Das Jahr 1864 War Ein Kriegsjahr. Im Frühjahr Hatte Die Erstürmung Der

Das Jahr 1864 War Ein Kriegsjahr. Im Frühjahr Hatte Die Erstürmung Der

Lothar Müller (Berlin) Die Schattenbeschwörerin Festrede zum 150. Geburtstag von Ricarda Huch Braunschweig, 18. Juli 2014 Meine sehr geehrten Damen und Herren, Das Jahr 1864 war ein Kriegsjahr. Im Frühjahr hatte die Erstürmung der Düppeler Schanzen nach wenigen Wochen den ersten der drei Kriege entschieden, deren letzter 1871 mit der Kaiserkrönung und Proklamierung des Deutschen Reiches in Versailles endete. Ricarda Huch wurde im Juli 1864 in diese Entwicklung zum kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung hineingeboren, sie gehörte der ersten Generation an, die im neuen Deutschen Kaiserreich aufwuchs. Sie erlebte die rasch voranschreitende technisch-industrielle Modernisierung, die Deutschland von einem agrarisch geprägten Land in eine moderne Industrienation verwandelte, das Wachstum der Großstädte. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war sie gerade fünfzig Jahre alt geworden, und sie wurde alt genug, um nicht nur den Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Novemberrevolution zu erleben, sondern auch die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Deutschland, den Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches, das es noch nicht gegeben hatte, als sie geboren war. Es ist vielleicht kein Zufall, daß aus der Generation, zu der Ricarda Huch zählte, die Gründungsfiguren der Soziologie in Deutschland stammten, die etwas älteren Ferdinand Tönnies und Georg Simmel, der mit ihr gleichaltrige Max Weber. Sie machten die Soziologie zum Beobachtungsinstrument der modernen Gesellschaft, und auf dieses Beobachtungsobjekt wirkten nicht nur die Kräfte der Rationalisierung, Bürokratisierung und Versachlichung ein, sondern auch die Energien der Auflösung, Neuformierung und Verflüssigung traditioneller Lebensformen. Die Liebesverwirrungen und Affektspannungen, von denen die Biographie des Soziologen Max Weber durchzogen ist, standen mit den Veränderungen des Wirtschaftslebens, die er erforschte, in enger Verbindung. Sie waren Teil der Turbulenzen, von denen die Welt des Bürgertums insgesamt erfasst wurde. Georg Simmel prägte im Blick auf die verstörenden Seiten dieser Turbulenzen die Formel, der Zugewinn an Freiheit, den das moderne Leben mit sich bringe, müsse sich im Bewußtsein derjenigen, die ihn erleben, nicht notwendig als Wohlbefinden niederschlagen. Ricarda Huch hat der Soziologie in ihrem eigenen Werk entschlossen den Rücken gekehrt. Aber wer das Pathos und die Intensität in ihrer Hinwendung zur Geschichte und Geschichtsschreibung des alten, im 19. Jahrhundert untergegangenen Deutschland verstehen will, der tut gut daran, sich die bürgerliche Welt, in die sie hineingeboren wurde, so vorzustellen, wie es die Soziologie der Modernisierung nahelegt: vom Brüchigwerden der Traditionen erfaßt, statt solide in sich ruhend. Gewiß, der Vater Ricarda Huchs Vater, Richard Huch, war Kaufmann, aber er war es nicht gerne, sein Vater hatte ihn, der lieber studiert hätte, dazu gezwungen, und er mußte um des Familiengeschäftes willen nach Brasilien gehen, wo der Vater, nachdem er in Braunschweig eine gut gehende Gastwirtschaft betrieben hatte, in den Überseehandel eingestiegen war. Richard Huch kehrte 1864 wegen des Gesundheitszustandes seiner schwangeren Frau aus Porto Alegre nach Deutschland zurück, so wurde Ricarda Huch, sein drittes Kind, anders als die beiden älteren, Lilly und Rudolf, in Braunschweig geboren. Ihr Großvater, der Auswanderer, hatte sich einen gewissen Ruf als Abenteurer erworben, der Vater, leidenschaftlicher Verehrer des Kanzlers Bismarcks, war nicht nur Kaufmann, der zwischen seinen Kontoren in Hamburg und Porto Alegre pendelte, er war zudem ein Büchermensch mit einer schöngeistigen Bibliothek. Der Besuch der privaten höheren Mädchenschule, der Gesangs- und Klavierunterricht, die Lese- und Gesangsabende im elterlichen Haushalt, all das gehört zum bürgerlichen Repertoire, aber die heranwachsende Ricarda Huch wird mit 19 Jahren, 1883, in dem Jahr, in dem die Mutter stirbt, zu einem Unruheherd. Es ist keine kleine Unruhe, es ist eine Erschütterung der Gesamtfamilie. Sie verliebt sich in ihren Vetter Richard, der seit einigen Jahren mit ihrer älteren Schwester Lilly verheiratet ist. Richard, 33 Jahre alt, Rechtsanwalt und Notar mit Doktortitel, erwidert die Liebe. Als Ricarda Anfang 1887 nach Zürich geht, um dort ein Studium 2 aufzunehmen – in Deutschland gab es das Frauenstudium noch nicht –, steht dahinter der Versuch der Familie, der verbotenen Liebesbeziehung ein Ende zu machen. Zu den alteingesessenen Familien der Stadt gehört man ohnehin nicht, und das gesellschaftliche Klima in Braunschweig ist nicht so, daß dergleichen ruchbar werden sollte. Außerdem ist der endgültige Niedergang der Firma Huch, nicht zuletzt durch Investitionen in erfolglose Erfindungen, unabwendbar, eine universitäre Ausbildung verspricht eine gewisse Zukunftssicherung, ein Teil des Geldes aus dem unvermeidlichen Verkauf des Elternhauses fließt in das Geschichtsstudium der Tochter. Das Bürgertum hatte die Liebesheirat erfunden, die Kräfte, die damit freigesetzt waren, unterminierten die Institution der bürgerlichen Ehe, wie heftig, kann man in den Briefen nachlesen, die Ricarda Huch zwischen 1887 und 1897 an Richard Huch, den Geliebten, geschrieben hat. Sie wurden lange nach ihrem Tod aus dem Nachlaß publiziert. Die Gegenbriefe sind nicht erhalten, so wie auch die Briefe der jungen Ricarda Huch an ihre Großmutter vernichtet sind, aus Sorge, daß die Familie durch sie kompromittiert werden könnte. Diese Liebesbriefe scheuen den schwärmerischen Ton nicht, sie sprechen die Sprache der unbedingten, unbedenklichen und bedenkenlosen Liebe, sie sind aber zugleich eine Chronik des Studiums, das Ricarda Huch 1891 mit der Dissertation „Die Neutralität der Eidgenossenschaft, besonders der Orte Zürich und Bern, während des spanischen Erbfolgekrieges“ und der Promotion zum Dr. phil. abschließt. Und vor allem: sie halten fest, wie das wissenschaftliche Studium von Beginn an von Fanfarenstößen eines Autorenehrgeizes begleitet ist, der nicht geringer wird, als die junge Doktorin eine Anstellung als Bibliothekarin an der Stadtbibliothek Zürich findet, dann das Oberlehrerexamen macht und an einer privaten Mädchenschule Deutsch unterrichtet und schließlich 1896 nach Bremen geht, an ein neu gegründetes Mädchengymnasium. „Das kann ich Dir aber sagen“, so lautet ein Fanfarenstoß vom Januar 1888, „wenn ich das Examen bestehen sollte, stürze ich mich sofort wie ein Tiger über das Dichten; glaub nicht, daß ich mich durch Mißerfolge 3 abschrecken lasse, ich habe bereits mehrere Dramen im Kopfe und ein Epos, außerdem den angefangenen Roman.“ Der Roman, von dem hier die Rede war, erschien 1893 unter dem Titel „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ bei Wilhelm Hertz in Berlin, dem Verleger Theodor Fontanes. Er wird gelegentlich mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann verglichen, die wenige Jahre später herauskamen, denn hier wie dort geht es um den Verfall einer hanseatischen Familie. Aber was Ludolf Ursleu bei Ricarda Huch zu berichten hat über die ökonomisch abschüssige Bahn, auf der sein Vater und sein Onkel sich bewegen, wenn, wie in Gottfried Kellers „Martin Salander“ Kreditgeschäfte die Solidität des Wirtschaftens zu unterminieren beginnen, wenn Verbesserungen des Wasserwerks, die sie in Angriff nehmen mißlingen, wenn eine Choleraepidemie, an deren Ausbreitung ihnen die Verantwortung zugerechnet wird, die Stadt ergreift und den Tod auch in die eigene Familie bringt, bis schließlich Vater und Onkel des Erzählers, von Melancholie, Depression und Schwindel des Untergangs erfaßt, im Selbstmord enden – all das ist nur die Rampe für die eigentliche Katastrophe, die nicht vom ökonomischen Verfall, sondern von der Sprengkraft und Dämonie der Liebe bewirkt wird. Diese Liebe zwischen Ludolf Ursleus Schwester Galeide und dem verheirateten Ezard ist der Konstellation nachgebildet, die Ricarda Huch lebte, während sie an dem Roman schrieb und über den Roman in den Briefen an ihren Geliebten, den Vetter Richard Huch. Dieser Lebensstoff war so leicht erkennbar, daß ihr realer Bruder Rudolf nach Lektüre des Manuskripts Protest einlegte, weil er befürchtete, er selbst und die gesamte Familie würden bei einer Publikation zum Stadtgespräch in Braunschweig werden. Daß im Roman die ungehörig liebende Schwester Galeide zum Studium nach Genf ging statt nach Zürich, würde daran nichts ändern, ebensowenig der Umstand, daß sie, die musikalisch hochbegabte Violinistin, sich am Ende des balladenhaften Romans, von einer bösen Laune des Dämons Liebe erfaßt, vom Geliebten entfernte, obwohl er nach dem Choleratod seiner Frau zu einer neuen Ehe bereit gewesen wäre, und wie die Vätergeneration im Selbstmord endete. 4 Der Ehebruchsroman war, von Flauberts „Madame Bovary“ über Tolstois „Anna Karenina“ bis zu Theodor Fontanes „Effi Briest“, zu einer literarischen großmacht im 19. Jahrhundert geworden, aber es war darin stets die verheiratete Frau, an der die Krise der bürgerlichen Ehe sichtbar wurde, hier, bei Ricarda Huch, forderte die erste große Liebe einer Heranwachsenden erfolgreich eine im Nahbereich der Familie geschlossene Ehe heraus, und wenn wir, über den Verweis auf die autobiographischen Züge dieser Konstellation hinaus, das Zeittypische daran beleuchten wollen, dann müssen wir uns der ersten großen Epochendarstellung zuwenden, mit der die Geschichtsschreiberin Ricarda Huch ihren Ruhm bei den Zeitgenossen begründete, ihrer zweibändigen Studie „Die Romantik. Blüte, Ausbreitung und Verfall“, die in den Jahren um 1900 erschien. Noch 1924 wird sich Thomas Mann in

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