusachliche Hymnen auf die Großstadt und ihre technischen Räderwerk wie Walter Ruttmans Film „Symphonie der Großstadt“ oder Bildbände wie den von Mario von Bucovich über das gegenwärtige Berlin vor Augen führen, zu dem Alfred Döblin ein enthusiastisches Vorwort schrieb, um die Distanz ermessen zu können, die Ricarda Huch in ihrem dreibändigen Werk „Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte“ zur Gegenwart wahrte. am Main und Köln kamen darin vor, nicht aber die Reichshauptstadt Berlin, Stendal, Tangermünde, Prenzlau und Wismar im Band über den Norden ja, nicht aber Hamburg, Rottweil, Eßlingen und Maulbronn im Band über den Süden, nicht aber

13 München. Die mittelalterlichen Stadtkerne der mittleren und kleineren Städte, die oft längst wichtige Elemente verloren hatten, standen darin im Mittelpunkt und bildeten das Geflecht des Alten Reichs, meist streifte die Darstellung die napoleonische Ära nur, um die Zerstörungen zu notieren, die sie mit sich brachte, kaum je wurde ein Städtebild bis in die Gegenwart fortgeführt. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sind diese immer noch lesenswerten Städtebilder vollends weithin zu eine Galerie des verschwundenen Deutschland geworden. Als erste Frau wurde Ricarda Huch1926 in die Preußische Akademie der Künste mit Sitz in Berlin aufgenommen. Nachdem sie die Zuwahl zur neu gegründeten Sektion für Dichtkunst zunächst abgelehnt hatte, ließ sie sich von Thomas Mann dann doch überreden, und als sie 1931 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhielt, hatte sie den Zenit ihrer öffentlichen Wertschätzung erreicht. Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, geriet , Leiter der Sektion für Dichtkunst, sogleich in Konflikt mit dem kommissarischen Leiter des preußischen Kulturministeriums, Bernhard Rust. Er hatte gemeinsam mit Käthe Kollwitz den „Dringenden Appell“ des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes zu einer antifaschistischen Einheitsfront von SPD und KPD unterzeichnet, Rust drohte mit der Auflösung der gesamten Akademie, wenn die beiden nicht ausgeschlossen würden. Auf Druck des Akademiepräsidenten erklärte Heinrich Mann seinen Austritt. Ricarda Huch war seine Stellvertreterin auch deshalb, weil sie den politisch konservativen, national gesinnten Autoren zugerechnet wurde, aber sie mißbilligte Manns raschen Amtsverzicht. An Oskar Loerke schrieb sie: „Es ist nach meiner Ansicht sehr zu beklagen, daß Herr Mann ausgetreten ist; ich finde, man hätte es drauf ankommen lassen müssen, ob der Kultusminister wirklich den Mut hatte, unsere Abteilung aufzulösen.“ Zugleich lehnte sie es ab, die von Gottfried Benn formulierte Loyalitätserklärung zu unterzeichnen: „Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche

14 politische Betätigung gegen die Regierung aus.“ Als der Akademiepräsident von Schillings diese Weigerung nicht als Austritt interpretierte, sondern an „Ihre deutsche Gesinnung und nationale Einstellung“ appellierte, um die angesehene Autorin in der Akademie zu halten, erklärte Ricarda Huch ihren formellen Austritt in einem auf den 9. April 1933 datierten Schreiben, das zu Recht berühmt geworden ist. Dessen Kernsätze zogen eine scharfe Grenze zwischen ihren Begriffen von Deutschtum und nationaler Gesinnung des Deutschtums und denen der Nationalsozialisten: „Daß ein Deutscher deutsch empfindet, möchte ich fast für selbstverständlich halten; aber was deutsch ist, und wie Deutschtum sich betätigen soll, darüber giebt es verschiedene Meinungen. Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamirung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von der staatlich vorgeschriebenen abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich in einer staatlichen Akademie zu bleiben.“ Die nochmalige Zurückweisung der Loyalitätserklärung mit Blick auf „das Recht der freien Meinungsäußerung“ mündete in die Antwort auf ein taktisches Argument des Akademiepräsidenten: er hatte ihr zu Bedenken gegeben, ihr Austritt könne als Parallelaktion zu den Austritten von Heinrich Mann und Alfred Döblin und damit als Sympathiebezeugung für die politische Linken verstanden werden: „Sie erwähnen die Herren Heinrich Mann und Dr. Döblin. Es ist wahr, daß ich mit Herrn Heinrich Mann nicht übereinstimmte, mit Herrn Dr. Döblin tat ich es nicht immer, aber doch in manchen Dingen. Jedenfalls möchte ich wünschen, dass alle nichtjüdischen Deutschen so gewissenhaft suchten das Richtige zu erkennen und zu tun, so offen, ehrlich und anständig wären, wie ich ihn immer gefunden habe. Meiner Ansicht nach konnte er angesichts der Judenhetze nicht anders handeln als er getan hat. Daß mein Verlassen der Akademie keine Sympathiekundgebung für die genannten Herren ist, trotz der besonderen Achtung und Sympathie, die ich für Herrn Dr. Döblin empfinde, wird jeder wissen, der mich persönlich oder aus meinen Büchern kennt. Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie.“

15 Damit tritt zum ersten Mal ein Motiv auf den Plan, das in den kommenden Jahren immer wieder auftauchen wird: die Zurückweisung der nationalsozialistischen „Judenhetze“ zwar nicht in öffentlichen politischen Aktionen, wohl aber in Briefen, Gesprächen und kaum zu überlesenden Andeutungen in ihren Schriften. Ricarda Huch blieb in Deutschland, sie blieb selbstständige Autorin und also auf die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer angewiesen, lange versuchte die nationalsozialistische Kulturpolitik, ihren Akademieaustritt zu kaschieren. Das elementare Motiv ihres Dableibens ist in dem Dankesbrief an Alfred Döblin enthalten, der ihr, schon aus der Emigration, im Oktober 1933 sein neues Buch „Unser Dasein“ hatte zuschicken lassen. Mit Blick auf ihr Alter – sie ging auf die 70 zu – schrieb sie: „da mir der Mensch immer wichtiger ist als sein Buch, möchte ich gerne von Ihnen hören, wo Sie sind und wie es Ihnen geht. Im Sommer war ich in Berlin und fragte nach Ihnen, konnte aber Ihre Spur nicht finden. Sollten Sie in Palästina sein? Wenn ich ein Jude wäre und jung, ginge ich hin, vielleicht sogar, wenn ich nur jung wäre, auch ohne Jude zu sein.“ Die Demarkationslinie, die sie in en folgenden Jahren immer wieder zog, war die zum rassistischen Antisemitismus und zur Blut und Boden-Rhetorik der Nationalsozialisten. Die Entstehung des Buches der promovierten Literaturwissenschaftlerin Else Hoppe, die seit 1927 in Braunschweig lebte, über ihr Werk und Leben hatte sie zunächst freundlich begleitet, dann aber, als das Manuskript1935 fertig war, reagierte sie, noch bevor es 1936 als Buch erschien, kühl und distanziert. An den Insel-Verleger Anton Kippenberg schrieb sie Ende 1935: „Blut und Boden spielen bei Frau Dr. Hoppe eine große Rolle, obwohl bei mir so wenig.“ Es ist charakteristisch für die deutsche Kultur vor dem Holocaust, daß Ricarda Huchs konsequente Zurückweisung des rassistischen Antisemitismus nicht von einer philosemitischen Position aus erfolgte, sondern eine Kritik des modernen Judentums einschloß, die für unsere Ohren irritierend klingt. So enthielt ihr Buch über Michael Bakunin folgenden Kommentar zu dessen „Haß“ auf die Juden:

16 „Zwischen den Juden des Alten Testaments und den Juden der Neuzeit steht trennend das Kreuz Christi. Indem sie ihr eigenes Ideal, zugleich das Ideal der Menschheit, aus ihrem eigenen Schoß hervorgegangen, verkanten und töteten, verleugneten sie ihre eigene Vergangenheit und sich selbst; sie waren nur noch Spreu. Wenn auch an einzelnen Juden das Siegel des auserwählten Volkes, die Anbetung der göttlichen Gerechtigkeit und die Ausübung der Brüderlichkeit, sichtbar wird, so sind sie doch im allgemeinen zu Dienern des goldenen Kalbes geworden. Als entartetes, zerrissenes und entkräftetes Volk streben sie nicht nach der Freiheit, die beständige Anstrengung der eigenen Kraft und Nichtachtung der äußeren Güter erfordert, sondern nach der Freiheit von allen Schranken, die die Ausbreitung der eigenen Macht einengen, kämpfen sie nicht gegen die Welt, sondern streben nach einem guten Platz in derselben.“ Und in ihrem Essay „Entpersönlichung“ aus dem Jahr 1921, einem ihrer vielen Einsprüche gegen das Zeitalter der Vermassung, des politischen Zentralismus und der Geldherrschaft definierte sie die Juden der Gegenwart als „diejenigen, die ihren Erlöser verleugnen und sich einzig unter das Gesetz stellen. Sie verleugnen den Herrn der Sterne, der, wundertätig, die Kette des Gesetzes durchbricht und das Neue, Unverhoffte hervorbringt.“ Franz Rosenzweig, der Gründer des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main, dürfte eine dieser Passagen gelesen haben, als er Ricarda Huch im April 1924 als verspätetes Geschenk zu ihrem 60. Geburtstag ein eigenes Buch schickte. Rosenzweig schätzte den Romanerstling Ricarda Huchs, Die Erinneungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren ebenso wie ihr Buch über den Grafen Confalonieri, und er hatte ihre Selbstvergewisserung über die protestantische Religion, „Luthers Glaube. Briefe an einen Freund“, die 1916 erschienen waren, als Pendant zur religiösen und philosophischen Stärkung des Selbstbewußtseins der Juden gelesen, als einen philosophischen Roman, der wie seine eigenen Schriften gegen die erstarrte Terminologie der Theologen aufbegehrte. Nun schrieb er ihr unter Verweis auf sein eigenes Buch, wohl die große Abhandlung „Der Stern der Erlösung“: „Ich wünschte, Sie sähen aus dem Buch, wie zugleich recht und unrecht Sie haben, wenn Sie den Juden seit dem Jahr Null die Rolle des schwarzen Mannes

17 in der Weltgeschichte spielen lassen. Er ist seitdem welthistorisch unsichtbar geworden, also gewiß von außen gesehen ,schwarz’; aber von innen sieht es anders aus. Innen zählt er nämlich die Jahre der Schöpfung, und da ist das Jahr Null, das die Weltgeschichte freilich in zwei Teile teilt, nur irgend ein Jahr 3670.“ Man sieht, das Religionsgespräch zwischen Christen und Juden schloß damals noch wie die Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken innerhalb des Christentums scharfe Grenzziehungen ein. Schon in den „Lebensbildern deutscher Städte“ war der jeweilige lokale Umgang der Stadtregierungen wie der Stadtbevölkerung mit den Juden seit dem Mittelalter Bestandteil der Wanderungen durch die Städte des Alten Reichs gewesen. Nun, im Nationalsozialismus, in dem ihr Bakunin-Buch in einem von der Bayerischen Politischen Polizei herausgegebenen „Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmten und eingezogenen, sowie der für Leihbüchereien verbotenen Druckschriften“ enthalten war, der Absatz ihrer Bücher zurückging und sie vor allem von Vorschüssen ihres Schweizer Verlegers Martin Hürlimann lebte, griff sie dieses Motiv in ihrem letzten großen Geschichtswerk auf, den drei Bänden über das „Römische Reich Deutscher Nation“. In diesen Bänden führte sie ihre organische Geschichtsauffassung und die zunächst im Kontrast mit dem Kaiserreich entwickelte Schattenbeschwörung des Alten Reiches fort, nunmehr in unverkennbarer Rivalität mit der Reichsidee der Nationalsozialsten und ihres „dritten Reichs“, das den Lesern als in der Linie von Zentralismus, Despotie und Machtstaat stehend erscheinen mußte. Der erste Band kam 1934 auf den Markt und enthielt in den Kapiteln „Die Juden“ und „Die Juden und der Wucher“ einen detaillierten Überblick über die Schutzrechte für Juden im Mittelalter, im fränkischen Reich, wie bei den sächsischen und salischen Kaisern, über ihren Anteil am Handelsverkehr und schließlich über die meist von den unteren Volksschichten ausgehenden Verfolgungen, denen sie immer wieder ausgesetzt waren. Aber auch dort, wo sie von Judenmorden berichtete, die der von Mönchen aufgehetzte Pöbel beging, hob sie diese alten Judenverfolgungen vom modernen, rassistischen Antisemitismus ab: „Daß dieser Angriff auf die Juden nicht etwa durch Abneigung

18 gegen die Rasse, sondern durch erhitzten Glaubenseifer verursacht war, geht daraus hervor, daß denjenigen Juden, die sich taufen ließen, nichts zuleid getan wurde.“ Und im Kapitel über die Juden und den Wucher fügte sie hinzu: „Die Übernahme der Geldgeschäfte durch die Juden hatte für Juden und Christen verhängnisvolle Folgen. Indem die Juden zu Gläubigen, die Christen zu Schuldnern wurden, entstand ein gespanntes Verhältnis mit der Neigung zu gewaltsamen Entladungen. Während der Glaubenshaß eigentlich nur von der Kirche ausging, betraf der Schuldnerhaß fast alle Kreise des Volkes; und der letztere war viel grimmiger, weil e auf der Not des Ausgepreßten zu seinem Dränger beruhte.“ Ausdrücklich fügte sie dieser sozialpsychologischen Erklärung den Hinweis an, es sei den Judenangesichts der Forderungen, die an sie selbst gestellt worden, kaum etwas anderes übriggeblieben, als über den gesetzlich erlaubten Zins hinauszugehen. Und wer die Anspielungen auf zentrale Motive des aktuellen Antisemitismus immer noch nicht erkannt hatte, für den fügte sie, bevor sie auf die Ritualmord-Legenden zu sprachen kam, hinzu: „Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren.“ Im zweiten Band, „Das Zeitalter der Glaubenskämpfe“, dem Zentrum ihres Alterswerks, nahm sie, trotz der scharfen Kritik, die ihre Behandlung der Juden in en „Nationalsozialistischen Monatsheften“ hervorgerufen hatte, diesen Faden auf: im kühl-distanzierten Blick auf die Wendung Luthers vom Fürsprecher zum Pauschalankläger der Juden. Ricarda Huch gehörte nicht zu den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus an der Macht. Aber in Jena, wo sie seit 1936 lebte, weil ihr Schwiegersohn, der Jurist Franz Böhm, eine Stelle an der dortigen Universität bekommen hatte, geriet sie an eben diesem Punkt, der Grenzziehung gegen den rassistischen Antisemitismus, in einen Konflikt mit der Obrigkeit. Bei einer Abendgesellschaft im Haus des Nationalökonomen Walter Weddigen waren im Mai 1937 Franz Böhm und sie mit Richard Kolb aneinandergeraten, der einen Lehrauftrag für Wehrphilosophie an der Universität hatte, schon am Hitlerputsch

19 1923 beteiligte gewesen, Blutordensträger und SS-Hauptsturmführer war. Kolb hatte einen der Schlüsselbegriffe Ricarda Huchs ins Spiel gebracht, als er behauptete Juden seien unfähig organisch zu denken und nicht produktiv. Ricarda Huch replizierte mit dem Verweis zahlreichen Juden unter en Nobelpreisträgern für Physik und Chemie, ihr Schwiegersohn, der schon als Dozent in Freiburg mit nationalsozialistischen Studenten zu tun gehabt hatte, verschärfte den Ton, ein Verfahren gegen Böhm und Ricarda Huch wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ war die Folge. Daß zugleich eine Verfilmung ihres Kriminalromans „Der Fall Deruga“ in Berlin erfolgreich war, kommentierte Ricarda Huch selbst als Zeichen ihrer widersprüchlichen Stellung im NS-Staat. Die Sorge um ihre Bücher wurde die Berichte nicht kleiner, die ein befreundeter Kunsthistoriker 1937 über die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ übermittelte. An ihren Verleger Martin Hürlimann schrieb sie am 20. Juli 1937: „Hier hörte ich von einem neuen Zensurgesetz, das mich sehr besorgt macht; überhaupt läßt das Vorgehen in der bildenden Kunst auf Schlimmes auch für die Literatur schließen“. Und an den Berichterstatter Ulrich Christoffel: „Ich habe eine schreckliche ira, obwohl ich ja, wie Sie wissen, für die ,entartete’ Kunst nie Sinn hatte; aber es ist ein so degradierender Zustand, daß ein einziger, noch dazu ein Laie, der Kunst vorschreibt“. Eines der letzten Buchprojekte Ricarda Huchs ist aus dem Umgang mit Umgang mit Vertretern der Bekennenden Kirche hervorgegangen. Helmut Gollwitzer, aus dem Gefängnis kommend, besuchte sie in Jena und berichtete über die Lage des inhaftierten Martin Niemöller, Emil Henk, ein Freund von Carlo Mierendorff und Theodor Haubach, die beide dem Kreisauer Kreis angehörten, schickte ihr seine in der Haft geschriebenen Gedichte und berichtete, wie er ihren Romans über Federigo Confalonieri als Ermunterung zum Widergestand gelesen hatte, sie selbst schrieb an den Graf von Galen, den Bischof von Münster, nachdem er im August 1941 in einer Predigt die Euthanasie angeprangert hatte: „Hochwürden, wenn ich, Ihnen fremd, Ihre Aufmerksamkeit für einen Augenblick in Anspruch nehme, so tue ich es, um Ihnen Dank und Verehrung auszusprechen.

20 Erfahren zu müssen, daß unserem Volk das Rechtsgefühl zu fehlen scheint, war wohl das Bitterste, was die letzten Jahre uns gebracht haben.“ Ihr Projekt „Bilder deutscher Widerstandkämpfer“ nahm sie 1946 auch deshalb in Angriff, weil ihr das geringe Echo mißfiel, das der Widerstand gegen Hitler unmittelbar nach 1945 fand. Sie selbst war noch 1944 anläßlich ihres 80. Geburtstages mit dem Wilhelm-Raabe- Preis der Stadt Braunschweig ausgezeichnet, von der nationalsozialistischen Regierung und auch im „Völkischen Beobachter“ gewürdigt worden und hatte, was ihr danach auf der Seele lag, aus Not das Geld zum Raabe-Preis angenommen. Kurz zuvor hatte in der Exilzeitschrift Freies Deutschland über sie geschrieben: „Wenn auch Ricarda Huch nicht mehr die Kraft hatte, sich von eutschland zu trennen und in die Emigration zu gehen, so ist sie doch all die Jahre hindurch jung genug geblieben, um sich vor jeder Bestechung und jedem Mißbrauch zu hüten“. Drei Bände hätte ihr Buch über den Widerstand – die Geschwister Scholl, die Rote Kapelle, und die Attentäter vom 20. Juli – haben sollen, und wer einen Eindruck vom damaligen Deutschland gewinnen will, der lese einen der anonymen Schmähbrief, die sie nach ihrem Aufruf „Für die Märtyrer der Freiheit“ erhielt, in dem sie um Dokumente und Materialien für ihr Vorhaben bat: „Frau Ricarda Huch! Sind Sie Deutsche? Der Gesinnung nach nicht! Sie wollen Mörder verherrlichen, Helden in den Schmutz ziehen. Mord ist Mord, gleichgültig, ob an Freund oder Feind begangen, und gehört gesühnt. Das gemeinste verbrechen aber ist Hoch- und Landesverrat!“ Dieses letzte Buch, in dem sie wieder zur Schattenbeschwörerin geworden wäre, blieb Fragment. Das Material gin ein in Günther Weisenborns Dokumentation „Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes. 1933-1945“, das 1953 erschien und zu dem Martin Niemöller die Einleitung schrieb. Ricarda Huch, Ehrenpräsidentin beim Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß im Hebbel-Theate in Berlin im Oktober 1947, war kurz darauf aus Thüringen, das der Sowjetunion zugefallen war, in einem verplombten Waggon der britischen Besatzungsmacht nach Hannover und von dort nach

21 Frankfurt am Main gereist. Am 17. November 1947 starb die Schattenbeschwörerin in Schönberg im Taunus an einer Lungenentzündung, auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ist sie begraben.

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