≫freitag.de/prism Ai Weiwei über Edward Snowden und Überwachung in China

Ruanda Fast 20 Jahre nach Deutschland Hurra, der erste Türkei Die großen Medien dem Völkermord an den Tutsi Stein des Stadtschlosses in ignorieren die Proteste. „Und wer leben Opfer und Täter in enger Berlin ist gelegt. Jetzt startet Ein Journalist spricht über Nachbarschaft Wochenthema S. 6/7 die Aktion Rückbau! Kultur S. 13 die Selbstzensur Kultur S. 15 profitiert davon? Die Besser- Partner des Guardian 13. Juni 2013 24. Woche Deutschland 3,60 € ver­dienenden!“ Ausland 3,90 € Daniel Martienssen

Politik Die Community diskutiert über das Ehegattensplitting für homosexuelle Paare Das Meinungsmedium ≫freitag.de/community

Die Kehrseite

der Macht u s Foc r gent u

Drohnen, Guantánamo und A der NSA-Skandal: Wir verstehen Amerika nicht mehr S. 3 Photos/ m u M agn artin Parr/ M artin Foto [m]: [m]: Foto

Annett Gröschner über Magdeburg und die Flut United Stasi Dank euch, Helfer: Vor allem über Facebook NSA-Skandal Die Vereinigten Auch beim Vorläufersystem Echelon, das bitteren Erkenntnis führt kein Weg vorbei: Mitte der neunziger Jahre enttarnt wurde, Die USA dominieren das Netz. Big Obama und Twitter kamen sie zu den Deichen Staaten dominieren das Netz. hatte Deutschland ja schon eine zentrale ist watching you. Daran wird sich voraus- Mister Barack Obama is Rolle. Man muss sich daran nur erinnern. sichtlich nicht ändern. Aller Empörung in watching you! Aber eigentlich Ja, Prism ist nicht neu, und es gibt bei uns der Politik und den Medien zum Trotz. m vergangenen Sonntagabend Der Umflutkanal und neue Technologien sogar Vergleichbares, wenn auch nicht in so Und dennoch gibt es Wege, den Online- war es in Ostelbien plötzlich würden es schon richten. ist jeder selbst schuld daran einer globalen Dimension. Bei der strategi- Schlapphüten das Leben schwer zu ma- Aganz still. Die Vögel hatten zu Die waren dann aber für anderes gut. schen Fernmeldeaufklärung des Bundes- chen. Unter prism-break.org wurde von singen aufgehört, keine Autos mehr, nur Im Gegensatz zum MDR, dessen Hoch- nachrichtendienstes (BND) werden rund 20 Onlineaktivisten eine Informationsseite das mal nahe, mal ferne Geräusch der wasserreportagen nicht von denen aus ■■ Detlef Borchers Prozent des deutschen E-Mail-Verkehrs mit eingerichtet, auf der für viele Internetpro- Sirenen, das Knattern des Beobachtungs- dem Jahr 2002 zu unterscheiden waren, rund 16.500 Suchbegriffen durchforstet. gramme und Betriebssysteme die Alterna- hubschraubers und die Pumpen in haben sich ausgerechnet Twitter und ie USA betreiben Telefon- und Es gibt eine Vielzahl von Urteilen des tiven aufgeführt sind, die vor dem Schnüf- den Kellern erinnerten daran, dass im ­Facebook als verlässlichste Übermittler Internetspionage im großen Bundesverfassungsgerichts, die sich mit felzugriff schützen können. Statt Google Hintergrund eine Katastrophe lief, von Informationen erwiesen. Privat Stil. Was man bisher nur in den Grenzen der Überwachung befassen. kann man DuckDuckGo als Suchmaschine deren Teil wir waren. Ich als zufällig Ge- organisierte Hochwasserseiten waren Hollywoodfilmen vorgesetzt In dem letzten wichtigen wurde der einsetzen. Niemand ist gezwungen, die strandete; die anderen als Bewohner der schnell, informativ, freundlich im Ton bekam, ist plötzlich Wirklich- Lauschangriff drastisch eingeschränkt und großen kostenlosen Mailanbieter zu nut- von Überflutung bedrohten Gegenden und vor allem besänftigend, wenn in den Dkeit geworden. Prism heißt das Projekt, mit nur unter sehr engen Voraussetzungen er- zen. Es gibt auch Anbieter wie Thunderbird. Magdeburgs. Kommentaren die Nerven blank lagen. dem der selbsternannte Weltpolizist die laubt. Zwischen der Sicherheit und der Man kann als Zusatz Enigmail für die Ver- Wenige Stunden vorher hatte ein Vor allem waren sie frei von Kriegs- Staaten überwacht. Freiheit gibt es immer ein Spannungsver- schlüsselung installieren. Lautsprecherwagen die Anwohner aufge- jargon, wie in den offiziellen Presse- Er macht dabei keine großen Unterschie- hältnis. Aber hierzulande ist es noch eini- Möglichkeiten gibt es also genügend. fordert, ihre Häuser zu verlassen. Der mitteilungen: „Deichverteidigung de, Partner werden ebenso belauscht wie germaßen ausgeglichen. Wir leben immer Aber kaum jemand macht davon Gebrauch. Krisenstab der Stadt hatte sich auf eine und Gefahrenabwehr laufen weiterhin Gegner. In Europa ist ausgerechnet Deutsch- noch in einer relativ freiheitlichen Gesell- Denn die User machen es sich im Netz so prognostizierte Hochwasserhöhe von auf Hochtouren.“ land das Land, das am intensivsten ausge- schaft. Und es gibt eine lange Tradition der einfach wie möglich. Und nicht nur das. 7,26 Meter verlassen. Jetzt stand der Pegel Dabei war längst klar, dass die Stadt vor späht wird. Das Internet, das nicht nur ein Rechtssprechung. Über die Bedenkenlosigkeit, mit der viele bei 7,46 Meter; mehr als 70 Zentimeter allem von Helfern gerettet werden großes Informations- sondern auch ein Menschen ihre Daten im Netz preisgeben, über dem Höchstpegel von 2002. Es würde, denen alles Militärische fremd Freiheitsversprechen war, ist zu einem kann man nur den Kopf schütteln. Daten- waren Straßen und Viertel abgesoffen, ist. Neben den Anwohnern vor allem Überwachungsnetz geworden. Im Web kur- schützer beklagen diesen Umstand seit die auf keiner Liste standen. Wir aber, junge Leute, die sich per Facebook oder siert bereits eine andere Übersetzung des Jahren, doch ihnen sind die Hände gebun- seit unserer Kindheit mit Hochwassern Twitter nicht zu Partys verabredeten, Kürzels USA: United Stasi of America. Es gibt viele den. Sie können nicht mehr tun, als zu ei- (wenn auch nie solchen starken) ver- sondern plötzlich zu Hunderten auf den Normalerweise sind es ja die Staaten nem verantwortungsvollen Umgang raten. traut, ­waren geblieben. Im Garten lasen Deichen auftauchten, um sie mit Sand- selbst, die andere Länder anklagen, weil die Mittel, sich vor Den Geheimdiensten wird es so noch leich- wir Faust II: „Da rase draußen Flut bis säcken zu schützen und danach zum Freiheitsrechte ihrer Bürger missachten. den Zugriffen ter gemacht, ihre Schleppnetze im Internet auf zum Rand / Und wie sie nascht, ge- nächsten bedrohten Ufer weiterzuziehen. Aber gibt es eine größere Ignoranz gegen- auszuwerfen. waltsam einzuschießen / Gemeindrang Als der Pegel langsam sank, hing am über jenen Bürgerrechten als die heimliche anderer Stay hungry, stay foolish! So lautete das eilt, die Lücke zu verschließen.“ Geländer einer Brücke eine Statusmel- Abschöpfung der Menschen im globalen zu schützen Motto des Whole-Earth-Katalogs, einer Magdeburg hat sich dem Fluss wieder dung der altmodischeren Art: Jemand Maßstab. Barack Obama will damit sein Sammlung von Bauanleitungen und Bestel- zugewandt, der in den achtziger Jahren hatte „Dank euch, Helfer“ mit Farbe auf Land gegen Terror schützen. Somit ist ladressen der kalifornischen Gegenkultur, nicht mehr als eine Kloake war, die die ein Laken gemalt. Prism und der ganze NSA-Skandal der Hö- die sich gegen die etablierten Systeme rich- Abwässer in den Westen exportierte. Es gab auch Menschen, die unberührt hepunkt einer fatalen Sicherheitspolitik, tete. Heute wird dieses Motto vielfach dem Es hat der Kultur der Stadt gut getan, sich von allen Katastrophen ihren Job mach- die George W. Bush nach dem Anschlag auf Doch all dies ist nun nichts mehr wert. Apple-Gründer Steve Jobs zugeschrieben, aber in den letzten Tagen zugleich als ten. Da kam der Ableser des örtlichen das World Trade Center begann und die Die National Security Agency schert sich der in seiner Jugend begeisterter Leser des Nachteil erwiesen. Seit 2002 wurden etli- Energieversorgers auf die Elbinsel Werder sein Nachfolger Barack Obama nahtlos, einen Dreck um deutsches Verfassungs- Katalogs war. Bleibt jung, bleibt hungrig, che Stadtvillen direkt an den Ufern ge- und wunderte sich, dass er niemanden nein, offenbar noch schärfer fortsetzte. recht. Dazu kommt noch, dass sich die bleibt misstrauisch gegenüber dem Staat. baut, offenbar in der nun aufs Eindrucks- antraf – außer denen, die sich der Die Empörung über Prism ist nun groß. größten Teile der Internetstruktur in den Zum Glück gibt es immer wieder mutige vollste widerlegten Annahme, es habe Evakuierung widersetzt hatten. Müßig zu Die Bundeskanzlerin Angela Merkel will USA befinden. Das gilt sowohl für jene Menschen wie Bradley Manning oder Ed- sich nur damals um die Jahrhundertflut sagen, dass der Strom abgestellt war. den amerikanischen Präsidenten bei sei- Technik, dank der das Netz funktioniert, als ward Snowden, die aus dem Schweigekar- gehandelt. Es war aber wohl nur der nem Besuch in Berlin in der kommenden auch für die Konzerne. Google, Facebook, tell der Macht ausbrechen und auspacken. Beginn eines Jahrhunderts der Fluten. Lesen Sie von der Schriftstellerin Annett Woche zur Rede stellen. Aber dass ausge- Twitter, Apple, Yahoo haben dort ihre Doch all das wird nichts nützen, wenn wir Von den zehn höchsten Pegelständen, Gröschner auch auf Seite 17 rechnet unser Land für die Onlinespäher Hauptquartiere. daraus nicht endlich die Konsequenzen die hier jemals gemessen wurden, fielen aus Übersee so interessant ist, kann eigent- Sie alle wurden angezapft. Vielleicht ha- ziehen. Bleib online. Doch widersteh! allein fünf in die letzten elf Jahre. Das alte lich nicht verwundern: Schließlich ist die ben sie dabei nicht aktiv mitgemacht, wie Wissen, dass man in elbnahen Gebieten Hegelplatz 1 10117 Berlin Bundesrepublik einer der größten Rüs- sie jetzt lautstark beteuern. Aber sie haben Detlef Borchers ist IT-Journalist wenigstens keine Keller baut, wurde PVStk. A04188 tungsexporteure der Welt. es zumindest geschehen lassen. An dieser vergessen oder als ewiggestrig abgetan. 4 198389 80360542 Entgelt bezahlt Tagebuch

02 Seite 2 Sie finden eine Auswahl der Texte auf freitag.de, der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 indem Sie die Headline, ein Stichwort oder den Autoren in der Suche eingeben. Wo vermerkt, finden Sie dazu auch Zusatzmaterial im Internet, also weitere Texte, Audiobeiträge und Videos

Inhalt Provokateur ohne Grenzen Robert Ménard hat Reporter Sans Frontières gegründet. Nächstes Jahr tritt er für den Front National an Liebe Leserinnen und Leser, am Mittwoch wurde der Werbung“, beschreibt er sein Renommee . Mit ■■ Adrian Lobe Grundstein für das umstritte- der FN-Vorsitzenden Marine Le Pen teilt ne Berliner Stadtschloss Ménard ostentativ den anti-elitären Impetus, und das Humboldtforum gelegt. Im Vor- ür großes Erstaunen sorgt diese Ent- gäbe es doch eine „politisch-mediale Klasse“, feld wurde heftig diskutiert: Warum ein scheidung kaum. Schon länger hegt die voller Dünkel und von der Überzeugung Schloss, wo weder König noch Kaiser? der Journalist Robert Ménard Sym- beseelt sei: Wer nicht so denke wie sie, denke Hätte man den Palast der Republik nicht pathien für den rechtspopulisti- zwangsläufig falsch. doch erhalten sollen? Brauchen wir noch schen Front National (FN). 2008 er- „Ich habe keine Lust darauf, dass es in mei- solche Prestigeprojekte, auch nach dem Fklärte er, er wolle auf die Straße, um die Presse nem Land genauso viele Moscheen wie Kir- endlosen Debakel um die Hamburger der Partei zu verteidigen; 2011 verfasste er das chen gibt“, räsoniert Ménard im März 2011, Elbphilharmonie? Und wer trägt die Pamphlet Vive Le Pen! – im vergangenen Jahr um ein Jahr später das Pamphlet Vive l’Algérie Kosten? Die Künstlerin Marion „Rigoletti“ plädierte er auf seinem Blog für eine vereinte française zu veröffentlichen. Geschichtsrevisi- Pfaus ist da einen Schritt weiter. Einen Rechte. Der Front National – inzwischen onismus, kaschiert als Meinungsfreiheit und Tag nach der Grundsteinlegung stellt sie kommt die Partei auf 15 bis 20 Prozent der gedacht als Argumentationshilfe für einstige im Freitag exklusiv ihre Pläne für den Wähler – könne nicht mehr ignoriert werden. Algerien-Franzosen, die mehrheitlich Front Rückbau des Schlosses vor. Humboldt21 Nun will Robert Ménard bei den Kommunal- National wählen. Dabei geht Ménards Aggres- nennt sich ihre Initiative und verspricht, wahlen 2014 im südfranzösischen Béziers für sivität weit über die verbreitete „Man wird ja anders als andere, alle Termine einzu­ die Rechten antreten. „Ich habe dort meine wohl noch sagen dürfen“-Attitüde hinaus. halten: Am 6. August 2050 werden die Kindheit verbracht, ich besitze ein Haus, mei- L’Express attestiert ihm die „Rhetorik einer Überreste des wiederaufgebauten Stadt- ne ganze Familie wohnt in dieser Gegend“, Bulldogge“. Im Vorjahr lanciert Ménard die schlosses gesprengt. Was bis dahin an- sagte er in einem Interview für Le Monde, als Früher war rechtslastige Informationsseite Boulevard Vol- steht, in welcher Tradition ihr Vorhaben es um seine politischen Ambitionen ging – Robert Ménard taire, für die unter anderem Jean-Yves Le Ga­ steht und wie Sie Teil der Berliner Rück- Béziers sei „seine“ Stadt. ein Linker und llou schreibt, ehemaliger Europaabgeordneter baugeschichte werden können, lesen Robert Ménard entstammt einer katholi- des FN und Frontmann des pseudowissen- Sie auf Seite 13. Einer der sich ebenfalls schen Pied-noir-Familie aus dem algerischen kämpfte für die schaftlichen Thinktanks Polémia, der durch intensiv mit dem Stadtschloss beschäftigt Oran, in der man „Gaullisten und Kommunis- Meinungsfreiheit. völkischen Rassismus – „eine Erde, ein Blut, hat, ist der Blogger Archinaut aus ten hasste“, wie er sagt. Der Vater, ein gelern- Jetzt will er, ein Volk“ – von sich reden macht. unserer Community. Seine Texte lesen ter Drucker, steht in den frühen sechziger Jah- dass es in seiner Zwar hat sich Ménard zuweilen vom Front Sie unter freitag.de/autoren/archinaut. ren der Untergrundbewegung OAS (Organisa- images f p/getty f e/a National öffentlich distanziert und will auch f i Heimatstadt Eine anregende Lektüre wünscht tion Armée Secrète) nahe, die sich einer jetzt seine Kandidatur bei der Kommunalwahl Christine Käppeler Unabhängigkeit Algeriens vehement wider- Béziers nicht als „apolitisch“ verstanden wissen. Das aller- ranck f ranck setzt. Nach dem Kolonialkrieg geht die Familie zu viele dings ist wenig glaubwürdig. Immerhin ver-

fast mittellos nach Frankreich, lebt im Dépar- Foto: Moscheen gibt tritt er reaktionäre politische Positionen, ver- tement Aveyron und verdammt den gaullisti- teidigt die Todesstrafe, hält Folter „in be- Wochenthema schen Staat. Mit der Mai-Revolte von 1968 stimmten Fällen“ für legitim und wünscht schließt sich Ménard zunächst der trotzkisti- seine Hartnäckigkeit: „Das Telefon läutete, sich, dass seine Kinder nicht homosexuell Bereuen sie wirklich? S. 6/7 schen Ligue Communiste Révolutionnaire Ménard war dran. Fünf Minuten später, der werden. Eine Ménard-Kolumne des rechtskon- Fast 20 Jahre nach dem Genozid ist Chris (LCR) an. Er sei entschlossen gewesen, „ein nächste Anruf – wieder Ménard. Und zehn servativen Portals Nouvelles de France – der McGreal wieder nach Ruanda gereist, um professioneller Revolutionär“ zu werden, wird Minuten danach, noch mal Ménard. Als ich in Wikipedia-Eintrag der Seite wurde inzwischen dort Täter und Opfer von einst zu treffen er später über diese Zeit sagen. Es folgt eine meiner Zelle saß, stellte ich mir vor, er würde gelöscht – war mit dem Titel Nach der Homo- kurzlebige Mitgliedschaft bei den Sozialisten, das Gleiche für mich tun.“ Das Magazin Ehe die Polygamie? versehen. bevor ihn 1983 Radio France Hérault enga- L’Express bezeichnet ihn als „Nervensäge Kollegen verfolgen diese Tiraden mit Kopf- Politik giert. Fortan ist der Journalismus sein Metier. ohne Ende“. So energisch er seinen Freiheits- schütteln. „Quelle déchéance!“ – welch ein 1985 gründet er die Organisation Reporter anspruch durchsetzt, so autokratisch ist sein Verfall – entrüstet sich Edwy Plenel, Produ- Drohnen-Affäre S. 4 Sans Frontières, deren Generalsekretär er bis Führungsstil. Rony Brauman, ebenfalls ein zent der Internetplattform Mediapart. „Der Bisher hat die Kanzlerin die Skandale 2008 bleibt. 2005 erhält Reporter ohne Gren- Gründungsmitglied, konstatiert, Robert Gründer von Reporter ohne Grenzen, der ihrer Minister unbeschadet überstanden. zen den Sacharow-Preis des Europäischen Par- Ménards Verhalten gleiche dem eines „klei- eine Eloge auf die Todesstrafe hält?“, fragt Wird sich das mit de Maizière ändern? laments. nen Diktators“. Plenel entgeistert. Egal, wie Ménard seine Stephan Hebel Ménard, der Aktivist, ist omnipräsent, reist Rage und Furor mögen biografisch oder mit Kandidatur bei der Kommunalwahl für den Lobbyismus S. 8 durch den Sudan, nach Palästina und in den einem instinktiven Misstrauen gegen die FN begründet: Er kann sich nicht mehr als Ein Palmöl-Konzern lädt Europaabgeord- Irak. Wo immer ein Journalist in Gefahr gerät Mächtigen begründet sein. Nach den Unruhen Herold der Meinungsfreiheit feiern, sondern nete nach Malaysia ein. Und das kurz – Ménard steigt ins Flugzeug. „Sein Koran, das in Tibet vor den Olympischen Spielen 2008 in wird zum Handlanger einer rechtsextremen vor einer wichtigen Entscheidung der EU war die Pressefreiheit“, erzählt Ben Ami Fih- Peking stört Ménard die Entzündung der Partei, die gegen Ausländer und Minderhei- Felix Werdermann mann, ein alter Vertrauter. Die Journalistin olympischen Flamme, er ruft die Staatschefs ten hetzt. Florence Aubenas, die 2005 von irakischen zum Boykott der Eröffnungszeremonie auf EU-Beitritt S. 10 Rebellen entführt wurde und heute beim und gefällt sich wieder einmal in der Rolle des Adrian Lobe ist freier Autor und lebt in Paris Kroatien wird am 1. Juli in die Union Nouvel Observateur arbeitet, erinnert sich an Bad Guy. „Ich bin eine Agentur mit schlechter aufge­nommen. Viel Freude wird man vorerst nicht miteinander haben Norbert Mappes-Niediek

Michael Krätke über die EZB vor dem Bundesverfassungsgericht Ulrike Baureithel über das drohende Ende der KSK Kultur Bühne S. 14 Das Theater Konstanz spielt „Der Jude Krisenmanager im Clinch Der Preis eines Privilegs von Konstanz“ von Wilhelm von Scholz. Ein frühes Stück des späteren NS-Autors m Juli 2012 hat Mario rott gehen können, dann bürgt Die Karlsruher Richter dürf- ollen Sie morgen Erfindung 1983 immer schon de- Thomas Rothschild Draghi magische Worte ge- für den Euro der Kredit der ten genauso ratlos sein wie der noch Ihre Zeitung nen ein Dorn im Auge, die sich Nachruf S. 17 Ilassen ausgesprochen: Die Eurozone insgesamt. Man sollte Rest der deutschen Eliten. Der Wlesen – und in diesem vor der Abgabe von 4,1 Prozent Philologe, Rhetoriker, Schriftsteller, EZB werde alles tun, den Euro sich daher nicht mit zu klein Streit um die EZB-geprägte Eu- Fall ist es ausnahmsweise egal, drücken wollten oder die ohne- Sozialist und Christ. Der Homme zu verteidigen. Finanzinvestoren geratenen Rettungsschirmen rorettung zeigt, in welche Sack- ob auf Papier oder im Netz? hin glauben, als Künstler läge de lettres Walter Jens ist verstorben glaubten ihm, der Druck aufhalten, sondern auf gasse sich die EU mit ihrer bis- Wollen Sie in die Oper gehen man bis mittags im Bett. Zuletzt Jürgen Busche auf italienische, spanische und den geballten Staatskredit aller herigen Krisenpolitik manöv- oder in die Galerie? Dann war es 2008 der Bundesrat, portugiesische Staatspapiere Euroländer setzen. riert hat. Klassische Geldpolitik sollten Sie aufmerken, denn es der die KSK als „bürokratisches Filmkritik S. 18 ließ nach. Bis dahin hatten die Das hat die Märkte beein- funktioniert im sechsten Jahr könnte sein, dass Ihr Lieblings- Hemmnis“ abschaffen wollte. Hypes sind verführerisch, aber auch Märkte angeschlagene Eurolän- druckt. Spanien ist wieder der Krise nicht mehr, die rein autor, Ihre Schauspielerin im Zeitungsleser, Theaterbesu- autoritär: Überlegungen zum Phänomen der vor sich hergetrieben und kreditwürdig, Italien auch. Aller- negative Fiskalpolitik des Spa- kleinen Theater nebenan oder cher und Musikbegeisterte da- der zwingenden Begeisterung immer neue Rettungsaktionen dings haben Draghi und der rens noch weniger. Unverdros- der Clown nicht mehr da sein gegen werden es richtig finden, Frédéric Jaeger heraufbeschworen. Die ameri- EZB-Rat ein deutsches Dogma sen hält die EZB den Leitzins bei werden. Weil sie nämlich ihre dass der Staat abgabepflichtige kanische Fed, die japanische und verletzt, das zu respektieren fast null und muss zusehen, Krankenversicherung nicht Unternehmen kontrolliert. britische Zentralbank lieferten sie nach dem Willen der Kläger dass weder die Banken im nöti- mehr bezahlen können und Beauftragt damit ist die Renten- das Beispiel, kauften sie doch das Bundesverfassungsgericht gen Umfang Kredite vergeben sich einen festen Job zum versicherung, die für diesen Alltag längst Anleihen ihrer Staaten zwingen soll. Nur kann aus noch die Unternehmen im nöti- Brotverdienen suchen müssen. Dienst allerdings bezahlt wer- Kommentar S. 21 auf. Im Notfall unbegrenzt. Karlsruhe kein Befehl an die gen Umfang investieren. Freie Kreative sind in den will und sich deshalb vor Schwedische Lokführer lieben es luftig, Nur in Euroland verfuhr man EZB ergehen. Von dort aus ließe Also wäre die Finanzpolitik Deutschland über die Künstler- dem Sozialgericht Berlin streitet. die Männer gehen in Röcken zur Arbeit. bis Mitte 2012 anders, weil sich die Sache an den Europäi- am Zug. Aber die stößt auf das sozialkasse (KSK) versichert. Die Folge: Seit 2010 werden die Kommt ein Sommer der Mode-Anarchie? zu den Konstruktionsfehlern schen Gerichtshof verweisen, Dogma des Schuldenabbaus. Sie bezahlen entsprechend ihres Unternehmen immer nach­ Juliane Löffler der Gemeinschaftswährung doch halten die Luxemburger Die daraus resultierende Schul- Einkommens einen Arbeitneh- lässiger geprüft und bringen die ein EZB-Statut gehört, das nach Richter in der Regel wenig denpolitik führt zu einer Defla- meranteil, der Staat übernimmt KSK in eine finanzielle Schief­ Der Koch S. 22 dem Vorbild der Bundesbank von deutschen Obsessionen. tionsspirale, die für Südeuropa die andere Hälfte. Das finanziert lage. Arbeitsministerin Ursula Hierzulande hängt der Spargel wie ein die EZB als „unpolitisches“ Bliebe als Option, Bundes- längst zur Armutsspirale gewor- sich aus einem staatlichen von der Leyen und Kultur­ nasses Handtuch über der Gabel. Sieden Institut beschreibt. Es hat bank und Bundesregierung zu den ist. Der Markt richtet gar Zuschuss von derzeit 160 Millio­ staatsminister Bernd Neumann laugt ihn aus. Besser, man brät ihn „reine“ Geldpolitik zu betreiben verpflichten, der EZB die Gefolg- nichts, und die im Marktglau- nen Euro und aus einer Abgabe wollten deshalb noch vor der Jörn Kabisch und für eine gedämpfte In­- schaft zu versagen. Das aber ben befangenen Regierungen derjenigen Unternehmen, die Wahl schärfere Kontrollen Individuell S. 22 flation zu sorgen, sonst nichts. hieße, den Euroraum zu ver­ richten nur noch Schaden an. Künstler beschäftigen, also zum durchsetzen. Gescheitert sind Die Parfümbranche feiert ihre „Düfte des Ohne dieses Verdikt hätten lassen. Begnügen sich die Ver- Die Bundesbank glaubt an die Beispiel Verlage, Theater und sie an den Berliner Wirtschafts- Jahres“. Die sind massentauglich und die Deutschen den Euro nicht fassungsrichter mit der Auflage disziplinierende Funktion der Musikveranstalter. lobbyisten, die nun erklären marktgerecht, experimentiert wird nicht akzeptiert. strikter Grenzen für mögliche Finanzmärkte, die EZB meint, Dieses kleine Privileg im müssen, woher die 137 Milliar- Agnes Szabó Mario Draghi hat die EZB von Anleihekäufe der EZB, geht der sie in Schach halten zu müssen. Vergleich zu anderen freien Be- den Branchenumsatz kommen. der Bundesbank emanzipiert Tanz mit den Rettungsschirmen Weiter wissen beide nicht. Juris- rufen bezahlen Künstler teuer: Also muss man sich künftig A – Z Kaufhäuser S. 24 und folgt der Philosophie: Wenn von vorn los. Über Nacht hätte ten können da wenig ausrich- Obwohl sie meist extrem wenig wohl doch wieder Carl Spitzwegs Über ein Prinzip mit großer Geschichte hinter dem Dollar der Glaube man die Schuldenkrise wieder ten, Ökonomen bräuchte das verdienen, sind sie Objekt des „Armen Poeten“ über die Couch steht, dass die USA nicht bank- mit voller Wucht am Hals. Land. Neids. Die KSK war seit ihrer hängen. Leserbriefe, Impressum S. 20 Redaktion Artikel von Redakteuren und Autoren des Freitag Community Beiträge von Mitgliedern der Freitag-Community Syndication Artikel unserer Syndication-Partner wie zum Beispiel dem Guardian 03 Titelthema der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Die Kehrseite der Macht Drohnen, Guantánamo und NSA: Wir verstehen Amerika nicht mehr

bildeten Kreisen von London und Paris wür- den die Amerikaner von oben herab betrach- tet: als dicke, dumme, naive, bigotte, aber lei- der auch etwas aggressive Kinder. In Deutschland, schreibt Gill, sei die Wahrneh- mung Amerikas etwas positiver. Aber ist sie das wirklich? Auch bei uns hat Amerika den Imagewandel vom großen Bruder zum schrecklichen Kind durchgemacht. Unser Amerikabild ähnelt ein wenig dem berühmten New-York-Cartoon von Saul Steinberg. Vorne sieht man New York und die Ostküste, mit den besten Universitäten der Welt, mit Nobelpreisträgern, Künstlern und Millionären. Dahinter erstreckt sich ein wei- ter Landstrich mit Prärie und vielen dicken Kindern im Besitz von Schusswaffen, eine Gegend, in der es im Großen und Ganzen so zugeht wie in den Filmen des Regisseurs Mi- chael Moore oder in der Trash-Komödie Bo- rat. Eine bibeltreue „Freak Show“, die am Wahltag geschlossen den Republikanern ihre Stimme gibt. Und ganz im Westen fängt dann wieder eine Art Zivilisation an, im kaliforni- schen Silicon Valley und in Hollywood, aber an dieser Küste lauert leider auch die große Gefahr des amerikanischen „Kulturimperia- lismus“. Natürlich entspricht diese mentale Karte genau der Aufteilung des Landes in rote (Re- publikaner) und blaue (Demokraten) Regio- nen. Die roten möchten wir gleich vergessen, die blauen sind uns lieber, aber liegt nicht ir- gendwo im blauen Bereich auch die Wall Street, das Herz des internationalen Finanz- kapitalismus? Man muss dieses deutsche Bündel aus Faszination und Abscheu nicht Antiamerikanismus nennen. Antiamerika- nismus, wie er etwa in dem 68er-Schlachtruf „USA SA SS“ eskalierte, dürfte heute schwer-

rivat (unten) (unten) rivat lich anzutreffen sein. p ocus, ocus,

F Altdeutsche, unbelehrbare Kritik an Amerika gentur gentur A Der Ton der Amerikakritik ist vornehmer ge- worden, die Motive jedoch sind fast diesel-

Photos/ ben geblieben. Sie kommen gerne daher im m Sprachgewand des „Man wird ja wohl noch sagen dürfen...“ Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass der amerikanische Finanzkapi- talismus die Welt beherrscht. Für solche Sätze muss man gar nicht links sein, man hört sie im gesamten politischen Spektrum und sogar auf Demonstrationen von Neona-

fotos: Martin Parr/Magnu Martin fotos: zis. Die umstrittenen Israel-Gedichte von Günter Grass haben einen politischen Stand- ort erkennen lassen, den man kaum links oder rechts nennen kann, aber mit Sicher- heit: deutsch. Oder genauer: altdeutsch. Nicht unbedingt antisemitisch, aber unbe- Entfernte Verwandte dingt unbelehrbar. Man fragt sich, worauf diese deutsche oder Böses Blut Barack Obama darf richtung aus? Vielleicht käme es bei Obamas Diese Wählergruppe ist nicht durchweg so Deutsche vielleicht auch gesamteuropäische Überheb- Besuch weniger darauf an, sich die eigene ahnungslos, wie wir denken. Sie hielt offenbar lichkeit gegenüber den USA beruht. Ist sie eine bei seinem Besuch in Berlin mit Bedeutung bestätigen zu lassen. Man könnte Romney für den Mann, der amerikanische wünschen sich Reaktion auf die fraglos existierende Über- keinem euphorischen Empfang dem Gast den Eindruck vermitteln, dass Werte eher in Politik umzusetzen bereit war US-Amerikaner heblichkeit des konservativen Amerika gegen- rechnen. Das Verhältnis zu man in Deutschland nicht nur auf Freund- als Obama. Auch Obama könnte sich keinen über Europa? In Europa, das wurden die vielen schaftszeichen aus den Vereinigten Staaten Tag im Amt halten, wenn er nicht unablässig so, dass sie Kandidaten der Republikaner nicht müde zu den USA ist reichlich abgekühlt wartet, sondern sogar selbst bereit ist, das auf amerikanische Werte pochen würde. Nur auch Günter beteuern, herrsche der Sozialismus, ein Ge- Land verstehen zu wollen. hält dies ein demografisch schrumpfender, danke, dem es nicht gelang, in den USA Schre- Mit dem Verstehenwollen ist es derzeit aber immer noch zahlenmäßig relevanter Teil Grass gefallen cken auszulösen. Gewiss gibt es in rechten ■■ Christoph Bartmann nicht weit her. Das deutsche Amerikabild der Bevölkerung für eine liberale Maskerade. politischen Kreisen der USA jede Menge Anti- mag um einiges positiver sein als etwa das Vielleicht entgeht diesen Obama-Kritikern da- würden: Europäismus. Das heißt nicht, dass solche ass er nun doch kommt, mag ein französische, gleichwohl hält man hier wie bei nur, dass Obama selbst gar kein Liberaler linksliberal Ressentiments am wirkungsvollsten mit Res- Akt der Höflichkeit sein. Viel- dort „die Amerikaner“ gerne für Hinterwäld- ist und deshalb auch gar nicht Theater spielt. sentiments zu beantworten sind. Es hilft auch leicht ist der Besuch 50 Jahre ler. Anders gesagt: Man hat ein Problem da- Der Präsident ist ein begabter Menschenfi- nicht, wenn sich die eine Seite für aufgeklärter nach John F. Kennedys Rede vor mit, dass die Amerikaner in der Mehrzahl scher, der es bis jetzt geschafft hat, Konserva- hält als die andere. Europa und die USA haben dem Schöneberger Rathaus auch und selbst dann, wenn sie Obama wählten, tive und Liberale (aber niemals „Libertarier“, das Erbe der europäischen Aufklärung auf Deiner klugen Symbolpolitik geschuldet. Aber keine Liberalen sind, jedenfalls nicht im eu- denn denen sind noch die Republikaner zu zwei verschiedenen Pfaden in die Gegenwart das allein kann es nicht sein. Es ist vielmehr so: ropäischen Sinn. Außerdem glauben nach links) hinter sich zu versammeln. Als gemein- geführt. Wer die andere Seite belächelt, ver- Präsident Barack Obama gibt mit seiner Berlin- einer aktuellen Statistik um die 40 Prozent samer Nenner fungiert das wohl begründete leugnet sich selbst. Reise ein wieder steigendes Interesse der USA der Amerikaner an das Wirken höherer Unbehagen an gleich welchem verfügbaren Angesichts der großen Ahnungslosigkeit, an Deutschland zu erkennen. Es war schon un- Mächte im Alltag. Republikaner, verbunden mit Obamas per- mit der Amerikaner und Europäer übereinan- gewöhnlich, als der Präsident in seiner An- sönlicher Ausstrahlung. der sprechen, möchte man gern zum „transat- trittsrede Anfang des Jahres das deutsche Sys- Schluss mit Fracking Früher einmal, aber das ist schon eine Weile lantischen Dialog“ aufrufen, wenn das nicht tem der beruflichen Bildung als leuchtendes und Internet-Spionage her, gab es in Amerika einen nicht-militanten, eine allzu abgegriffene Münze wäre. Angela Vorbild erwähnte. Nach der Finanzkrise sieht kompromissfähigen Konservatismus. Etwa bei Merkel und Barack Obama werden über aller- man die deutsche Wirtschaft und ihre Veranke- In Deutschland wünscht man sich allgemein Ronald Reagan, auf den sich Obama neuer- lei kontroverse „Sachthemen“ sprechen, etwa rung im „Mittelstand“ (ein beliebtes Wort in die Amerikaner so, dass sie auch Günter dings gern beruft, dann wieder bei George über das Internet-Abhörprogramm Prism, den USA) mit anderen Augen. Außerdem weiß Grass gefallen würden, also linksliberal. Die Bush, dem Älteren. Mit dem zweiten Bush be- aber vielleicht sind sie klug genug, auch ein- man in Washington, dass der Schlüssel zur Lö- Bedingungen wären: kein Fracking mehr, gann eine neue Ära des amerikanischen Kon- mal die Beziehungsebene anzusprechen. sung der Eurokrise in Berlin liegt. Die Zustim- Schluss mit Guantánamo und der weltweiten servatismus. Man verbindet sie mit Dick Che- Immer wieder ist zu hören, dass deutsche mung zum Kurs von Angela Merkel, gerne auf Internet-Spionage, schärfere Waffengesetze, ney, Donald Rumsfeld und dem „War on Terror“ Politiker in Washington nur schwer hochran- „austerity“ verkürzt, ist nicht groß, aber keiner entschiedene Maßnahmen zum Klimaschutz sowie mit einer neoliberalen Wirtschafts- und gige amerikanische Gesprächspartner finden. würde bestreiten, dass es in Europa mehr denn und ein freundlicher Multilateralismus an- Finanzpolitik, die sich dann im großen Crash Vielleicht sind die deutschen Politiker, anders je auf die Kanzlerin ankommt. Man darf also stelle der stets einsatzbereiten „Weltpolizei“. des Jahres 2008 entlud. Danach kamen die „Tea als früher, einfach nicht interessant genug. hinter Obamas Visite durchaus etwas vermu- Nicht nur wollen die Deutschen Obama als Party“, die Evangelikalen, die Libertarier und Wie ihre amerikanischen Kollegen haben sie ten, was man in Amerika, übrigens auch auf Präsidenten sehen, er ist ihnen, selbst noch die anderen, die gemeinsam die „Grand Old immer weniger Ahnung von der Welt. Viel- Deutsch, „Realpolitik“ nennt. den Wählern von Frau Merkel, nicht linksli- Party“ zugrunde richteten. Seitdem ist der leicht müssten sich die Politiker der einen Sei- Trotzdem hält sich die Meinung, „die Ame- beral genug. amerikanische Konservatismus, in Europa, te immer erst mit den Grundlagen der Politik rikaner“ interessierten sich nicht „für uns“. Leider sprechen die Tatsachen eine andere aber auch in den USA selbst, ein Gegenstand der anderen Seite vertraut machen. Konkret Das ist nur insofern richtig, als sich Amerika- Sprache. Obama hat die letzte Präsident- des Mitgefühls, der Sorge oder auch nur noch hieße das etwa: erst einmal Alexis de Toque- ner grundsätzlich nicht besonders für den schaftswahl nur denkbar knapp gewonnen, des Spotts. Eine Umfrage in Deutschland kurz villes Demokratie in Amerika lesen. Danach Rest der Welt interessieren. Wenn aber doch, und das gegen einen überaus mittelmäßigen vor der Präsidentschaftswahl im Herbst 2012 versteht man Amerika und das Grundgesetz dann reisen sie in größerer Zahl nach Berlin. Herausforderer. Dass er überhaupt gewann, ergab, dass nur sieben Prozent für Mitt Rom- seiner Freiheit besser. Und sie entdecken ihre deutschen Wurzeln verdankte er gewiss nicht seinem politischen ney gestimmt hätten. Das bedeutet eben auch, wieder. Denn 60 Millionen, also fast ein Programm, sondern der demografischen Ent- dass die übrigen 93 Prozent der Deutschen für Christoph Bartmann leitet Fünftel der US-Amerikaner, haben deutsche wicklung und einer seit 2008 weiter perfekti- etwa 49 Prozent der amerikanischen Wähler das Goethe-Institut in New York. Vorfahren. Jede zweite Woche macht in New onierten PR-Maschinerie. Die weißen oder kein Verständnis aufbringen. Zuletzt schrieb er im Freitag York ein neues Bierlokal auf, das sich für besser „kaukasischen“ Wählerinnen und Wäh- Im jüngsten Heft der Zeitschrift Vanity Fair über das Ende der Arbeitsform deutsch hält. Auch das nennt man kulturelle ler gaben mehrheitlich dem Republikander macht sich der Publizist A.A. Gill Gedanken Home Office Verbundenheit. Wie sieht es in der Gegen- Mitt Romney ihre Stimme. über das Amerikabild der Europäer. In den ge- 04 Politik der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Unter der Woche Jürgen Busche Eine Antwort auf die Zwischenfrage im Bundestag

ie Zwischenfragen zu Reden im Deutschen Bundestag sollen die DDebatten lebendiger machen. Täten sie dies, wäre das schön. Zumeist aber werden im Hohen Haus Zwischen- fragen in der Absicht gestellt, Redner bei der Entfaltung eines Gedankens zu unterbrechen, seinen Ausführungen den Schwung zu nehmen, die Zuhörer aus der Konzentration auf den Vortrag zu reißen. Wahrscheinlich wissen das die meisten Abgeordneten. Aber was sollen sie als Redner machen. Lehnen sie eine Zwischenfrage ab, ist das schon zu spät, denn der Bundestagspräsident hat sie schon unterbrochen. Außerdem johlt die Fraktion des vorgeblichen Fragers. Teilt der zu Beginn seiner Rede mit, dass er keine Zwischenfragen be- antworten werde, wirkt er unsouverän. So bleibe es bei dem Missbrauch. Ein treffendes Beispiel gab es zuletzt bei der Diskussion über die selbst­ ständigen Berufe. Ein Redner von der FDP führte aus, was ein Selbstständiger während seines Berufslebens auf die hohe Kante legen müsse, um an Zinsen – angenommen 2,5 Prozent – am Ende seines Berufslebens auf das gleiche Ruhegeld zu kommen wie ein ähnlich einzustufender Beamter, der immerhin images f p/getty andersen/a odd Foto: Wer ist eigentlich noch da? Merkel hat ihr Kabinett schon öfter umgebaut auf 60.000 Euro im Jahr käme. Der Selbstständige müsste 2,5 versteuerte Millionen zurückgelegt haben. Dann der aktuelle Sinn vom Ganzen: Die von der Opposition geplante Vermögens­ abgabe würde ihn 12.000 Euro im Jahr kosten. Der Redner war gut in Fahrt, Angela Einsam da kam die Zwischenfrage. Eine gepflegt verhärmt aussehende Drohnen-Affäre Bisher hat die Kanzlerin die Skandale ihrer Minister unbeschadet überstanden. Ändert sich das nun? Frau von fortgeschrittenen Jahren stand auf, durfte fragen und fragte, was der NRW-Wahl) und Annette Schavan (Wissen- geblich so aufrechte und korrekte Superbe- Dieses Panorama legt die Frage nahe: ■■ Stephan Hebel Redner denn zur sozialen Lage selbst- schaft, Plagiatsverdacht). amte hinter seinen Untergebenen. Dann Könnte es sein, dass de Maizières Strau- ständiger Hebammen zu sagen habe. In allen Fällen – außer bei Röttgen, den erweckte er den Eindruck, er habe von al- cheln einen Wendepunkt markiert? Erle- Dazu sprach sie so lange, wie Frager ielleicht hat Thomas de Maizi- sie eiskalt feuerte – hatte die Kanzlerin an lem nichts gewusst, jedenfalls nicht vor ben wir im Wahlkampf eine CDU-Spitzen- sprechen dürfen. Der Redner antwortete ère geglaubt, er könne es beim ihren Kabinettsmitgliedern festgehalten, dem 13. Mai. Und als massive Zweifel an kandidatin, die an ihrer eigenen Allmacht höflich und sachlich, sein Thema war Drohnen-Debakel so machen solange es ging. Es gehört zu den Geheim- dieser Behauptung auftauchten, stammelte scheitert, weil sie – trotz Anbetung durch weg, kurz darauf seine Redezeit um. wie Angela Merkel: über allen nissen ihrer vermeintlichen Immunität er in bürokratisch verquaster Selbstvertei- die Fan-Gemeinde – doch keine Göttin ist? Das Ablenken von einem Vortrag, dem Problemen schweben, als hät- gegen politische Schäden aller Art, dass ihr digung, er habe sehr wohl nichts gewusst, das Plenum zuvor mit großer Aufmerk- Vte man nichts damit zu tun. Vielleicht kann diese beinah unbeholfenen Fehleinschät- weil ja ein Minister bekanntlich nicht wis- Zaghafte Opposition samkeit gefolgt war, schien gelungen. aber auch die Bundeskanzlerin etwas ler- zungen, vorgetragen meist von Regie- se, was er auf dem Flur erfahre, sondern Der Missbrauch hatte sich bewährt. nen aus dem Schicksal ihres taumelnden rungssprecher Steffen Seibert („…genießt nur, was ihn als Vermerk erreicht. Das sieht Womöglich war die Auseinandersetzung Wichtiger Nachtrag: Der Redner war Verteidigungsministers: Wer sich zu lange das Vertrauen der Kanzlerin…“), in der Öf- stark nach letztem Aufbäumen aus. Doch um die Renten- und Familienversprechen offenkundig überhaupt nicht unglück- auf seine Unantastbarkeit verlässt, kann sie fentlichkeit niemals nachgetragen wurden. selbst bei einem Verbleib im Amt wäre die der Kanzlerin ein aussagekräftiger Hinweis lich über die Frage, die sein Thema wie schnell verlieren. Ebenso wenig wie die Ungerührtheit, mit Kronprinzen-Rolle passé. in diese Richtung. Diesmal war es Angela abgeschnitten im Raum ließ. Das hatte Angela Merkel ist in dieser Legislaturpe- der sie die eben noch gestützten Kollegin- Nicht besser sieht es bei den noch amtie- Merkel selbst, die ihre mehr oder weniger seinen guten Grund. Wären die Oppo­ riode nicht nur zwei Bundespräsidenten nen und Kollegen fallen ließ, wenn der öf- renden Ministerinnen und Ministern mit konkreten Vorhaben benennen musste – es sitionsparteien auf Draht gewesen, losgeworden, sondern auch etwa ein Drit- fentliche Druck zu groß geworden war. CDU-Parteibuch aus: Peter Altmaier dampft war ja sonst keiner (mehr) da. Deshalb hätte einer oder eine aus ihren Reihen tel ihrer 16 Fachministerinnen und –mi- zwitschernd durchs Land und stößt dabei musste sie auch die Angriffsfläche für Kri- in Frageform darauf hingewiesen, dass nister. Sie hat das erstaunlich unbeschadet Der Anfang vom Ende? mit Themen wie Energiewende oder Atom- tik an diesen Plänen abgeben. So könnte der Beamte, wenn er ein fröhliches Le- überstanden – bisher. Der erste Abgänger, Endlager zusammen, wobei meistens weder aus der Affäre de Maizière ein Hauch von ben fortsetzt, seinen Kindern vielleicht Franz Josef Jung, hielt es im Ressort Arbeit Immer, wenn wieder jemand ging, warf der er noch das Thema unbeschädigt bleibt. Ur- Hoffnung erwachsen, dass der Regierungs- gerade so viel Geld hinterlässt, dass und Soziales genau 33 Tage aus, bis die Af- politisch-mediale Komplex in der Haupt- sula von der Leyen hat in der Partei keine wechsel am 22. September doch noch ge- sie ein würdiges Begräbnis ausrichten färe um das Bombardement von Kundus, stadt die Interpretationsmaschine an und Chance, und das nicht erst, seit sie ihrer lingt. Dazu allerdings müsste die Oppositi- können. Der Selbstständige hingegen die in seine Zeit als Verteidigungsminister stellte fest, Angela Merkel habe ihre Macht Chefin einen (wenn auch unverbindlichen) on die Gelegenheit entschlossen nutzen. hinterlässt 2,5 Millionen. Darauf können fiel, ihn zum Rücktritt zwang. Es folgten in von Mal zu Mal gefestigt, wenn nicht ge- Quotenbeschluss aufzwang. Und Kristina In Sachen Rente und Familie hat sie das seine Kinder und Enkel weiter aufbauen. der Reihenfolge ihres Verschwindens: steigert. Potenziell gefährliche Konkurren- Schröder sorgt sogar bei Liberaleren und Re- bisher weitgehend versäumt. Grüne und Wieder ein Schritt zur sozialen Spaltung Karl-Theodor zu Guttenberg (Verteidi- ten waren von der Bildfläche verschwun- aktionären zugleich für Überdruss. Bei den SPD sorgten vergangene Woche zwar für der Gesellschaft. Opposition ist eben gung, Plagiat), Rainer Brüderle (Wirtschaft, den (nach Roland Koch, Günther Oettinger einen als Quotenhasserin, bei den anderen eine Bundestagsdebatte über „Merkels nicht nur Mist, sie ist auch schwer. FDP-Mobbing), Norbert Röttgen (Umwelt, und Christian Wulff zuletzt Norbert Rött- wahrscheinlich schon qua Geschlecht. Wahlversprechen“. Aber was taten Frank- gen), und selbst wenn enge Verbündete wie Walter Steinmeier und Jürgen Trittin? Sie Annette Schavan ausfielen, schien das die beklagten die Milliardenkosten der angeb- Anzeige CDU-Vorsitzende nicht zu beschädigen. lichen Wohltaten – als hätten die beiden Spätestens jetzt aber stellt sich die Frage, bei der FDP gespickt. Der richtige, aber we- PapyRossa Verlag | Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln ob die inzwischen fast absolute Macht über sentlich leiser geäußerte Hinweis einiger Partei und Regierung nicht zum Anfang Thomas Redner, dass man zum Zwecke des sozialen vom Ende werden könnte. Ob sich letztlich de Maizière Ausgleichs dann auch die Steuern für Spit- die mehr als 150 Jahre alte Mahnung des zenverdiener erhöhen müsse, ging fast un- Domenico Wolfgang Gehrcke / weisen Alexis de Tocqueville erfüllt: „Nur war bisher ter. Nur aus der zweiten Reihe kam der Hin- Christiane Reymann Losurdo Gott kann ohne Gefahr allmächtig sein.“ Kronprinz Nr. 1 weis, dass Merkels „Wohltaten“ so großartig (Hrsg.) Profaner ausgedrückt: Starke Untergebe- nun auch nicht sind: Sie will ja nicht nur das Syrien – Wie man Das ne sind nicht nur vermeintliche Kronprin- Kindergeld erhöhen, sondern vor allem die einen säkularen Staat 20. Jahrhundert zen oder Konkurrenten. Sie schaffen der in Kinderfreibeträge, von denen besonders zerstört und eine begreifen globalen und europäischen Dimensionen Gutverdiener profitieren. Der SPD gelang es Gesellschaft islamisiert schwebenden Leitgestalt auch komplizierte eine ganze Debatte lang, die sowohl gerech- und damit lästige Probleme vom Hals. Sie Auch außerhalb der Bundesregierung tere als auch sparsamere Alternative zu ver- halten ihre Köpfe hin, wenn es um die sieht es nicht besser aus: David McAllister, schweigen, die in ihrem eigenen Wahlpro- 187 Seiten, € 9,90 95 Seiten, € 8,00 Energiewende geht oder um den Umbau noch so ein hochgeschriebener Hoffnungs- gramm steht: Erhöhung nur beim Kinder- 978-3-89438-521-7 978-3-89438-524-8 der Bundeswehr, um Rente oder, wie die träger, ist gerade in Niedersachsen geschei- geld und Abstriche bei den Freibeträgen. Kanzlerin einst leider treffend formulierte, tert. Der stramm rechte Hesse Volker Bouf- Sollte es zutreffen, dass die Luft für Mer- Längst ist in Syrien der anfangs friedliche Protest Dass die Oktoberrevolution zu den Grundübeln um „Flüchtlingsbekämpfung“. Je mehr sich fier regiert zwar noch, droht aber am Tag kel dünner wird, dann wird es höchste Zeit, in einen von außen geschürten und finanzierten des 20. Jahrhunderts gehöre, gilt als selbstver- die Chefin um solche Dinge selber küm- der Bundestagswahl seine gleichzeitig dass die Opposition die letzte Gelegenheit bewaffneten Aufstand übergegangen, der einen ständlich. Doch ohne den Oktober 1917 wäre mern muss, desto stärker steigt die Fett- stattfindende Landtagswahl zu verlieren. zur Wende nutzt. Wenn Rot-Grün so zag- näpfchen-Dichte zu ihren Füßen. Wer nach halbwegs aussichtsreichen Un- haft agiert wie bisher, dann könnte die Op- demokratischen Wandel abwürgt. Das Buch die Überwindung der drei großen Diskriminie- Im Kronprinzen-Katalog fand sich bis vor terstützern der Kanzlerin, gar nach Nach- position wider Willen zu dem werden, was ordnet den Konflikt historisch ein, untersucht rungen – Einschränkung der politischen Rech- ein paar Wochen immerhin noch ein aus- folge-Kandidaten sucht, kann es höchstens Thomas de Maizière nicht mehr ist: zum seinen Stellenwert in der Politik des Westens te der Frauen und der Subalternen sowie Kolo- sichtsreicher Kandidat: Thomas de Maizi- in Rheinland-Pfalz versuchen, wo Julia Rettungsanker für Angela Merkel. ère. Loyal bis zur Unkenntlichkeit (also un- Klöckner sich immerhin als begabte Polit- und skizziert Wege zu Verhandlungslösungen. nialismus und Rassismus – kaum denkbar. gefährlich), aber bereit für Höheres, sobald Unterhalterin mit Machtgespür profiliert Stephan Hebel ist Autor des Buches man ihn riefe; in der Bevölkerung beliebt, hat. Oder glaubt jemand, wir bräuchten Mutter Blamage. Warum die Nation Tel. (02 21) 44 85 45 | [email protected] | w w w . p a p y r o s s a . d e in der Partei geschätzt. Nun aber das Droh- endlich mal einen CSU-Kanzler und Horst Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht nen-Debakel: Erst versteckte sich der an- Seehofer sei zu ganz Hohem berufen? der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Politik 05

Mehr Ökologie wagen

Umdenken Das Hochwasser sich ja mit der mächtigen deutschen Auto- industrie anlegen. sinkt. Merkwürdig nur, dass Da hätte die Linke eine Aufgabe. Ihr Ent- die Parteien bei diesem Thema wurf für das Wahlprogramm enthält einen so zurückhaltend sind. Das ist guten ökologischen Teil, der auch auf die Probleme der Autokultur und -industrie eine Chance für die Linke hinreichend eingeht. Anders als den Grü- nen fehlt es ihr nicht an der notwendigen Radikalität, das Märchen vom ökologisch ■■ Michael Jäger verträglichen Elektroauto zurückzuweisen. Indessen steht der ökologische Teil des ie Linke tagt am Wochenende Wahlprogramms an zweiter Stelle, zuerst in Dresden, das gerade von der Flut heimgesucht wurde, um ihr Wahlprogramm zu be- schließen. Macht sie etwas ausD diesem Zusammentreffen? Die Frage Ökologische führt mitten in die Probleme dieser Partei, die in den letzten drei Landtagswahlen Veränderung scheiterte. Um ihre Lage zu begreifen, empfiehlt gerne. Aber sich ein Rückblick auf die vergangenen bitte keine zwölf Monate seit dem chaotischen Partei- tag in Göttingen. Die dort gewählten Vor- Radikalität sitzenden Katja Kipping und Bernd Riexin- ges ger erwiesen sich als harmonisches und inner- wie außerparteilich erfolgreiches Gespann. Sie gingen sofort daran, unter der p/getty im a af p/getty Losung „Fragend schreiten wir voran“ die kommen die Fragen der Sozialpolitik. Dies innerparteiliche Diskussion zu organisie- hängt auch mit dem Koalitionsgebaren der ren und mit der einvernehmlichen Vor- Partei und namentlich ihrer „Reformer“ standsempfehlung des Wahlprogramment- zusammen, die sich an der SPD orientieren. wurfs auch zu einem guten Ende zu führen. Von Katja Kipping weiß man zwar, dass sie Auf der öffentlichen Bühne machen sie eher mit den Grünen konkurrieren will, eine gute Figur. Die Medien wenden sich a nn/ H a rtm ronny Foto: doch ist daraus bisher keine Politik gewor- zwar weiterhin an Dietmar Bartsch, den sie Die Parteien könnten in der Umweltpolitik ruhig etwas offensiver sein: Hinterland der Elbe den. Dabei wäre es so wichtig für die Wahl- favorisieren, und an Fraktionschef Gregor kämpfe in Westdeutschland. Gysi, wenn sie jemanden für die Partei dass nicht auch Kipping und Riexinger der gekoppelt sein. War Lafontaines Überle- de sie von den Grünen noch ziemlich laut Die Partei macht sich zu wenig klar, was sprechen lassen wollen. Doch haben sie Gruppe angehören. Sie sind klug genug, gung so unvernünftig? Die Parteiführung gestellt. Man konnte wissen, dass man kei- für ein Menschenschlag in Westdeutsch- Kipping und selbst Riexinger letztlich sich auf ihre Vorstandsrolle zu konzentrie- betonte nur, dass sie am Euro nicht rütteln ner „Jahrhundertkatastrophe“, sondern land lebt. Diese Menschen, wie man sie in ebenso viel Schreib-, Rede- und Sendeplatz ren, die nach Lage der Dinge vor allem dar- lasse; man sieht daran, wie gefährlich der eher einer Jahrzehntkatastrophe beiwohn- ihren Kaufhaus- und Eisdielen-umsäumten eingeräumt. Dazu trägt sicher bei, dass die in besteht, die Partei zusammenzuhalten. innerparteiliche Konflikt immer noch ist. te. Jetzt, wo die nächste, noch schlimmere Fußgängerzonen antrifft, sind für politi- beiden nicht verbiestert, sondern sehr Die Energie der Flügelexponenten wird Eine richtige Debatte würde zu viele Wun- eingetreten ist, wäre ein bisschen Rechtha- sche Veränderung sehr wohl zu haben. kommunikativ auftreten. nach außen gelenkt, wo sie einzig von Nut- den aufreißen. Die Medien aber, ohnehin berei der Grünen – wie 2011 nach dem Doch vor jeder Attitüde, die ihnen radikal Den innerparteilichen Konflikt zu be- zen sein kann. immer bemüht, Lafontaine zu isolieren, Atom­­unglück von Fukushima – durchaus scheint, scheuen sie zurück. Ökologische sänftigen, ist bisher gelungen. Eine Klippe konnten dessen Überlegung nicht als Hal- angebracht gewesen. Aber nichts derglei- Veränderung, das verstehen sie. Deshalb war die Aufstellung der Spitzenkandidaten Die Dialektik des Hochwassers tung der Partei hinstellen, sodass für diese chen. sind die Grünen so erfolgreich. Hier den für die bevorstehende Bundestagswahl. Os- kein Schaden eintrat. Der Parteitag in Dres- Hebel anzusetzen, wäre kluge linke Politik. kar Lafontaine trat nicht an, wohl weil er Eine weitere Klippe war Lafontaines Stel- den wurde mit Ruhe vorbereitet, und der Märchen vom Elektroauto „Ökologie entschieden statt verwässert“ weiß, dass er die Zeit besser nutzt, wenn er lungnahme zum Euro. Da dieser Mann bei Wahlprogrammentwurf ist tatsächlich und „Ökologische Veränderung sozial abfe- Sahra Wagenknecht unterstützt. An deren den Medien unbeliebt ist, fehlte ihnen wie nicht schlecht. Dennoch muss man gerade Die Grünen stellen den möglichen Zusam- dern“: So könnte man den Grünen entge- Seite aber wollte der „Reformer“ Gysi nicht üblich die Bereitschaft, ihm genau zuzuhö- aus Anlass eines solchen Programms fra- menhang mit der Klimakatastrophe an so gentreten. Die Linke sagt beides, aber es kandidieren. Also fand man die Lösung ei- ren; sie behaupteten, er wolle wie die neue gen, warum die Linke in den letzten Wahl- versteckter Stelle her, dass man es kaum steht eben nicht im Vordergrund. Man ner ganzen Gruppe von Kandidaten, der Partei Alternative für Deutschland den kämpfen nicht erfolgreicher war. Und da bemerken kann. Dass er anderswo ohne- nimmt sie nur als sozialpolitische Partei neben Gysi und Wagenknecht auch Bartsch Euro abschaffen. Stattdessen hatte er nur kommen wir auf die Überflutung zurück. hin versteckt wird, ist auch klar. Die Medi- wahr, die außerdem noch gegen Kriegsein- sowie einige weniger bekannte Linke ange- zu bedenken gegeben, dass Staaten mit Die Überflutung ist nicht zuletzt ein öko- en fragen, warum keine haltbaren Dämme sätze auftritt. Der Parteitag in Dresden hören. Viele Medien fanden das albern, schwächeren Volkswirtschaften einst die logisches Thema. Die Frage, ob ein Zusam- gebaut wurden, nicht aber, warum man wäre die Gelegenheit, einen neuen Akzent doch der Unterschied zum „Kompetenz- Option zum Geldabwerten brauchten und menhang mit der Klimakatastrophe be- die Klimakatastrophe so weiterlaufen zu setzen. Es ist ja fast ein Wunder, dass er team“ des SPD-Kandidaten Peer Steinbrück man sie ihnen zurückgeben sollte. Vom steht, hatte sich schon 2002, beim letzten lässt, mit jährlichem Ansteigen des CO2- trotz der Flutschäden überhaupt stattfin- war nicht so groß. Bemerkenswert ist eher, Euro sollten sie deshalb nicht gänzlich ab- Elbehochwasser, aufgedrängt. Damals wur- Austoßes. Bei dieser Frage müsste man den kann.

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Mit Gottes Segen Für alle, die es wissen wollen. Kirche Proteste von Pazifisten? Nun soll die Bundeswehr das Hausrecht bei Trauerfeiern erhalten Was ist gerecht? „Das Hausrecht der Kirche ist ein ganz ho- zert der 1. Panzerdivision in einer Hanno- ■■ Michael Schulze von Glaßer hes Gut, welches selbst in der DDR und in veraner Kirche. Und beim Evangelischen der Nazi-Zeit verteidigt wurde“, sagt Ger- Kirchentag im vergangenen Monat in n der Regel freut sich die Kirche über hard Biederbeck, der seit Jahrzehnten Kir- Hamburg sprang bei einer Veranstaltung jeden Besucher. Jetzt aber sollen die chenmitglied ist und den Brief veröffent- mit Verteidigungsminister Thomas de Mai- IFriedensaktivisten das Gotteshaus ver- lichte. Die Kirche lasse sich von der Bun- zière (CDU) eine Friedensaktivistin kurzzei- lassen. Sie haben Schlafsäcke dabei, halten deswehr vereinnahmen, kritisiert der tig auf die Bühne. Immer auf der anderen ein Transparent hoch und verteilen Flug- Friedensaktivist. Ist dem Militär erstmal Seite dabei: Militär und Polizei. blätter. Die Domkirche St. Eberhard in das Hausrecht eingeräumt, wären absurde Die Diskussion über das Hausrecht ist für Stuttgart wollen sie besetzen, um ein paar Situationen möglich: „Die Feldjäger könn- die evangelische Kirche eine heikle Angele- Tage später einen Soldatengottesdienst zu ten rechtlich sogar einem Pfarrer, der sich genheit, engagieren sich doch in den Ge- verhindern. Doch der Dompfarrer ruft so- während eines Gottesdienstes kritisch über meinden auch viele Friedensbewegte. Die fort die Polizei, die Aktivisten werden fest- das Militär äußert, das Wort entziehen.“ Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) genommen. möchte sich deswegen offiziell auch nicht Der verhinderte Protest ist knapp drei EKD will sich nicht äußern zur Hausrecht-Übertragung äußern. Das Jahre her, in Zukunft werden es Pazifisten sei alleinige Sache zwischen der Militär- bei ihren Aktionen gegen die Armee Die evangelische Militärseelsorge, die übri- seelsorge und der Landeskirche Hannover. schwieriger haben – wenn in den Kirchen gens zur Bundeswehr gehört, verteidigt das Andere Teile der Kirche hätten den Brief bald nur noch die Bundeswehr das Sagen Schreiben: „Ich verstehe jeden Verantwort- nach Kenntnissen der EKD bisher nicht an hat. Vor wenigen Tagen ist ein Brief der lichen der Feldjäger, der Rechtssicherheit ihre Gliederungen weitergeleitet. evangelischen Militärseelsorge bekannt ge- haben will, wenn er seine Jungs dazu an- Bei der Landeskirche Hannover versteht worden, der von der Landeskirche Hanno- weist, die 400 Demonstranten mit den Tril- man die ganze Aufregung nicht. „Das ist ver an die Gemeinden weitergeleitet wur- lerpfeifen am Kircheneingang zu stoppen“, ein übliches und ganz schlichtes bürokrati- de. Bei Trauerfeiern für verstorbene Solda- sagt Sprecher Walter Linkmann. Bisher sches, kirchliches Handeln“, sagt Sprecher ten sollten die Gemeinden ihr Hausrecht habe es zwar noch keine Proteste auf Bun- Johannes Neukirch. Es gehe darum, bei doch bitte an die Bundeswehr abtreten – deswehr-Trauerfeiern gegeben, doch seien Bundeswehr-Trauerfeiern die Sicherheit – Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer. Die Agenda aus „Gründen der Gefahrenabwehr und um auch die Kirchen mit der Abgabe des eige- auch der anwesenden Minister oder der Störungen vermeiden zu können“. Diese nen Hausrechts an die Militärpolizei auf Kanzlerin – zu gewährleisten. Da sei es aus 2010 und die Steuerpolitik der Regierungen von Schröder bis Merkel haben die Regelung sei „mit der Theologischen Abtei- der sicheren Seite und könnten bei Vorfäl- pragmatischen Gründen am besten, das hohen Einkommen begünstigt. Eliteforscher Michael Hartmann zeigt anhand lung im Landeskirchenamt abgestimmt“. len von der Politik nicht zur Verantwor- Hausrecht an die Feldjäger abzugeben. neuester Forschungsergebnisse, wie die deutsche Elite über die soziale Ungleich- Verpflichtend ist die Empfehlung zwar tung gezogen werden. Und die Verantwortung wird gleich mitab- heit im Land denkt. Sein Fazit: Die immer stärkere Orientierung der Politik an den nicht. Damit die Gemeinden aber auch kei- Dass die Vorstellung von Demos auf gegeben. Die Proteste kann dann ja die Interessen der Wirtschaft und der reichen Deutschen droht unsere Demokratie ne Ausrede haben, ist ein Musterschreiben Trauerfeiern nicht ganz abwegig ist, zeigen Bundeswehr verhindern. Für das Kirchen- auszuhöhlen. 2013. 215 Seiten. € 24,99 zur Übertragung des Hausrechts an die die vielen Aktionen bei anderen Bundes- Image ist das sowieso deutlich besser. Feldjäger gleich beigefügt. Datum und Ort wehr-Veranstaltungen. In Köln wurde im einsetzen, unterschreiben, fertig. Januar 2011 gegen einen Internationalen Michael Schulze von Glaßer schrieb im Besonders brisant: Solche Maßnahmen Soldatengottesdienst protestiert, ebenso Freitag zuletzt über die „Euro Hawk“-Drohne sind offenbar in der Geschichte einmalig. im November 2012 gegen ein Adventskon- 06 Wochenthema der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Wochenthema 07

Bereuen sie wirklich? Ruanda Fast 20 Jahre nach dem Völkermord am Volk der Tutsi ist der Autor nach Kibuye zurückgekehrt, um Überlebende und Mörder von einst zu treff en

„Er beteuerte, unschuldig zu sein“, erzählt 62-jährige Madalena sechs Waisen aus ih- zession vom Stadion zur Kirche zum alljähr- rung der Gebeine hilft , dass sich Thomas ■ Chris McGreal Lucie, „und Tutsi gerettet zu haben. Viel- rer erweiterten Familie auf. Savera Mukas- lichen Gedenken an den Genozid stattfand, für unschuldig hält. Die beiden lachen. „Er leicht hat er ein paar gerettet. Andere aber harango, eine ihrer Pfl egetöchter, beging brach unter dem Eindruck der gefühlvollen hat getötet“, sagt die Nonne. „Macht es Ih- ie neunjährige Lucie Niyige- hat er getötet. Selbst heute noch hasst er mit 15 Jahren Selbstmord, nachdem sie auf Gesänge ein Überlebender nach dem ande- nen etwas aus, dass er leugnet?“, frage ich na war völlig in Panik und uns. Sie werden sehen.“ den Straßen Kibuyes den Mörder ihres Va- ren vor Schmerz zusammen. Genevieve. „Was soll man erwarten?“ Es verwirrt, als sie über die blut- Die Massaker waren in Kibuye und der ters getroff en und diesem von Angesicht Insofern deuten nicht alle die Gacaca-Ge- gäbe viele, die genauso denken würden wie überströmte Leiche ihres umliegenden Provinz so effi zient – von den zu Angesicht gegenübergestanden hatte. richte als den Erfolg, wie ihn die Regierung Thomas. „Diese Leute haben ihre Verbre- Großvaters stieg, um durch 250.000 in der Gegend lebenden Tutsi wur- „Das traf sie so sehr, dass sie sich danach in feiert. Sie haben zwar zu jeder Menge Ge- chen nur eingeräumt, um aus der Haft ent- dieD Hintertür der Kirche zu entkommen. den bis auf 8.000 alle getötet –, dass sie als den See warf und ertrank“, erzählt Madale- ständnissen geführt, aber allzu oft verteidig- lassen zu werden. Reue kennen sie nicht. Damals – so erinnert sie sich fast zwei der „reine Genozid“ traurige Berühmtheit na. „Heute verlangt man von uns, mit den ten sich die Schuldigen damit, „nur Befehle Die Überlebenden sind bereit, mit diesen Jahrzehnte später – sei sie nur von einem erlangten. Das war zum Teil das „Verdienst“ Leuten zusammenzuleben, die unsere Fa- befolgt“ zu haben. So fragen sich viele Tutsi, Leuten zusammenzuleben, aber die wollen Drang beherrscht worden, der stärker als von Provinzgouverneur Clément Kayishe- milien auf dem Gewissen haben. Man sagt ob einige nicht wieder tun würden, was sie das gar nicht.“ alles andere gewesen sei – im Tod nicht ma, eines Arztes, der vor den marodieren- uns, es tue ihnen leid, und sie würden es getan haben, sollte es jemand „befehlen“. von ihrer Mutter getrennt zu sein. „Alles, den Interahamwe-Milizen der Hutu-Extre- nicht wieder tun. Ich gehöre nicht zu de- Lucies Mutter Madalena trat regelmäßig als woran ich denken konnte, war, dass ich bei misten fl iehende Tutsi im Radio dazu auf- nen, die an Reue glauben.“ Zeugin bei den Gacaca auf. „Die Mörder, die ihr sein wollte, was auch immer passiert. forderte, in der Kirche von Kibuye Zufl ucht Ein paar Jahre nach dem Völkermord aus dem Gefängnis entlassen waren, hass- Noch heute – obwohl ich eigentlich von zu suchen. Die Bedrängten bemerkten reiste ich mit Tharcisse Karugarama zu- ten uns ganz besonders. Selbst heute noch hier weg will, weil an diesem Ort so viel schnell ihren Fehler. Die Kirche lag auf ei- sammen nach Kibuye. Der damals gerade hassen sie uns, weil wir gegen sie ausgesagt Schreckliches geschehen ist, und es noch ner kleinen Halbinsel im Kivu-See. Als dort neu ernannte Staatsanwalt für die Region haben. Nachts werfen sie Steine gegen mein immer Leute gibt, die wollen, dass sich al- am 17. April 1994 das Morden begann, war hatte einen kleinen verstümmelten Wai- Haus. Sie töten mein Vieh, vernichten mei- les wiederholt – könnte ich meine Mutter jeder Fluchtweg verschlossen. Einige woll- senjungen adoptiert, dem die Interahamwe ne Bananen. Sie kaufen nicht in meinem niemals verlassen.“ ten sich aus der Kirche ins Wasser retten, die Arme abgehackt hatten. Mit der Zeit Laden und beschimpfen mich.“ Im April ist Lucie in die Kirche zurückge- doch wurden aus Booten Granaten in den stieg Tharcisse auf, vom Staatsanwalt zum „Manche der Mörder sagten die Wahrheit kehrt und hat vorsichtig einige Schädel der See geworfen – als wollten die Interaham- Richter und dann zum Vorsitzenden des über das, was geschehen ist, andere hinge- Madalena Tutsi gewaschen, die dort im Frühjahr 1994 we-Milizionäre Fische fangen. Obersten Gerichtshofs. Als Ruandas Justiz- gen nicht“, erzählt Madalena über Gacaca. Mukariemeria an einem einzigen Tag ermordet wurden. minister musste er sich mit der Frage be- Da sie der offi ziellen Linie widerspricht, Dank einiger Hutu-Polizisten und einiger schäft igen, wie mit nahezu 150.000 Tätern wird sie von Cyriaque Niyonsaba, der die glaubt nicht an Nachbarn konnten Lucie und ihre Mutter weiter verfahren werden sollte, die nach politische Verantwortung im Distrikt trägt, die Reue der Madalena Mukariemeria überleben. Das 1994 in überfüllte, stinkende Gefängnisse zu dem Kibuye gehört, als Spinnerin abge- war in dieser Gegend weniger als einem gepfercht worden waren. stempelt. „Sie kann sich nicht benehmen. Täter und dass von 30 Tutsi vergönnt. Insgesamt fi elen Die Überlebenden verlangten Gerech- Sie erzählt Geschichten, die nicht wahr es nie wieder zwischen April und Juni 1994 800.000 An- tigkeit für ihre toten Väter, Mütter und sind“, sagt er mir bei unserem ersten Tref- gehörige dieser Volksgruppe den von einer Kinder, doch verfügte die Regierung we- fen. „Selbst die anderen Überlebenden for- geschieht extremistischen Hutu-Regierung ausgelös- der über genügend Richter noch Gerichts- dern sie auf, endlich zu schweigen.“ ten Massakern zum Opfer. säle, um allen den Prozess zu machen. Sie Madalena räumt das ein. „Ich kann mei- Doch das Überleben hat einen Preis. Der stand vor der Entscheidung, sie ohne or- Gedenkgottesdienste der Überlebenden nen Mund nicht halten. Aber ich bereue Massenmord hat Lucies Leben bestimmt, Lucie Niyigena dentliches Verfahren im Gefängnis zu be- können nicht die Erinnerung daran das nicht, denn ich sage die Wahrheit. Für auch wenn sie noch ein kleines Mädchen war neun halten oder freizulassen – ohne Sühne für überdecken, dass in der Kirche von mich ist es ein Akt der Solidarität mit den war, als vor 19 Jahren die Welle des Todes ihre Taten. Beides drohte die bittere Erin- Kibuye Tausende massakriert wurden. Getöteten. Ein paar Überlebende wollen Zwei Drittel der Ruander sind heute jün- über die 48.000 Einwohner zählende Stadt Jahre alt, als nerung an den Genozid noch weiter zu Ein Ort von vielen in Ruanda, die nicht reden. Sie kommen zu mir und sagen: ger als 25 und kennen nur eine schwache zu einem Golgatha ohnegleichen wurden Kibuye am Rande des Kivu-Sees herein- eine Welle des belasten. Andererseits wollte Präsident ‚Redest du? Nein? Dann halt doch einfach Erinnerung an die Gräuel. In der Schule brach. Kagame eine neue ruandische Identität den Mund.‘ Aber das kann ich nicht.“ werden sie aufgefordert, die Begriff e Hutu War sie in der ersten Zeit danach trauma- Todes über jenseits von Hutu und Tutsi. Die Antwort An dem Tag, da Lucie die Schädel reinigt, und Tutsi abzulegen und eine gemeinsame tisiert, gab es später auch manchen Hoff - wurde letzten Endes bei jener traditionel- muss Thomas Kanyeperu, der sich früher Identität zu fi nden. „Die meisten meiner nungsschimmer, ebenso Misstrauen und ihre Welt len Rechtspfl ege gefunden, die unter dem um die Kirche kümmerte und wegen seiner Freunde sind Hutu“, sagt Lucie. „Mit ihnen Angst. Die Regierung des ehemaligen Re- hereinbrach Begriff Gacaca bekannt ist und zu einer Beteiligung am Völkermord neun Jahre im kann ich nicht über die Vergangenheit re- bellenführers Paul Kagame, der im Juni Mischung aus Verhandlung und lokalen Gefängnis saß, einen Tag lang helfen, um den. Sie wollen den Genozid vergessen. Ich 1994 mit seiner Patriotischen Front (FPR) Wahrheits- und Versöhnungskommissio- das Grundstück für die alljährliche Woche will erinnern. Sie denken weiter in den Ka- dem Völkermord ein Ende bereitete, will nen führte. Die Herausforderung bestand des Erinnerns herzurichten. Ich erzähle tegorien Hutu und Tutsi. Ich sage ihnen, ein neues Ruanda aufb auen, in dem die darin, die Mörder zu Geständnissen zu be- Thomas, dass wir uns 1994 schon einmal Präsident Kagame hat ein paar gute Dinge Ideologie des Hasses für immer begraben wegen und den Überlebenden bei der Su- hier getroff en hätten. Er missversteht mich getan. Wenigstens ein paar von ihnen stim- sein soll. Wie die Leichen der Opfer. Lucie und ihre Mutter Madalena saßen che nach dem Ort zu helfen, an dem ihre und behauptet schnell, er sei während des men mir zu, längst nicht alle.“ Lucie Niyigena ist Teil eines einzigarti- im Inneren der Kirche fest, als die Killer hi- Angehörigen ermordet worden waren. Genozids nicht in Kibuye gewesen. Er müs- Lucie lacht, als ich sie frage, ob sie jemals gen Experiments, bei dem ein ganzes Land neinstürmten und mit Macheten um sich Gleichzeitig dienten die Gerichte als Mit- se sich irren, am Fuße des Glockenturms einen Hutu heiraten könnte, weil es oft dazu gedrängt wurde, Buße zu tun, zu ver- schlugen. Als Tutsi durch eine Hintertür tel, um den Hutu-Extremisten im Ausland, hätten wir miteinander gesprochen, ent- heißt, die Heirat zwischen den beiden geben und sich auszusöhnen, ohne zu ver- fliehen wollten, wurden sie erschlagen. die den Genozid leugneten, etwas entge- gegne ich ihm. Da ändert er seine Geschich- Gruppen sei ein Beweis für erfolgreiche gessen. Das bedeutete: Die Mörder geste- Auch Lucies Großvater. Andere wurden von gensetzen zu können. te und behauptet, ein Held gewesen zu Aussöhnung. „Es wäre zu kompliziert, ei- hen und bitten um Gnade. Sie werden von Männern, die mit Nägeln übersäte Knüppel sein, der Tutsi gerettet habe. nen Hutu zu heiraten. Selbst wenn ich sei- den Überlebenden, deren Familien getötet schwangen, zur Exekution aufgestellt. Am Unter Leichen versteckt ne Familie kennen würde, glaube ich nicht, wurden, wieder als Nachbarn akzeptiert, Abend dieses Tages lagen in der Kirche und Zwei Bilder von Kagame dass die mich akzeptieren könnte. Bei mei- wenn sie aus der Haft entlassen werden. ringsherum Tausende von Leichen. 24 250.000 ehrenamtliche Richter wurden ge- ner Familie wäre es ähnlich. Es wäre schwie- Mittlerweile wird einer neuen Generation Stunden später wurden im Fußballstadion wählt. Bei Gacaca-Anhörungen durft e jeder „Heute herrscht Freundschaft zwischen rig für beide Familien, miteinander umzu- nahegebracht, die Unterscheidung in Hutu von Kibuye noch einmal etwa 10.000 Tutsi das Wort ergreifen, für oder gegen einen den Menschen“, sagt Thomas. „Die Versöh- gehen. Sie sehen, ich habe nicht viel Hoff - und Tutsi abzulegen und im Wiederaufb au getötet. Gerettet wurden Lucie und Mada- Angeklagten. Letztere wurden aufgefordert, nung hat funktioniert. Mir hat die Regie- nung für die Zukunft “. Ruandas eine gemeinsame Mission und lena durch Polizisten, die so taten, als wür- ihre Verbrechen zu gestehen und die Na- GUARDIAN HALL/THE ANDY FOTOS: rung sogar ein neues Haus zugewiesen.“ Cyriaque Niyonsaba ist überzeugt, Ruan- ein neues Selbstverständnis zu fi nden. den sie die beiden zur Hinrichtung brin- men anderer Täter zu nennen, um dafür im Plötzlich schleichen sich Zweifel in seine da habe sich so weit verändert, dass ein er- Einige nahmen diese Versöhnung tatkräf- gen. „Als sie uns abführten, hörten wir das Gegenzug Strafmilderung zu erhalten und Stimme. „Leider gibt es immer noch ein neuter Genozid unmöglich sei. „Jeder Ru- tig an. In Kibuye haben Hutu, die 1994 zu Weinen eines Kindes. Wir zitterten vor oft mals vorzeitig aus den grauenvollen Ge- paar Leute, die nicht verstehen, was natio- ander schämt sich doch für all das, was Schlächtern geworden waren, ihre Verbre- Angst und dachten, dadurch würden die fängnissen entlassen zu werden. Die cheten zerhackt wurde. Auch drei seiner nung an die erste Stelle setzen. Aber das war Zacharia Niyorurema stand ebenfalls vor leisten. Im Gegenzug half Zacharia Odile ertragen musste, die Zellen voller Mörder nale Aussöhnung bedeutet.“ Wer? „Leute, passiert ist – dass Menschen ihre Nachbarn chen gestanden und von Reue gesprochen. Interahamwe angelockt“, erinnert sich Lu- Schleusen öff neten sich. „Wir erfuhren, was vier Kinder, die damals zwischen sechs und schwer, als die Killer nicht einmal sagen einem Gacaca-Gericht. Er sah sich mit dem beim Bau eines neuen Hauses. „Ich bin ein im rosa Häft lings-Drillich. Heute liegt auf die auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind“, und ihnen völlig Unbekannte einfach ab- Durch einige Überlebende wurden sie dar- cie. „Ich dachte bei mir: Halt den Mund! Sei sich in Wahrheit ereignet hatte. Wer tat zwölf Jahre alt waren, sah er nie wieder. wollten, wie unsere Angehörigen gestorben Vorwurf konfrontiert, seine Tutsi-Nachbarn guter Christ und habe sein Geständnis ak- diesem Areal ein Park. Wie überhaupt die antwortet Thomas. schlachten konnten.“ aufh in als geläuterte Seelen angenommen. still oder stirb!“ Doch ein Polizist rettete was, wie, wann und wo“, sagt Tharcisse. „Ei- Louis überlebte, indem er sich unter den waren.“ Dann kam Gacaca, und Louis erfuhr, ermordet zu haben, darunter seinen ehe- zeptiert. Wir müssen das für unser Land Gedenkstätten für die Opfer wohlgeordnet Es wird deutlich, dass er von den Überle- In Madalenas Wohnzimmer hängen zwei Kratzt man aber an der Oberfl äche, wird den Jungen, der heute als Offi zier in der ru- ner der Erfolge von Gacaca besteht darin, Leichen versteckte, die sich in den Kirchen- wer seiner Frau alle Glieder abgeschnitten maligen Lehrer. Nachdem er nahezu zehn tun. Es schmerzt dennoch, weil ich nicht und gepfl egt sind, wenig Pathos zulassen, benden spricht und denkt, nur die Hutu Bilder von Paul Kagame. Für sie ist er der sichtbar: Schock und Schmerz sitzen nach andischen Armee dient. dass alles zur Sprache kam. Mir ist nicht be- bänken stapelten. Er geht davon aus, dass und sie hatte verbluten lassen. „Es war scho- Jahre im Gefängnis gesessen hatte, bat Za- sagen kann, ob es die Täter wirklich ernst eher stilles Erinnern. würden etwas für ethnische Brücken tun. Erlöser und Beschützer. Vor ein paar Jahren wie vor tief, überwunden sind sie nicht. Lucie und Madalena fanden bei Nach- kannt, dass irgendetwas Bedeutendes igno- 86 seiner Verwandten in und im Umfeld ckierend, das Bekenntnis des Mörders mei- charia den Sohn des Toten, Odile Kabayita, meinen. Doch denkt man an das Jahr 1994 Die meiste Zeit tragen die Menschen in „Manchmal sagen die Überlebenden Dinge, sagte sie mir, wenn er je die Macht verlie- barn Zufl ucht; als das zu gefährlich wurde, riert oder vertuscht werden konnte. Das der Kirche gestorben sind. Heute betreibt er ner Frau zu hören. Auch diejenigen, die mei- um Vergebung. „Der sagte mir schließlich, zurück, gibt es einen großen Fortschritt. Kibuye den Schmerz stumm in sich. Manch- die nicht wahr sind. Einige behaupten, sie ren sollte – nach der Verfassung muss er Als würden Fische gefangen versteckten sie sich in einem Bananenhain. war nahezu ausgeschlossen.“ einen Stand für Textilien auf Kibuyes neu- ne Kinder umbrachten, gestanden ihre Tat, er glaube an meine Reue, dennoch solle ich Wir freuen uns inzwischen, wenn jemand mal bricht er hervor. Als im April eine Pro- hätten Sachen verloren, die sie in Wirklich- sein Präsidentenamt im Jahr 2017 niederle- Doch es half nicht viel, Madalena wurde Seitd Louis Rutaganira bei einer Gacaca- em Markt und hat wieder geheiratet. obwohl sie niemand gezwungen hatte, den zum Gacaca-Gericht gehen und die ganze kommt und bekennt, Schuld auf sich gela- keit nie besaßen. Es kann sein, dass einer gen –, würde sie sofort nach Uganda gehen. Ein paar Meter von der Stelle entfernt, an entdeckt, vergewaltigt und schließlich von Anhörung vom Schicksal seiner Familie er- Louis war skeptisch, als die Regierung be- Mund aufzumachen. Aber was blieb mir üb- Geschichte erzählen.“ Das Gericht nahm den zu haben“, meint Odile. kommt und behauptet, an einer bestimm- „Kagame kann nicht in jedes Haus kom- der Lucie die Schädel der Toten säubert, einem Hutu-Geschäft smann vor dem si- fahren hat, setzt er sich intensiv für die Aus- gann, für Vergeben und Versöhnen zu wer- rig, als ihnen zuzuhören? Ich habe ihre Ent- Zacharias Geständnis an und entließ ihn In nunmehr zehn Jahren haben die Gaca- ten Stelle habe sein Haus gestanden, das men und den Leuten beibringen, wie sie kehrt ein Mann Blätter von einem Massen- cheren Tod bewahrt, weil der die Intera- söhnung ein. Das Letzte, was Louis von sei- ben. „Uns wurde nun jeden Tag gesagt, wir schuldigungen akzeptiert. Das war schmerz- 2006 aus dem Gefängnis. Heute arbeitet er ca-Gerichte Anklagen gegen 1,3 Millionen zerstört worden sei. Diese Leute wollen nur sich aussöhnen sollen. Er spricht im Radio, grab, in dem etwa 4.000 Tutsi begraben hamwe mit seinem Geld bestach. ner Frau Marie Claire sah, war, wie sie vor sollten hart arbeiten und die Vergangenheit lich, aber notwendig. Die Mörder sind nun auf einer Baustelle. Ruander geprüft . Es ging um fast zwei Mil- Geld, aber manchmal kümmert sich die Re- und einige hören auf das, was er sagt. Aber liegen. Er kommt mir bekannt vor, trägt er Nach dem Genozid nahm die heute der katholischen Kirche in Kibuye mit Ma- vergessen. Wir sollten nationale Versöh- unsere Nachbarn.“ lionen Verbrechen. „Den Opfern widerfährt gierung um sie zuerst. Daher der Hass.“ er kann nicht von Tür zu Tür unterwegs doch noch immer den gleichen sauber ra- Manche hassen weiter Gerechtigkeit und den Tätern widerfährt Ich frage, welchen Hass er meint. „Man- sein, um den Menschen begreifl ich zu ma- sierten Bart und hat noch immer den glei- Gerechtigkeit“, glaubt Minister Tharcisse. che Leute hassen sich immer noch, und das chen, dass die Versöhnung ein Glück sein chen gehetzten Blick. Ich traf ihn 1994 ein Treibhaus des Todes – Ruanda zwischen April und Juli 1994 Odile Kabayita steht der Assoziation der In den vergangenen 20 Jahren hat sich kommt oft vor.“ kann. Die, die getötet haben, bereuen ihre paar Wochen nach dem Massaker in der Überlebenden in Kibuye vor. Zunächst vieles verändert. Kibuye, einst ein rück- Thomas zeigt keine wirkliche Sympathie Taten nicht. Wenn sie die Möglichkeit dazu Kirche, als der Geruch der Toten, die man lehnte der Verband die Gacaca-Gerichte ab ständiges und wegen seiner schlechten für Opfer des Völkermordes. Doch er habe erhalten, würden sie es wieder tun.“ Attentat Das Flugzeug Lynchmord Zehn belgische Todesschwadron In der Abzug Geschockt durch die Intervention Frankreich Befreiung Truppen der einfach vor die Tür geworfen hatte, über des Präsidenten Juvenal Soldaten der UN-Mission Missionsschule Don Bosco, Angriff e auf Blauhelm-Solda- interveniert am 22. Juni mit Patriotischen Front (FPR) und warf ihnen vor, zu milde mit den Tä- Straßen isoliertes Nest, verfügt heute über Thomas etwas gelernt. „Man erkennt, dass Mord Lucie zögert. „Den Landsleuten, die Ruan- der Sonntagsmesse hing. Mitglieder der Habyarimana wird am UNAMIR werden am die bis dahin unter UN-Schutz ten beschließt der UN-Sicher- 3.000 Fallschirmjägern unter Paul Kagame erreichen tern umzugehen. Als allerdings die Ver- einen Autobahnanschluss in Richtung der Kanyeperu saß keine Lösung ist. Wer getötet hat, musste da in den vergangenen Jahren verlassen ha- Gemeinde hielten sich Tücher vors Gesicht, 6. April beim Anfl ug auf Kigali 7. April bei dem Versuch, die stand, suchen bis zum 12. April heitsrat am 22. April das in Ruanda und deklariert am 4. Juli Kigali. Es wird handlungen Erkenntnisse zutage förderten, Hauptstadt Kigali, es gibt mehrgeschossige erfahren – es brachte nur Unglück und Not. ben, geht es besser. Sicher, das ist ein Aus- während sie beteten. Sie machten die Tutsi abgeschossen. Daraufh in Tage später ermordete mehr als 2.500 Menschen UNAMIR-Kontingent von die Operation Türkis als eine neue Regierung gebildet wo Vermisste vergraben lagen, wo sich Banken sowie ein Kulturmuseum. Am neun Jahre im Ich hätte trotzdem nicht ins Gefängnis ge- weg.“ Dann blickt sie zu Madalena. „Aber ich selbst für deren Tod verantwortlich. übernehmen Hutu- Minister präsidentin Agathe Zufl ucht. Dann dringen mit 2.000 auf 270 Mann zu „friedenserzwingende Aktion“ und die Gewalt im Land längst überwucherte Massengräber befan- Strand des Sees reihen sich Touristenho- Gefängnis hört mit all seinen Härten. Ich wurde krank kann meine Mutter nicht allein lassen.“ Lucie erinnert mich schließlich an den Extremisten die Macht. Erste Uwilingiyimana zu schützen, Macheten bewaff nete verringern. Es gibt zu nach Kapitel VII der UN- umgehend eingedämmt. den und ganze Familien in Latrinen gewor- tels. Straßenlaternen in den Nationalfarben und hatte großes Glück. Und das ging nicht Namen des Mannes. Er heiße Thomas Ka- Pogrome gegen die Volks- von einem aufgebrachten Interahamwe-Milizen ein und diesem Zeitpunkt bereits Charta. Tatsächlich wird ein Bis dahin sind etwa 800.000 fen worden waren, ließen sich Odile und erleuchten die Stadt. und sagt, dass allein mir so. Meine ganze Familie hat sehr Chris McGreal ist Zentralafrika-Korrespondent nyeperu, sei früher schon Gärtner der Kir- gruppe der Tutsi beginnen, Hutu-Mob gelyncht. richten ein Blutbad an – es Zehntausende von Toten. Korridor errichtet, um Menschen getötet worden. LH andere vom Wert der Gerichte überzeugen. Vor zehn Jahren war das Gefängnis das Mord keine gelitten.“ des Guardian chengemeinde gewesen und habe wegen zunächst im Raum Kigali, gibt keine Überlebenden. Hutu-Politiker außer Landes Odile sagt, er habe Zacharia vergeben, um auff älligste Gebäude und wirkte wie eine Ich erzähle Lucie und ihrer Schwester Ge- Übersetzung: Holger Hutt Beihilfe zum Genozid neun Jahre gesessen. bald im ganzen Land. zu schleusen. einen Beitrag zur Versöhnung Ruandas zu Metapher für den Albtraum, den die Stadt Lösung ist nevieve, einer Nonne, die ihr bei der Säube- 08 Politik der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Klassenausflug mit der Industrie Lobbyismus Ein Palmöl-Konzern lädt Europaabgeordnete nach Malaysia ein – kurz vor einer wichtigen Entscheidung der EU

terkunft in Luxushotels. Offiziell wurde die ■■ Felix Werdermann Reise als „fact-finding mission“ für Abge- ordnete beworben, doch das Programm hat rüssel ist ein Paradies für die Industrie bestimmt. Erst auf Druck von Lobbyisten. Zwischen 15.000 Brüsseler Nichtregierungsorganisationen und 30.000 hauptberufliche haben auch lokale Umweltverbände einen Interessenvertreter tummeln Platz im Programm bekommen – einein- sich schätzungsweise in der halb Stunden ganz am Ende, als die meis- EU-Hauptstadt und versuchen den Politi- ten Abgeordneten schon abgereist waren.

B go kern ihre Ideen nahezubringen. Die genaue Zahl der Einflüsterer kennt niemand, denn a /im

Die Essenspreise steigen a bislang fehlt ein verpflichtendes Register. Bekannt sind hingegen die Methoden der Der Einsatz von Agrosprit – grünfärberisch Lobbyisten: Positionspapiere formulieren, auch als Biosprit bezeichnet – ist stark um-

Gesetzesentwürfe und Änderungsanträge stritten. Die pflanzlichen Kraftstoffe, etwa xinhu Foto: schreiben, mit Politikern essen gehen, aus Palmöl, sollen eine umweltfreundliche Pack die Palme in den Tank? In Südostasien entstehen riesige Plantagen, um Agrosprit herzustellen Abendveranstaltungen organisieren. Wenn Alternative zum Erdöl sein. Für die Planta- es so etwas gibt wie eine Königsdisziplin, gen werden jedoch teilweise Urwälder ver- Im Europaparlament entscheidet am Einer der größten europäischen Palmöl- wieder abgereist. Dabei waren nur noch dann ist es vielleicht die gemeinsame Reise nichtet, auch Indigene werden nach Anga- Donnerstag kommender Woche der Indus- importeure, Neste Oil, nutzt dazu geschickt Vidal-Quadras und seine deutsche Frakti- von Lobbyisten und Politikern. Sie erlaubt ben von Kritikern vertrieben. Zudem ist trieausschuss über die künftige Förderung die Strukturen des European Energy Fo- onskollegin Christa Klaß von der CDU, die ein Kennenlernen in ruhiger Atmosphäre, weniger Platz und weniger Wasser für den von Agrotreibstoff, im Juli stimmt der Um- rums, EEF. Zusammen haben sie die Reise als Schattenberichterstatterin zur Kraft- und sie schweißt zusammen. Anbau von Nahrungsmitteln da, was die weltausschuss ab. Die EU-Kommission will für Abgeordnete nach Südostasien organi- stoffqualitäts-Richtlinie im Umweltaus- Häufig werden diese Ausflüge kaum be- Essenspreise steigen lässt. Inzwischen ge- die Förderbedingungen verschärfen, Um- siert, die vom 1. bis zum 4. Mai stattfand. schuss sitzt. achtet, doch eine Reise sorgt inzwischen hen Experten davon aus, dass auch die welt- und Entwicklungsorganisationen wie Die Politiker sollten sehen, wie nachhaltig Ursprünglich war am Samstagmorgen bei Umweltschützern und Entwicklungsor- Klimabilanz von Agrosprit im Vergleich zu BUND, Oxfam oder Misereor geht das nicht das Palmöl produziert wird. Das EEF ist für eine Sightseeing-Tour vorgesehen, wie ein ganisationen für starke Empörung. Die Ag- konventionellen Treibstoffen gar nicht so weit genug, sie fordern die Abschaffung der solche Lobbytätigkeiten bestens geeignet, früherer Programmentwurf zeigt. Nur weil rospritindustrie hat Europaparlamentarier viel besser, teilweise sogar schlechter ist. Förderung. Aber auch die Industrielobby hier arbeiten Politiker und Unternehmen die Brüsseler NGOs zufällig von der Reise und ihre Mitarbeiter vier Tage lang nach Vor einigen Jahren wurde das noch anders macht mobil. Ihr Ziel: Agrosprit als um- schon seit Jahren Hand in Hand. erfuhren und intervenierten, wurde das ge- Singapur und Malaysia eingeladen, mit Un- gesehen. weltfreundlich darstellen. Offiziell bezeichnet sich das Forum als ändert. Laut EEF hätten die lokalen Organi- „unabhängige Non-Profit-Organisation“, sationen mehr Platz bekommen, wenn sie die „weder politische noch wirtschaftliche sich eher gemeldet hätten. Aber auch so Anzeige Interessen“ verfolgt, sondern durch ver- habe es ein „Gleichgewicht“ zwischen schiedene Veranstaltungen einen Aus- NGOs und anderen Beteiligten gegeben. tausch zwischen Politik und Wirtschaft er- möglicht. In Wirklichkeit ist es eine gefähr- Lobbyfahrten: offiziell erlaubt liche und auch anrüchige Nähe. Denn aktive Mitglieder können nur Europaabge- Die lobbykritische Organisation Corporate ordnete werden – das Geld aber kommt Europe Observatory widerspricht dem. Das zum allergrößten Teil von der Industrie, die eineinhalbstündige Treffen mit der Zivilge- von den Parlamentariern reguliert werden sellschaft sehe eher nach einer „Greenwa- soll. Die 52 Abgeordneten zahlen jeweils 25 shing-Strategie“ aus, sagt Campaigner Da- Euro pro Jahr und fühlen sich dem EEF als vid Sánchez. Er kritisiert auch die Europa- Mitglied verbunden, die Firmen als assozi- abgeordneten, die an der Fahrt teilgenom- ierte Mitglieder kaufen sich ihren Einfluss men haben: „Eine industriefinanzierte für mindestens 7.000 Euro pro Jahr. Neste Reise unter Geheimhaltung und mit einer Oil gehört zu den Sponsoren, aber auch an- komplett unausgewogenen Agenda ist dere Ölfirmen wie BP, Shell oder ExxonMo- nicht akzeptabel.“ Wenn das Europaparla- bile. Aus Deutschland sind beispielsweise ment einen Ausflug nach Malaysia für not- die vier großen Energiekonzerne im EEF wendig erachte, solle dieser vom Parlament vertreten: Eon, EnBW, RWE und Vattenfall. organisiert und mit öffentlichen Geldern Die „ganze Bandbreite des Energiesek- finanziert werden. tors“ werde vom Forum abgedeckt, sagt In diesem Fall hingegen mussten die Ab- Alejo Vidal-Quadras, gleichzeitig Vizepräsi- geordneten lediglich den Hin- und Rück- dent von EEF und Europaparlament. Für flug zahlen, wie aus der Einladung hervor- die Christdemokraten sitzt er im Industrie- geht, die dem Freitag vorliegt. Der Flug von ausschuss und verfasst dort als Berichter- Singapur nach Malaysia beispielsweise statter die Empfehlungen zur Agrotreib- wurde von Neste Oil übernommen. Das stoff-Förderung. An der Reise nach Singa- Unternehmen sieht darin kein Problem, pur und Malaysia hat er teilgenommen, die Finanzierung sei vereinbar mit dem „um aus erster Hand zu erfahren, wie der Verhaltenskodex für Europaabgeordnete Biotreibstoff-Sektor in Malaysia aussieht“. zu finanziellen Interessen und Interessen- Der Ausflug sei „extrem informativ und of- konflikten. fen“ gewesen, sagt er. In der Tat sind solche Lobbypraktiken bislang erlaubt. Zwar dürfen die Parlamen- tarier nur Geschenke in einem Wert bis zu 150 Euro annehmen, heißt es in dem Ko- dex. Diese Regel gilt jedoch nicht für die Ab 7.000 Euro „Erstattung von Reise-, Unterkunfts- und Aufenthaltskosten“, wenn die Abgeordne- jährlich lässt ten „im Rahmen der Ausübung ihres Man- sich Einfluss dats“ an einer Veranstaltung teilnehmen. Die linke Umweltpolitikerin Sabine Wils auf die Politiker fordert nun Konsequenzen aus der Südost- nehmen asienreise. „Parlamentarische Erkundungs- missionen, die von der Industrielobby ge- sponsert werden, gehören verboten“, sagt die Politikerin, die im Umweltausschuss des Europaparlaments sitzt. „Der Ausflug Das bewerten Brüsseler Umwelt- und der konservativen Abgeordneten nach Ma- Entwicklungsorganisationen ganz anders. laysia bringt das Fass des Lobbyeinflusses „Das Programm ist total unausgewogen“, auf die EU-Agrarkraftstoffpolitik zum Über- beschwert sich ein NGO-Vertreter, der nicht laufen.“ namentlich genannt werden möchte, um Die Namen der Teilnehmer will das EEF sein Verhältnis zu den Abgeordneten nicht zwar nicht nennen, offiziell aus Daten- zu belasten. Er halte einen von der Indust- schutzgründen. Dem Freitag liegt jedoch rie finanzierten Ausflug generell für prob- die Teilnahmeliste vor. Neben Vidal-Quad- lematisch. „Diese Reise kann man nicht ras und Klaß waren noch drei weitere Abge- ‚fact-finding mission‘ nennen.“ ordnete dabei, alle auch Mitglied im EEF: In der Tat wurde fast die gesamte Zeit Giles Chichester von den Konservativen, den Palmöl-Befürwortern eingeräumt, wie der Liberale Cristian Silviu Bușoi und Roger aus dem Programm hervorgeht. Die Teil- Helmer von der euroskeptischen Partei EFD. nehmer besichtigten die weltgrößte Bio- Drei der fünf Parlamentarier brachten ei- dieselraffinerie in Singapur und mehrere nen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin Jetzt im Handel! Oder für 3,70 € zzgl. Versandkosten bequem per Telefon Palmölplantagen in Malaysia. An einem mit, außerdem nahmen vier Vertreter von Abend gab es eine Diskussion, veranstaltet Neste Oil und zwei vom EEF teil. unter 040/5555 78 00 bzw. online unter neon.de/heft bestellen. vom Malaysian Palm Oil Board, einer Re- Immerhin: Christa Klaß erklärt auf An- gierungsbehörde zur Förderung der Palmöl­ frage, sie habe alle Flüge sowie die Hotel- industrie. Als am letzten Tag gerade mal rechnungen selbst bezahlt. Es gibt also eineinhalb Stunden mit Vertretern lokaler noch Politiker, die verantwortungsbewusst Umweltorganisationen diskutiert wurde, handeln – selbst im nahezu unregulierten waren drei der fünf Abgeordneten schon Lobby-Paradies Brüssel.

Neon_0713_Freitag.indd 1 05.06.13 11:38 der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Politik 09

Die Gnadenfrist ist abgelaufen

Iran Mahmud Ahmadinedjad tisierung Irans als „Schurkenstaat“. Ahma- dinedjad hat mit seinen umstrittenen Äu- hat in seiner Präsidentschaft ßerungen viel dafür getan, dass es so kam das Land als Regionalmacht und blieb. Seine Außenpolitik legte wenig wert auf Vertrauensbildung. Im Ton mag zwar etabliert, aber innerlich sich unter einem Nachfolger etwas ändern nicht befrieden können – in der Sache kaum. Das Nuklearprogramm fußt auf einem nationalen Konsens, der bis weit in die Opposition hinein reicht. Die ■■ Torsten Wöhlert Ambition – Atommacht im Wartestand zu sein – wird Teheran nur für umfassende in- er scheidende Staatschef hat ternationale Sicherheitsgarantien aufge- Pläne. Mahmud Ahmadined- ben. Davon sind alle potenziell zu Beteili- jad will, wenn seine Präsi- genden meilenweit entfernt. dentschaft demnächst been- det ist, wieder an die Univer- sitätD zurück. Dahin hatte sich der promovierte Bauingenieur schon einmal zurückgezogen. Das war 1997, nach seiner Ahmadinedjad ersten politischen Karriere als Provinzgou- verneur, bevor er 2003 Bürgermeister Te- begann damit, herans und 2005 dann erstmals Präsident die Hand zu wurde. Er wolle weiter politisch aktiv sein, ließ er verlauten, aber in keiner Partei oder beißen, die ihn sonstigen Gruppierung. Eine erneute Präsi- dentschaftskandidatur, wie sie sein Vorvor- gefüttert hatte gänger Hashemi Rafsanjani im Vorfeld der Wahl am 14. Juni zum zweiten Mal erfolglos versucht hat, schließt Ahmadinedjad aus. Angesichts der Bilanz seiner Präsident- schaft zeugt das zumindest von politi- Dies auch, weil in den Jahren von Ahma- schem Realismus. Immerhin hat Ahmadi- dinedjads Präsidentschaft die konfessionel- nedjad zwei Amtszeiten durchgestanden. len Spannungen in der Region rasant zuge- Wenigstens darin gleicht er seinen Vorgän- nommen haben. Zuletzt hat der Iran – viel gern Rafsanjani und Mohammad Chātami. mehr als bis dahin üblich – schiitische Ali Chamenei, der religiöse Führer des Gruppierungen im arabischen Raum unter- Landes und einstige Mäzen Ahmadinedja- stützt, um dadurch den eigenen Einfluss zu ds, stand als Präsident von 1981 bis 1989 erhöhen – etwa im Irak, in den Golfstaaten, ganz im Schatten Ayatollah Chomeinis und im Libanon und in Syrien. Ahmadinedjad hatte zudem einen Premierminister an der hat die Idee vom Revolutionsexport aus Seite, der die eigentlichen Regierungsge- den achtziger Jahren wieder aufgegriffen. Er schäfte führte. Erst als dieses Amt abge- empfahl sein Land als Schutzmacht islami- schafft wurde, kam mit Hashemi Rafsanja- scher Minderheiten und reagierte auf sun- ni der erste starke Präsident als Regierungs- nitische Begehrlichkeiten, wie sie von Sau- chef ins Amt. Unter seiner Regentschaft di-Arabien und Katar ausgehen. Entweder (1989–1997) öffnete sich Iran wirtschaftlich direkt durch staatliche und halbstaatliche und erholte sich langsam von den Folgen images kenare/afp/getty atta foto: Institutionen oder indirekt über Finanzen des achtjährigen Krieges gegen den Irak. Im Präsidentensitz von Teheran – Mahmud Ahmadinedjad trägt sich mit Auszugsgedanken für militante sunnitische Netzwerke, zu de- Rafsanjani galt während seiner Amtszeit nen Al-Qaida-Filialen zählen. Das Schlacht- als starker Mann des Iran. Er vermochte es, Slums der Metropolen einst das – mittler- wochenlang gegen das Regime protestier- den Wächterrat –, handzahm zu sein. Op- feld in dieser durch die Arabellion forcier- rivalisierende Machtzentren auszubalan- weile desillusionierte – Fußvolk der islami- ten. Ali Chamenei schlug sich als Revoluti- position findet in der Islamischen Repub- ten Konfrontation um regionale und religi- cieren und dabei sogar Chamenei als schen Revolution bildeten. onsführer auf die Seite Ahmadinedjads lik beim jetzt anstehenden Präsidentenvo- öse Hegemonie ist derzeit Syrien, wo sich höchste Instanz des Regimes in den Schat- Sozialpolitisch hat Ahmadinedjad mit und verlor den Nimbus einer überparteili- tum nicht mehr statt. Der Aufruhr hat sich sunnitische und schiitische Milizen einen ten zu stellen. Er verstand es ebenso, sich seiner auf Öleinnahmen basierenden Um- chen Instanz. Das war durchaus system- Lethargie und Zynismus ergeben. Stellvertreterkrieg liefern. und seinen Clan zu bereichern. Sein Machi- verteilung zugunsten der Entrechteten den und staatsgefährdend. Danach überreizte Dass Iran dabei die Hisbollah alimentiert, avellismus ist in Iran bis heute so legendär Erwartungen noch am ehesten entspro- Ahmadinedjad sein Blatt und begann da- Faustpfand Hisbollah ist ebenso wenig ein Geheimnis wie das wie sein Nepotismus. chen. Freilich ging ihm wegen fallender Öl- mit, die Hand zu beißen, die ihn gefüttert Engagement libanesischer und irakischer preise, einer chaotischen Wirtschaftspolitik hatte. Er setzte auf die nationalistische Außenpolitisch hat Ahmadinedjad mit sei- Schiiten auf Seiten Bashar al-Assads. An Ins Abseits geraten und der verhängten Sanktionen das Geld Karte und stellte mit Chameneis Autorität nen rhetorischen Eskapaden für viel Wirbel den von Ahmadinedjad intensiv gepflegten aus. Zugleich flossen unter seiner Regent- unverhohlen das 1979 von Ayatollah Cho- gesorgt und dabei einiges an Porzellan zer- Kontakten mit dem alawitischen Regime in Auf Rafsanjani folgte Mohammad Chātami schaft Unsummen in den Aufbau einer ve- meini etablierte System theologischer schlagen, unter anderem mit seinen wie- Damaskus und mit den libanesischen Schi- (1997–2005), dessen Hang zur Liberalisie- ritablen Schattenwirtschaft, die von den Herrschaft infrage. An diesem Punkt war derholten Verbalattacken gegen Israel. Aber iten dürfte jeder Nachfolger festhalten, so- rung ihm bald den Ruf eines iranischen paramilitärischen Revolutionsgarden kon- Schluss mit lustig. Zwar sah es eine Zeit im Kern blieb Iran auch unter seiner Ägide lange es irgend geht. Derartige Allianzen Gorbatschow einbrachte. Doch wird dieser trolliert wird. Sie sollten zur Hausmacht lang so aus, als käme Chamenei in die Rol- durchaus berechenbar. Die Regierung hat sind Teil der regionalen Sicherheitsstrate- Führer heute als gescheiterter Reformer er- des Präsidenten werden. Tatsächlich sind le des Zauberlehrlings, der die Geister, die sich angesichts des Desasters gescheiterter gie des Iran. Eine starke Hisbollah im Liba- innert, der vor einem möglichen System- die Pasdaran heute nicht nur militärisch, er einst rief, nicht mehr beherrscht. Aber westlicher Interventionen im Irak und in non gilt im Iran als wichtiges Abschre- bruch zurückschreckte. sondern auch ökonomisch ein Machtfaktor das geistliche Establishment schloss die Afghanistan kooperativer gezeigt, als je zu ckungsmittel, um Israel von einem Angriff So schien Ahmadinedjad 2005 der ideale in der Islamischen Republik. Reihen und stellte Ahmadinedjad ins Ab- vermuten stand. Einen „Bonus“ hat es dafür auf iranische Atomanlagen abzuhalten. Kandidat des theologischen Establish- Was Ahmadinedjad zugute kam, als vor seits – mit einer gesichtswahrenden Gna- nie gegeben. Im Gegenteil. Das iranische ments zu sein: ideologisch radikal und vier Jahren nach seiner von Manipulati- denfrist bis zum Ende seiner Amtszeit. Atomprogramm, wobei unklar ist, ob es nur Torsten Wöhlert ist Iranwissenschaftler konservativ, persönlich bescheiden und onsvorwürfen überschatteten Wiederwahl Sein Nachfolger verspricht – nach sorgsa- zivile oder auch militärische Komponenten und lebt in Berlin den Unterschichten zugewandt, die in den Unruhen ausbrachen und Zehntausende mer Vorauswahl aller Kandidaten durch hat, verstärkt im Westen bislang die Stigma-

Warum sich der Westen für uns interessieren muss Türkei Unsere Autorin kämpft in Istanbul mit vielen anderen für ein säkulares und fortschrittliches Land

terrichtende Schule ihrer Tochter werde keit von ihrer Kenntnis des Islam – das Er- formen der neuen Republik würden an die globalen, vor allem regionalen Konse- ■■ Safek Pavey nun zu einer Imam-Hatip-Schule und wür- gebnis von Prüfungen zur Aufnahme in ein kommende Generationen weitergegeben. quenzen dieses Scheiterns? de nur noch 320 Schüler aufnehmen. Bald Dienstverhältnis gilt als zweitrangig. Indem Niemand möchte den Glauben aus dem Wer im Westen die Ansicht vertritt, dass äkularismus – was bedeutet er den Tür- seien es allein Kinder der Wohlhabenden, sie ihren Anhängern Positionen im Bil- öffentlichen Leben verdammen, aber der die Türkei von einer Demokratie profitiert, ken? Geht es dabei nur um die Frage, ob die in den Genuss einer säkularen Erzie- dungswesen und in der Bürokratie zu- politische Islam in der Türkei begnügt sich deren Gefüge religiös durchsetzt sei, sollte Swir Alkohol kaufen können, wann wir hung kämen. „Was sollen wir, die Armen, schanzt, ist die Regierung dabei, die eher nicht mit dem Part des moralischen Ratge- einen Blick darauf werfen, wie dieses Gefüge wollen, oder ob das Kabinenpersonal von denn tun?“, fragte sie mich. fragilen demokratischen Tugenden dieses bers. Er will das Land nach dem Muster ei- heute aussieht und wie demokratische Turkish Airlines roten Lippenstift auflegen Es passt dazu, dass in unserem sozialen Landes zu unterlaufen. Auch die Redefrei- ner frommen sunnitischen Nationalidee Rechte im Namen einer intoleranten Mehr- darf? Auch wenn die Medien solche Themen Leben die Frömmigkeit einen immer höhe- heit ist eine Farce. Es hat sich zwar herum- formen und jene Bürger überwachen und heit zerrieben werden. Gebt nicht die letzten lieben – sie sind nicht der Grund dafür, dass ren Stellenwert erreicht. Nur ein paar Bei- gesprochen, dass in der Türkei mehr Jour- bestrafen, die widersprechen. Laizisten im Nahen Osten preis, die im Na- Zehntausende auf die Straße gehen und sich spiele, was konkret geschieht: Wenn man nalisten im Gefängnis sitzen als kaum ir- Im Westen aber will das niemand wissen. men der Demokratie Erdoğans Plänen zum einer Polizeiattacke nach der andern erweh- während des Ramadan in der Öffentlichkeit gendwo sonst. Aber es ist weniger bekannt, Auch die nicht, die solche Verhältnisse in Opfer fallen! Ihr tut damit so, als sei ein ge- ren müssen. Es gibt größere Herausforderun- isst, erregt das große Empörung. Im Religi- wie die Repressionen erzwingen, dass über ihren Ländern nie zulassen würden. Dabei ringeres Maß an Rechten für unsere Region gen, mit denen der Säkularismus in der Tür- onsunterricht bringt man den Kindern bei, vieles gar nicht mehr berichtet wird. ist die Haltung der EU-Führung in dieser „gut genug“. Das erinnert fatal daran, wie kei konfrontiert ist. wie sie sich in der Moschee zu verhalten Frage sehr wichtig, weil sie die Debatte in Frankreich einst Universitätsdiplome aus Zunächst einmal ist unser Bildungssys- haben, anstatt sie Religionsphilosophie zu Gegen den politischen Islam der Türkei beeinflusst. Leider ist Europa zu seinen arabischen Kolonien als „Bon pour tem in Gefahr. Die regierende AKP vergibt lehren. Wer sich, wie die Glaubensgemein- sehr mit eigenen strategischen Interessen l’Orient“, also als gut genug für den Orient, den Löwenanteil der Staatsgelder an Mo- schaft der Aleviten, nicht auf die sunniti- Nach ihrer Gründung 1923 galt die türki- beschäftigt und sieht weg. Sicher sollte klassifiziert hat. scheen und religiöse Schulen, während die sche Tradition bezieht, den betrachtet die sche Republik als wichtiges Labor, um den man nicht verlangen, dass sich der Westen Finanzen für Lehranstalten, die eine säku- Regierung als Gegner. modernen säkularen Staat mit einer über- in die inneren Angelegenheiten der Türkei Safek Pavey, geboren 1976, hat lare Erziehung anbieten, gekürzt werden. Premier Tayyip Erdoğan drängt die Frau- lieferten islamischen Gesellschaft zu ver- einmischt, aber er könnte damit aufhören, für die UNO gearbeitet. Seit 2012 In den vergangenen fünf Monaten sind al- en, nicht zu arbeiten, sondern zu Hause zu söhnen. Egal, wie störanfällig diese Synthe- eine Regierung zu decken, die so wenig für sitzt sie für die sozialdemo­ lein in Istanbul 98 Grundschulen in religi- bleiben und Kinder zu bekommen. Zu allem se auch immer gewesen sein mag – die ihr die Freiheitsrechte übrig hat. kratische Oppositonspartei CHP öse Imam-Hatip-Schulen umgewandelt Überfluss grassiert eine religiös gefärbte zugrunde liegende Transformation eines Wo sollte es noch möglich sein, Islam, Sä- im türkischen Parlament worden. Eine Mutter wandte sich mit der Korruption. Werden Arbeiter für den öffent- Landes galt vielen als Modell für den Rest kularismus und Demokratie zu versöhnen, Klage an mich, die einst 1.200 Schüler un- lichen Dienst eingestellt, dann in Abhängig- der islamischen Welt. Man hoffte, die Re- wenn nicht in der Türkei? Worin bestehen Lesen Sie dazu auch Seite 15 10 Politik der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Nur Draußenbleiben ist schlimmer Kroatien Das Land wird im Juli in die EU aufge­nommen und damit vorerst das letzte Neumitglied sein. Viel Freude aber wird man nicht aneinander haben

■■ Norbert Mappes-Niediek

s ist Osterweiterung, und alle ge- hen hin. Bloß warum eigentlich? Was ist gewonnen, wenn am 1. Juli um null Uhr die Republik Kroatien 28. Mitglied der Europä- Eischen Union wird? Viel Freude werden Eu- ropa und der postjugoslawische Staat erst einmal nicht miteinander haben. Warum das so ist, wird klarer, wenn man die Frage umdreht – was wäre verloren, wollte Zagreb auf eine EU-Aufnahme verzichten? Mit an- deren Worten: Nicht mehr die Aufnahme ist begründungsbedürftig, sondern das Draußen-Bleiben-Müssen. Tatsächlich bekommt die Union nur ei- nen weiteren Fußkranken zum Mitschlep- pen: Seit fünf Jahren in Folge gleitet Kroati- en immer tiefer in die Rezession, die Aus-

landsverschuldung liegt bei mehr als ges hundert Prozent des Bruttoinlandsproduk- tes. 16 Prozent Arbeitslose streben nach Westen. Kroatien wiederum muss der Ge- meinschaft den letzten Rest seiner großen im a af p/getty Industrie opfern und seine stolzen Werften verkaufen – oder schließen, was wahr- scheinlich auf dasselbe hinausläuft. Weil am 30. Juni um 24 Uhr Kroatiens Mitglied- schaft in der mitteleuropäischen Freihan- delszone erlischt, kriegt die einzige Ferti- gobet/ georges Foto: gungsbranche des Landes, die sich nach Mit gefasster Miene das „Land des Lächelns“ ertragen: Kroatiens Premier Milanović bei EU-Kommissionspräsident Barroso (rechts) dem Krieg einigermaßen entwickelt hat, die Lebensmittelindustrie nämlich, gewal- tige Probleme: In Serbien und Bosnien- EU-Status der postjugoslawischen Republiken Herzegowina, ihren Zukunftsmärkten, wer- den kroatische Produkte zu teuer. Slowenien Kroatien Serbien Mazedonien Montenegro Bosnien-Herzegowina Das Land wurde im Mai 2004 Nachdem Brüssel Mitte 2011 Seit dem EU-Gipfel vom März Erste Aufnahmegespräche Ende 2010 hatte die EU- Bisher gibt es mit Brüssel nur Die besseren Europäer in die EU aufgenommen empfahl, Kroatien aufzuneh- 2012 hat Serbien den Status scheiterten 2010 am Veto Kommission angeregt, ein Assoziierungsabkommen, und stellte Anfang 2007 seine men, wurde am 9. Dezember eines Beitrittskandidaten, Griechenlands. Grund war Montenegro als offiziellen das 2008 unterzeichnet, An solchen Tiefpunkten der Argumentati- Währung auf den Euro um. 2011 der EU-Beitrittsvertrag ohne dass bereits verhandelt ein Streit zwischen Skopje Bewerber zu führen, was jedoch von der EU bisher on übernehmen üblicherweise die Euro- Mit Gesamtschulden unterschrieben. Doch fiel wird. Zuvor musste Belgrad und Athen. Die Regierung wenig später der Europäische nicht ratifiziert wurde. Ein Lyriker und loben den großen gesellschaft- von 50 Prozent des BIP gilt das folgende EU-Referendum das Haager Jugoslawien- dort erklärte, Mazedonien sei Rat bestätigte. Noch 2013 offizielles Beitrittsersuchen lichen Schwung, den ein solcher EU-Beitritt Slowenien derzeit als kaum überzeugend aus: Tribunal anerkennen und ein griechischer Name, der sollen Beitrittsgespräche sollte zwar schon 2011 entfalte. Aber auch damit ist es nicht weit nächster heißer Kandidat für Zustimmung 60, Beteiligung das Verhältnis zum Kosovo postjugoslawische Staat dürfe beginnen. Bis 2020 ist aber gestellt werden, blieb dann her. „Vor zehn Jahren hätte das noch zuge- den Euro-Rettungsfonds. unter 50 Prozent. etwas normalisieren. ihn nicht tragen. keine Aufnahme in Sicht. aber aus. LH troffen“, sagt Petar Milat, Philosoph und Leiter des Kulturzentrums Mama in Zagreb, „aber jetzt gleiten wir sozusagen mit aus- arrogantem Benehmen der großen EU-Län- gessenen Genossen drinnen, innerhalb der Die Kirche ist ßen, wie Tudjman das noch wollte. Im Ge- geschaltetem Motor noch gerade so eben der will aufkommen. Mauern Europas, die es sich gut gehen lie- genteil: Kroatien hat ein Interesse daran, ins Ziel.“ Tatsächlich brauchen die Pro-Eu- Die Orientierung auf Europa steht außer ßen, denen alles Europäische selbstver- nicht westlich, dass die Südosterweiterung rasch weiter- ropäer gar keinen Sprit mehr: Kroatien will Frage. Zuweilen hat der Name des Konti- ständlich und deshalb auch nicht schüt- sondern östlich, geht, und das nicht nur, damit es seine Le- europäische Provinz sein und sonst nichts. nents in Kroatien allerdings noch einen un- zenswert sei. Diese Europäer hätten in Ge- bensmittelmärkte behält. Der Grund für Immer wenn sie die Wahl zwischen den gewöhnlichen Klang; nach „europäischen stalt türkischer und arabischer Einwanderer orthodox, die Offenheit liegt in der Kettenstruktur, „europäischen Standards“ und den „kroati- Werten“ suchen manche weniger in der ein trojanisches Pferd in ihre Festung gelas- panbalkanisch die auch nach dem Untergang Jugoslawi- schen Werten“ haben, entscheiden sich die Menschenrechtskonvention von 1953 als sen – sie wüssten den verzweifelten Kampf ens alle Balkannationen bis in die Türkei Kroaten für Erstere. Zur Jahrtausendwende vielmehr in den Kampfestugenden der der getreuen kroatischen, serbischen, unga- miteinander verbindet. Im Nachbarland – gleich nach dem Tod des Staatsgründers Kreuzritter, des Prinzen Eugen und des anti- rischen Bundesgenossen, die ein böses Bosnien-Herzegowina stellen Serben und Franjo Tudjman – haben die Wähler dem byzantinischen Königs Zvonimir. Hinter- Schicksal außerhalb der Mauern angesiedelt Kroaten zusammen fast die Hälfte der Be- nationalistischen Sonderweg eine Absage grund ist das sogenannte „Vormauer-Syn- hat, nicht zu schätzen. Ja, sie würden diesen völkerung; ohne Gleichklang zwischen Za- erteilt. Es war eine Jahrhundertentschei- drom“, das alle Nationen der Region vom Kampf oft nicht einmal wahrnehmen. greb und Belgrad kann das Land keinen dung. Im vergangenen Jahr, als über den jeweiligen südöstlichen Nachbarn trennt – Befürchtungen jedoch, Kroatien könne aber auch kein zweites Polen. Die Treue Bestand haben. Bleibt Serbien draußen, Beitritt abgestimmt wurde, votierten 60 und sie so paradoxerweise auch miteinan- in der EU ein „zweites Ungarn“ werden, zum Papst taugt zwar zur Abgrenzung ge- droht dem Nachkriegsland wieder eine Zer- Prozent dafür; die Gegner hatten kein Ar- der verbindet. Die eigenen Leute, so dessen sind unbegründet. Zwar wird zurzeit zwi- gen die Serben und zur Identifikation mit reißprobe, von der auch Kroatien – direkt gument, und die Befürworter brauchten Inhalt, seien eigentlich die besseren Europä- schen rechts und links ein merkwürdiger „dem Westen“, verpflichtet aber nicht dazu, oder indirekt – in Mitleidenschaft gezogen keines. Nicht einmal Trotz gegenüber allzu er im Vergleich zu den wert- und machtver- Streit um die kroatische Identität ausgetra- dessen Enzykliken ernst zu nehmen. würde. Ganz Europa damit auch. gen. Was den rechten Kroaten im Unter- Eine wilde Kampagne machtbewusster schied zu den Ungarn aber fehlt, ist das Bischöfe um die Sexualerziehung an Schu- Viele potenzielle Mallorcas Anzeige autistische und das imperiale Element. In len endete gerade mit einem Teilerfolg vor Ungarn war kaum jemand je im Ausland, dem Verfassungsgericht, trug dem Klerus Zwar wacht noch immer eine militante Ve- man spricht keine Fremdsprachen; die Kro- aber im Volke allgemeines Kopfschütteln teranenszene in Kroatien über die Abgren- aten dagegen haben von allen europäi- ein. Eine zweite Kampagne, gegen die Ho- zung gegen die Serben, und die „Mütter schen Nationen die höchste Zahl an Ver- mo-Ehe, rollt im Moment an. Selbst wenn von Vukovar“ erklären sogar, es sei eine wandten jenseits der Landesgrenzen. sie Erfolg hat, werden die Bischöfe ihr Ziel, Verletzung ihrer Gefühle, wenn in kroati- sich zu den Siegelbewahrern des Kroaten- schen Schulen die kyrillische Schrift ver- Auch kein zweites Polen tums aufzuschwingen, kaum erreichen. wendet werde. Aber die sozialdemokratisch Mit Homophobie und Sexualfeindlichkeit geführte Regierung von Premier Zoran Anders als in Ungarn hat in Kroatien der positioniert sich die Kirche nicht westlich, Milanović hält dagegen und hat die Mehr- Kult um Reich und alte Könige keine tiefen sondern östlich, orthodox, panbalkanisch heit der Bevölkerung hinter sich. Wurzeln; er kam vor 20 Jahren nur gerade – und verkennt damit gründlich, wozu die Auf die wirtschaftlichen Probleme Kroa- recht, um die Serben aus dem Land zu trei- Kroaten sie eigentlich brauchen. Mit ihren tiens schließlich wird, wenn überhaupt, ben. Selbst der kroatische Faschismus der Schlachten erzielen die Bischöfe lauter nur Europa eine Antwort finden. Der Fonds vierziger Jahre, so schlimm er auch wütete, Pyrrhus-Siege. zur regionalen Entwicklung findet hier ein war eine italienisch-deutsche Importideo- Als Kroatien vor bald acht Jahren seine reiches Betätigungsfeld vor. Die Küste hat logie. Die extreme Rechte, vom Krieg ge- Beitrittsgespräche begann, herrschte in das Zeug zur Côte d’Azur und blickt zudem nährt, ist heute wieder eine Randerschei- Brüssel untergründige Skepsis. Eingesetzt auf viele potenzielle Mallorcas. Nur hat nie- nung. Der General Ante Gotovina, der vom für Zagreb hatten sich besonders die Öster- mand Geld, sie zu bauen, und gleichzeitig Kriegsverbrechertribunal in Den Haag allzu reicher, die damals von Jörg Haider mitre- zieht es immer mehr ältere Deutsche ganz- großzügigerweise freigesprochen wurde, giert wurden, gleichzeitig nein zur Türkei jährig an die warmen Meere. Selbst die jetzt hat das sofort begriffen und verwirrt seine sagten und nachts vom christlichen so betrübte kroatische Lebensmittelindus- Anhänger seit seiner triumphalen Heim- Abendland unter dem Kaiser Franz Joseph trie wird glücklich sein über ihren Vor- kehr mit liberaler Versöhnungsrhetorik. träumten. Sie nutzten das Interregnum in sprung, wenn Serbien und Bosnien der EU Keine Faschisten und keine konservati- Berlin, wo soeben der türkeifreundliche beitreten. Der Gewinn ist ein Verlust, der ven Revolutionäre vom Schlage Viktor Or- SPD-Kanzler Gerhard Schröder abgewählt nicht eintritt. Oder nicht so stark. 48 Stunden Neukölln báns streiten in Kroatien mit den linkslibe- worden war. ralen Postkommunisten um die nationale Aber Kroatien selbst war nie das Epizent- Norbert Mappes-Niediek ist sei 1992 freier Das Kunstfestival 14.–16. Juni 2013 Identität und die geistige Hegemonie, son- rum solcher Träumereien und denkt gar Korrespondent für Österreich und Südosteuropa dern die katholische Kirche. Kroatien ist nicht daran, die Tür hinter sich zu schlie- der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Gender 11

vilisation ist. Psychiater berichten aus ihrer täglichen Praxis, dass türkischstämmige Schreie, Patienten eine Depression eher in Form körperlicher Schmerzen, oft im Rücken oder auch am ganzen Körper, beschreiben. Asiatinnen drücken das Leid dagegen mit die „einer großen Leber“ aus. Experten fordern deshalb eine Diskussi- on über „kultursensitive Diagnosen und Therapien im Gesundheitswesen“. Wie keiner maßgeblich diese sein können, zeigt die Forschung: Die Berliner Psychiaterin Schouler-Ocak betreut nur deshalb so viele türkische Patienten, weil sie selbst als sie- versteht ben Jahre altes Mädchen aus der Türkei kam, mit der Kultur vertraut ist und die Unsichtbar Wenn Migranten Sprache perfekt beherrscht. Und die Studie mit psychischen Problemen mit türkischen Migrantinnen in Basel war nur möglich, weil am Klinikum ein türki- kämpfen, werden sie nicht scher Oberarzt arbeitete. „Das hatte sich ernst genommen. Vor allem herumgesprochen. Wir hatten außerdem eine türkische Assistentin, die des Korans Frauen leiden darunter kundig war und damit argumentiert hat“, sagt Riecher-Rössler. Allein mit „kultursensiblen Angeboten“ ■■ Susanne Donner lassen sich Zugangsbarrieren aber nicht überwinden. „Seelische Krankheiten sind s war, als würde mir das Herz aus in der Türkei weit mehr stigmatisiert als der Brust springen. Es raste und hier“, erklärt Schouler-Ocak. „Damit geht zugleich fühlte ich mich schwach“, man oft nicht zum Arzt, sondern versucht erzählt die Frau mit dem blauen das Problem zu lange in der Familie zu lö- Kopftuch, die ihren richtigen Na- sen.“ In der familiären Enklave können die Emen nicht in der Zeitung lesen möchte. Krisen junger Frauen dann eine scheinbar Man solle sie Fatima nennen. Als sie sich ausweglose Dimension erlangen. mit ihren Beschwerden vor sieben Jahren einer Ärztin vorstellte, diagnostizierte diese eine Depression. Die junge Türkin ist zu dieser Zeit in ei- ner sehr unglücklichen Ehe gefangen. Ihr Mann ist arbeitslos und verbringt die Näch- Seelische te mit Freunden in türkischen Cafés. Nur in Krisen den Morgenstunden und am frühen Abend taucht er kurz zu Hause auf. Fatima fühlt versuchen sich alleingelassen. Sie muss sich um die sie meist beiden Kinder kümmern, kochen, putzen und mit dem Geld vom Jobcenter über die in der Familie Runden kommen. Wenn sie ihren Mann zu lösen zur Rede stellt, fühlt er sich angegriffen. Es gibt Streit. Zwei Mal setzt sie ihn vor die Tür. Aber die Kinder hängen am Vater. Mit 18 kam Fatima nach Deutschland, um einen türkischstämmigen Mann zu heiraten, den sie kaum kannte. Für die Be- Für Gesundheitsforscher zählen Migran- hörden ist sie eine von vielen „Heiratsmig- ten zur „versteckten Bevölkerungsgruppe“, rantinnen“. Wie die meisten spricht sie da- die im Gesundheitssystem sozial unsicht- mals kein Wort Deutsch. Sie hat keine bar bleibt. Die Sprachbarriere, Berührungs- Freunde, keine Verwandten, nur eine ängste und auch schlicht Unkenntnis hal- Schwägerin, an die sie sich wenden kann. ten Menschen anderer Kulturkreise aus Dass ihr Mann in dieser Zeit so wenig für den Praxen fern. Muttersprachliches Perso- sie da ist, entwickelt sich für sie zu einer nal gibt es in der Regel nicht, qualifizierte

schweren seelischen Belastung. Einmal ist a Dolmetscher noch seltener, da ihre Leis- sie so verzweifelt, dass sie ihr Leben been- tung nicht abgerechnet werden kann. den will. Zwei Monate liegt sie in einer Kli- Und: „Sprachliche und soziokulturelle nik, eine dunkle Episode, an die sie sich Missverständnisse können zu einer fal- nicht mehr erinnern könne, sagt sie. schen Diagnose führen, Misstrauen auslö- Fatimas Geschichte ist kein Einzelschick- sen, die Therapietreue beeinträchtigen“, sal. In Statistiken und Studien aus verschie- warnt die Berliner Gesundheitswissen- denen Ländern Europas fallen Menschen schaftlerin Theda Borde. In einer Befragung mit Migrationshintergrund auf, weil es um steinberg/dp a m wolfr foto: an der Berliner Frauenklinik fand sie her- ihre seelische Gesundheit schlechter be- Gerade die jungen Mädchen der zweiten Generation leben häufig zwischen zwei Welten aus, dass Migrantinnen türkischer Her- stellt ist als bei Nichtmigranten. Depressio- kunft die Therapie öfter falsch verstehen nen, Psychosen und Selbstmorde treten Aber die Befunde sind kleinteilig und rü- und am ärgsten diskriminiert werden, am lienkonflikten, wenn eine Frau nicht als als die deutscher. Eine weitere Studie zeigt, vor allem bei jungen Frauen aus dem Aus- cken einzelne Ethnien und seelische Er- häufigsten von Psychosen heimgesucht Jungfrau in die Ehe geht.“ dass türkische Patienten auch häufiger land häufiger als gewöhnlich auf. krankungen auf eine Weise zusammen, die werden. Das sind eben gerade Menschen Allerdings beobachte man diese Proble- fälschlicherweise als schizophren diagnos- Menschen mit türkischem Migrations- irritieren kann. Wieso werden Afrikaner in afro-karibischer Herkunft in Großbritan- me vor allem bei Familien, die sehr abge- tiziert werden als deutsche. Das lasse sich hintergrund in Deutschland nehmen sich England, bitteschön, öfter schizophren als nien, Marokkaner in den Niederlanden kapselt lebten und vor längerer Zeit mig- zum Teil, aber nicht vollständig auf die zwar seltener das Leben als Einheimische. es „normal“ ist? oder die Inuit in Dänemark. Bhugras Kol- riert seien, sagt Schouler-Ocak. „Diese Fa- Sprachschwierigkeiten zurückführen. „Aber Mädchen und junge Frauen unter- Der Londoner Psychiater Bhugra, der lege Jayati Das-Munshi wertete verschie- milien haben gar nicht mitbekommen, Fatima hörte nur durch Zufall über nehmen fast fünf Mal so häufig Selbst- selbst aus Indien stammt, sagt: „Wir sollten dene Studien aus und erkannte, dass jene dass sich auch in der Türkei das Wertever- Freunde von Schouler-Ocak und ihrer psy- mordversuche wie gleichaltrige Frauen uns hüten, das vorschnell mit der unter- Migranten häufiger psychisch krank wer- ständnis weiterentwickelt hat.“ chiatrischen Praxis. Sie reiste zu der Ärztin deutscher Herkunft“, sagt Meryam Schou- schiedlichen Kultur abzutun.“ Migranten den, die sich in der neuen Heimat auf der nach Berlin. „Sie war wie eine Familie für ler-Ocak, Migrationsforscherin in der Psy- sind keine homogene Gruppe. Und die For- sozialen Spirale abwärts bewegen. Auch Ein westliches Konstrukt mich, weil ich endlich über alles sprechen chiatrischen Universitätsklinik der Charité schung liefert auch unterschiedliche Hin- laut schwedischem Gesundheitsreport ge- konnte“, sagt sie. Die Türkin bekommt in Berlin. Die Psychiaterin Anita Riecher- weise, was den Ausgewanderten auf der hören die Migranten mit Schizophrenie Die Ursachen für eine dauerhafte seelische mittlerweile Medikamente gegen die De- Rössler berichtet Ähnliches aus der Seele lastet. häufig zu den Allerärmsten. Ihre Geschich- Notlage sind aber nie eindimensional. pressionen und eine Psychotherapie. Noch Schweiz: Junge türkische Frauen wollen Die dauerhafte Erfahrung eines niedri- ten sind Geschichten des Scheiterns. Auch das Gesundheitswesen trägt eine Mit- immer leide sie unter ihrer Ehe. „Ich neh- sich dort drei Mal häufiger das Leben neh- gen sozialen Status und gesellschaftlicher Fatimas Mann erlebte ebenfalls den sozi- verantwortung. „Psychisch kranke Men- me es nicht mehr so schwer“, sagt sie. „Gott men als Schweizerinnen. Ausgrenzung seien die wichtigsten Grün- alen Niedergang in der neuen Heimat: „In schen mit Migrationshintergrund werden sei Dank habe ich inzwischen Freunde. Und de für die Schizophrenie-Epidemie unter der Türkei hätte er Arbeit gehabt“, meint bei uns nicht ausreichend medizinisch ver- ich warte auf mehr Kraft und darauf, dass Schizophrenie-Epidemie Migranten, sagen die niederländischen sie. Das gemeinsame Leben in Deutschland sorgt“, sagt Peter Falkai, ehemaliger Präsi- meine Kinder größer werden, damit ich Psychiater Jean-Paul Selten und Elizabeth erfahren beide als Niederlage, die Fatima dent der Deutschen Gesellschaft für Psych- meinen Mann verlassen kann.“ Die seelische Not der Migranten fällt in den Cantor-Graae. Als sie ihre Theorie 2005 in auch deshalb so hart trifft, weil sie zu die- iatrie, Psychotherapie und Nervenheilkun- Statistiken am ehesten bei den größten Umlauf brachten, löste das eine heftige ser Zeit weitgehend sozial isoliert ist. de (DGPPN). Die Probleme beginnen oft Susanne Donner schrieb im Freitag zuletzt Einwanderergruppen auf. Hierzulande sind Kontroverse aus. Diese ist immer noch Für die hohe Suizidrate türkischer Mig- damit, dass der Begriff der psychischen Er- über Fortschritte in der Fortpflanzungsmedizin das Menschen aus der Türkei. In England nicht aus der Welt. Aber die Theorie der rantinnen machen die Psychiaterinnen krankung ein Konstrukt der westlichen Zi- beobachtete der Psychiater Dinesh Bhugra, Niederländer hat im Verlauf der Debatte Schouler-Ocak und Riecher-Rössler aber vor dass sich junge Asiatinnen häufiger um- einiges an Substanz gewonnen: Es passen allem andere Ursachen verantwortlich. Ar- Anzeige bringen als Britinnen. Und sie leiden öfter eine Reihe von Studien dazu, wonach Eth- beitslosigkeit und ein niedriger sozioökono- an Depressionen. „Der frappierendste Be- nien, die am niedrigsten angesehen sind mischer Status belasten zwar, aber es seien fund ist aber die Schizophrenie-Epidemie, in erster Linie Kulturkonflikte, die die türki- die Menschen afrikanisch-karibischer Her- schen Frauen in Deutschland in seelische 17. Juni, 18:30 Uhr kunft erfasst, wenn sie nach England kom- Not bringen. Die meisten begründen einen Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin men“, sagt Bhugra. Auch hier seien beson- Suizidversuch mit Problemen in der Familie ders Frauen betroffen. In ihrer neuen Hei- oder mit dem Partner. „Die jungen Mäd- Das Ende der SED mat erkranken sie 16- bis 18-mal häufiger chen, gerade der zweiten Generation, leben Die letzten Tage des ZK SED als Britinnen. Dasselbe Phänomen be- Sozialer häufig in einem Spagat zwischen traditio- der schreibt das schwedische „Gremium für Abstieg und neller familiärer Welt und der modernen Aufführung des Theater 89 Anmeldung zwingend erforderlich unter Gesundheit und Wohlfahrt“ für Menschen Lebenswelt außerhalb“, sagt Riecher-Rössler. [email protected] oder aus afrikanischen und karibischen, aber Isolation führen „Sie dürfen nicht mit Jungs ausgehen, weil Tel. 030/29781654 (ND-Shop, 9–17 Uhr) auch asiatischen Ländern in Schweden. bei vielen sonst die Familienehre beschmutzt wird. Alle Studien deuten auf eines hin: Mig- Migranten zu Und der Ehemann soll ein Muslim sein. Au- ranten, in erster Linie Frauen, sind größe- ßerdem kommt es auch immer noch zu www.franzmehringplatz.de/die-muenzenberg-lektionen Eintritt frei! ren seelischen Belastungen ausgesetzt. Depressionen Zwangsverheiratungen und schweren Fami- 12 Chronik der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Die Woche vom 6. bis 12. Juni 2013 (2) s image a f p/getty (3), imago FotoS:

Mali Syrien-Konferenz Nordkorea/Südkorea Arbeitgeber Kirche SPD-Wahlkampf Votum gefährdet Erste Entscheidungen Aufeinander zugehen Verräterische Steuerklasse „Bild“-Mann soll’s richten Wenn es noch eines Beweises bedurft Für eine Genfer Syrien-Konferenz sind Die beiden koreanischen Staaten kom­ Jubelmeldung mit Beigeschmack: Das Ob Kanzlergehalt, italienische Clowns hat, dass die Parlamentswahl am 28. vier Entscheidungen gefallen: Sie wird men sich wieder näher. Seit dieser Bundesverfassungsgericht hat auch oder teurer Wein: Peer Steinbrück Juli verfrüht stattfindet, dann wird er nicht vor Juli stattfinden, die Schirm­ Woche verhandeln sie auf Minister­ homosexuellen Paaren das Ehegatten­ hat bislang kaum ein Fettnäpfchen gerade im Nordosten des Landes herrschaft übernehmen die USA. Er­ ebene im Grenzort Panmunjom über splitting zuerkannt – jenen Steuer­ aus­gelassen. Wenige Wochen vor der erbracht. Es gibt wieder Gefechte zwi­ öffnet wird das Forum durch UN-Gene­ normalisierte Beziehungen. Zun­ächst quatsch, der Paare mit einem Vielver­ Bundestagswahl wagt er einen Neu­ schen der Nationalarmee und dem ralsekretär Ban Ki Moon und mode­ geht es um die Zukunft von Wirt­ diener und einem Wenigverdiener start: Er hat seinen Sprecher Michael Mouvement National de Libération de riert durch den UN-Syrien-Gesandten schaftsprojekten, etwa des Industrie­ bevorzugt. Ein Problem wird das für Donnermeyer entlassen und setzt l’Azawad (MNLA). Die Tuareg-Kombat­ Lakhdar Brahimi. Darauf einigten sich parks im nordkoreanischen Kaesong. verpartnerte Homosexuelle, die bei fortan auf Rolf Kleine. Ein Medien­profi, tanten treten aus dem Schatten der US-Vizeaußenministerin Wendy Sher­ Dort angesiedelte Firmen aus Südkorea der katholischen Kirche arbeiten. Auf schließlich war Kleine 17 Jahre lang islamistischen Verbände und profitie­ man mit ihrem russischen Pendant müssen seit April auf jede Aktivität der verräterischen Lohnsteuerkarte Bild-Journalist. Blöd nur, dass Kleine ren von einer Kooperation mit Frank­ Michail Bogdanow und UN-Diploma­ verzichten. Seinerzeit konnte das Ver­ gelten sie nun als verheiratet, nicht noch bis vor ein paar Tagen Sprecher reichs Interventionskorps. Besonders ten. Bisher bleibt offen, wer das in hältnis zwischen Pjöngjang und Seoul mehr als ledig. Um ihren Job zu behal­ beim Immobilienhai Annington war. rings um Kidal bedrohen Kampf­ sich zerstrittene Anti-Assad-Lager ver­ kaum schlechter sein. Nach verschärf­ ten, können sie eine schlechtere Wenn sich Steinbrück jetzt als Kämpfer handlungen die Wahlvorbereitung. Die tritt und ob auch der Iran nach Genf ten UN-Sanktionen und gemeinsamen Steuerklasse beantragen, bei der Be­ gegen steigende Mieten inszeniert, MNLA besteht auf einem Abzug der ein­geladen wird, wie das Russland für Manövern der USA und Südkoreas rechnung spielt das keine Rolle. Kom­ wirkt das irgendwie unglaubwürdig. Armee. Am 28. Juli dürfe nur die Wahl­ sinnvoll hält. Verhandelt werden sollen drohte Nordkoreas Präsident Kim Jong pliziert? Zeitgemäß wäre nicht nur Ohnehin bleibt fraglich, ob ein noch kommission in der Stadt sein, wie das ein Waffenstillstand, ein Abkommen, Un mit Gegenmaßnahmen und er- die Abschaffung des Splittings, son­ so guter Medienstratege gegen Stein­ bei Verhandlungen im Nachbarland um den Konflikt zu beenden, und eine härtete den Anspruch auf ein eigenes dern der Eheprivilegien generell. Für brücks selbstentlarvende Ehrlichkeit Burkina Faso vereinbart wurde. LH All-Parteien-Regierung. LH Atomprogramm. LH Kinder kann es ja Vorteile geben. FW ankommt. NBB 1953 Versunkener Feiertag Zeitgeschichte Im Westen wird der 17. Juni bis 1990 als „Tag der zog, ihre innere Legitimationsbasis zu erwei­ tern, konnte sich der Westen auf das einlassen, Deutschen Einheit“ begangen und vor allem für Ausflüge ins Grüne was Nikita Chruschtschow – 1953 bis 1964 genutzt. Peinlich, wenn man dabei an etwas Nationales denkt KPdSU-Generalsekretär – schon in den fünfzi­ ger Jahren proklamiert hatte: vornehmlich auf wirtschaftlichen Wettbewerb innerhalb Am 4. August 1953 erklärte der Bundestag friedlicher Koexistenz. Da brauchte man kei­ ■■ Georg Fülberth den 17. Juni zum „Tag der Deutschen Einheit“. nen Heldengedenktag mehr. 1954 wurde der erstmals begangen – 1963 rief In einer der dramatischsten Sitzungen des er 17. Juni 1953 fiel in einen Bun­ ihn der damalige Bundespräsident Heinrich Bundestags – am 27. April 1972 anlässlich des destagswahlkampf. Dessen Aus­ Lübke zum „Nationalen Gedenktag des deut­ Misstrauensvotums gegen Willy Brandt – wur­ gang mag er beeinflusst haben, schen Volkes“ aus. Diese Variation hatte es in de der Kanzler wegen seiner Ostpolitik ange­ entschieden hat er ihn nicht. sich. „Gedenken“ bezieht sich eher auf Vergan­ griffen und antwortete: „Ja, was wollen Sie, Dass die KPD an der Fünf-Pro­ genheit als auf Zukunft. Also musste seit 1953 meine Zwischenrufer? Glauben Sie, dass ich zentD-Hürde scheitern würde, hatte sich seit etwas geschehen sein. hier eine 17.-Juni-Rede halte?“ Das passte also Längerem abgezeichnet. Die SPD rief die Wahl Der ursprüngliche Feiertag am 17. Juni stand nicht mehr. zur Volksabstimmung über die Wiederaufrüs­ für die Forderung nach alsbaldiger Wiederver­ Der Tag der Deutschen Einheit war in der tung aus. Doch schien das Eingreifen sowjeti­ einigung. Aber Regierung und Opposition Folgezeit beliebt und peinlich zugleich. Be­ scher Panzer am 17. Juni 1953 in Ostberlin Ade­ dachten dabei in verschiedenen Geschwindig­ liebt, weil er in den schönsten Zeit des Jahres nauers Behauptung von der Gefahr aus dem keiten. Kurt Schumacher, der 1952 verstorbene Gelegenheit zu Ausflügen ins Grüne gab. Pein­ Osten, gegen die man sich bewaffnen müsse, SPD-Vorsitzende, hatte Adenauer nationalen lich, wenn man dabei an etwas Nationales

zu bestätigen. Die CDU plakatierte in Richtung Verrat vorgeworfen: Seine Politik der Westin­ tone/zuma/imago denken sollte. Als Chruschtschow 1958 den s SPD: „Alle Wege des Marxismus führen nach tegration vertiefe die Spaltung Deutschlands. Viermächtestatus Berlins infrage stellte, hat­ Moskau!“ Nach ihrer Niederlage im Kampf um Der Kanzler dagegen war der Ansicht, nur ten westdeutsche Professoren ihre Studenten das Betriebsverfassungsgesetz 1952 appellier­ durch eine feste Bindung an die USA und key Foto: aufgefordert, sich in Westberlin als Mutma­ ten die Gewerkschaften: „Wählt einen besse­ Westeuropa könne die Sowjetunion aus Mit­ Adenauer und Lübke (rechts) kamen auch ohne die deutsche Einheit in Fahrt cher zu immatrikulieren. Das taten die denn ren Bundestag!“ Inzwischen war die Wirt­ teleuropa hinausgedrängt werden. Welche auch, freilich nicht als Mutmacher, sondern schaft in Schwung gekommen. Das half der Fristen er für realistisch hielt, sagte er nicht, gleicher Eindeutigkeit hinter der Regierung. um dem Wehrdienst zu entgehen. Die Außer­ Union. Dass in Ostberlin Arbeiter gegen ihre aber falls er der Ansicht war, das könne lange Adenauers Politik schien gescheitert, er büßte parlamentarische Opposition, zu der sie bei­ Lebensumstände revoltierten, zeige ja, in wel­ dauern, hat er das gut verborgen. So vermoch­ Stimmen ein. Außerdem: Sein Herausforderer trugen, war sozialistisch und zugleich anti­ chem Teil Deutschlands man besser aufgeho­ ten sich beide Lager hinter dem 17. Juni zu fin­ Brandt trug den Titel „Regierender Bürger­ kommunistisch. Sie lachte über Ulbricht eben­ ben war. Also konnte die Bundesregierung den: Wiedervereinigung so bald wie möglich. meister“. Auch er verkörperte eine Exekutive, so wie über den 17. Juni, nahm Abschied vom nicht alles falsch gemacht haben. In dramati­ Da die SPD in der Opposition blieb, konnte an die man sich anlehnen konnte. Den Nach­ Proletariat und hatte so mit den Bauarbeitern schen Situationen sammelt sich das Volk gern sie die Regierung daran messen, wie nahe sie ruf auf die bisherige Bedeutung des Tages der von der Stalin-Allee nichts mehr im Sinn. hinter der Exekutive. Insofern half der 17. Juni das Land diesem Ziel brachte. Das Ergebnis Deutschen Einheit sprach letztlich Egon Bahr 1989 war das schon längst nicht mehr erwar­ der Union, die aber auch ohne ihn nicht viel der Prüfung war: nichts erreicht. Besonders in seiner Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963: tete Ereignis da. Und ein Jahr später wurde der zu fürchten hatte. seit Willy Brandt 1957 Regierender Bürger­ „Aus der Forderung nach geringeren Normen Tag der Deutschen Einheit auf den 3. Oktober Was an diesem Tag tatsächlich in der DDR meister von Westberlin geworden war, wurde ist am 16. Juni 1953 auf dem Wege von der Sta­ verlegt. Darauf, dass 1953 ein Arbeiteraufstand passiert war, ging in der innenpolitischen die SPD die Partei des 17. Juni. In diesem Geist lin-Allee bis zum Haus der Ministerien die stattfand, hatte die SPD immer wieder einmal Wahrnehmung der Bundesrepublik unter. unterbreitete sie 1959 einen „Deutschland­ Forderung nach freien Wahlen geworden. Die hingewiesen. Die deutsche Arbeiterklasse Bauarbeiter revoltierten gegen Normerhö­ plan“ zur schrittweisen Annäherung der bei­ Zügel glitten dem Ulbricht-Regime aus der konnte als ebenso zuverlässiger Faktor des An­ hungen, nachdem die Regierung kurz zuvor den deutschen Staaten. Hand und konnten nur von den sowjetischen tikommunismus gelten wie das Groß- und in Aussicht gestellt hatte, Belastungen für die Der 13. August 1961 war die negative Ant­ Die deutsche Panzern wieder aufgenommen werden. Das Kleinbürgertum. Auch das war Bestandteil der verbliebenen bürgerlichen Schichten des wort auf den 17. Juni 1953. Das Brandenburger Ergebnis war eine Befestigung der Stellung Ul­ Amerikanisierung der fünfziger Jahre gewesen. zweiten deutschen Staates zu mildern. Sie hat­ Tor, durch das einst Bauarbeiter nach Westen Arbeiterklasse brichts.“ Die Lehre hieß: Nicht Konfrontation, Seit der neoliberalen Wende nach 1973 schien ten es satt, dass die Umstrukturierung der marschierten, war geschlossen. Als Brandt de­ konnte als sondern Wandel durch Annäherung. diese Klasse nicht mehr so wichtig. Dabei hat DDR seit der 1952 ausgerufenen Errichtung monstrativ dorthin eilte und Präsident Ken­ Nicht nur Bahr dachte damals so, diese sie mehr zum Sturz der SED beigetragen als die von Grundlagen des Sozialismus allein von nedy zu irgendeiner Form des Eingreifens auf­ ebenso Überlegung hatte es in Teilen des bürgerli­ Pfarrer und Künstler im Vordergrund: 1989 ihnen zu tragen war. So konnte die SED den forderte, wiederholte er zwar noch einmal die chen Lagers schon vor seiner Rede gegeben. nicht durch einen Aufstand, sondern dadurch, von ihr gerade eingeleiteten Kurs nicht weiter alte Symbolpolitik, aber einige meinten da­ zuverlässiger Sie führte zur „Zwei-Zangen-Theorie“: teilwei­ dass viele Bau- und Fabrikarbeiter via Ungarn forcieren. Vor allem mussten Kompromisse mals schon gespürt zu haben, dass damit der Faktor des se Anerkennung der nach 1945 entstandenen der DDR ihre Arbeitskraft entzogen. Der bür­ mit der Klasse gesucht werden, auf die sie sich Volkszorn in Wirklichkeit nicht angefacht, Realitäten auf deutschem Boden, wenngleich gerliche 3. Oktober in Entgegensetzung zum berief. Dies ist offenkundig nie gelungen. Er­ sondern kanalisiert werden sollte. Wieder war Antikommu- nicht der DDR, sowie Einwirken des Kapitalis­ proletarischen 17. Juni lässt das vergessen. gebnis war der 13. August 1961. Damit war die ein Großereignis des Kalten Krieges mit ei­ nismus mus auf den Sozialismus. Was wie ein Nach­ DDR endgültig zur abhängigen Variablen des nem Bundestagswahlkampf zusammenge­ gelten wie das geben aussah, war in Wirklichkeit ein Aus­ Georg Fülberth schrieb zuletzt über den stern und Kräfteverhältnisses im Kalten Krieg geworden, troffen. Aber anders als 1953 sammelte sich druck von Selbstbewusstsein: Da die DDR- die „Hitler-Tagebücher“ von 1983 dessen Ausgang über sie entschied. das erschrockene Volk 1961 nicht mehr mit Bürgertum Führung aus dem 17. Juni 1953 nicht die Lehren 13 Rock Black Sabbath begeistern mit tollem Eigenplagiat S. 14 Aufruhr Warum die türkischen Mainstreammedien schweigen S. 15 Buch Annett Gröschner über „Die Elbe“ von Uwe Rada S. 17

Der Hype ist ein Gift . Allerdings ist Hype nicht gleich Hype, wie die „Batman“- Trilogie zeigt, S. 17 der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

+++ Exklusiv +++ Gerade erst Grundstein für Wiederaufb au des Berliner Stadtschlosses gelegt +++ Jetzt schon Planungen begonnen für künft igen Rückbau des Schlosses +++ Die Künstlerin Marion Pfaus alias „Rigoletti“ über den Stand der Dinge +++ Exklusiv +++ ABB.: MARION PFAUS, ENTERTAINMENT PICTURES/IMAGO (OBEN) PICTURES/IMAGO ENTERTAINMENT PFAUS, MARION ABB.: Exklusive Dokumente aus den Planungen von humboldt21: Schlossplatzwiese (oben links, vor Rückbau), Mischfassade (oben), Fassadenteile (links, mit Sprengungs- Rückkaufpreis) party, I like

Weitsicht Am 6. August 2050 werden in Berlin die Reste des wiederaufgebauten Stadtschlosses feierlich in die Luft gejagt – ein Detail des geplanten Rückbaus. Eine Projektbeschreibung Werden Sie Teil den Einzug des Kaisers, Beckenbauer samt der Berliner sion, Baumängelbeseitigung oder Kompe- bleiben möchte. Um das professionell zu ■ Marion „Rigoletti“ Pfaus DFB, nachgedacht werden können. Fußball- tenzgerangel könnte beim Humboldtforum klären, bräuchten wir, also ich, einen An- großveranstaltungen im Schlüterhof, Groß- Rückbaugeschichte! die Debatte um Fehlbeträge der privaten walt oder eine Anwältin. Der Etat für ein ie Grundsteinlegung zum Ber- bildleinwände in Agora und Eingangshal- humboldt21.de Bausumme von 80 Millionen Euro zu Bu- Mandat kann auf der Website humboldt21. liner Schloss Humboldtforum len, Fanshops, Fußballmuseum – so wäre che schlagen. Laut Bundestagsbeschluss de unter dem Button „Transparenz“ einge- am 12. Juni gibt gleichzeitig das Schloss im Handumdrehen wieder zum muss die Fassade nämlich privat fi nanziert sehen werden. Dort wird laufend der Stand den Startschuss für die Initia- Volkspalast geworden. Doch das aktuelle werden – und eben da tut sich eine Finan- unseres Spendenkontos angezeigt. tive humboldt21 – Rückbau Konzept plant mit Touristen, die Eintritts- zierungslücke auf. Die Spendenuhr des För- Mit der Eröff nung des Humboldtforums DBerliner Schloss Humboldtforum. Der Rück- karten und Souvenirs einkaufen, Kaff ee, Eis dervereins Berliner Schloss e.V., der mit wird humboldt21 den Verkauf der Fassaden- bau kann nun Formen annehmen. Formen und Cola konsumieren und nebenbei Milli- seinem Geschäft sführer Wilhelm von Bod- elemente starten, diese nach Geldeingang aus Beton, die in den kommenden Jahren onen digitaler Schlossfotos knipsen. den Eröffnungstermin des Humboldtfo- dien seit vielen Jahren Geld für die histori- rückbauen und zustellen. Auch die Beton- in den märkischen Sand gelegt und von Auf das bedeutendste nationale Rückbau- rums angenommen werden. Der Wettein- sierende Fassade sammelt, weist zum Zeit- elemente aus dem Innern könnten wieder- uns wieder herausgeholt werden. vorhaben der kommenden Jahre sind wir – satz beträgt 2 Euro. Davon geht einer in den punkt des Baustarts ein Minus von 66,45 verwendet werden. Wenn die Außenhaut Wie kein anderer Platz in der Hauptstadt und wenn ich „wir“ sage, meine ich mich: Gewinntopf, der andere bleibt bei hum- Prozent aus. Erschwerend kommen unklare des Humboldtforums nicht mehr geschlos- steht der Berliner Schlossplatz für erfolg- Marion „Rigoletti“ Pfaus, Geschäft sführerin boldt21 als Spende. Der Jackpot wird im rich- Finanzverhältnisse hinzu. „Kassenstand ist sen ist, sollte die Ausstellung abgebaut, die reiche Rückbaugeschichte. Seit dem letzten von humboldt21 – gut vorbereitet. Seit knapp tig getippten Monat mit Jahr ausgezahlt. nicht gleich Spendenstand“, heißt es: Wie Bücher und Exponate abgeholt worden großen Rückbau, dem des Palasts der Repu- zwei Jahren sammelt humboldt21 Spenden Den pessimistischsten Wettkandidaten viel der eingenommenen Spenden fl ießen sein. Wohin? Zurück nach Dahlem? blik, erlebten wir den Platz als grüne Wiese für den Rückbau. Wie langwierig und kost- zum Trotz hoff en wir, dass die Bauverzöge- tatsächlich in den Bau, wie viel bleibt beim Ein klares Signal für die Völkerverständi- (mit Herz), dann als Wiese mit türkisfarbe- spielig ein Rückbau werden kann, wissen rung bei dem Großprojekt Wiederaufb au Verein für laufende Kosten wie Geschäft s- gung in Zeiten der Globalisierung wäre die ner Humboldtbox, dem Infocenter für das wir spätestens seit dem Palast der Republik. nicht zu gewaltig ausfällt – auch hum- führergehalt und Geschäft sführerwohnung Rückgabe sämtlicher Exponate an ihre je- Humboldtforum. Der Baubeginn des Humboldtforums dient boldt21 hat einen Zeitplan! Am 6. August in Berlin (Boddien lebt in Hamburg) sowie weiligen Heimat- beziehungsweise Fund- Die Wiese wurde asphaltiert und inzwi- uns daher als Motivation, um Spenden für 2050, dem 100. Jahrestag der Schlossspren- PR? Der ausübende Architekt für Fassaden- orte. Damit könnte so mancher Streit um schen mitsamt Asphalt rückgebaut. In der den Rückbau einzuwerben. Seit Eingang der gung, wollen wir im Rahmen der Jubilä- planung, ein Herr Stuhlemmer, hat sich Raub- und Beutekunst beigelegt werden. Rückbau-Chronologie des Schlossplatzes ersten Spendengelder von 0,05 Euro im Sep- ums-Schloss-Spreng-Facebook-Party mit den Auft rag als Vereinsvorsitzender selbst Man könnte in dem Zusammenhang auch wird die Humboldtbox das nächste Projekt tember 2011 ist die Spendenbereitschaft für einer Sprengung der Schlossreste den erteilt. Wie viele Vereinsmitglieder müssen die ehrgeizigen Ziele der aktuell laufenden sein. Wenn das Humboldtforum eröff net humboldt21 um 792.420 Prozent auf 396,21 Rückbau abschließen. Facebook-Freunde noch mit Jobs versorgt werden? Wie viele Humboldt-Labs in Dahlem aufgreifen, des wird, kommt die Humboldtbox weg. Das Euro gestiegen. Zur weiteren Erhöhung des können sich jetzt schon anmelden! Spendengelder sind im bisherigen Kosten- Vorprogramms zur Schlossnutzung. Dort übernächste Rückbauprojekt wird das Volumens hat humboldt21 im Mai 2013 ein Zusätzlich zu den üblichen Bauverzöge- plan gar nicht enthalten, weil zweckgebun- wird nach noch nie da gewesenen Ausstel- Humboldtforum selbst werden. Rückbau Wettbüro eröff net, in welchem Wetten auf rungen wie Wassereinbruch, Kostenexplo- den, wie das Geld eines anonymen Spen- lungskonzepten geforscht. In enger Zusam- ist das Schicksal aller Bauwerke, die je auf ders für die Kuppel? Vor allem: Von wem menarbeit mit Künstlern könnten Her- dem Schlossplatz gebaut worden sind, wie soll das fehlende Geld kommen? kunft , Verbleib und Heimkehr der Expona- ein Blick in die Rückbaugeschichte zeigt Mein Vorschlag für eine kostengünstige te dokumentiert, interpretiert und in (siehe Kasten). Wir nennen es Tradition. A Place to be, not to stay Rückbauhistorie des Schlossplatzes Lösung: Die Südseite des Schlosses be- virtuellen Museen für alle überall auf der Über die Nutzung des Humboldtforums kommt ebenfalls die von Franco Stella für Welt zugänglich gemacht werden. wird nach wie vor gestritten. Die drei Part- 16. Jahrhundert hohe Glockenturm aus der Häuser der Schloss- die Ostseite entworfene moderne Fassade. Aus Gründen der Nachhaltigkeit und ner, die das Schloss aufb auen wollen – die 1538 wird die Zwing Cölln, die Sicherheitsgründen freiheit, um Nationaldenkmal Die Westansicht wird so gebaut wie geplant Weitsicht müsste freilich auch darüber Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Burg Eisenzahns (Kurfürst rückgebaut (sog. Münzturm- zu errichten. und die Nordseite zum Lustgarten hin er- nachgedacht werden, was nach einem er- Humboldt-Universität und die Zentral- und Friedrich II., 1440 – 1470), katastrophe). Die Kosten hält eine Mischfassade aus historischen folgreich abgeschlossenen Rückbau des Landesbibliothek –, sind sich über die Ver- rückgebaut (Abtragen) und überschreiten die gesamten 20. Jahrhundert und modernen Elementen. Humboldtforums auf dem Berliner Schloss- waltung der Ein-, Zu- und Übergänge nicht durch eine Kopie des Schlossbaukosten, Schlüter 1950 Rückbau des Schlosses platz passiert. Wie wird er im Jahre 2099 einig. Und wie lässt sich der Einzug der Torgauer Schlosses ersetzt verliert Job. 1747 wird unter (Sprengung). Unmittelbar Nachrückbauzeit aussehen? Wer dazu eine Idee hat, kann Landesbibliothek damit vereinbaren, dass Friedrich dem Großen davor wurde das National- diese skizzieren und an humboldt22@ diese gleichzeitig einen Neubau auf dem 17. Jahrhundert an der Südseite des Schlosses denkmal rückgebaut. Wird Der Förderverein Wilhelm von Boddiens humboldt21.de schicken. Außerdem sind Tempelhofer Feld plant? Während des 30-jährigen die Domkirche rückgebaut 1976 ersetzt durch Palast der verkauft , um das Spendenvolumen zu er- Sie natürlich aufgerufen, humboldt21 mit Kriegs baut sich das Schloss und als Dom im Lustgarten Republik. 1962 Rückbau der höhen, einzelne Fassadenteile, sogenannte einer Spende zu unterstützen. Spielen Sie selbst rück (Verfall). Als wieder aufgebaut. Schinkel‘schen Bauakademie. Geschäft sführerwohnung Schmuckelemente, für das künft ige Schloss. mit und wetten Sie! seine eigene Kopie wieder Wird ersetzt durch das Diese Idee möchten wir von humboldt21 aufgebaut. 1681 Rückbau der 19. Jahrhundert DDR-Außenministerium. Die radikalste Zwischennutzung für das übernehmen und diese Elemente zu den Stechbahn, eines 1538 Anfang des 19. Jahrhunderts 1996 Rückbau des DDR- Humboldtforum genannte Schloss wäre ge- exakt gleichen Preisen wieder vom Schloss Marion Pfaus alias angelegten Turnierplatzes werden die Skulpturen der Außenministeriums. Wird Rigoletti ist gebürtige wesen, die Nachfahren der Hohenzollern weg verkaufen. Selbstverständlich müssten Dachbalustraden rückgebaut ersetzt durch Wiederaufb au Badenerin und lebt wieder darin anzusiedeln. Mit Georg Fried- 18. Jahrhundert (Renovierungsarbeiten). der Schinkel’schen Bauakade- die Eigentumsverhältnisse noch geklärt seit 2000 in Berlin. Ent- rich Prinz von Preußen könnte man nicht Zahlreiche Rück-, Um- und 1850 erhält das Schloss seine mie. 1998 bis 2009 Rückbau werden. Wem gehört die Fassade? Müsste spezialisierte Medienartistik nur den legitimen Anwärter auf den Deut- Anbauten unter Andreas Kuppel. 1888 Rückbau der des Palasts der Republik. den ursprünglichen Schmuckelemente- nennt sie das, was sie tut. schen Thron berufen, sondern auch einen Schlüter (Schlossbaumeister). Hofapotheke (Verkehrsfl uss- 2010 Rückbau der Tempo- Käufern ein Rückkaufsrecht eingeräumt Mehr unter rigoletti.de, humboldt21.de und jungen und sympathischen Schlossherrn. 1706 wird etwa der 100 Meter verbesserung). 1894 Rückbau rären Kunsthalle Berlin werden? Nur die Kuppel kann direkt ver- auf youtube.com/user/RigolettiM Alternativ zum Preußenerben hätte über kauft werden, da hier der Spender anonym 14 Kurz & Klein der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Bühne „Der Jude von Konstanz“ von Wilhelm von Scholz

Medientagebuch Im Clinch mit der Moderne

Gegen das große aus. Als auch noch Nassons Braut, die zur Taufe bereit ist, von dem Juden, der sie zu- Frauenfühlen: vor verteidigt hat, erstochen wird, warnt „Die schwarze Botin“ Nasson seine früheren Glaubensgenossen vor der drohenden Gefahr. Der Jude, der zwar die Gebete noch kennt, aber nicht eitende Boten sind die Nachrich- gläubig ist, kehrt in der Stunde der Verfol- tenträger der Mächtigen. Frauen gung zu jenen zurück, zu denen er einst Rfi nden sich in dieser Rolle selten, gehörte. Für sich selbst sucht Nasson den denn fangen sie erst einmal an zu reden, Tod. Seine letzten Worte lauten: „Ich habe überschreiten sie schon eine Grenze. keine Heimat, keine Heimat,/ auch nicht So auch Die Schwarze Botin, als sie das als Asch’ und Staub, wie ihr doch alle.“ Wort erhob. Und was für ein Wort! Dieser Schluss ist mehrdeutig. 1939 Die Zeitschrift , die 1976 unter diesem schreibt Wilhelm von Scholz, er habe, als er Namen dem feministischen „Frauen- den Juden von Konstanz schrieb, „schon die fühlen“ ein Ende setzte, war gnadenlos: völlige Unvereinbarkeit des Juden mit un- Für uns, provozierte Mitgründerin serem Volke“ empfunden und dargestellt: Gabriele Goettle damals, beginnt „der „getrennt auf ewig, für alle Zeiten Feinde!“ kleine Unterschied“ dort, „wo der Der heimatlose, wandernde Jude – das ent- klebrige Schleim weiblicher Zusammen- spricht dem antisemitischen Klischee von gehörigkeit ein Ende hat.“ Ahasver, dem ewigen Juden. Aber die Logik Warum sich die Botinnen damals des Dramas zeigt das Gegenteil, nämlich schwarz nannten, weiß auch Elfriede wie den Juden die Heimat von den Christen Jelinek, die mit einigen Mitstreiterinnen die spätere Wiener Dependance ver- antwortete, nicht mehr zu sagen. Viel- leicht, weil sie viel schwarzen Humor im Gepäck hatte. Fast drei Jahrzehnte Der Wilhelm nach Erscheinen der letzten Nummer von Scholz, der 1987 ritten die Botinnen nun noch einmal durch Wien. Im Rahmen der dieses Drama

Festspielwochen führte die Bühnen- MESS ILJA FOTO: schrieb, ist bildnerin Barbara Ehnes Ehemalige Noch Spiel oder schon tödlicher Ernst? Eine Theatertruppe befeuert im Stück den Hass und Nachgeborene im Schauspielhaus klüger als der zusammen zu einer selbstironischen er Maler Caravaggio war ein Die Sache wird noch komplizierter mit Der Jude von Konstanz, den das Theater spätere NS-Autor Performance: „Die schwarze Botin, Mörder. Sollen seine Bilder Blick auf Der Jude von Konstanz aus dem Konstanz nun zeigt, spielt im 14. Jahrhun- remastered and remistressed“. Was deshalb nicht ausgestellt wer- Jahr 1905. Denn dieses Drama des späteren dert und verarbeitet mehrere historische bleibt, wenn junge Queer-Frauen in die den? Muss der Fluch, der sei- NSDAP-Mitglieds von Scholz, der schon Quellen. Der Jude Nasson ist Arzt und als Steinbrüche des Feminismus abtauchen ner bösen Tat gilt, auch den 1933 ein Treuegelöbnis an Adolf Hitler un- solcher dem rationalen Denken verpfl ich- und in einer ultimativen Redaktions- DTäter treff en? Soll der moralisch verwerfl i- terzeichnet und 1944 unter dem Titel „Eher- tet. Dass der Beruf auf einen anderen Juden vorenthalten wird. Die Klage am Ende be- konferenz nach brauchbarem Stückwerk che Mensch und mit ihm sein Werk dem ne Tafel“ ein Huldigungsgedicht an Hitler der dramatischen Literatur vorausweist, auf zieht sich dann auf eine von Menschen be- fahnden? Vergessen anheimgegeben werden? veröff entlicht hat, kann kaum als antisemi- Professor Bernhardi, konnte von Scholz 1905 wirkte soziale, nicht auf eine existenzielle Was bleibt, ist zunächst ebenso wort- Mit dem zeitlichen Abstand wächst die tisch verstanden werden kann. nicht ahnen. Arthur Schnitzlers Protagonist Wahrheit. Und ist klüger als der Wilhelm gläubig und sprechfreudig wie die Zeit, Bereitschaft , moralische Maßstäbe zu ver- kam erst sieben Jahre später zur Welt. von Scholz von 1939. aus der die Botinnen stammen. Ein nachlässigen. Wie aber ist es, wenn, was zu Lästige Konkurrenz Ein Besucher bei Nasson bemerkt beiläu- Am Ort der Handlung siedelt der Regis- karger Redaktionstisch, überspannt von verurteilen ist, gerade 70 Jahre zurückliegt? fi g: „Es ist halt so:/ man hat die Juden im- seur Stefan Otteni das Stück weder im Mit- vier Videoinstallationen und unterlegt Wie soll man sich Künstlern oder Autoren Die eigentlich wichtige und aktuelle Frage mer im Verdacht.“ Antisemitisch ist das telalter noch im Nationalsozialismus noch von einer Soundstation. Die älter gegenüber verhalten, die den Nationalsozi- ist also: Was macht einen Autor, der durch- nicht, eher eine Anklage gegen antisemiti- konkret in der Gegenwart an. Er verzichtet Gewordenen morsen ihre Botschaft en alismus begrüßt und unterstützt haben, als aus diff erenzierte und vernünft ige Ansich- sche Vorurteile. Von Scholz benennt auch auch darauf, die Biografi e von Wilhelm von aus alten Badewannen und angejahrten aktive Propagandisten, die freiwillig ihren ten zur jüdischen Existenz in einer juden- eine der Ursachen der Judenverfolgungen: Scholz auf der Bühne zu diskutieren. Statt- Küchen, darunter tagt die generations- Beitrag leisteten zu einem mörderischen feindlichen Umgebung hat, zum Sympathi- dass man Geld geliehen hatte und die Zin- dessen kontrastiert er die Wege der Schau- übergreifende Redaktion. Textgestein, System? Soll ihr Werk gepfl egt, der Öff ent- santen eines Regimes, das sich die sen nicht bezahlen wollte. Hat er das 1933, spieler zu ihrer Arbeitsstätte in Konstanz gewendet und Twitter-zerschossen, lichkeit angeboten werden? Wie geht man Ausrottung der Juden zum Ziel gesetzt hat? als jüdische Wohnungen und Geschäft e mit den Wegen jüdischer Flüchtlinge von Einschreibungen aus den Galaxien des mit Hans Pfi tzner um, mit Leni Riefenstahl, Ähnliche Wandlungen können wir ja heute „arisiert“ wurden, ihre Mieter beraubt und 1938 in umgekehrter Richtung. Der Regis- Feminismus. mit Arno Breker? in Ungarn und anderswo beobachten. Einen verjagt wurden, vergessen? Den Juden seur und sein siebenköpfi ges Kern-Ensem- „Hüten Sie sich, wenn Sie Phogerln Gleich zwei neue Publikationen beschäf- aufschlussreichen Hinweis gibt eine Selbst- Asarjah lässt von Scholz sagen: „O hütet ble reduzieren Pathos und den klassizisti- noch so phressen sehn, in diesen tigen sich mit dem Schrift steller Wilhelm aussage Wilhelm von Scholz’ von 1939: „Ich euch! Glaub’ mir, sie schlafen nur / und ir- schen Ton des Textes zugunsten einer plau- phalen Spähren, wo Sie plötzlich als von Scholz, auf den diese Fragen ebenfalls wähnte mich im äußeren Geltungskampf gend einmal bricht es wieder los.“ Hat er siblen Alltäglichkeit. An manchen Stellen Späherin gelandet sind“, rezitiert Heidi zutreff en: Wettlauf mit dem Schatten. Der den auf der Bühne und in der Presse stets diese Warnung verdrängt, als in der Reichs- vervielfacht die Regie einzelne Stimmen von Plato Jelineks ironische Anbetung Fall (des) Wilhelm von Scholz, herausgege- vorgezogenen jüdischen Schrift stellern mit pogromnacht die Synagogen brannten? und deutet so an, dass es nicht um indivi- an den Phallus (H). Die „schreibende ben von Manfred Bosch und Siegmund Ko- meiner langsameren, tiefgründigeren, Nasson ist zum Christentum übergetre- duelle, sondern um kollektive Haltungen Automatin“ Ginka Steinwachs lässt pitzki, und Der Konstanzer Dichter Wilhelm schwereren Art nicht gewachsen und hatte ten, um das Heimatrecht zu erhalten. Er geht. Als anonymes Kollektiv machen sich „lesben fl iegen“, „madonnen und strich- von Scholz von Hendrik Riemer. Und die wie das hässliche graue Entlein das unbe- soll den todkranken, greisen Bischof retten, auch unverhohlen antisemitische Zwi- jungen aus der zeit der schwarzen Antworten der diversen Autoren fallen stimmte Gefühl, diese sogenannte ‚moder- der die Juden vor der Verfolgungslust der schenrufer aus dem Zuschauerraum be- romantik“, oder, in einem seltenen An- denn auch unterschiedlich aus; vom Ver- ne‘ Manier, mit der man dort den Erfolg Christen schützt. Nach einem judenfeindli- merkbar – eine nicht mehr ganz neue Idee, fall von Handlungsmut, einen riesigen such, die Vorwürfe zu relativieren, über machte, nicht zu können.“ Man musste und chen Stück einer fahrenden Schauspieler- die hier aber eine Funktion erfüllt. roten Plastemund durchs Publikum eine rigid ablehnende Haltung bis hin zum muss bis heute nicht von Haus aus ein über- truppe kommt es fast zum Pogrom. Als ein Thomas Rothschild wandern: „gaumentheater des mundes“. Argument, dass Geschichte nur nutzbar ge- zeugter Antisemit sein, um antisemitische junger jüdischer Eiferer, der dafür plädiert, Dazwischen freches Gezwitscher der macht werden könne, wenn man sie, auch oder allgemein fremdenfeindliche Maßnah- dass sich die Juden bewaff nen und gegen Der Jude von Konstanz Theater Konstanz Jüngeren, die vom surrealistischen in ihren negativen Ausprägungen, am Le- men zu begrüßen und zu unterstützen: Sie ihre Peiniger wehren, einen christlichen Termine unter theaterkonstanz.de Feuerwerk und der „grandiosen Häme“ ben erhält. schaff en lästige Konkurrenz aus dem Wege. Rivalen tötet, bricht der Pogrom tatsächlich ebenso geplättet sind wie die Älteren von den neuen Labels: Was, bitte, sind eigentlich Cis-Männer? Namen wie ein Programm: Neben der unvergleichlichen Steinwachs into- Musik „13“ von Black Sabbath nieren Heidi von Plato, Marina Auder und Mona Winter. Als Botinnen ritten aber auch Eva Meyer, Heidi Pataki oder Gisela von Wysocki, nicht zu vergessen Gott, der Tod und andere Fragen Gerburg Treusch-Dieter, ehemalige Herausgeberin des Freitag. Um An- schlussfähigkeit hat sich diese weibliche interher ist man immer schlauer. duzieren. Die Folge ist eine Flut von Alben, geblieben. Das Wabern von Iommis Riff s Avantgarde wahrlich nicht bemüht. 1970 urteilte Rainer Blome, Grün- die Black-Sabbath-Riff s variieren. unterlegt Osbournes charakteristisches Umso bemerkenswerter, dass der Chor Hder der Musikzeitschrift Sounds, Wenn nun aber Black-Sabbath-Riff s wie- Quengeln, das, anders als bei seinen Soloal- die alten Fragen wieder auf die Bühne über das Debütalbum von Black Sabbath, der von Black Sabbath kommen, sind der ben, kaum technisch aufgepeppt wurde. bringt: die phallischen Raubzüge. dass „in der Richtung, die Black Sabbath Erwartungsdruck und die Angst vor einer Der Neunminüter „God Is Dead?“, gleich- Und die „Wir“-Frage. „Unser Wir ist einschlägt, so gut wie alles schon gesagt Selbstdemontage der Legende groß. Die zeitig auch die Single, sticht heraus. Der in Privilegien verstrickt… unser Wir ist worden“ sei. Rückblickend eine historische Ankündigung des Labels – „35 Jahre hat die Song könnte eine Vertonung der transzen- brüchig“, skandieren die Jungen. Fehleinschätzung, war das selbstbetitelte Welt darauf gewartet“ – tut ihr Übriges. dentalen Obdachlosigkeit unserer Tage Das „Wir“ aber war immer eine Fiktion, Debüt der Briten doch nicht der Endpunkt Nach dem Tod von Ronnie James Dio, 1979 sein und begibt sich auf die Sinnsuche zwi- das wussten schon die Botinnen. einer musikalischen Entwicklung, sondern der Nachfolger und von 2006 bis 2010 der schen einem apodiktischen „Gott ist tot“ Während sie fulminant auf ihren Besen der Gründungsakt eines ganzen . Vorgänger von Ozzy Osbourne, haben sich und dessen Infragestellung. Dabei wogt die entschwanden, gingen andere in den Keine Geschichte des Heavy Metal kommt drei Viertel der legendären Ur-Besetzung Musik zwischen schwerfälligem Tasten und ausdauernden Trab: Nach dem Hexen- ohne Verweis auf das revolutionäre Poten- MUSIC UNIVERSAL FOTO: (Osbourne, Iommi und Bassist Geezer But- gebremstem Nachvornestampfen. „Zeit- fl ug die Feministischen Studien zum zial von Tonny Iommis tiefer gestimmter Ozzy Osbourne (Mitte) und Kollegen ler) zusammengerauft und mit Produzent geist“, der Ruhepol des Albums, bewegt sich Beispiel. Akademisch gestählt, feiert die Gitarre und den legendären Teufelsakkord Rick Rubin ihr neues Album 13 eingespielt. nah am Eigenplagiat. „Planet Caravan“ vom Zeitschrift dieser Tage ihr 20-jähriges in der Bandhymne „Black Sabbath“ aus. Business-Zweig. Ohne Innovationsan- Rubin ist ein Fachmann, wenn es darum Paranoid-Album stand hier eindeutig Pate. Bestehen. Ulrike Baureithel Auch über 40 Jahre später ist, frei nach spruch versuchen Bands wie Orchid, Witch- geht, Stars aus der Musikwelt des 20. Jahr- Selbst die Bongo-Trommeln hat man über- Hesse, dieser Zauber, der dem Anfang inne- kraft oder die Berliner Kadaver möglichst hunderts für die Gegenwart fi t zu machen. nommen. Aber wenn es schon en vogue ist, KLEINANZEIGE wohnte, nicht verfl ogen und wird nach wie nah an den Sound der Altvorderen heran- 13 verbindet vieles, was die alten Platten zu Black Sabbath nachzuspielen – warum soll- vor zelebriert, denn im traditionell struk- zukommen. Dieser Authentizitätswahn Klassikern machte, ohne auf einen Retro- ten sie selbst es dann nicht auch machen? Kur in Kolberg in Polen. 14 Tage ab 429 Euro! turkonservativen Metal mit seinem ausge- führt zu skurillen Auswüchsen, etwa wenn kult zu verfallen. Obgleich das Düstere, Be- Sebastian Triesch Hausabholung inkl.! Hotelprospekte prägten Geschichtsbewusstsein werden die Spätgeborenen Aufnahmetechnik ver- drohliche und irgendwie Okkulte damals und DVD-Film gratis! Tel. 0048943555126 www.kurhotelawangardia.de Pioniertaten gewürdigt. Das Black-Sabbath- wenden, die älter ist als sie selbst, um den noch mehr zur Geltung kam, sind die un- 13 Black Sabbath Universal Music Epigonentum ist mittlerweile ein eigener Klang der Siebziger bestmöglich zu repro- verkennbaren Black-Sabbath-Trademarks der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Kultur 15

„Wir mussten die Bilder löschen“ Im Gespräch Ein Zeitungsredakteur, der anonym bleiben muss, erklärt, warum die türkischen Medien über die jüngsten Proteste kaum berichten

nser Gesprächspartner mischer Militaristen zu Beginn ist Redakteur bei einer des 20. Jahrhunderts. Anhänger Zeitung in Istanbul von Ismet Inönü, einem strikten und Mitglied der Me- Säkularisten, zerstörten sie in den dia Ethics Platform, vierziger Jahren. Erdoǧan will sich einesU Zusammenschlusses türki- nun dafür revanchieren. Erst war scher Journalisten, die Ethikverlet- von einer Mall die Rede, dann zungen in den Medien kritisieren. von einem Hotel, nun von einem Weil er berufliche Konsequenzen Museum – die künftige Nutzung befürchten müsste, will er das Inter- des Gebäudes ist Erdoğan aber view nur anonym geben. egal. Er glaubt, die Rekonstruktion ist ein Sieg über die Anhänger des Der Freitag: Wie beurteilen Sie die Säkularismus. Berichte der türkischen Me­dien Vor einigen Tagen sind mehrere über die aktuellen Proteste, Zeitungen wie Sabah und Zaman die vom Gezi-Park ausgingen? mit der identischen Schlagzeile Die Medien haben furchtbar auf der ersten Seite erschienen – schlechte Arbeit gemacht. Beson- einem Zitat Erdoğans. ders als die Proteste eskalierten Ja: „Wir würden unsere Leben für und die Gewalt durch die Polizei demokratische Anliegen geben.“ Es ihren Höhepunkt erreichte. Die stammt aus seiner Rede am Flug- TV-Stationen stellten sich blind, hafen, in der er die Demonstranten die Menschen verfolgten die Ent- als Terroristen bezeichnete. Es ist wicklungen deshalb auf Twitter. kein Zufall, dass diese Blätter das Dort kommt es aber häufig zu Fehl- am gleichen Tag gebracht haben. informationen, was die Situation Es ist das erste Mal in der Ge- eher zuspitzt. Es ist ein Dilemma, ges schichte, dass sieben voneinander dass die Massenmedien nicht unabhängige Tageszeitungen umfassend und objektiv berichten. den exakt gleichen Titel hatten. Wie haben die Medien den Ist das ein Zeichen dafür, wie Beginn der Proteste begleitet? im a af p/getty es um die Unabhängigkeit der Anfangs dachten alle, die Demons- türkischen Presse bestellt ist? trationen würden schnell beendet. Ja, und zwar ein sehr deutliches. Mein Arbeitgeber veröffentlichte Seit sich der Protest gegen auch Fotos und Videos auf unserer Erdo­ğans Politik richtet und im-

Website. Als der Protest von Tag kilic/ bulent Foto: mer mehr Menschen einbindet, zu Tag größer wurde, erhielten wir Zu Beginn der Woche ging die türkische Regierung mit Tränengas und Panzern gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz vor sprechen Beobachter schon von eine Mail vom Chefredakteur, dass einem „Türkischen Frühling“. wir das Material löschen sollen. Es die der Regierung nahestehen, Stunden über Gezi zu berichten. im Gezi-Park beteiligt und ihre sollen. Deren Geschäftsführer ist So weit würde ich nicht gehen. gab keine Debatte darüber. Natür- schrieben, dass die Demonstranten Die Zuschauerzahlen stiegen, denn Eindrücke auf Twitter verbreitet. der Schwiegersohn des Premier­ Sollte Erdoğan seinen Konfronta­ lich fühlen sich viele Redakteure die Reaktion der Polizei provoziert anders als andere Sender über-­ Mir ist nicht bekannt, dass deshalb ministers. Der Gruppe gehört tionskurs herunterfahren und nicht wohl damit, aber ihre Haltung hätten. Die meisten Massenmedien trugen sie live, also ungeschnitten. jemand seinen Job verloren hätte. auch die Zeitung Sabah. Calik hat auch auf die Demonstranten ist: Wir können nichts machen. halten sich zurück. Als Todes­ Sie sind Mitglied der Media Ethics Der Gezi-Park soll einem Bau­ bestritten, daran beteiligt zu sein. zugehen, den Dialog suchen, dann Was geschähe, wenn ein Redak- ursache schreiben sie etwa „Schlag Platform, einem Zusammen- vorhaben weichen. In seiner Nähe Es würde mich aber nicht wundern, würden sie das begrüßen. Präsident teur widersprechen würde? gegen den Kopf“, nicht: „Schlag schluss von Journalisten, die Ma- wird das Viertel Tarlabasi dem wenn Leute involviert sind, die Abdullah Gül sagte, der Protest Er würde wohl sehr scharf ermahnt durch einen Polizisten“. nipulationen in den Medien kriti- Erdboden gleich gemacht, Men- der Regierung nahestehen. sei eher mit Occupy Wall Street zu werden, danach würde man Die Demonstranten kritisieren sieren. Ist die Mitgliedschaft ein schen sind vertrieben worden, Erdoğan ist selbst nahe des vergleichen. Ich bin aber sicher, ihm mit der Kündigung drohen. auch Erdoğans Einflussnahme auf Problem bei Ihrem Arbeitgeber? Luxuswohnungen sollen entste- Gezi-Parks aufgewachsen. Warum dass sich die Türkei dadurch ver- Und wenn ein Chefredakteur kri- die Medien. Gibt es Reaktionen Nein, dafür sind wir zu klein, die hen. Viele Medien gehören Kon- unterstützt er das Bauprojekt so ändert. Erdo­ğans Hegemonie hat tische Berichterstattung zuließe? auf diese Vorwürfe? Plattform ist noch jung. Unser glomeraten, die auch Baufirmen unnachgiebig? irreparablen Schaden erlitten. Er würde sicher auf der Stelle ge- Davon ist mir nichts bekannt. Die Newsletter erreicht über 100 Jour- haben. Sind diese Firmen in die Ich glaube, seine Motivation ist Er sollte künftig kooperativer sein. feuert werden. Es haben schon lan- Fernsehsender NTV und CNN Turk, nalisten, aber unser harter Kern Pläne am Gezi-Park involviert? ideologisch begründet. Die Militär- ge vor den Gezi-Protesten bekannte die sehr stark in der Kritik standen, umfasst nur zehn Leute. Wir haben Gerüchte besagen, dass die osma- baracken haben in der türkischen Das Gespräch führte Kolumnisten ihre Jobs verloren, haben nach und nach angefangen, Pressemitteilungen verschickt, in nischen Militärbaracken von Geschichte eine große Symbolik, Torsten Landsberg weil sie die Regierung kritisierten. Bilder der Proteste zu zeigen. denen wir die Berichterstattung der Calik-Gruppe gebaut werden sie waren das Hauptquartier isla- Der Protest im Gezi-Park richtete Ich weiß aber nicht, ob das eine über Gezi kritisieren. Diese Mittei- sich anfangs gegen ein Bauvor­ Reaktion auf die Vorwürfe ist. lungen verschicken wir aber allge- Anzeige haben, ein geplantes Einkaufs- mein im Namen der Organisation, zentrum nach dem Vorbild histo- nicht personalisiert mit unseren rischer Militärbaracken, denen Namen unterzeichnet. Wir verste- der Park weichen soll. Inzwischen cken uns nicht, aber niemand von hat er eine viel größere Dimensi- „In vielen uns hat bislang Probleme bekom- on und richtet sich direkt gegen men. Solange man klein ist, wird Was ist eine die Politik des konservativen Redaktionen man nicht als Bedrohung gesehen. Regierungschefs Recep Erdoğan. wird nicht Haben Sie sich selbst an den Richtig, was zur Folge hat, dass mal mehr Protesten im Gezi-Park beteiligt? gute Regierung? die Journalisten noch vorsichtiger Ja, natürlich. Ich bin regelmäßig geworden sind. Ein Kollege einer über Freiheit dort. Ich war in den vergangenen regierungsnahen Zeitung schickte Jahren auch oft am 1. Mai am mir eine Mail: „Wir hatten schon diskutiert“ Taksim-Platz und habe sehr unter- vorher Probleme mit freier Be- schiedliche Menschen dort protes- richterstattung, aber jetzt haben tieren gesehen, jedes Jahr wurden wir ein neues Level.“ In vielen Re- es mehr. Aber was sich jetzt im daktionen wird erst gar nicht über Gezi-Park abspielt, ist etwas Be­ die Möglichkeit einer objektiven Die linken Medien in der Türkei sonderes. Nachdem mein Vater das Berichterstattung diskutiert. sind klein und unabhängiger. gesehen hatte, sagte er: „Ich bin Eine kleine Demonstration ist Wie haben diese auf die Demons- stolz auf diese jungen Menschen. leicht zu ignorieren, aber nun trationen reagiert? Sie stehen zusammen – anders gehen Hunderttausende auf die Sie haben die Proteste gut abge­ als wir in den Siebzigern.“ Auch Berggruen und Gardels plädieren Straßen. Viele Menschen wurden bildet. Das linke Blatt Birgün hat damals protestierten Bürger, aber dafür, Ost und West, chinesische verletzt durch das brutale Vor­ eine Beilage zum Gezi-Protest ver- sie zogen nicht an einem Strang. Langfristigkeit und westliche Frei- gehen der Polizei. Einige haben öffentlicht. Aber die Zeitung hat Müssen Journalisten Konsequen- heit neu zusammenzudenken, eine sogar ihr Leben verloren. So etwas nur ein sehr kleines Publikum, die zen fürchten, wenn ihre Teilnah- neue Balance zu fi nden zwischen lässt sich doch nicht übersehen! Auflage liegt bei 5.000 Exemplaren. me an Protesten bekannt wird? dem Lokalen, dem Mitspracherecht Es wird berichtet, aber nicht objek- Halk TV, das der oppositionellen Bislang ist das nicht zu erkennen. tiv oder gar kritisch. Einige Medien, Partei CHP nahesteht, begann, 24 Sehr viele Journalisten haben sich der Bürger und der Expertise der Fachleute. Ein provokanter Vorschlag für eine Die Eigentumsstrukturen türkischer Medien neue politische Weltordnung. Mit 4 Abbildungen | 256 Seiten Die großen Medien in der vertreten und unterhält Die Folge ist Selbstzensur. 90 Journalisten sitzen nach Gebunden mit Schutzumschlag Türkei sind meist im Besitz auch eine der größten Banken Viele Medien berichten Angaben von „Reporter € 19,99 / SFr 28.90 / € [A] 20,60 von Mischkonzernen. Der des Landes, die Garanti. zudem unkritisch über die ohne Grenzen“ (ROG) derzeit ISBN 978-3-451-30753-9 Dogan Holding zum Bei-­ Regierung, weil Aufträge für in türkischer Haft, Hunderte spiel gehören neben der in Kritiker sehen in den teils das Konzernkonglomerat stehen auf schwarzen Listen. Deutschland wohl bekann- widersprüchlichen Konzern- von der Regierung abhän- Meist wird ihnen willkürlich testen türkischen Zeitung interessen eine Ursache für gen. Beobachter sprechen die Unterstützung terroris­ Hürriyet und dem Fernseh- die Beschränkung der freien daher von einem korrupten tischer Organisationen sender NTV auch Bau- und Presse. Tenor: Eine Zeitung, System. Und immer wieder unterstellt. Auf der ROG- Immobilienunternehmen. deren Besitzer ein Kraftwerk erzählen Redakteure auch Rangliste der Pressefreiheit www.herder.de Dogan ist in der Autoindust- baut, berichtet nicht kritisch von direkter Einflussnahme liegt die Türkei auf Platz rie und der Energiewirtschaft über die globale Erwärmung. durch Politiker. Mehr als 154 von 179. TL 16 Literatur der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Trunkene Jagd in den Wäldern voller Pinien und an Küsten der Toskana

nen Geistern fasse (…) / Der nackte Sommer lodert ihm am Himmel.“ Das Szenario vom ruhenden Kampf dient jedoch vor allem der Entfaltung unterschiedlicher Land- schaft simpressionen dieses Subjekts. Diese gewinnen im Hauptteil immer stärker auch sprachliche Autonomie, überschreiten die nur angedeutete historisch-römische Sze- nerie und überschwemmen am Ende gleichsam das Subjekt selbst: ausladende Beschreibungen der toskanischen Küste, der Pinienwälder, des Meeres, der Sterne, unterbrochen von Jagdimpressionen. Zwar legt die monumentalistische Konstruktion des Zyklus nahe, dass es um die Allegorisie- rung einer Art patriotischer Landnahme geht, bei der der Held sich als sinnlich ver- wachsen mit der Kulturlandschaft erfährt. Doch die am Beginn gepriesene „Trunken- heit“, die es dem Subjekt ermöglicht, „lo- ckerzulassen“, und das Moment der Selbst- entgrenzung in der lyrischen Rede expo- niert, gewinnt diesem ideologischen FOTO: MP/LEEMAGE/DPA, ABB. UNTEN: AUS DEM BESPROCHENEN BAND BESPROCHENEN DEM AUS UNTEN: ABB. MP/LEEMAGE/DPA, FOTO: Aspekt gegenüber an Eigengewicht. Nicht Der Autor 1885 im Salon seiner Villa Mammarella, den ersten Ruhm genießend nur Wind und Wasser werden zu Meta- phern dieser Selbstentgrenzung, sondern auch die Spurensuche des Jägers, die ei- gentlich im Dienst der Naturbeherrschung steht, das Subjekt hier aber vom eigenen Zweck fort auf Abwege führt: „Ich sah ein Weiß; es war der Dämmrung Flor, / so dass ich aufsah und die Spur verlor.“ Reim den Mussolini So vollziehen die immer wieder in freie Rhythmen übergehenden und doch die metrische Bindung nie ganz hinter sich Große Lyrik Gabriele neigende Else Lasker-Schüler, betrachteten Oswald Spengler und Ludwig Klages erin- Erde und der Helden übrig blieben. Der drit- lassenden Verse, deren an Rainer Maria ihn zeitweise gar als rettende Alternative nert. Doch von Beginn an stellte die Bedeu- te Band Alcyone ist der „Erde“ gewidmet, Rilke erinnernden, fließenden und D’Annunzios monumentaler zum nationalsozialistischen Volksstaat. Was tung, die D’Annunzio der ästhetischen womit nichts anderes als die italienische geschmeidigen Ton die Übersetzung her- Zyklus „Alcyone“ wurde heute naiv anmutet, hatte reale Gründe. Form einräumte, die Ideologie seiner Wer- Kulturlandschaft gemeint ist. vorragend trifft , eine Bewegung der glück- jetzt zum ersten Mal komplett In Italien gab es unter Benito Mussolini, ke auch infrage. So sind seine um 1900 er- lichen Abschweifung, die den Monumen- anders als in NS-Deutschland, keinen von schienenen Romane L’innocente (Der Un- Beschädigte Ideologie talismus und Heroismus der Gesamtkon- ins Deutsche übertragen der Mehrheit der Bevölkerung gestützten, schuldige), Il piacere (Die Lust) und Il fuoco struktion unterläuft . Auch traditionell zur systematisch durchgesetzten Antisemitis- (Das Feuer), die obsessiv um den Zusam- Strukturiert ist der Zyklus durch vier „Di- Ästhetik des Hässlichen gehörenden Na- mus, weshalb das faschistische Italien zu menhang zwischen Dandytum und Frau- thyramben“, denen jeweils ein Einzelge- turphänomenen wie Sumpf und Morast ■ Magnus Klaue einem wichtigen Exilland deutscher Juden enverachtung kreisen, nicht nur Darstel- dicht als Motto vorausgeht. Am Anfang wird als Bildern dieser Selbstentgrenzung wurde. Und obwohl der Technikfetischis- lungen, sondern auch Analysen jenes und am Ende stehen je ein eigenständiges abgründige Schönheit zugesprochen. nders als der Nationalsozialis- mus der Futuristen mit dem nationalsozi- männlichen Sozialcharakters, der im mili- Langgedicht, „Die Waff enruhe“ und „Der Während Selbstentgrenzung und Todes- mus hatte der italienische Fa- alistischen Verständnis von Moderne ver- tärischen Elitedenken des italienischen Fa- Abschied“. So entsteht eine bewusst ana- kult in D’Annunzios Spätwerk in einem schismus ein ausgeprägtes einbar war, hofi erte Mussolini auch Künst- schismus zu sich selbst kommen sollte. Im chronistische Großform, die im Symbolis- faschistoiden Heroismus verschmelzen, Faible für die ästhetische Mo- ler, die in NS-Deutschland als „entartet“ Omnipotenzwahn der Protagonisten wird mus, in dessen Umfeld D’Annunzio sich bringen sie hier das Subjekt von seinem derne. Der Futurismus, zu gegolten hätten. der Allmachtsanspruch des Ästhetizismus bewegte und der von streng durchgeform- geraden Wege ab und fi gurieren als Ver- Adessen Experimenten es im künstlerisch refl ektiert, die sinnliche Welt dem eigenen ten, aber eher knappen Werken dominiert sprechen von Glück und Seligkeit jenseits epigonalen Technikkult eines Ernst Jünger Heidnische Lobgesänge Formgesetz zu unterwerfen. wurde, anmaßend anmuten musste. der gewalttätigen Wirklichkeit. Die anma- keine Entsprechung gibt, wäre ohne den Das Scheitern an diesem Anspruch, von Obwohl die Gliederung in kapitelähnli- ßende Großform, die in den späten Wer- Mussolini-Faschismus kaum denkbar ge- Einer der populärsten Dichterfreunde Mus- dem die Romane nur erzählen, wird in che Abschnitte der Sammlung den An- ken nur mehr Ideologie ist, wird so in Al- wesen, doch seine ästhetische Formsprache solinis war Gabriele D’Annunzio, dessen D’Annunzios 1903 erschienenem Gedicht- schein eines Versepos gibt, ist das erzähle- cyone bis in die Grundfesten beschädigt. weist über die Ideologie hinaus, der sie ent- Prosa und Lyrik zum Typischsten der Lite- zyklus Alcyone in der Form ausgetragen. rische Moment stark zurückgenommen. In diesem Scheitern liegt sein Gelingen. sprang. Nicht nur ein Antisemit wie Ezra ratur des Fin de Siècle gehört. Nicht erst in Wohl weil es gigantomanisch erscheint, ist Das Einleitungsgedicht spricht antikisie- Pound, auch jüdische Emigranten aus dem seinem von patriotischer Propaganda das Werk erst jetzt in Gänze ins Deutsche rend und eher allegorisch als historisch Alcyone Gabriele D’Annunzio Ernst-Jürgen Umfeld der Konservativen Revolution wie strotzenden Spätwerk der dreißiger Jahre übersetzt worden. Der Zyklus ist der dritte von einem seine temporäre Ruhe genie- Dreyer, Geraldine Gabor, Hans Krieger (Übers.), Rudolf Borchardt glaubten dem italieni- ist die Affi nität zum Faschismus evident. Teil einer ursprünglich auf sieben Bände ßenden Kämpfer, der die Personifi kation Elfenbein-Verlag 2013, 494 S., 48 € schen Faschismus etwas abgewinnen zu Schon seine 1882 erschienenen Jugendge- angelegten Sammlung heidnischer Lobge- des Dichters ist: „Herr, gönne ihm, dass er können. Einige, neben Borchardt beispiels- dichte Canto novo pfl egen einen Lebens- sänge, von denen schließlich nur die vier nun locker lasse / die Sehne; dass des Win- Magnus Klaue ist Literaturwissenschaft ler weise die sonst eher dem Anarchismus zu- kult, der an präfaschistische Vertreter wie Lobgesänge des Himmels, des Meeres, der des wilde Weise / gierig nach seinen trunk-

Es war einmal in Akron, Ohio Graphic Novel Der Zeichner Derf Backderf erzählt in „Mein Freund Dahmer“ von seiner Schulzeit mit dem späteren Serienmörder

Vorwort, er wolle Dahmer nicht entschul- einer unglücklichen Haus für sich allein Dahmer ist weder Monster noch Opfer sei- ■ Steff en Vogel digen. Statt seinem mörderischen Trieb Ehe gefangen, die hat, begeht er seinen ner Umstände, sondern eher ein Normalo immer mehr nachzugeben, hätte er sich psychische Gesund- ersten Mord. mit monströsen Zügen. er Titel klingt wie eine Provokation. der Polizei stellen oder selbst richten kön- heit der Mutter ist Backderfs Graphic Es gibt jedoch eine generelle Problema- Mein Freund Dahmer nennt der nen. Zugleich ist Backderf überzeugt, dass angeschlagen, rich- Novel ist einerseits tik, die jeder Beschäft igung mit Serientä- DZeichner Derf Backderf seine Gra- die Mordserie zu verhindern gewesen tige Freunde hat er streng subjektiv. Sie tern anhaft et, der auch Backderf nicht ent- phic Novel und meint damit den gleichna- wäre. Weniger gleichgültige oder unauf- nicht. beruht auf Erinne- kommt. Da die Verbrechen so außerge- migen Serienkiller. Jeff rey Dahmer ermor- merksame Erwachsene hätten bemerken Dahmer ist sehr rungen und Gesprä- wöhnlich sind, rücken die Mörder in den dete in den USA zwischen 1978 und 1991 17 können, dass mit dem jungen Dahmer et- wohl bewusst, dass in chen mit Freunden und Mittelpunkt, und für ihre Opfer fallen al- Männer, befriedigte sich an ihren Leichen was nicht stimmte. ihm etwas lauert, das nicht klammert alles aus, was sich lenfalls die Brosamen der Aufmerksamkeit und verspeiste sie zum Teil. Aber um diese In Akron, Ohio setzt in den späten Siebzi- befreit werden darf. Er ver- nach den Highschool-Jahren ab. Immerhin hebt Backderfs Arbeit sich schockierenden Details geht es Backderf gern der industrielle Niedergang ein. Wäh- sucht, sich durch starkes Trin- abgespielt hat. Zugleich hat er von anderen Darstellungen ab, weil sie das am wenigsten. Er zeigt keinen dieser Morde rend die Stadt stirbt, bekommt in den Vor- ken zu betäuben. Sein syste- sehr sorgfältig recherchiert. Im Grauen eher andeutet. Dazu passt eine Op- im Bild. Die Erzählung endet kurz nach orten die kleinfamiliäre Idylle Risse. Die matischer Schnapskonsum zwi- Anhang nennt er zu jeder Seite tik, die sich am Underground der siebziger Dahmers erstem Verbrechen und fokus- Highschool ist durch den Babyboom über- schen den Unterrichtsstunden Quellen, darunter freigegebene Jahre orientiert, ein grafi scher Stil also, der siert auf dessen Jugendjahre. laufen, wer nicht auff ällt, wird irgendwie wird von den Lehrern nicht be- FBI-Akten, Zeitungsartikel und mit leichtem, eher karikaturhaft em Strich Backderf will die Taten nicht vollständig mitgeschleppt. Jeff rey Dahmer gehört zu merkt oder ignoriert. Kumpels wie Fernsehinterviews mit Dah- von Abgründigem erzählt. Auch deswegen biografi sch erklären oder gar rationalisie- den Stillen, die immer mehr vereinsamen. Backderf begreifen die Dimension mer und dessen Eltern. Der ist Backderfs in Schwarz-Weiß gehaltene ren. Er geht einfach dem, was er selbst er- Eindrücklich schildert Backderf, wie der erst später. Schließlich ist Dahmer scheinbar provokante Titel Graphic Novel eine so fordernde wie ein- lebt hat, nach. Denn der spätere Zeichner Pubertierende feststellt, dass sein sexuelles nicht der Einzige, der auf dem erweist sich nach der Lektüre drucksvolle Lektüre. war in der Highschool tatsächlich so etwas Begehren nicht der Norm entspricht. Allein Schulgelände trinkt oder kifft. als mutig: Backderf bezeich- wie ein Freund Dahmers, soweit dieser seine Homosexualität hätte ihn endgültig Außerhalb der Schule experi- net sich als Freund eines Mein Freund Dahmer Derf Backderf Stefan welche hatte. Mit dem Abstand einiger zum Außenseiter gestempelt. Aber dass die mentiert Dahmer mit Tierkada- Menschen, der landläufi g als Pannor (Übers.), Metrolit 2013, 232 S., 22,99 € Jahrzehnte und dem Wissen um die Ver- Männer in seinen Fantasien tot sind, lässt vern, die er im Wald aufliest, das „Monster von Milwau- brechen des ehemaligen Mitschülers nä- ihn verzweifeln. Über solche off ensichtlich häutet und zerlegt. Am Ende sei- kee“ gilt. Dieses Bild zu un- Steff en Vogel schrieb zuletzt über die Comic- hert sich Backderf im Comic diesen prä- kranken Vorstellungen wagt er nicht zu ner Highschool-Zeit, als er durch terlaufen, ist sein erklärtes Reportage Reisen mit den Roma genden Jahren an. Der Zeichner betont im sprechen. Mit wem auch? Die Eltern sind in die Trennung der Eltern das Ziel, und es gelingt: Sein der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Literatur 17

Traum, Binnenschiffer zu sein Im Fluss Nach Oder und Memel hat Uwe Rada nun der Elbe ein Buch gewidmet. Liest man es dieser Tage, sickert die Flut unweigerlich in die Lektüre ein

um Natur- und Kulturlandschaften, Gren- ■■ Annett Gröschner zen und Allianzen, Sachsen und Preußen, das Heilige Römische Reich deutscher Na- ls ich das Buch Die Elbe von tion, die zwei Geisteshaltungen der Elbe, Uwe Rada zu lesen begann, um katholischen Barock und protestanti- führte der Fluss noch Niedrig- schen Backstein, um die Geschichte There- wasser. Ich fuhr damals auf sienstadts und das Magdeburger Recht, die der ICE-Strecke Berlin–Han- Hanse und die jesuitische Rekatholisie- Anover kurz hinter Tangermünde über die rung, Dresden, Ústí nad Labem und Ham- Elbbrücke und notierte: „Dieser Moment burg, das Elbsandsteingebirge und das besitzt eine Magie für mich, besonders in Wendland, die Teilung Deutschlands, die den Wochen nach dem Ende eines langen Elbauenlandschaft an der mittleren Elbe Winters, wenn der Fluss über die Ufer tritt. und die Flussarme Hamburgs. Ein fließen- Jetzt zieht sich das Frühjahrshochwasser der Raum, ein Raum im Fluss und auch im langsam zurück. Es hat in diesem Jahr kei- Überfluss, siehe Hochwasser. nen Schaden angerichtet.“ Jetzt aber, da ich meine Rezension an die Redaktion schicke, ist die Elbe gerade dabei, an den Ufern je- ner Stadt, in der ich aufgewachsen bin, sämtliche Pegelstandrekorde zu brechen, und zum ersten Mal droht der Ort meiner Zum ersten Kindheit in den Fluten unterzugehen. Über Mal droht Facebook verfolge ich die Katastrophen- meldungen. Die Namen der Straßen, die der Ort meiner vom Wasser überflutet werden, sind die Kindheit meiner Kindheit. Von allen Flüssen ist mir die Elbe der unterzugehen liebste, da bin ich Lokalpatriotin, obwohl ich seit dreißig Jahren in Berlin lebe. Seit ich schreiben kann, beschäftigt mich die Frage, warum der Fluss männlich, die Elbe aber, anders als der Rhein, weiblich ist. Zu- Die Stadt Magdeburg mit ihrer Elbinsel gegeben, die Wolga ist beeindruckender, mitten in der Stadt spielt im Lauf des Flus- der Nil aufregender und der Rio de la Plata ses, zwischen den kulturhistorischen Gi- geheimnisvoller, aber ich habe meine Kind- ganten Dresden und Hamburg gelegen, heit auf einer Elbinsel, dem Werder, ver- keine besondere Rolle, auch in Uwe Radas bracht, da wechselt man die Zuneigung zu Buch kommt die Stadt fast nur in der Ge- Gewässern nicht so einfach. schichte vor, als Metropole des Heiligen Uwe Rada hat nun dieses Buch geschrie- Römischen Reiches unter Otto dem Gro- ben, das den schlichten Titel Die Elbe trägt, ßen und als Ort der zweimaligen Zerstö- und er erzählt ihre Geschichte auf eine flie- rung, 1631 und 1945. Dabei hätte sich Mag- ßende, von vielem Wissen getragene Art, deburg auch im Kapitel „Die Elbe als litera- die man mit der Bewegung der Elbe bei rischer Erinnerungsort“ angeboten. Normalpegel vergleichen könnte. In Dresden-Loschwitz hat Friedrich Schiller, mit Blick auf den Strom, die Ode Böhmen liegt am Meer an die Freude geschrieben, heute die Hym- ne Europas. Aber auch der Magdeburger Uwe Rada kann man mit Fug und Recht als Werder ist ein literarischer Ort: Vor 250 den deutschen Flussautor bezeichnen. An- koch/imago birgit foto: Jahren ist Klopstock durch die Gärten mei- gefangen hat er 2005 mit einem Buch über Was macht dieser Fluss nur mit den Menschen, die an ihm leben? Jeder Anrainer hat seine eigene Elbe ner Kindheitsinsel gewandelt, Teile des die Oder, 2010 machte er mit der Memel Messias sollen dort entstanden sein. Eine weiter, außerdem koordiniert er für die Buch. Es ist eine persönliche, die eines böh- nur im Winter bei Eisgang im Winterhafen eigene Elbe, für die Tschechen ist sie ein der ersten bedeutenden Dichterinnen, Bundeszentrale für politische Bildung das mischen Familienzweiges der Radas, die als ankerten. Inzwischen hat die Binnen- deutscher Fluss, im Gegensatz zur Moldau, Anna Louise Karsch, die preußische Sap- Onlinedossier Geschichte im Fluss. Da lag Binnenschiffer Ende der vierziger Jahre schifffahrt auf der Elbe ihre Bedeutung in Hamburg gehört sie zum Meer, in Dres- pho, war hier zu Gast. die Elbe nahe. Näher als der Rhein jeden- blinde Passagiere im Hohlraum ihres Schif- verloren. den scheint sie nur Dresden zu gehören. „Glückliche Insel“ hat Klopstock den falls. Konrad Adenauer zog die Vorhänge fes durch die sowjetische Zone nach Ham- Ähnlich geht er auch in seinem Buch vor. Werder genannt. Im Fernsehen hat der zu, wenn er mit dem Zug die Elbe, von burg schleusten, wo es bis heute einen Strudel der Geschichte Er folgt ihr nicht wie ein Binnenschiffer, Oberbürgermeister der Stadt gesagt, dass Bonn kommend, überquerte, um in West- Moldauhafen gibt, der tschechisches Terri- der seine Fracht aus Böhmen die Elbe fluss- beten soll, wer beten kann, auf dass sie berlin nach dem Rechten zu sehen. Auf der torium ist. Böhmen, so Uwe Rada, liegt also Radas Anliegen ist es, die Flüsse als Subjekt abwärts bis zum Hamburger Hafen bringt, nicht endet wie Vineta oder Atlantis. Ostseite begann für ihn die asiatische Step- doch am Meer. Ahoi! von Geschichte zu beschreiben. Dabei ist es sondern er arbeitet thematisch, springt pe. Damals war es noch die Strecke über 1094 Kilometer lang ist die Elbe, die in oft weniger der Fluss als realer Ort, der ihn zwischen Ober-, Mittel- und Unterelbe hin Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss Magdeburg, mehrmals am Tag überquer- Tschechien ihren Ursprung hat, 94 Kilo- interessiert, denn als Idee, mäandernd und her, wechselt Wasserstände und Tauch- Uwe Rada Siedler 2013, 320 S., 19,99 € ten die Interzonenzüge dort den Fluss, und meter bildeten bis 1989 die deutsch-deut- durch die Zeit und bisweilen in einem tiefen. Er erzählt vielerlei Geschichten über nicht selten hat jemand versucht, als blin- sche Grenze, vier Kilometer haben meine künstlichen Bett gefangen. Für Uwe Rada den Fluss, die manchmal dicht wie Strudel Die Schriftstellerin Annett Gröschner ist der Passagier mitzufahren, manchmal auch Kindheit geprägt. Ich beneidete die Bin- ist „die Elbe ein Puzzle, das sich bis heute sind, aus denen schwer wieder herauszu- gebürtige Magdeburgerin und wohnte dort in einem der Binnenschiffe. Mit einer Bin- nenschifferkinder, die bis zur Einschulung nicht zu einem großen Ganzen zusammen- finden ist. Die Anzahl der Quellen ist beein- auf der Elbinsel Werder nenschiffergeschichte beginnt auch Radas mit ihren Eltern auf dem Kahn lebten und fügen möchte“. Jeder Anrainer hat seine druckend, Rada benutzt sie virtuos. Es geht

Wort und Autorität in Tateinheit Nachruf Philologe, Rhetoriker, burtsstadt und in Freiburg: bei dem Gräzis- Überzeugung, dass gelingende Politik un- hen, darunter zwei Mal als Präsident des Masse der SED-Mitglieder zu ähnlicher Hal- ten Bruni Snell, bei dem Latinisten Karl trennbar mit der Macht des Wortes ver- PEN-Zentrums West und schließlich als tung hätte durchringen können. Schriftsteller, Sozialist und Büchner, bei dem Philosophen Martin Hei- bunden ist. Wenn, wie er bei den Griechen Präsident der Akademie der Künste in Ber- Jens selber hatte ja gegen Missverständ- Christ. Der „Homme de degger – all das in den Kriegsjahren. aus Athens Blütezeit hatte lernen können, lin von 1989 bis 1997. Hier deuten noch nisse aus lang zurückliegender Zeit anzu- Die Universität Tübingen, der er dann Politik im Ausgleich der Interessen gleich- mehr als bei anderem die Jahreszahlen auf kämpfen gehabt. Als Schüler hatte er der lettres“ Walter Jens ist nach zeit seines Lebens treu blieb, sah ihn als berechtigter Bürger besteht, dann ist es die das Besondere seiner Leistung. Bei den Leu- Hitlerjugend angehört. Dass er seit 1942 als langer Krankheit gestorben jungen Gelehrten und ambitionierten Macht der Rede, die solchen Ausgleich her- ten, mit denen Walter Jens es da zu tun hat- NSDAP-Mitglied geführt wurde, geschah Schriftsteller. Der RomanNein. Die Welt des beiführt. Darum schätzten die Alten die te, konnte von Wiedervereinigung keine wahrscheinlich ohne seine Kenntnis. Je äl- Angeklagten machte ihn bekannt. Größere Kunst der Rhetorik so hoch. Die Universität Rede sein. Es gab im Westen Stimmen, die ter Jens wurde, umso mehr rückte seine ■■ Jürgen Busche Bekanntheit errang er durch seine weithin Tübingen richtete für Jens einen Lehrstuhl gerade jetzt die Akademie Ost strikt ab- christliche Prägung ins Zentrum seiner In- beachtete Mitgliedschaft in der Gruppe 47. für Rhetorik ein, zum Staunen vieler im lehnten, und es gab im Osten Intellektuelle, teressen. Mit dem Tübinger Kollegen Hans in Intellektueller, der weit mehr eine Mit seinem Buch Statt einer Literaturge- Rest der Republik. die mit etlichen Köpfen aus der Akademie Küng war er eng befreundet. Die fleißige Geschichte als einen Status verkör- schichte wurde er zur geheimen Pflichtlek- Aber da endete das Engagement des poli- Ost nichts mehr zu tun haben wollten. Übersetzungstätigkeit der späten Jahre gilt Epert: Das war Walter Jens, der jetzt, 90 türe für Germanisten. Als „Momos“ veröf- tisch nach links tendierenden Homme de der christlichen Literatur, Paulus und den Jahre alt, nach langer Krankheit in Freiburg fentlichte er seit 1963 Fernsehkritiken in lettres keineswegs. Als in den Proteststür- Christliche Prägung Evangelien. Aber all das blieb verbunden verstorben ist. Über mehr als 50 Jahre hin der Zeit. Das alles absolvierte er ungewöhn- men gegen die Nachrüstung Anfang der mit einem Bekenntnis zu den Zielen der gibt es kein wichtiges Datum in der deut- lich glanzvoll, sodass er bald als Redner be- achtziger Jahre die Friedensbewegung zu Es bedurfte neben dem Wort und der Tat Linken in Deutschland und, gleichsam die schen Geschichte, das nicht mit seinem gehrt wurde. Blockaden von Raketenstandorten aufrief, einer aus der Antike wohlbekannten drit- Klammer für beides bildend, mit einem Namen verbunden wäre. Und zu jeder Zeit beteiligte sich auch Jens im schwäbischen ten Kraft, um hier das Vereinigungswerk wirklich freien, aufklärerischen Geist. Man wurde er damit wahrgenommen, verehrt, Präsident des PEN-Zentrums Mutlangen an derartigen Aktionen. Das ge- zustande zu bringen: der Autorität. Jens, muss Jens und Loriot hören, wie sie den verteufelt, respektiert. fiel nicht jedem, aber hier zeigte sich ein der in der Westberliner Akademie der Briefwechsel zwischen Voltaire und Fried- Der in Hamburg geborene Sohn eines Den Höhepunkt dieser Karriere erreichte er weiteres Wesensmerkmal der Persönlich- Künste einst einen bewegenden Nachruf rich dem Großen lesen: zwei radikale Frei- Bankdirektors – ein Asthmaleiden begleite- vielleicht mit seiner Rede zum 100. Jubilä- keit dieses vielbeschäftigten Mannes. Er auf Martin Heidegger gesprochen hatte, geister, die das Leben kannten, der eine als te seine Jugend und ersparte ihm den um des Deutschen Fußballbundes; Jens verstand sich sehr entschieden als protes- wollte und konnte den Schriftstellern und Kriegsherr, der andere als Geschäftsmann. Kriegsdienst – wurde erzogen in den hei- war Fan seit Kindestagen. Aber es war nicht tantischer Christ und wusste, dass auch die Künstlern aus der untergehenden DDR die Dass ausgerechnet die Demenz-Krank- ligsten Hallen deutscher Gelehrsamkeit: in die Begabung für glanzvolle Sprachakroba- stärksten Worte wenig wert sind ohne die Hand reichen. Und er setzte seine Politik heit diesen Mann schlug und in jahrelan- der Klassischen Philologie, zuerst am Ham- tik allein, die das Glück des Redners Jens begleitende Tat. Und diese darf eben nicht durch. Es wäre der SPD gut bekommen, ges Leiden stieß, ist von besonderer Tragik. burger Johanneum, dann in seiner Ge- machte. Es war die Wirksamkeit seiner nur in viel fordernder Geschäftigkeit beste- wenn sie sich seinerzeit gegenüber der Davon hat ihn der Tod am 8. Juni erlöst. 18 Film der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Nicht im Kino Das Problem ist die Werbung und nicht die Quote

ualität statt Quote. Schon aus Eigeninteresse dürft e Stefan QHermes diese Position ver- treten. Er ist Dokumentarfi lmer und sammelt im Internet Unterschrift en für ein Ende der Einschaltquotenerhebung im öff entlich-rechtlichen Fernsehen. Auf der Seite wegmitderquote.de haben in den ersten Tagen 400 Personen den Appell unterzeichnet. Ginge es nach der Quote, wäre das ein über- schaubarer Erfolg. Aber Hermes will die Unterschrift en auf jeden Fall an den deutschen Bundestag übergeben. Eigentlich wären jedoch ARD und ZDF die richtigen Adressaten. „Sender und Redaktionen sollten sich wieder über Inhalte, nicht über die Marktanteile ihres Programms defi nie- ren können“, schreibt Hermes in seinem Aufruf. Dafür muss freilich die Ein- schaltquote nicht abgeschafft werden, wohl aber die Werbung. Im Moment regiert im Fernsehen eine unheilvolle Allianz von Quote und Werbeein- nahmen. Je mehr Leute zugucken, desto

teurer lassen sich die TV-Spots ver- FILM/CINETEXT UNIVERSUM FOTO: kaufen, desto besser die Kassenlage der Ryan Gosling in „Drive“ (2011). In „The Place beyond the Pines“, der diese Woche startet, fährt er Motorrad und sieht auch gut aus. Ein Hype ist der Film aber nicht Sender. Zugleich scheint ein beliebtes Programm mit hoher Quote die beste Maßnahme zu sein, um die Akzeptanz der Fernsehgebühren und die Zahlungs- moral der Bürger zu befördern. Das ist ein Irrglaube, denn das stän- dige Schielen auf die Quote lässt die öff entlich-rechtlichen Sender zu einem teuren, aber schlechten Abklatsch Der totale Hype des Privatfernsehens werden. In der Wirtschaft ssprache würde man sagen: Der Markenkern geht verloren und Bedeutungswucht Verführerisch und darum suspekt – Überlegungen zum Phänomen der zwingenden Begeisterung damit der Wettbewerbsvorteil. Wer will Gebühren zahlen, wenn die gleichen Verbietet es sich nicht geradezu, gegen des- Haltungen und Positionen, der Hype setzt dann suchen wir nach Keimzellen. Derer ■ Sendungen bei RTL oder Sat.1 zu sehen Frédéric Jaeger sen Werk etwas einzuwenden, weil man sich viral, kraft voll durch. In diesem Sinne kann es viele geben: Filmemacher, Festi- sind, und zwar scheinbar kostenlos? sich damit als Feind der Lust outet? ist der Hype Gift : Gift für die Kritik, Gift für valdirektoren, Verleiher, Kinobetreiber, (Die Zuschauer zahlen letztlich über ehmen wir den Film Drive, In seinem Gestus sollte uns der Hype da- die Ratio, Gift für die Diskussion und über- Presseagenten, Politiker oder Kritiker. Da- teurere Produkte, zu denen sie durch der im Jahr 2011 in Cannes her grundsätzlich suspekt sein, zumindest haupt für jede gesellschaft liche, respektvol- mit ein Hype entsteht, müssen unter- die Werbung verführt werden; aber das Premiere hatte. „Elegisch“, wenn Werte der Aufk lärung wie Vernunft , le Auseinandersetzung mit verschiedenen schiedliche Leute, die je eigene Agenden ist den meisten nicht bewusst.) „hypnotisch“, „obsessiv“, Wissen und Selbstbestimmung eine Rolle Positionen. Denn der Hype ist totalitär. verfolgen, aktiv werden. Man kann also Trotzdem machen ARD und ZDF wei- „cool“, „fiebrig“, „unwider- spielen sollen. Zum Autoritären kommt Neben dem Hype, der über Kritik hinaus- von einer Kollaboration ohne inhaltlichen ter wie bisher – alle Verantwortlichen Nstehlich“ – die Lobeshymnen brausten hier seine affi rmative Natur hinzu, die nicht zu- geht, und neben dem, der sich gegen die Konsens sprechen. Gerade weil niemand halten an dem Zwitter „öff entlich- zu wahren Begeisterungsstürmen auf. Ein fällig der von Werbung entspricht. Kritik wendet, gibt es noch den Hype, der vor den falschen Karren gespannt werden rechtlicher Sender“ fest: Es sollen so- Hype war geboren. In diesem Fall sogar ein von der Kritik ausgeht, in dem sich die Kri- will, ist der Hype davon abhängig, dass der wohl die Zuschauer als auch die Werbe- sympathischer. Denn der Regisseur Nicolas tik selbst feiern kann – den Hype des guten, Sender diff us bleibt. industrie zahlen. Niemand traut sich, Winding Refn hatte da eine betörend lang- respektablen Geschmacks oder präziser: Zum Hype gehört eine zutiefst verunsi- das infrage zu stellen. Schließlich same Hommage an die Action-Filme der des klaren, unverstellten Blicks auf das ein- chernde Form von Unbestimmtheit. Er ist würden Einnahmen wegbrechen – egal, achtziger Jahre geliefert. Der Hype zig Wahre und Schöne. Schwarzes Loch und Sonne zugleich: Er ob man Werbung verbietet oder Wie ein Lauff euer verbreiteten sich sei- In einer postideologischen Zeit scheinen saugt in sich auf und strahlt gleichzeitig die Gebührenfi nanzierung aufgibt. nerzeit im Internet Fotos und Collagen von geht auf die ästhetische Kategorien obsolet zu werden. aus. „Alle“ reden über einen Film. „Jeder“ Die Zwitterhaft igkeit haben auch viele Drive-Hauptdarsteller Ryan Gosling in sei- Nerven – Woran kann man sich also noch halten in empfi ehlt ihn. Wer wird etwas gegen das Linke nicht verstanden, die aus poli- ner silbernen Jacke mit dem Skorpion auf der Kunst, wenn man nach Orientierung Spiel von Heath Ledger sagen? Hinter den tischer Überzeugung keine Gebühren dem Rücken. Eine solche Wahrnehmung – aber vielleicht sucht? Die Antwort ist einfach, auch das Floskeln unfehlbarer Bewertung kann man zahlen. Ihr Argument: Warum sollen stärker über die Materialität als über die brauchen Festival von Cannes hat sie wieder gegeben sich gut verstecken. Die Sehnsucht nach wir für teure Fußballübertragungen Bedeutung – ist für die Kinoerfahrung (Freitag vom 29. Mai): Im Zweifel rettet der Übereinstimmung mit den Meinungen an- und Unterhaltungsshows unser Geld wichtig. In der kritischen Rezeption kommt wir ihn ja „große Autor“ das Kino. derer ist ungebrochen. hergeben? Abgesehen davon, dass diese sie fast immer zu kurz. Drive ist nur ein Bei- Beispiele aus dem Jahr 2012 dafür wären Selbst wenn Hypes medial absichtsvoll Haltung ziemlich elitär ist, verkennt spiel für eine positive Deutung von Hypes Christian Petzold und Michael Haneke. Bei- als Kampagnen lanciert werden sollen, las- sie, dass ohne Gebührengelder das als ein „Jenseits“ der Sprache, als körperli- de genießen seit geraumer Zeit hohes Anse- sen sie sich nie schlüssig als Absprache Fernsehen noch schlimmer würde. che Resonanz, im besten Fall als Euphorie, hen unter Kritikern, und doch hat sich noch zwischen konkurrierenden Publikationen Die Sender orientierten sich ohne von der wir uns gerne anstecken lassen. Aber Hype ist nicht gleich Hype. Da gibt einmal etwas verändert in ihrer Rezeption, erklären – sie müssen instinktiv relevant Gebühren nur noch an den Wünschen Bald ist ein Kult geboren. Off ensichtlich es etwa jenen, der als Teil eines sinnstift en- ganz so, als führe nun nichts mehr an bei- erscheinen. Eher noch handelt es sich um der Werbeindustrie. Das Programm sind Hypes mehr als marktschreierische den Diskurses daherkommt. Die Batman- den vorbei: Mit Barbara (Petzold) und Liebe einen halbbewussten Prozess des Mitläu- dürft e die Konsumlaune nicht drücken, Werbekampagnen, sie treff en auf ein Ge- Trilogie von Christopher Nolan und insbe- (Haneke) hat sich die Anerkennung beider fertums. Das Event „darf“ niemand verpas- kapitalismuskritische Beiträge hätten genüber, das die Botschaft nicht nur sondere deren zweiter Teil, der 2008 erschie- Filmemacher potenziert, sie erreichen Zu- sen, der Redakteur muss den Chefs, dem ohnehin keine Chance. schluckt, sondern weiterträgt. Ein Phäno- nene The Dark Knight, könnten hierfür schauerschichten jenseits von Filmliebha- Leser gegenüber simulieren, das Ereignis Aber ist es nicht unfair, dass alle men, auf das viele, gerade kleinere Filme, symptomatisch sein. Beim Kinostart kamen bern, während abweichende Meinungen in mit geschaff en zu haben. Ist der Hype für Haushalte eine Gebühr zahlen müssen, in Zeiten gesellschaft licher Fragmentie- viele Dinge zusammen, die zur Erklärung der Öff entlichkeit fast verstummt sind. die Meinungsmacher von gestern ein letz- ob sie wollen oder nicht? Die Gleich- rung angewiesen sind. des Hypes taugen: Heath Ledger, der den Jo- tes Aufb äumen gegen den Verlust ihrer frü- macherei ist in einer Hinsicht proble- ker spielte, wurde noch vor der Premiere des Und wer hasst Haneke? heren Macht? Kritiker nehmen das Gift des matisch: Alle zahlen gleich viel, unab- Wer mag Tarantino nicht? Films tot in seiner New Yorker Wohnung ge- Hypes in Kauf, um sich selbst den Anschein hängig vom Einkommen (es gibt ledig- funden. Regisseur Nolan ist ein Autorenfi l- Wo üblicherweise mit dem Publikumser- von Autorität zu verleihen. lich Ausnahmen für Geringverdiener). Hypes sind wirkungsvoll, auf einer aff ekti- mer, der im Blockbusterkino gefeiert wird. folg die Diskussion über derart eigenwillige Die großen Medien, die für sich gesell- Ansonsten ist das Zahlsystem jedoch ven und auf einer ethischen Ebene. Das Spe- Und die Comic-Grundlage des Films und Regisseure erst richtig in Fahrt kommt, ist schaft liche Deutungshoheit beanspruchen, sinnvoll. Erstens ist eine allgemeine zifi sche am Hype ist nicht der Medienrum- das Superheldengenre, das sich als eskapis- die Stimmung hier in einheitliche Ehr- sind bereits aus der Wahrnehmung eines Zahlpfl icht nichts Neues. Steuern mel, die künstlich gesteigerte Aufmerksam- tisches Ventil und als Spiegel von Sehnsüch- furcht gekippt. Wer Hanekes Liebe nicht großen Teils des Publikums verbannt. zahle ich auch für Straßen, die ich nicht keit, die Einigkeit, mit der über die Relevanz ten anbietet, taten das Übrige. Tatsächlich liebt, hat ein Problem. Oder um es mit der Stichwort Filter-Blase. befahre. Zweitens wäre eine individuelle eines Films diskutiert wird. Das Spezifi sche verstärkten Nolans drei Batman-Filme eine französischen Zeitung Libération zu sagen: Vielleicht lassen sich Hypes also positiv Erfassung viel zu aufwendig. Eingeführt ist vielmehr die mit ihm verbundene Hand- Stimmung der von 9/11 geprägten Gesell- „Wer beim Sehen von Liebe keine Träne ver- als Verbindung zwischen den verschiede- wurde die Gebühr, als nur wenige Leute lungsanweisung. Ein Hype ist die Verwand- schaft , sie trafen den Zeitgeist. Sie machen gießt, kann vernünft igerweise als Arsch be- nen Blasen begreifen, als letzte Chance, einen Fernseher hatten. lung eines Kann oder Soll in ein Muss. Selbst sich damit gleichsam unangreifb ar. Auf jede zeichnet werden.“ Hier tritt vehement das Kultur als gesellschaft liches Moment zu Und die Einschaltquote? Die sollte der Versuch, sich dem Hype zu entziehen, Kritik an The Dark Knight und dem 2012 er- Autoritäre des Hypes in Erscheinung. retten. Ermöglichen Hypes um den Preis man weiter erfassen, wenn die Werbung stellt immer schon eine aktive Handlung schienenen The Dark Knight Rises reagierten Ist es ein Zufall, dass sich dieses Urteil suspekter Einigkeit dem Film eine gesell- erfolgreich abgeschafft worden ist. dar. Der Hype scheint also etwas Mächtiges die Fans voller Wut und Aggression. Der US- bei einem Filmemacher wie Haneke for- schaft liche Bedeutung, die er sonst nur als Als Information über Popularität zu sein, zu dem wir uns verhalten müssen. amerikanische Kritikerspiegel RottenToma- muliert, den man getrost autoritär nennen Wirtschaft sgut hat? Es klingt verlockend: ist die Quote ganz interessant; sie Der Hype hat etwas Autoritäres an sich. toes.com sah sich schließlich genötigt, die darf? Gibt es einen richtigen Film im fal- Lasst uns wieder auf den Film zählen, nicht dürft e nur nicht zur alleinigen Entschei- Auch bei einer sinnlichen Interpretation Kommentarfunktion abzuschalten. Dabei schen Hype? Der Hype rührt an ethische nur mit ihm rechnen. dungsgröße über Programme werden. seiner Wirkung darf nicht unterschlagen hatten die meisten der Fans, die sich zum Fragen: Um uns gegen die Einschüchte- Quote ja, Werbung nein. Wenn die werden, dass selbst eine so begründete Kritiker-Bashing versammelten, den Film rung und Verengung von Diskursen durch Frédéric Jaeger ist Chefredakteur des Online- Unterschrift ensammlung eine solche Form von Hype wie bei Drive die Gefahr selber noch gar nicht gesehen. Hypes wehren zu können, müssen wir de- Filmmagazins critic.de und Geschäft sführer des Diskussion beförderte, dann hätte des Antiintellektualismus birgt. Man denke Der Hype als Beitrag zu einem Diskurs ren Entstehung nachvollziehen. Wenn wir Verbands der deutschen Filmkritik sie etwas gebracht. Felix Werdermann an die Rezeption von : muss scheitern. Denn ein Diskurs braucht beim Bild vom Hype als Virus bleiben, der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Film 19

Tschack! Krrks! Wutsch! Fiktion Peter Stricklands originelle Hommage an die italienischen Krimi-Horror-Filme der sechziger und siebziger Jahre: „Berberian Sound Studio“

als ein sehr spezifischer Arbeitsprozess, spürbar. Die Komponisten stammen oft ■■ Gerhard Midding und auf die Gefahr hin, allzu moralisch zu aus der Avantgarde oder dem Freejazz (für klingen: Hat der Kinogänger nicht ein An- den Filmtitel stand zweifellos die Sopranis- er Regisseur hat keinen Zwei- recht darauf, dass ihm ein Filmemacher tin Cathy Berberian Patin, die mit Luciano fel am künstlerischen Rang ein Fenster zur Welt öffnet, anstatt ihn ei- Berio verheiratet war). Strickland ist faszi- seines neuen Films. Einen nen Blick in den eigenen Betrieb werfen niert vom noch analogen Schaffensprozess, Horrorfilm soll man ihn zu lassen? den Schrecken klanglich zu vollenden. schon mal nicht nennen. Schon das präzise Raunen seines letzten DennD Santini, dessen Name wie der eines Sadistischer Furor Films, der Rachefabel Katalin Varga, zeigte Zauberkünstlers klingt, versteht sich als Strickland als einen Regisseur, der das Pub- Autorenfilmer. Es gibt ein Richtmaß für dieses Erzählter- likum anhält, genau zuzuhören, um besser Ob das Werk diesem Anspruch genügt, rain: Gelungen sind Innenansichten meist sehen zu können. Auch in Berberian erzählt kann der Zuschauer von Berberian Sound dann, wenn am Ende die Frage unerheblich er von einer verstörenden Entwurzelung, Studio nicht überprüfen: Er bekommt kei- ist, was aus dem Film im Film wohl werden wechselt aber behände die Register. Briti- pid eye movies ne einzige Einstellung daraus zu sehen. a wird. In Berberian Sound Studio ist der sche Reserviertheit und italienische Jovia- Skepsis darf er hegen, denn der großspuri- schon abgedreht; wie die Vertonung ausge- lität bringt er wie in einer Sittenkomödie ge schert sich wenig um die Nach- Foto: r hen wird, bleibt ein Geheimnis. in Frontstellung. Der verschubste Gilderoy synchronisation seines Werks. Er taucht Muss nur echt klingen: Toningenieur Gilderoy (Toby Jones) bei der Arbeit Peter Stricklands Blick in diese abgelege- erfährt den sozialen Umgang als Minen- nur sporadisch im Tonstudio auf und stellt ne filmhistorische Dunkelkammer ist kein feld, auf dem er nur falsche Schritte tut. dann vorzugsweise den Schauspielerinnen die dem italienischen Publikum in den Schürhaken penetriert wird. Als ihn sein Film nur für Eingeweihte. Es hilft zwar, Sein latentes Schuldgefühl über die eigene nach. Die Arbeit überlässt er dem Produ- sechziger und siebziger Jahren wollüstige Regisseur fragt: „Was siehst du vor dir: eine wenn man Arbeiten von -Meistern Anwesenheit und Unzulänglichkeit steigert zenten und Gilderoy (Toby Jones), dem Schauder bescherten und die Kinokassen Katholikin oder eine Hexe?“, ist das einer wie Mario Bava und Dario Argento kennt. sich ins Wahnhafte. Die trefflich kafkaeske kleinlauten Toningenieur, den er extra aus zuverlässig klingeln ließen. von vielen Momenten, in denen der Purita- Unerlässlich ist es nicht. Der Film gibt sich Satire gleitet allmählich hinüber in eine England nach Rom hat einfliegen lassen. Der Toningenieur muss dafür Sorge tra- ner die Antwort schuldig bleibt. Für ihn weder als Imitation noch als Parodie zu er- Studie von Klaustrophobie und Paranoia: Gilderoy fühlt sich hier als Fisch auf dem gen, dass das Zerhacken von Melonen und wird es zum Martyrium, Komplize des Ex- kennen, ist vielmehr eine akustische Au­ zu einem Schlüsselfilm über die Kraft der Trockenen. Bislang hat er nur an Dokumen- Kohlköpfen so klingt, als würden junge zesses katholischer Lustangst und verächt- topsie des Subgenres. Strickland hat es ge- Manipulation, nicht nur im Kino. tarfilmen über die Landschaften Großbri- Nonnen verstümmelt oder geköpft. Bald licher Misogynie zu sein. nau studiert. Die Konventionen – etwa die tanniens mitgewirkt. Nun muss er die Ton- muss er selbst Hand anlegen, Öl in einer Filme über das Filmemachen gehören in überraschende Wendung im letzten Akt – Berberian Sound Studio Peter Strickland 92 Min. effekte eines blutrünstigen giallo überwa- Pfanne so heiß braten, dass der Kinogänger der Regel zu den entbehrlicheren. Im besitzen für ihn eine gewisse Gültigkeit. chen, eines jener ins Übersinnliche überzeugt davon ist, er würde hören, wie Grunde sind sie eine Ausladung an den Der sadistische Furor und die klangsinnli- Gerhard Midding ist Filmkritiker in Berlin ausgreifenden Kriminal- und Horrorfilme, eines der Opfer mit einem glühenden Zuschauer. Dreharbeiten vollziehen sich che Eindringlichkeit dieses Kinos werden

Anzeige Im Strafraum Wille und Wahn Der Dokumentarfilm „Trainer“ gibt seltene Einblicke in die harte Welt des Fußballgeschäfts JETZT AM KIOSK

Musik oder Kommentare eines Off-Spre- ■■ Tobias Escher chers, er setzt sein Interview- und Bildma- UND IM BUCHHANDEL terial passgenau ein. e populärer und lukrativer der Fußball Dieser schonungslose Blick ins Fußball- wird, umso weniger Einblick bekommt geschäft ist aber eben genau das – ein Blick Der große Familien-Spezialist mit Jdie Öffentlichkeit in das, was hinter den ins Geschäft. Gerade im langen Mittelteil, den besten Tipps und Adressen der Stadt Kulissen passiert. Fußballteams schotten in dem sich Klopp und Kollegen über die sich mittlerweile hermetisch ab. Trainings Macht der Medien auslassen, sind Szenen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf dem Fußballplatz rar. Der größte Teil statt. Wer ein Interview mit einem Fußbal- des Films findet bezeichnenderweise nicht ler will, muss Wochen vorher einen Termin auf dem Trainingsplatz oder vor der Taktik- machen und das Gespräch vom Pressespre- tafel, sondern in Autos statt. cher autorisieren lassen. Ungefilterte Ein- So entfernt sich der Film das eine oder blicke in den Alltag des Profifußballs sind andere Mal etwas zu weit vom Sport. Am inzwischen ähnlich rar wie authentische Ende bekommt man nur bei Frank Schmidt BERLIN Gespräche mit Politikern. Einblick in Taktik und Trainingsstil; was Der Dokumentarfilmer Aljoscha Pause André Schubert und Stephan Schmidt tak- MIT KIND hat solche Einblicke bekommen. Pause be- tisch oder methodisch auszeichnet, erfährt gleitet in seiner Dokumentation Trainer der Zuschauer nicht. Gerade Stephan drei Fußballcoaches eine Saison lang. Er Schmidt, in Szenekreisen als Fachmann für zeigt seine Protagonisten bei ihrer tägli- Trainingswissenschaften bekannt, wird chen Arbeit – wie sie die Spieler auf dem komplett auf die Rolle des sozialen Aufstei- Trainingsplatz anbrüllen, Interviews geben, gers reduziert. sich mit Vorgesetzten über Strategien aus- tauschen oder am Spielfeldrand mitfiebern. So entsteht eine Nähe zum Fußballgeschäft, die man in den Bildern des Sportfernse- hens nicht findet. Zwischendurch lässt der Film in Interview­sequenzen Branchengrö- Die stärksten ßen wie Jürgen Klopp von Borussia Dort- Momente hat mund oder DFB-Trainerausbilder Frank Wormuth zu Wort kommen und das Gese- der Film, wenn hene einordnen. er die Schatten- Vor allem ist der Film ein Dokument des Scheiterns. Keiner der drei Protagonisten seiten eines erreicht sein Ziel: Andre Schubert verliert Spiels zeigt bereits im ersten Filmdrittel seinen Job beim FC St. Pauli, auch Stephan Schmidt erlebt als Trainer das Saisonende in Pader- born nicht. Am dramatischsten ist das Schicksal von Frank Schmidt, der mit sei- nem 1. FC Heidenheim den Aufstieg in die Am Ende des Films erwischt sich der fuß- zweite Liga am letzten Spieltag verspielt. ballverrückte Zuschauer bei dem Wunsch, Die Kamera ist in all diesen Momenten da- mehr sehen zu wollen – mehr Trainings- bei, ganz nah bei den Protagonisten. platzszenen, mehr Taktiktafelgeschwätz, Mit vielen Die stärksten Momente hat der Film, mehr kluge Kommentare von Jürgen Klopp, Empfehlungen für wenn er die Schattenseiten zeigt, die der Hans Meyer, Thomas Schaaf oder Armin einen unvergesslichen Fußball gewöhnlich zu verstecken sucht. Veh, also mehr Fußball. So wirkt Trainer am Wenn der ansonsten sympathische Frank Ende eher zu kurz als zu lang. Nicht das Kindergeburtstag Schmidt erzählt, dass er nicht mal seine schlechteste Gefühl, das ein Film hinterlas- kleine Tochter beim Kartenspielen gewin- sen kann. nen lassen kann, bekommt man einen Eindruck davon, wie nah beim Fußball Sie- Trainer Aljoscha Pause 138 Min. (nur in geswille und -wahn beieinanderliegen. ausgewählten Kinos). Eine 90-minütige Wenn nach Schuberts Entlassung alle Be- Fernsehfassung lief Anfang Juni im WDR teiligten nur gute Worte für den Coach üb- rig haben, wundert sich der Zuschauer Auch als App im App Store Tobias Escher ist Mitbetreiber des Fußball­ TIP-WEBSHOP LINK über die Falschheit, die aus den Äußerun- taktik-Blogs spielverlagerung.de, der 2012 für ­ gen der Verantwortlichen spricht. Pause den Grimme Online Award nominiert war erzielt solche Effekte ohne dramatische 20 Post der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Die besten Zitate aus den Kommentaren auf freitag.de/community Was soll das sein, die sich noch so gegen Imponiergeha- be und überfl üssige Fachvokabeln „Normalität“? sträuben. Auch die fördern den Wochenthema Nimbus. Ein Fall für den Psychiater? Eckart Roloff Psychische Störungen werden „Die Gewalt bei der Räumung immer alltäglicher. Das freut den Arzt – Man kann die Verwaltungssprache und schadet der Gesellschaft auch als Abklatsch der hierar- der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 chischen Verhältnisse in einer Die Tatsache, dass psychische des Gezi-Parks brachte das Fass Behörde auff assen. Der Super- Erkrankungen überhandnehmen, wortbrocken stünde dann für würde ich anders interpretieren. VerwaltungsHochhäuser mit ihrem Heutzutage ist man viel off ener unüberschaubaren Innenleben. und sensibler für dieses Thema, zum Überlaufen“ A.M. Helder Yurén, während die Kriegsgeneration Freitag-Community ihre Traumata noch aktiv ver- drängt hat. Andererseits muss man natürlich beim Auft reten Der Boden muss das mancher Erkrankungen die Frage Wasser schlucken stellen, welches Gesellschaft sbild „In der Türkei schwelt der Streit Nick Reimer den Arbeitsdruck erzeugt, der Aus dem Takt die Krankheiten fördert, und es zwischen Re-Islamisierung und Laizismus Die Flut lässt sich nicht eineindeutig infrage stellen. Wenn Sie aber zu auf die Erderwärmung zurückführen. der Ansicht kommen, dass sich Die Politik muss trotzdem handeln jeder Dritte als unnormal begreifen der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 „muss“, dann frage ich: Warum? nicht mehr, er ist entbrannt“ Fakt ist doch: Die absolut gesunde, Der Boden kann das Wasser nicht heile Welt gibt es nicht. Die Über- Weinsztein mehr aufnehmen, weil immer gänge zwischen gesund und krank freitag.de/community mehr Bodenfl äche versiegelt ist. sind fl ießend. Krankheit ist ein Bodenversiegelungen und ein Teil des Lebens. Diese Tatsache zu grundsätzlich falscher Umgang verdrängen und stattdessen die mit natürlichen Gegebenheiten Kranken zu stigmatisieren, ist nicht auch eine Antwort zur Einhegung seinen Hierarchien und Exklusio- Die türkische Zivil- Die Türkei hat nun ihr Stuttgart 21. verursachen dann Extremfl uten. hilfreich. Michael Jäger fragt: „Wer der Währungsspekulationen, die nen nicht überzeugen kann. Zudem Die Menschen in der Türkei Karamasoff , Freitag-Community ruft wieder die Normalität aus?“ damals viele Staaten getroff en ha- spricht Streeck nicht von der gesellschaft ist stärker wollen auch schön leben und nicht, Da f rage ich zurück: Was soll ben. Wie könnte die Wiedereinfüh- neoliberalen Zurückdrängung de- Lutz Herden dass für jede Industrieruine die Die Politik investiert in Deiche, die das sein, die „Normalität“? Ein rung der Devisenmarktspekulation mokratischer durch marktradikal Sultan im Sinkfl ug Seele des Volkes zertrümmert wird. das Problem der Fluten aber nicht spießiger Biedermeier? Eine heile die von Streeck identifi zierten technokratische Politik. Analytisch Liberale Türken in den Metropolen Nino Schneider, lösen. Durch sie steigt lediglich der des Landes wollen keine religiös Welt, die es in der Realität so Marktmächte in ihre Schranken hat Streeck recht, wenn er von Freitag-Community Wasserdruck in den Flussbetten, aufgeladene Erziehungsdiktatur eigentlich nicht gibt? Fakt ist doch, verweisen? Zumal sich das Volu- „einem hohen regionalen Un- aber das Wasser bekommt keine der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 dass auch die gesellschaft lichen men der Devisenmarkttransaktio- gleichgewicht innerhalb des ein- Ausweichmöglichkeiten. Auch weil Verhältnisse „spinnen“ und nen in den letzten zwei Jahrzehn- heitlichen Wirtschaft sraumes Zum Hintergrund der Proteste in Die Kunst muss keine die Landwirtschaft nicht bereit ist, dass dabei so mancher Politiker ten vervielfacht hat. Es ist zudem der Währungsunion“ spricht. Aber der Türkei, die übrigens nicht Debatten voranbringen ihre Flächen fl uten zu lassen. Es ist heutzutage unter einem größeren nicht nachvollziehbar, dass ein gerade deswegen ist es inkonse- nur in Metropolen des Landes halt billiger, die Deiche höher zu Christian Füller Realitätsverlust leidet als so Abwertungswettlauf die ökonomi- quent, dass er als Krisenlösung stattfi nden, sondern in 79 von 81 legen, als Freifl ächen zu schaff en, Die große Verklärung mancher Kranker. schen Ungleichgewichte in Europa einfach die Renationalisierung Provinzen, gehört auch das Allessandro Piperno bringt mit die das Wasser schlucken und Jürgen Paul mittelfristig verringern und den propagiert. Nur eine Politik für enorme Ausmaß an Korruption. seinem Roman „Die Verfolgung“ die dann sanft abführen könnten. Staaten aus der Krise helfen würde. den einheitlichen Wirtschaft s- Erdoğan war früher Angestellter Missbrauchsdebatte nicht weiter Tollschock, Schließlich sind die Asymmetrie raum kann die unbestritten ent- der Stadtwerke in Istanbul. Heute der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 Freitag-Community Gewagter Glaube an und das demokratische Defi zit der standene Schiefl age behandeln. ist seine Familie steinreich. Frau EU nicht unveränderbar. Der von Frieder Otto Wolf Erdoğan ist im privaten Gesund- Christian Füller hat keine Buch- den Nationalstaat Die Redaktion behält sich vor, Streeck formulierte Glaube an heitswesen äußerst erfolgreich, rezension geliefert, sondern ein Katharina Teutsch Leser briefe zu kürzen. die angeblich „eigenartigen wirt- Neff en oder andere enge Verwand- hochspekulatives Polit- und Moral- „Der Euro ruiniert die Peripherie“ Im Gespräch mit Wolfgang Streeck schaft lichen Lebens- und Schick- te besetzen Schlüsselfunktionen spektakel. Es wird eine Bewertung über die Dominanz der Deutschen und salsgemeinschaft en“, die historisch in privaten TV-Sendern oder in der nach völlig anderen Maßstäben den Ausstieg aus der Währungsunion gewachsen unvereinbar nebenein- Handelsschiff fahrt. Erdoğan soll als den nur künstlerischen vor- Impressum der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 ander stünden, lässt alle Hoff nung Es ist gut, zu den weltweit zehn reichsten genommen. Die Botschaft lautet: paneuropäischer Politik fahren. Ministerpräsidenten gehören. Wer so etwas schreibt wie der Chefredaktion Jakob Augstein, Wolfgang Streeck fordert die Wie- In einer Welt zunehmend transna- dass man mit Weinsztein, Freitag-Community Autor, der diskreditiert sich selbst Philip Grassmann, Jana Hensel dereinführung einzelstaatlicher tionaler Probleme lassen aber sich in einem solchen Maß, dass er sich Verantwortliche Redakteure dem Thema Michael Angele (Kultur, Alltag), Jan Pfaff (Stv.), Währungen – und damit die Mög- keine Antworten in den Grenzen Man kann sicherlich argumentie- aus dem künstlerischen Kanon Jan J. Kosok (Community), lichkeit, auf Kosten anderer abzu- des Nationalstaats formulieren ren, Erdoğan verspiele die Chancen ausschließt. Auch beim Thema Susanne Lang (besondere Aufgaben) psychisch Redaktion Ulrike Baureithel, Matthias Dell, werten. Diese Idee ist erstaunlich Björn Hacker/Christian Kellermann auf eine EU-Mitgliedschaft der Missbrauch bin ich gegen Zensur. Lutz Herden, Michael Jäger, Christine angreifb ar. Denn das Europäische Kranke heute Türkei. Ich frage mich allerdings, Es ist nicht die Aufgabe von Kunst- Käppeler, Maxi Leinkauf, Juliane Löffl er, Währungssystem EWS war in „Nur auf nationalen Ebenen gibt es ob die türkische Zivilgesellschaft werken, „Debatten weiterzubrin- Felix Werdermann viel offener C v D Thomas Kaiser den neunziger Jahren alles andere noch Reste von Demokratie“, sagt nicht stärker ist als die deutsche gen“. Nein: Kunstwerke dürfen Gestaltung Jana Schnell (Art Direction), als ein Erfolgsmodell. Es ist an Wolfgang Streeck. Die Rede von umgeht, als oder die spanische – und das nicht etwas, das sich der „Normalbürger“ Max Sauerbier, Felix Velasco, den gleichen nationalen Egoismen den „Resten der Demokratie“ sug- nur angesichts der Polizei-Prüge- (oder der Journalist) vielleicht Andine Müller (Beratung), Niklas Rock (Bild) in den Jahr- Redaktionelle Übersetzer zerschellt, an denen heute die geriert, dass es früher Demokratie leien in Frankfurt oder Madrid. vergeblich wünscht. Sie dürfen Zilla Hofman, Holger Hutt Eurozone leidet. Warum sollte dies gegeben habe, was angesichts des zehnten nach JR’s China Blog, Extrempositionen darstellen und Projektmanagement Anna-Lena von heute anders sein? Der fordistischen „Korporatismus“ mit Freitag-Community diese sogar allein stehen lassen, Salomon dem Krieg Redaktionsassistenz Jutta Zeise ohne sie mit Gerechtigkeit Her- Hospitanz Nina Bust-Bartels, stellendem zu konterkarieren. Und David Kappenberg, Robert Tari (Redaktion) sie dürfen Ambivalenz darstellen. Verlag und Redaktion der Freitag Mediengesellschaft mbh & Ohne sich auch nur im Geringsten Co KG, Hegelplatz 1, 10117 Berlin, darum zu scheren, wie der Tel.: (030) 250 087-0 „Extremist“ in seine Schranken zu www.freitag.de Geschäft sführung Jakob Augstein, weisen oder wie die Ambivalenz Dr. Christiane Düts aufzu lösen wäre. Im Grunde geht Beratung Prof. Christoph Meier-Siem es um political correctness – aber Verlagsleitung Nina Heinlein Anzeigenleitung Johann Plank genau die möchte ich weder in ([email protected]) Kunst noch in Kunstkritik sehen. Vertrieb Annette Bretschneider Es reicht mir dicke, wie weit (annette.bretschneider @freitag.de) Marketing sie in anderen Bereichen schon Oda Hassepaß vorgedrungen ist. ([email protected]) Till Schneider Barbara Herzog ([email protected]) Jahresbezugspreis € 161,20 Ermäßigter Bezugspreis für Schüler, Studenten, Auszubildende und Rentner: Juristische Sprache ist € 111,80 jeweils inkl. Zustellung Inland. Herrschaft ssprache Im Ausland zzgl. Versandkosten: € 31,20 Land- bzw. € 41,00 Luft post Felix Werdermann Aboverwaltung QS Quality Service GmbH Sag das nochmal Telefon Kundenservice (040) 3007-3510 Wozu brauchen wir endlos lange Fax Kundenservice (040) 3007 85 7044 E-Mail: [email protected] Wörter? Um andere abzuschrecken. Service-Zeiten Warum Bürokratendeutsch asozial ist Mo – Fr 8 bis 19 Uhr, Sa 10 bis 16 Uhr der Freitag 23 vom 6. Juni 2013 Der Freitag, Postfach 11 04 67, 20404 Hamburg Konto für Abozahlungen: Der Kampf gegen die Bürokraten- Der Freitag Mediengesellschaft mbH & Co KG sprache ist völlig aussichtslos. Kto.: 13505050, BLZ 10050000, Das schreibt auch Hans Magnus Berliner Sparkasse Nationalvertrieb Enzensberger in seinem Essay Von Axel Springer Vertriebsservice GmbH den Vorzügen der Unverständlich- Süderstraße 77 20097 Hamburg keit. Er hält fest, dass „die juristi- www.as-vertriebsservice.de sche Sprache ihrem Wesen nach IT- und Redaktionstechnik Herrschaft ssprache ist“ und dass Heldisch networx GmbH Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck, „Unverständlichkeit zum Nimbus Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin, des Gesetzes gehört“. Für ihn www.berliner-zeitungsdruck.de ist diese Unverständlichkeit des Papier 100 % Recycling, trägt den Blauen Engel, produziert in Schwedt an der Oder, Rechts und der Verwaltungen „kein gedruckt in Berlin Fehler, der sich beheben ließe; sie Gesetzt in TheAntiquaF von Lucas de Groot, ist beabsichtigt“. Dasselbe gilt für www.lucasfonts.com ISSN 0945-2095 die Wissenschaft ssprache. Auch sie Kolumnenillustrationen

KARIKATUR: AMELIE GLIENKE FÜR DER FREITAG DER FÜR GLIENKE AMELIE KARIKATUR: ist unreformierbar, da kann man www.ottoillustration.com 21

Alles duft e? Die Parfümbranche setzt Milliarden um, und doch riecht das meiste austauschbar. Duft manufakturen kämpfen für mehr Vielfalt S. 22 der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

Alltagskommentar Juliane Löffl er Männer und Röcke: Wird es ein Sommer Ihr der Mode-Anarchie? urra, der Sommer ist da! Wer jetzt über steigende Tempera- Hturen ächzt, muss entweder ein schwarzgekleideter Emo oder ein Blässe bevorzugender Aristokrat Revier sein. Oder aber er gehört zum büroge- bundenen Arbeitervolk und steht Birgit Reimann ist Polizistin und morgens vor der Frage: Was anziehen? hat fast alles gesehen, was Menschen Ab spätestens 30 Grad wird die Kleiderwahl für den Arbeitsalltag zum sich antun können: Geiselnahmen, Problem, sofern man sich für soziale Eifersuchtsmorde, Kinderpornos. Konventionen interessiert. Bauchfrei? Keine Chance. Flipfl ops? Grenzwertig. Und sie hat gelernt, dass das Wort Shorts? Ganz schwierig. die schärfste Waff e ist S. 23 Das mussten auch die Mitarbeiter des Stockholmer Nahverkehrs erfahren. Teile ihres Unternehmens wurden kürzlich von Arriva, einer Tochterfi rma der Deutschen Bahn, aufgekauft , die eine neue Kleidervorschrift etablierte. Den Lokführern der Vorortbahn Ros- lagsbanan wurde daraufh in verboten, im Sommer kurze Hosen zu tragen. „Zu entspannt.“ Die Schweden, Lieblings- vorbild für Geschlechtergerechtigkeit, griff en, als sich die Führungsebene nach Gesprächen stur stellte, zu einer einfachen Lösung: Sie zogen sich Röcke an. Das durft en die weiblichen Angestellten schließlich auch. Deshalb konnte das Unternehmen den Lokführern es nicht verbieten. Sonst wäre das eine Diskriminierung der Männer gegenüber den Frauen gewesen, argumentierte die Gewerk- schaft . Anfang dieser Woche lenkte das Unternehmen nach einigem Pressewir- bel um die röcketragenden Männer ein und erlaubt nun wieder kurze Hosen. Aber wer weiß, wenn die Lokführer erst mal die Luft der Freiheit geschnup- pert haben, das Gefühl, das Jean Paul Gaultier als „ein bisschen wie Nackt- baden“ beschrieb – vielleicht bleiben sie dann auch beim Rock? Vielleicht nehmen sie den Kampf der modischen Emanzipation auf, den die Frauen umgekehrt bereits hinter sich haben? In Paris wurde nach 214 Jahren das Hosenverbot für Frauen aufgehoben. Zugegeben, es war schon länger nicht mehr durchgesetzt worden, aber aufge- hoben wurde es tatsächlich erst Anfang dieses Jahres. Beobachten wir da gerade eine Zeitenwende? Ist Cross-Dressing jetzt im Mainstream angekommen? Die Folgen jedenfalls wären weittragend: Peer Steinbrück etwa könnte seiner grauen Kampagne mit Merkel’schen Blazern in Bonbonfarben ganz neuen Schwung geben. Prinz William wählte vielleicht ein Kostüm in Apricot mit Bleistift rock – er hat schließlich die Figur dafür. Und junge Kerle rotten sich zusammen, um ihre Boxershorts zu verbrennen. Das könnte ein großer Sommer der Mode-Anarchie werden. Ihr habt es in der Hand, Männer. Also: Courage!

≫ Netz Schau

Es geht auch anders Freitag-Blogger McMac will mit einem Vorurteil aufräumen. Die Idee eines unabhängigen, nicht- kommerziellen Betriebssystems für Computer gilt zwar als sehr sympathisch, aber bei Linux hält sich hartnäckig der Glaube, dieses sei nur etwas für Nerds und echte Computercracks. In seinem Blog zeigt McMac, warum das nicht so ist – und wo man am besten beginnt, wenn man die Benutzer- oberfl ächen von Microsoft und Apple hinter sich lassen will. Mehr auf freitag.de/linux

≫freitag.de/community FOTOS: PAULA MARKERT FÜR DER FREITAG, LENA LIR/FOTOLIA (OBEN) LIR/FOTOLIA LENA FREITAG, DER FÜR MARKERT PAULA FOTOS: 22 Szenen & Bilder der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

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Der Koch Warum sollte man Spargel nicht zu lange kochen?

aum hat unsereiner Stangen in der Hand, möchte er sie an- Keinanderreiben. Essstäbchen zum Beispiel. Reiseführer für Asien empfehlen hartnäckig dieses Verfahren. Vor allem Einwegstäbchen, heißt es da, soll man, sind sie auseinandergebro- chen, aneinanderreiben, um eventuelle Holzsplitter zu entfernen. Ich habe das nur einmal probiert – in einem chinesischen Imbiss, dem einzigen Etablissement, in dem ich Pekinger ganz ungeniert unter den Tisch spucken sah. Aber als ich mich an das Stäbchen- wetzen machte, hoben sich um mich herum die Augenbrauen. Ich habe es sofort gelassen. Und wurde aufgeklärt: Es ist in etwa so ungehörig, wie einen Löff el mit der Krawatte zu putzen. Auch Spargel soll man aneinander- reiben, lese ich immer wieder. Wenn er quietscht, heißt es, ist er frisch. Der Tipp ist ungefähr so viel wert wie der für die Essstäbchen. Ich hab es probiert, mit schon sehr gelblichen, sichtbar überlagerten Spargelstangen. Die quietschten auch. Aber Spargel ist eben der König aller Frühjahrsgemüse, und da gibt es eine Menge von Hofritualen und Legenden. Auch wenn ich mich wiederhole: Das ist gut so. Es zeugt von Kultur. Ich wohne den Disputen darüber gern bei, etwa wenn der Sauce-Hollan- daise-Anhänger auf den Puristen trifft , der an seinen Spargel nichts als ge- schmolzene Butter lässt. Oder wenn der richtige Garpunkt diskutiert wird. Denn der eine mag die Stangen FREITAG DER FÜR SCHWARTZ SIMON ILLUSTRATION: elastisch-bissfest, der andere so, dass der Spargel wie ein nasses Handtuch über der Gabel hängt. Da muss ich mich schnell einmischen: Menschen der zweiten Kategorie halte ich für Individuell Die Parfüme des Massenmarkts unterscheiden sich kaum. Berliner Manufakturen wollen dem etwas entgegensetzen fähig, dass sie auch jedes Paar Ess stäbchen, das sie in die Finger bekommen, aneinanderreiben. Ich stelle hier testweise die Behaup- tung auf, dass 99 Prozent des Spargels, Der Wunsch, anders zu riechen der in Deutschland auf den Teller kommt, gekocht wird, und zwar lange. s ist ein großes Geschäft : Allein in Pfl anzen, Harzen, Moosen und tierischen rer. „Es gibt Menschen, die unser Parfüm Er sitzt in einem Kreuzberger Café und Ich lasse mich gerne berichtigen. Aber Deutschland werden im Jahr zwi- Produkten. Heute werden jährlich etwa noch von früher kennen. Die Neuprodukti- schaufelt Spätzle in sich hinein, während er die Zubereitung erinnert mich noch Eschen 1,5 und 1,8 Milliarden Euro für tausend neue Düft e weltweit produziert, on ist eine Hommage an die Tradition und über die Faszination der richtigen Mi- immer an Zeiten, in denen auch Fisch Parfüms ausgegeben. Der durchschnittli- davon besteht nur etwa ein Fünft el noch Firmengeschichte“, sagt Tagscherer. „Bei schung spricht. Sein Beruf sei nichts Magi- schonend und um den Eigengeschmack che Deutsche konsumiert zwei bis drei ver- aus natürlichen Ölen und Rohstoff en. allen Parfümen arbeiten wir mit natürli- sches, sagt er, den könne eigentlich jeder zu erhalten, in siedendes Wasser ge- schiedene Düft e pro Jahr, Enthusiasten ha- Wer sich also kein Chemielabor auf die chen Ölen in hoher Konzentration, bei 1A- lernen. Aber Bergamotte und Patschuli zu worfen wurde, nach dem Vorbild Forelle ben zehn Flaschen gleichzeitig im Einsatz. Haut sprühen möchte, sollte sich an Par- 33 beispielsweise aus Lindenblüte, Jasmin, mischen, bedeute noch lange nicht, dass blau. Oder wenn wir beim Gemüse blei- Der Massenmarkt hat aber ein großes Pro- fümmanufakturen orientieren – Nischen- Magnolia, Rotem Pfeff er, Mandarine und man Parfümeur sei. Schön ging mit seinem ben: Er wurde wie Kartoff eln gekocht. blem: Über einen gekauft en Duft individu- hersteller, die sich noch den Mut und die Zedernholz. Diese Düft e sind für uns ein „Molecule 01“ in die Parfümgeschichte ein. Aber es handelt sich doch um soge- ell zu riechen, wird immer schwieriger. Zeit nehmen, zu experimentieren. Biehl Spiegel des modernen Berlins.“ Wie das? Molecule 01 ist ein sogenannter Mono- nannte „zarte“ Stangen. Gewalt sollte 90 Prozent der Düft e, die von großen in- und andere Berliner Manufakturen wie J.F. „1A-33 führt die Lindenblüten der Stadt mit Riechstoff , er besteht nur aus Zedernholz- man ihnen nur antun, wenn man sie dustriellen Firmen wie Procter & Gamble, Schwarzlose arbeiten ganz ohne Marktfor- aquatischen Noten der Spree und des riechstoff und Alkohol als duft tragender schält, nämlich kräft ig und ausdauernd. L’Oréal, LVMH und Estee Lauder hergestellt schung, ohne die Suche nach dem Massen- Wannsees zusammen.“ Substanz. „Ich habe nach Einfachheit ge- Nichts ist schlimmer als feste, holzige werden, enthalten keine natürlichen Kom- geschmack, ohne Einschränkung bei der Geza Schön ist einer der berühmtesten sucht. Ich hatte den Eindruck, dass alle Par- Fasern an butterweich gekochtem ponenten, die Zutaten sind synthetisch – Wahl der Rohstoff e. Für sie ist ein Parfüm deutschen Parfümeure. Wenn man ihn füms zu stark sind. Zedernholzriechstoff ist Spargel. Ich habe vor Kurzem einen und oft nach dem immer gleichen Prinzip noch immer ein Kunstwerk. fragt, warum wir uns überhaupt fremde allein gut genug“, sagt Schön. „Alle anderen Salat aus dem rohen Gemüse gegessen. zusammengesetzt. Die Multis sind nicht J.F. Schwarzlose ist schon seit 1856 eine Düft e auf die Haut sprühen, wartet er mit Düft e sind viel komplexer. Im Leben bedarf Es war schräg in hauchdünne Scheiben experimentierfreudig. Das ließ sich auch Berliner Marke, einst hat sie sogar den kö- einer zugespitzten These auf. Alles, betont es aber nichts anderes als Einfachheit – und geschnitten und für einige Zeit in Salz Mitte Mai in Berlin beobachten, als bei ei- niglich-kaiserlichen Hof mit ihren Parfüms er, wirklich alles sei an einem Menschen so ist es auch mit dem Riechen.“ und Zitrone mariniert, um die Knackig- ner Duft messe die Branche sich selbst und beliefert. Die modernisierten Versionen riechbar: „Sogar das Alter ist an der Haut keit leicht zu mildern. Da fährt einem die „Düft e des Jahres“ feierte. des Duft es – wie das 1A-33, ursprünglich ein riechbar. Es ist desillusionierend, ich weiß Ein persönlicher Duft ? das Frühjahr so richtig in den Mund. Wenn ein Duft ankommt, wird er von der Berliner Kennzeichen – sind ein Gemein- … “, sagt er. Wenn wir den neutralen Duft ei- Das war auf der Zunge wie kaltes, klares Konkurrenz sofort kopiert, was dazu führt, schaft sprodukt der Parfümeurin Veronique nes Babys konservieren könnten, wäre er Forschen Parfümeure ständig nach unbe- Quellwasser. dass die Düft e austauschbar wirken. Was Nyberg, des Designers Lutz Hermann und womöglich arbeitslos. Da das aber nicht kannten Rohstoff en für die Duft zuberei- Für einen solchen Salat kann man überhaupt angeboten wird, entscheidet zu- des Kommunikationswirts Tamas Tagsche- geht, hat der 44-Jährige gut zu tun. tung? Nein, sagt Schön. „98 Prozent der die Stangen aber auch kurz blanchieren vor bereits der Markttest. „Ein Duft , der bei Parfümeure arbeiten für große Firmen, und anschließend kalt abschrecken. dem Test nicht gut abschneidet, wird selten und ihre Arbeit ist nicht so kreativ, wie man Sonst komme ich zunehmend davon auf den Markt gebracht, weil keiner ein Ri- sich das vorstellt.“ Den meisten werde die ab, Spargel allzu lange mit kochendem siko eingehen möchte. Allein für die Wer- Zeit vorgeschrieben und das Geld, das zur Wasser in Verbindung zu bringen. Ich bung eines neuen Duft es werden 20 bis 30 Verfügung steht. Es gebe keinen großen fi nde, das laugt den Geschmack aus. Es Millionen Euro ausgegeben, deshalb darf er Spielraum zum Experimentieren, dabei hilft zwar, das Kochwasser mit Schalen nicht fl oppen“, sagt Thorsten Biehl, der in müsste man viel ausprobieren. Was ist mit und Abschnitten zu aromatisieren, aber Berlin eine Parfümmanufaktur betreibt der Nase aus Patrick Süskinds Das Parfüm, das macht den Spargel leicht bitter. und dem Massenmarkt etwas Individuelles dieser Fähigkeit Jean-Baptiste Grenouilles Warum machen wir es nicht so wie entgegensetzen will. Parfümeure stellen jede kleinste Feinheit eines Duft es zu un- mit Fisch? Den haben wir auch gelernt, für ihn Düft e her, die ausgesuchte Läden in terscheiden? Nur ein Mythos, sagt Schön. in mäßiger Hitze zu braten. Oder ihn kleinen Stückzahlen anbieten. Und kann man einen persönlichen Duft mit etwas Weißwein und Kräutern in kreieren? „Ja, aber ich muss die Person nä- ein kleines Päckchen aus Aluminium- Kaum natürliche Rohstoff e her kennenlernen und länger herum- folie zu hüllen und im Ofen zu garen. schnuppern, wie die Haut und die Haare Funktioniert mit Spargel einwandfrei. „In jüngeren Jahren macht man den Kauf riechen, welche Präferenzen es gibt. Das ist Diese Zubereitungen verdichten eines Parfüms noch von der Marke abhän- nicht einfach.“ Hinzu komme noch etwas das Aroma noch. Wichtig ist jedenfalls gig. Es ist wie bei Turnschuhen, alle wollen Wichtiges: „Ich müsste mit der Person auch immer, dass der Spargel frisch ist. dem gleichen Trend nachgehen. Erst mit 30 ein Riechtraining machen. Es kann nämlich Am besten erkennt man das an den kommt der Wunsch, nicht so zu sein, so durchaus sein, dass es Düft e gibt, die bei Enden. Die Schnittfl ächen sollten hell auszusehen, so zu riechen wie alle ande- der Person gar nicht gut ankommen oder und feucht sein. Sind sie das nicht, sollte ren”, sagt Biehl. Er präsentiert seine Par- gar negative Konnotationen hervorrufen.“ bei leichtem Drücken etwas Spargelsaft füms vor der Berliner Duft messe in einem Das Schlimmste wäre dann wohl, wenn ei- hervorquellen: Testen Sie das! Auch kleinen Lokal in Kreuzberg. nen eine bestimmte Zutat an den abgegrif- wenn sich da die Augenbrauen Ihres Früher wurden die Düft e noch aus 50 bis JUNIART/IMAGO FOTO: fenen Massenduft des vergangenen Jahres Gemüsehändlers heben. Jörn Kabisch 100 natürlichen Rohstoff en hergestellt, aus Ganz natürlich produziert: Der Duft von Magnolien wird gern in Parfüms verwendet erinnern würde. Agnes Szabó der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013 Porträt 23

„Ich bin nachts öfter schweißgebadet aufgewacht“ Birgit Reimann hat beinahe täglich mit Gewalt zu tun. Irgendwann konnte sie nicht mehr abschalten

Wie haben Sie sich dann Respekt In dem Moment, in dem ich die umgezogen, bin noch mal hinge­ und Unterhalt passiert und auch, einer Männerhand der Mund zuge­ verschafft bei den Männern? Uniform anziehe, bin ich Polizistin fahren, habe mich dazugesetzt wie sie sich gegen häusliche Ge­ halten, es bekam keine Luft mehr. Ich habe teilweise geschluckt und und repräsentiere den Staat. und mit Leuten geklönt, mit denen walt zur Wehr setzen. Sie glauben SM unter Erwachsenen ist in Ord­ gedacht: „Du wirst schon merken, Hamburg-Wilhelmsburg, Ihr ich studiert hatte. Wir wollten un­ oft, abhängig zu sein: „Er ist so nung, aber ein Säugling! Ich hatte was ich hier will.“ Oder ich habe früheres Revier, ist ein sozialer seren Willen kundtun. Es ging um lieb, wenn er nicht getrunken hat.“ ständig diese Bilder im Kopf, wach­ protestiert: „Natürlich möchte ich Brennpunkt. Wenn man vor die Natur und um die Menschen. Und wie können Sie da helfen? te nachts schweißgebadet auf. Ich Kinder, aber ich will nicht am allem diesen Ausschnitt der Gibt es einen Punkt, an dem Ich habe viele Studien zur Präven­ fühlte mich plötzlich zerbrechlich. Herd enden.“ Soll doch der Mann Gesellschaft erlebt, entstehen da Sie den Beruf nicht mehr aus- tion von Partnerschaftstötungen Wie geht man mit so etwas um? zu Hause bleiben. Ich bin in einem Ressentiments gegen bestimmte üben könnten? gelesen. Wir bekommen ja vorher Ich ging zum Polizeipsychologen, Umfeld groß geworden, in dem soziale Gruppen? Natürlich würde ich keinem schon Sachen mit und können der hat erste Hilfe geleistet. Aber es selbstverständlich war, Natürlich verändert sich der Blick. Hitler folgen. Aber solange wir in als Polizisten mit dem reden, der das reichte nicht. Man stößt das auf eigenen Beinen zu stehen. Wenn man jemanden schon drei­ einer Demokratie leben – auch in der Beziehung gefährlich ist, von sich, glaubt, man kann alles Wer Einsätze fährt, erhält auch mal festgenommen hat, weiß man: wenn sie Ecken und Kanten hat –, weil er trinkt oder sich in seiner lösen. Kollegen sind mit mir zu irgendwann Anerkennung, oder? Der ist ein Einbrecher oder Auto­ ist der Job in Ordnung. Ehre verletzt fühlt. Das kann einem Seelsorger gegangen. Aber irgit Reimann möchte Bei der Verkehrsunfallaufnahme dieb. Aber mir kam nie jemand Sie fingen dann im Dienst an, nämlich final enden. ich konnte nicht mehr abschalten. sich in einem Café im wird neutral bewertet: Wie haben wegen seines Aussehens verdächtig sich stärker mit Psychologie zu Ich fand eine Therapeutin, die Stadtpark treffen, der wir die Situation gemeistert? Und vor. Beide Gruppen – Deutsche und beschäftigen ... schon mit sadistischen Straftätern sei „Hamburgs grüne jede Polizistin in Hamburg hat den Ausländer – haben die gleichen Mich interessiert das Verhalten der zu tun hatte. Sie konnte den Fall Lunge“. Sie will dort von Rest der Truppe etwas miterzogen. Straftaten verübt. Wenn jemand Menschen. Ich möchte verstehen, in meine berufliche Biografie ein­ Bihrem Alltag als Polizistin in der Bei häuslicher Gewalt konnten drogensüchtig ist, muss er schnell warum jemand so reagiert, seine „Wir haben ordnen. Ich habe das Ganze dann Großstadt erzählen. In mehr als 30 Sie einmal eine Situation zu Geld kommen. Da spielt die Motive kennen. Dann kann ich als „Dienstunfall“ eingereicht. Jahren Dienst hat sie alles gesehen: gewaltlos entschärfen ... Nationalität keine Rolle. mich besser auf ihn einlassen. tagelang Als Dienstunfall? stinknormalen Streifendienst eben­ Ja. Ein Mann hatte mich mit dem Sie müssen den Staat verteidigen. Der „gefährlichste Ort Ja, man denkt immer, man muss so wie Geiselnahmen, Morde und Messer bedroht. Und ich stand Aber wenn Polizisten auf Demos der Welt“ seien Familie und Kinderpornos ein gebrochenes Bein haben. Aber Kinderpornos. gefühlte zwei Stunden vor ihm so martialisch auftreten, können Partnerschaft, sagen Sie. angeschaut. ich hatte ja einen Schaden davon­ und habe auf ihn eingeredet. Sie dann verstehen, dass sich die Ich habe jahrelang mit Eifersuchts- getragen. Mir wurde der Boden Der Freitag: Frau Reimann, Irgendwann hatte ich dann das Gegenseite da provoziert fühlt? und Beziehungstaten zu tun Das war heftig“ unter den Füßen weggerissen. Man welches war die schlimmste Messer in der Hand. Männliche Ja, das kenne ich aus Berlin. Da gehabt. Und meine Erfahrung ist: stellte bei mir posttraumatische Beleidigung, die Sie sich Kollegen haben in solchen stehen sie mit Schienbeinschutz, Wir haben sowohl verlernt, eine Belastungsstörungen fest. als Polizistin anhören mussten? Momenten oft eher die Fronten Körperschutz, Helm, Schild. Ich Beziehung zu führen, als auch Dass solche Schäden ernst ge- Brigitte Reimann: „Alte Fotze.“ verhärtet. Aber ich habe in der kann es verstehen, allerdings kann uns ordentlich zu trennen. Heute nommen werden, ist relativ neu. Das war auf einer Demo. Aber Polizeischule gelernt: Das Wort ist ich es nicht gutheißen. In manchen braucht man für alles einen Nach den Beziehungsdelikten Ja. Amerika ist der Vorreiter mit wollen Sie das dann jedes Mal die schärfste Waffe. Man muss Situationen mag es gerechtfertigt Führerschein, eine Lizenz – aber wechselten Sie in den Bereich dem Post-Shooting-Trauma von eskalieren lassen? Etwas anderes jemanden zum Sprechen kriegen. sein, Steine zu werfen. Aber nicht, über das Führen einer Beziehung Kinderpornografie ... Kollegen, die im Dienst geschossen ist es natürlich, wenn ich einen Wie stellt man das an? wenn Menschen das Ziel sind. In wird in der Schule nicht geredet. Wir schauten uns tagelang haben. In Hamburg wurde erst im Ladendieb mitnehme und der Mit Intuition und Empathie. Indem Hamburg war das nie so extrem. Wie sollte man sich trennen? kinderpornografische Bilder und vergangenen Jahr das Verfahren mich unflätig betitelt. Da kann ich man dem anderen das Gefühl Hier ist es den Polizisten verboten, Bestimmt nicht über SMS. Und Videos an, das war heftig. Man geändert: Auch Polizisten werden sagen: „Hören Sie mal, so nicht.“ vermittelt, dass man sich für ihn mit dem Schlagstock an den Schild möglichst nicht an Familienfeiern hat es mit Usern zu tun, die Filme nun im Bundeswehrkrankenhaus Was reizte Sie am Polizei-Beruf? interessiert. Wir möchten alle als zu schlagen und den Takt anzuge­ oder Festtagen. Besser wäre, man auf ihren Rechner ziehen, an­ von Ärzten begutachtet, die sonst Ich wollte Goldschmiedin werden. Person beachtet werden. Nach und ben. Weil das einschüchternd ist. zieht es durch und macht danach schauen, und im Netz verbreiten. Soldaten behandeln, die aus Aber mir fehlte das Vitamin B, ich nach habe ich herausgefunden, Wie kommt man sich vor, wenn den Neuanfang! Die Frau sollte Manche Nutzer dokumentieren Kriseneinsätzen zurückkehren. hätte keine Lehrstelle bekommen. wie ich als Frau besser auf dieses man eine NPD-Demo schützt? auch nicht erzählen: „Mein Neuer auch den eigenen Missbrauch. Und: Haben Sie die Welt durch Eine Klassenkameradin hatte dann Bedürfnis eingehen kann. Da muss ich mein Herz abschalten ist besser im Bett als du.“ Oder: Solchen sind Sie auch begegnet. Ihre Arbeit besser gemacht? den Test bei der Polizei gemacht, und mir sagen: Ich mache das, „Du hast die Kinder angefasst.“ Ja, mein letzter Fall ist mir sehr Ich stand am Straßenrand und und ich dachte: So einen Behörden­ was von mir verlangt wird, dafür Weil es gefährlich sein kann? nahegegangen. In dem Video sah habe die Kelle genommen, test kannst du ja auch mal machen. bekomme ich das Geld. Aber die Natürlich. Da geschehen Morde. man ein Mädchen, drei Monate alt. um den rechten Weg zu weisen. Ich dachte an meinen Verkehrs­ Ausschreitungen und Krawalle Frauen müssen lernen, sich nach Das Baby wurde sadistisch gequält, lehrer, der immer sagte: Die Polizei, „In manchen in Hamburg, die sind überflüssig. einer langen Ehe zu trennen. Sie über einem Auge sah man ein Das Gespräch führte Maxi Leinkauf dein Freund und Helfer. Selbst die Bewohner der Schanze müssen klären, was mit Kindern Hämatom. Einmal wurde ihm von Sie waren eine der ersten Frauen Situationen sind mittlerweile genervt, dass bei der Schutzpolizei in Hamburg Leute aus dem Umland kommen mag es Anzeige – in welche Welt kamen Sie da? und Geschäfte entglasen. Es war sonderbar, als Frau 1982 gerechtfertigt „Entglasen“? Das ist doch ein in dieser Männergesellschaft. Sie sein, Steine linker Kampfbegriff. sagten: „Was suchst du hier? Du Sagen wir besser: Scheiben ein­ wirst irgendwann heiraten, Kinder zu werfen“ werfen. Das gehört sich nicht. 81762 | Deutschland: 3,00 EUR Galapagos: kriegen und am Herd landen.“ Am vergangenen Wochenende Pandemien:Pandemien:Schri steller auf 81762 | Deutschland: 3,00 EUR 2/2013 Erreger auf dem Galapagos:Galapagos: 81762 | Deutschland: 3,00 EUR 2/2013 Pandemien:Erreger auf demForschungsreise Schri steller auf Die Weibliche Schutzpolizei gab es wurden in Berlin Polizisten mit VormarschVormarsch Schri steller auf 2/2013 Erreger auf dem ForschungsreiseForschungsreise schon, aber es gab noch nicht in Molotow-Cocktails attackiert. Vormarsch ZuckersüßeZuckersüße Gefahr: Gefahr: jeder Wache oder in jeder Schicht Ich finde das unerträglich. ZuckersüßeDiabetesDiabetes im FokusGefahr: im Fokus eine Polizistin. Man brauchte In Ihrem Buch Die Großstadt ist Für mich ist es ein versuchtes Diabetes im Fokus Leibniz-Journal sie nur für bestimmte Gruppen, mein Revier berichten Sie von Tötungsdelikt. Leibniz-Journal Frauen und Kinder. Wenn Frauen männlichen Kollegen, die davon Kamen Sie selbst moralisch Leibniz-JournalDas Magazin der Leibniz-Gemeinschaft vergewaltigt wurden, dann ausgehen, dass natürlich sie nie in einen Zwiespalt? Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft wurde die Anzeige meist nicht den Wagen auf Streife fahren. Ich kann mich gut an die Proteste Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft von einem Mann aufgenommen, Ja, vor allem Männer in meinem Anfang der achtziger Jahre gegen sondern von einer Frau. Alter nehmen konsequent den die Hamburger Chemiefabrik Ist das heute anders? Schlüssel in die Hand und sagen: Boehringer erinnern. Dort wurden Mittlerweile gibt es durchaus auch „Ich fahre.“ Damit kann ich leben, krebserregende, dioxinhaltige einfühlsame Kollegen. Und wenn es sogar genießen. Wenn ich mich Rückstände im Grundwasser sowie ein weibliches Opfer das wünscht, auskenne, fahre ich aber selbst auf Wiesen und Äckern gefunden. darf es von diesen vernommen gern Auto. In Wilhelmsburg saß Da haben wir als Polizei eigentlich werden. Manchmal sagen Prostitu­ ich meist am Steuer. Ansonsten nur abgesperrt. Aber mein Herz tierte: „Ich kann mit einem Mann soll der Mann ruhig fahren, hat gesagt: Ich möchte lieber Gesundheit! www.leibniz-gemeinschaft.de besser umgehen als mit einer dann kann ich am Funk sitzen. auf der anderen Seite stehen. Ich Gesundheit!Gesundheit!Forschen für die Frau.“ Gerade bei Sexualdelikten. Wie fühlen Sie sich in Uniform? habe mich nach Dienstschluss Forschen für die ForschenMedizin fürvon die morgen MedizinMedizin von von morgen morgen Ein Leben für die Polizei

Birgit Reimann wurde Wilhelmsburg, damals ein Berufsalltag erzählt sie in kümmert sich um 1961 in Hamburg-Harburg Stadtteil mit sozial schwa­ dem im April erschienenen Kommunikation und als erste Tochter eines chen Gruppen. Sie wechselte Buch Die Großstadt ist mein Datenver­arbeitung bei Ingenieurs und einer später zum ­ Revier (Fischer Krüger). der Verbrechensbe­ Buchhalterin geboren. Sie KDD, dem Kriminaldauer­ Reimann engagiert sich kämpfung. Sie ist leiden­ ging in Harburg zur Schule dienst, um sich der Gewalt­- nebenbei in der Gewerk­ schaftliche Motorradfahrerin und besuchte das Gymnasi­ prä­vention und dem schaft sowie im Kriseninter­ und schaut gern Tatort, um. Anschließend studierte Opferschutz zu widmen. ventionsdienst des DRK. vor allem den Münsteraner. sie in Hamburg ein Jahr lang Schließlich war sie für einige Sie ist Mitglied der Rettungs­ Außerdem liest sie Ägyptologie, sah aber keine Jahre im Landes­kriminalamt hundestaffel und auch blutrünstige Romane und berufliche Perspektive. für die Bekämpfung von beim Katastrophenschutz die Fälle von Profilern. Deshalb machte sie eine Kinder-pornografie Hamburg-Mitte aktiv. Das Leibniz-Journal. Ausbildung im mittleren zuständig. Reimann lebt mit ihrem Dienst bei der Polizei Die 51-Jährige arbeitet heute 17-jährigen Sohn und ihrem Jetzt für 3 Euro an Flughäfen und Bahnhöfen. Hamburg. 1982 begann ihre Von ihren Erfahrungen bei der Polizei Hamburg Mann, einem pensionierten Karriere im Streifendienst in aus mehr als 30 Jahren im gehobenen Dienst. Sie Polizisten, in Harburg. ML 24 A – Z der Freitag | Nr. 24 | 13. Juni 2013

A–Z Kaufhäuser len diese Häuser heute aber auch immer noch ihren ursprünglichen Zweck. Wobei gern betont wird, dass sie ein wenig Pati- na und Konsumgeschichte mit sich rum- schleppen. Nüchtern betrachtet ist das K Berliner Kaufhaus des Westens zwar flä- Karstadt Mit dem Konzept „Karstadt chenmäßig das größte Warenhaus Kon- 2015“ wollte der Milliardär Nicolas Berg- tinentaleuropas, aber sonst nichts ande- gruen das Unternehmen konsolidieren. res als die ausgewalzte Version der Seine Strategie: eine Ausdifferenzierung Karstadt-Premium-Rubrik. Ebenfalls hö- des Sortiments und eine Profilschärfung. herpreisigen Produkten gewidmet, ist das Die Karstadthäuser sollen, je nach GUM in Moskau: Heute residiert es als Standort, auf die Labels „Premium“, „Wa- Shoppingcenter gegenüber dem Lenin- renhaus“ oder „Sport“ gebürstet wer- Mausoleum und erinnert emblematisch den. Hinzu kam ein Personalabbau sowie an den Kampf der Systeme. TP eine Lohnpolitik, die auf Opfer der Ange- stellten setzt. Das fällt der Kaufhauskette nun auf die Füße. So war eine Aussetzung des Tarifvertrags beschlossen worden, um das Unternehmen zu retten. Damit müsse aber nun Schluss sein, fordert Verdi. Erste Warnstreiks gab es vergangene Woche. Berggruen reagierte darauf mit Gewerk- U schaftsschelte. Und am Wochenende wur- Unordnung der Dinge Die Unordnung de nun bekannt, dass auch der Geschäfts- der Dinge hielt bei Karstadt Einzug, seit führer Andrew Jennings nicht mehr will. Berggruen am Zug ist. Vorstandsvorsit- Mitten in der Krise muss Karstadt sich ei- zender Andrew Jennings formulierte die nen neuen Chef suchen. TP Idee wie folgt: „Karstadt erweitert das An- gebot im Bereich Fashion mit mehr als 50 neuen internationalen und deutschen Marken, die sich an einen moderneren Kunden richten und gleichzeitig dem be- stehenden Kundenstamm Neuheiten bringen.“ Die gravierendste Neuerung bestand darin, dass der Kunde nicht L mehr fand, was er suchte. Statt Bedarfs- Literatur „Die Uhren schlagen sieben. Nun refugien zu schaffen, in denen man nach gehen überall in der Stadt die Geschäfte Schuhgröße und Schuhart alle Sandalen- f aus. /Aus schon umdunkelten Hausfluren, modelle in Größe 43 durchprobieren oder

a i u/l durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hal- alle Stabmixer vergleichen konnte, muss len drängen sich die Verkäuferinnen her- man Inseln der einzelnen Markenherstel-

s Herz a s aus“, besang der Expressionist Ernst Stad- ler abklappern, um eventuell zum glückli- ler kurz vor dem Ersten Weltkrieg den La- chen Konsument zu werden. TP denschluss. Den „kleinen Ladenmädchen“, die am Feierabend „ins Kino gehen“, setzte

a Andre Foto: aber erst Siegfried Kracauer ein Denkmal. Kein sonderlich vorteilhaftes, denn er Ausgeglänzt? Bei Karstadt demonstrieren Angestellte für höhere Löhne, der rückte sie – dem zeitgenössischen Kli- schee folgend – in die Randzone des leich- Geschäftsführer schmeißt hin, und Investor Nicolas Berggruen sagt, er habe ten Gewerbes. Kaufhaus-Romane gab es sich die Rettung viel leichter vorgestellt. Kritiker sehen das Prinzip Kaufhaus in der Weimarer Republik zuhauf. Und V sie handelten nicht nur von Verkaufs­ Verkäuferinnen Die junge Denise aus der an sich als überholt an. Dabei blickt es auf eine große Geschichte zurück püppchen mit Ambitionen à la Irmgard Provinz ist Protagonistin von Emil Zolas Keun oder Vicki Baum. Der bekannteste Roman Paradies der Damen (➝Aristide männliche Protagonist ist Pinneberg aus Boucicaut). Sie ergattert eine Anstellung liest sich das Vorgehen so: Gespart wird, sie ernst und trieben die schrittweise Ent- Hans Falladas Kleiner Mann, was nun?, der, im Kaufhaus. In ihrer Figur spiegelt sich „indem die Behörden und Einrichtungen eignung der Warentempel in jüdischem gerade Ende 20, dem Kaufhaus zu teuer die erstarkende Berufsgruppe der Verkäu- des Bundes elektronische Bestellungen Besitz voran. Davon betroffen war auch und entlassen wird. Willi aus Werner Türks ferinnen. Dass die Berufstätigkeit für aus Rahmenvereinbarungen tätigen kön- Georg Wertheim. Er kam 1885 von Stral- Konfektion dagegen liefert doppelt Stoff: Frauen bis dato als verpönt galt, änderte nen, welche die Zentrale Beschaffungs- sund nach Berlin und eröffnete dort 1897 Rund um den Berliner Hausvogteiplatz sich mit der Zunahme ökonomischer Be- A stellen abgeschlossen haben“. Durch ei- das Kaufhaus Leipziger Straße. Es war ein gab’s zu den hochfliegenden Aufsteiger- gehrlichkeiten: Die Zahl der angestellten Aristide Boucicaut „Mouret hatte nur nen einheitlichen Warenstandard wird für die damaligen Verhältnisse stilbilden- träumen des Romans die passenden Kla- Frauen in Handel und Büro verdreifach- eine einzige Leidenschaft: sich der Frau dabei ausgeschlossen, dass bei den Beam- des Einkaufsparadies mit modernen Auf- motten. Ulrike Baureithel te sich zwischen 1882 und 1907. Berufstä- unterwerfen.“ So steht es bei Emile Zola. ten Bleistiftneid oder Büroklammermiss- zügen, einem gigantischen Lichthof und tigkeit barg plötzlich die Chance zum so- In seinem 1883 erschienenen Roman Das gunst aufkommt. Tobias Prüwer einem Teesalon. 1912 erlangte es den Sta- zialen Aufstieg. Das änderte nichts daran, Paradies der Damen beschreibt er den tus als größtes Kaufhaus Europas mit dass die Verkäuferinnen unter widrigen Glamour des neuen Einkaufens im Kauf- 3.200 Angestellten. 1934 versuchte Wert- und fast sklavenähnlichen Verhältnissen haus, seine Verklärung und Verführung. heim sein Eigentum vor dem Diebstahl leben mussten und sich oft von Männern Vorbild für Zolas Kaufhausdirektor Oc- durch die Nazis zu schützen, indem er es aushalten ließen. Heute können Frauen tave Mouret war Aristide Boucicaut. Er per Schenkung seiner nicht-jüdischen zwar die Rechnung beim Abendessen ist der Urvater des Kaufhauses. Er be- Frau übertrug. Doch es half nichts. Die O übernehmen, aber sie verkaufen meist gann seinen Aufstieg zum Großunterneh- Firma Wertheim bekam den Stempel Online-Shopping „Wir müssen mehr on- noch immer: Kauffrau im Einzelhandel, mer 1852 bei einem kleinen Laden mit E „rein jüdisch“ und ging 1937 in die AWAG line“ ist wohl die am häufigsten gedro- Verkäuferin und Bürokauffrau waren 2010 dem schönen Namen Bon Marché im Pa- Elefant Der Brite William Whiteley war – Allgemeine Warenhaus Gesellschaft AG schene Phrase in den Chefetagen großer die von Frauen am häufigsten gewählten riser Quartier Latin. Schon dort führte er ein Unternehmer mit Leib und Seele. Der – über. Aus anderen jüdischen Kaufhäu- Handelsunternehmen. Das als Kaufhaus- Ausbildungsberufe. Juliane Löffler nach und nach Neuerungen ein, die zum Kunde für ihn? Wichtiger als die Queen. sern wurden unter anderem Hertie und killer gescholtene Online-Shopping soll Modell für den Handel weltweit wurden: Seine Kaufhäuser? Ein anderer Planet. Das Kaufhof. MS nun auch für ➝Karstadt der Heilsbringer Fixpreise ersetzten das bis dahin übliche Sortiment? Ein Universum mit allem von sein. Immerhin kaufte 2012 jeder zweite Feilschen, bei dem der soziale Status Menschen Gemachtem und Gewünsch- Deutsche online ein. Knapp 90 Prozent meist das Startangebot bestimmte. Die tem. 1963 eröffnete Whiteley im Herzen sind es gar unter den 25- bis 44-Jährigen. Gewinnspannen wurden gesenkt, was die von Londons Notting Hill seinen ersten Klar, dass da alle mitverdienen wollen. Produkte günstiger machte. Dazu kam – Laden. Nach und nach kaufte er immer Nur sollte ein Kaufhaus nicht seine urei- völlig neu – das Umtauschrecht. 1869 mehr Geschäfte auf und baute sich ein re- gene Stärke vergessen: Man kann die Pro- Z baute Boucicaut sein Warenhaus Au Bon gelrechtes Imperium mit allen erdenkli- dukte anfassen und anprobieren, gegen- Zielscheibe „Es ist immer noch besser, ein Marché. Zu seinen Angestellten zählten chen Produkten und Dienstleistungen G einander abwägen, ihnen mit allen Sin- Warenhaus anzuzünden, als ein Waren- auch die späteren Gründer von Printemps auf. Selbst Golfkurse gehörten zum Ange- Grüne Wiese Die Shopping-Meile in der nen begegnen. Wohl daher hat Karstadt haus zu betreiben.“ Als Ulrike Meinhof und La Samaritaine. Mark Stöhr bot. Whiteley nannte sich „The Universal Innenstadt ist bedroht. Von der Konkur- eine seltsame Option in seinem Online- 1968 Fritz Teufel zitiert, sind vier Mit- Provider“. Alles könne er besorgen, „von renz im Internet und auf der grünen Wie- Angebot: Man kann die Waren statt nach glieder der Außerparlamentarischen der Nadel bis zum Elefanten“. Diesen se. So sehen es zumindest viele Politiker Hause auch in einzelne Filialen zum Ab- Opposition (APO), unter ihnen Andreas Werbeslogan nahm ein Kunde offenbar und denken sich Gesetze aus, um die Fuß- holen schicken lassen. TP Baader, für ihre Brandanschläge in zwei wörtlich: Er bestellte einen Dickhäuter. gängerzonen in den Stadtzentren zu Kaufhäusern bereits zu Haftstrafen ver- Und Whiteley soll tatsächlich geliefert schützen. In Baden-Württemberg bei- urteilt. Dass ihr „politisches Happening“, haben. Ein paar Stunden später stand spielsweise soll private Gentrifizierung mit dem sie gegen Konsumterror und die der Elefant bereit. Wahrscheinlich ist die unter gewissen Umständen staatlich Gleichgültigkeit der Deutschen gegen- B Geschichte aber erfunden. Der Einkaufs- verordnet werden können. Wenn 15 Pro- über dem Vietnamkrieg protestieren Bund Drohnen kann man dort zwar nicht kette Whiteley, die es heute noch gibt, hat zent der Gewerbetreibenden vor Ort eine wollten, als profane Kriminalität behan- kaufen, aber es gibt tatsächlich ein „Kauf- sie nur bestimmt nicht geschadet. MS selbstfinanzierte Initiative zur Stadtver- delt wird, ist ihnen unverständlich. haus des Bundes“. Es ist für den zentralen schönerung anstoßen, dürfen die Kom- P Wer dagegen Sympathien in der Bevöl- Einkauf staatlicher Institutionen zustän- munen eine Satzung erlassen. Dann wer- Patina GUM, KaDeWe, Lafayette: Viele kerung einfuhr, war Arno Funke, der in dig, die über ein Beschaffungsvolumen Enteignung Für die Nazis waren die Kauf- den auch die anderen Geschäftemacher, Metropolen können historische Kaufhäu- den Neunzigern als Kaufhauserpresser von 250 Milliarden Euro verfügen. Weil häuser eine „jüdische Erfindung“. In ih- insbesondere die großen Kaufhausketten, ser vorweisen oder besser: historisierte. „Dagobert“ bei zahlreichen Geldüberga- man ja auf gar keinen Fall Steuern ver- rem Parteiprogramm forderten sie eine zur Kasse gebeten. Damit die Innenstädte Im Gegensatz zum echt historischen ben die Polizei narrte. Nach seiner Haft- plempern will, hat der Staat 2003 dieses „Kommunalisierung“ der Groß-Kaufhäu- nicht veröden – und der Konsum dort „Kaufhaus“ in Freiburg, das einst mittelal- entlassung vermarktete er die Geschichte Kaufhaus gegründet. Im Amtsdeutsch ser. Nach der Machtergreifung machten weitergehen kann. Felix Werdermann terlicher Warenumschlagplatz war, erfül- erfolgreich in Buchform. Jutta Zeise