Die politische Nr. 373/Dezember 2000 Meinung

Zur Politik Konrad Adenauers gegenüber Israel und den Juden Moral als Staatsräson

Niels Hansen

„Israelabkommen 1952 – Sühne an den Ju- mit dem so genannten Entschädigungs- den. Eine innere Verpflichtung, wiedergut- schlussgesetz vom September 1965 dann zumachen, soweit das überhaupt möglich substanziell abzuschließen gelang, konnte war. Das Israelabkommen ausschlagge- in Durchführung des Protokolls Nummer 1 bend für das Ansehen der Deutschen in der zum Luxemburger Vertrag unter der Ägide Welt.“ Die erste Inhaltsskizze zu Adenauers des Kanzlers ausgebaut werden. Sie kommt Erinnerungen bringt – über den entschei- in der Tat ganz überwiegend Juden und denden Vertrag und die ihm zugrunde lie- zu mehr als vierzig Prozent Israelis zugute. gende Motivation hinaus – das Wesen der Bei der Formalisierung der gegenseitigen Politik des ersten Bundeskanzlers gegen- Beziehungen ergab sich bald ein Para- über Israel und allgemein den Juden sinn- digmenwechsel: Deutscherseits 1952 er- fällig zum Ausdruck. Wenn es schon früh ge- wünscht, erschien sie der israelischen Re- lang, nach der Katastrophe Stege und gierung zu diesem Zeitpunkt zu früh, und als Brücken über den Abgrund zu schlagen, so Jerusalem Anfang 1956 darauf zu drängen war das deutscherseits vor allem das per- begann, winkte angesichts der arabi- sönliche Verdienst Konrad Adenauers. Er schen Drohung mit der Anerkennung der hat diese seine Politik, deren Bedeutung DDR und allgemein des Vordringens der nicht hoch genug eingeschätzt werden Sowjets in der Region ab. Der Bundeskanz- kann, bald nach dem Regierungsantritt ein- ler unternahm 1963 zweimal den – indes geleitet, die Aufnahme der im März 1952 bei vergeblichen – Versuch, noch vor seinem Den Haag beginnenden Vertragsverhand- Rücktritt einen Botschafteraustausch her- lungen wagemutig ermöglicht, diese bis zu beizuführen, welcher schließlich im Mai der in Luxemburg am 10. September 1952 1965 unter Inkaufnahme des Beziehungs- erfolgten Unterzeichnung taktisch klug ge- abbruchs von Seiten Ägyptens und neun steuert und die Ratifizierung gegen erbit- weiterer arabischer Staaten vereinbart terte arabische Gegenwehr ein halbes Jahr wurde. später unter Dach und Fach gebracht – mit Adenauer hat Israel für die so lange hinaus- zähem Engagement und beträchtlichen in- gezögerte Aufnahme der diplomatischen neren und äußeren Widerständen zum Beziehungen zu entschädigen versucht Trotz. durch die bilaterale Rüstungszusammenar- Die komplexe individuelle Entschädigungs- beit, die Franz Josef Strauß und Shimon Pe- und Rückerstattungsgesetzgebung, die es res 1957 auf den Weg brachten, durch die

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1959 – unter Vermittlung seines lebenslan- tisch und unreflektiert allgemein Wieder- gen jüdischen Freundes Dannie Heineman gutmachung nannte. Als Oberbürgermeis- – eingeleitete wissenschaftliche Koopera- ter von Köln hatte er gute Beziehungen zu tion zwischen Max-Planck-Gesellschaft und zahlreichen Juden gepflegt, deren Erfolge Weizmann-Institut sowie durch die 1960 auf wirtschaftlichem Gebiet ihn beein- Ben Gurion beim New Yorker Treffen in Aus- druckten und deren Leistungen in Kultur sicht gestellte Gewährung attraktiver Auf- und Wissenschaft er schätzte. Von Belang baudarlehen („Aktion Geschäftsfreund“). für sein späteres Verhältnis zum Staat Israel Diese zusätzliche Unterstützung, die man war die Mitgliedschaft beim Juden und sich der Araber wegen, letztlich jedoch ver- Christen umfassenden zionistischen Pro gebens, geheim zu halten bemühte, ließ ge- Palästina-Komitee, zu dessen Kölner Ta- wichtigen israelischen Politikern durchaus gung 1927 er mit einem ausführlichen ein Zuwarten lohnend erscheinen, was die Grußwort beitrug. In ihrem systematischen, Bemerkung von Peres belegt, er ziehe den infamen Kesseltreiben gegen ihn beriefen Motorzylinder eines Panzers dem Zylinder sich die Nationalsozialisten weitgehend auf des Diplomaten vor. Im Sinai-Krieg 1956 war diese Sympathien. Heineman, fünf Jahr- die Bundesrepublik – neben den Verbün- zehnte an der Spitze des Weltkonzerns deten Großbritannien und Frankreich – das SOFINA, hielt den aus Amt und Würden einzige Land, das dem Judenstaat hilfreich Gejagten nach 1933 von Brüssel aus drei war. Der deutsche Regierungschef lehnte es Jahre lang finanziell über Wasser, während ab, die vereinbarten globalen Entschädi- dieser die Unterstützung aus den Erspar- gungsleistungen auszusetzen. Wenn die nissen des Vaters einer jüdischen Stadt- nachfolgende Krise um den Golf von Ak- direktorin nicht annahm. In den Memoiren kaba mit einem diplomatischen Sieg Israels heißt es dazu: „Ich hatte als Oberbürger- endete, so war das nicht zuletzt eine Folge meister von Köln viele Freunde. Heineman dieser Politik, welche wirtschaftliche Sank- und Professor Kraus waren die einzigen, tionen seitens anderer Länder aussichtslos die mir nach meiner Absetzung ihre Hilfe erscheinen ließ. In die Zeit Adenauers fällt anboten. Ihre Handlungsweise mir gegen- auch die Förderung des von Israel seit 1958 über hat mich daran erinnert, dass ,Du sollst verfolgten Anliegens einer möglichst engen Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst’ im Anbindung an die EWG, wobei Deutsch- Alten Testament steht.“ Im Verlauf des kur- land stets den Vorreiter spielte und es Bun- zen Intermezzos als Stadtoberhaupt im deskanzler Helmut Kohl 1994 in sehr per- Sommer 1945 bemühte er sich intensiv und sönlichen Bemühungen sogar gelang, dem erfolgreich um die Heimkehr von An- Land einen „privilegierten Status“ bei der gehörigen der Kölner jüdischen Gemeinde Europäischen Union zu sichern. aus Theresienstadt, und er setzte sich allge- mein für die Rückwanderung von Juden ein. Die deutschen Akteure Adenauer hatte engagierte Mithelfer, wobei Es erwies sich als Glücksfall, dass der erste in der Dienststelle für die Auswärtigen An- Bundeskanzler so energisch und so wirk- gelegenheiten und dann im Auswärtigen sam das verfochten hat, was man damals – Amt in erster Linie Walter Hallstein und Her- vielfach auch jüdischerseits – euphemis- bert Blankenhorn zu nennen sind. Beson-

26 Die politische Moral als Staatsräson Meinung dere Verdienste kommen dem Delegati- tionale über eigene Kontakte zur in Jerusa- onsleiter bei den Haager Verhandlungen, lem regierenden MAPAI-Partei verfügte, un- Franz Böhm, zu; als diese in die Krise ge- befangener als die Bonner Koalition, ob- rieten, erklärte er in spektakulärer Form zwar ihr Fraktionsvorsitzender de- öffentlich seinen Rücktritt, wurde aber ren deutschlandpolitisch motivierten Vor- vom Regierungschef zum Bleiben bewo- behalte weitgehend teilte. – Die FDP muss gen. Böhm gehörte ab 1953 für drei Legis- im Lager der demokratischen Parteien in laturperioden als Mitglied der CDU/CSU- diesen Jahren als die zurückhaltendste be- Fraktion dem an, und er war zeichnet werden, was jedoch nicht für als stellvertretender Vorsitzender des Wie- galt – im Gegenteil. dergutmachungsausschusses die treiben- de Kraft bei der befriedigenden Regelung Gleichgesinnte Partner dieser sowohl emotional wie finanziell der- art befrachteten Materie. Eugen Gersten- Und israelischerseits? Wenn die tiefe maier hat im Dialog mit Israel, vorwiegend Sprachlosigkeit vergleichsweise früh über- als Bundestagspräsident, ebenfalls viel be- wunden werden konnte, so ist das in erster wirkt. Linie David Ben Gurion zu verdanken. Auch sind die Sozialdemokraten nicht zu Der große Staatsgründer Israels glaubte zu- vergessen, deren Rolle indes, da sie bis 1967 nehmend an ein „anderes Deutschland“, keine Regierungsverantwortung trugen, be- wenn er in den ersten Jahren die praktische schränkt blieb. Sie plädierten früher als die Arbeit beim Forträumen der Trümmer auf anderen für eine umfassende Entschädi- dem mühseligen Weg auch seinem bedeu- gung. mahnte sie mehr- tenden Außenminister Moshe Sharett über- fach an, und er schrieb kurz vor seinem ließ, der von 1953 bis 1955 fast zwei Jahre Tod dem Kanzler im Mai 1952 einen drän- lang vorübergehend zusätzlich das Amt des genden Brief. Als Vorsitzender des Auswär- Ministerpräsidenten innehatte. Selbst eine tigen Bundestagsausschusses leistete Carlo behutsame Annäherung an die „Täterna- Schmid erhebliche Hilfe, und er hat auch tion“ war für die Regierung damals äußerst später, etwa als einer der ersten deutschen schwierig, denn die weit überwiegende Besucher in Israel, zum so unendlich Mehrheit der öffentlichen Meinung lehnte schwierigen Brückenschlag wesentlich bei- jedwede Kontakte scharf ab. Ben Gurion getragen. Bei der Ratifizierung des Luxem- war es, der in der gefühlsbeladenen, stür- burger Vertrages, in dessen Vorbereitung mischen Knessetdebatte im Januar 1952 die verschiedentlich auch der jüdische SPD- Zustimmung zu unmittelbaren Verhand- Bundestagsabgeordnete Jakob Altmaier lungen mit Bonn durchsetzte – gegen den eingeschaltet war, stimmte die SPD ge- leidenschaftlichen Protest seines Erzwider- schlossen dafür, wohingegen sich immer- sachers Menachem Begin, der insoweit hin 58 Angehörige der CDU/CSU-Fraktion nicht zum letzten Mal sämtliche Register sei- der Stimme enthielten oder abwesend wa- ner populistischen Rhetorik zog: „Es gibt ren und fünf CSU-Abgeordnete sogar ab- nicht einen Deutschen, der an der Ermor- lehnten. Im Hinblick auf die Formalisierung dung unserer Väter unbeteiligt war. Jeder der Beziehungen zu Israel gab sich die SPD, Deutsche ist ein Mörder. Adenauer ist ein die im Rahmen der Sozialistischen Interna- Mörder [. . .] Alle seine Helfershelfer sind

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Mörder.“ Ben Gurion fasste endgültig Ver- 15–19). Der intimen Begegnung, in deren trauen, als klar wurde, dass die Bundesre- Verlauf Frau Paula den Neunzigjährigen für- publik ihre vertraglichen Verpflichtungen sorglich zur Mittagsruhe bettete, haftet et- penibel erfüllte, und er ließ sich darin auch was Rührendes an. Knapp ein Jahr darauf nicht mehr erschüttern, nachdem diese ei- war Adenauer tot, und sein um zehn Jahre nen Botschafteraustausch, für den er sich jüngerer Partner gab dem langjährigen Ge- nach dem Suez-Krieg offen einsetzte, immer fährten auf steinigem Weg beim Staatsakt im wieder hinauszögerte. Bundestag die letzte Ehre. Bundeskanzler Die beiden ersten Regierungschefs ihrer Kiesinger versprach, im Verhältnis zu Israel Staaten, die fast zur gleichen Zeit amtierten, fortzusetzen, was Adenauer begonnen waren sich trotz ihres so anders gearteten habe. Lebenshintergrundes in mancher Hinsicht Eine bedeutende Rolle beim Annäherungs- ähnlich, und sie hegten füreinander beson- prozess spielte jüdischerseits Nahum Gold- dere Wertschätzung. Als solche sind sie sich mann, Präsident des Jüdischen Weltkon- persönlich, obwohl seit 1956 im Briefwech- gresses (WJC) und Gründungsvorsitzender sel, nur einmal begegnet. Das berühmte der im Oktober 1951 zwecks Geltendma- Treffen im New Yorker Hotel Waldorf Asto- chung individueller und kollektiver Ent- ria am 14. März 1960, über das wir heute auf schädigungsansprüche von den wesentli- Grund der zwei Dolmetscherprotokolle ge- chen jüdischen Organisationen ins Leben nauestens unterrichtet sind, verlief ausge- gerufenen Claims Conference (JCC). Der in zeichnet, und die „Chemie“ stimmte. Ein Deutschland aufgewachsene und in Hei- Botschafteraustausch kam dabei nicht zur delberg promovierte liberale zionistische Sprache, doch konnte Ben Gurion das end- Politiker traf mit Adenauer im Dezember gültige Einverständnis seines deutschen 1951 in London zum ersten Mal zusammen, Kollegen zu unentgeltlichen Waffenliefe- und zwischen beiden Männern entwickelte rungen sowohl wie zur naturwissenschaftli- sich im Verfolg häufiger Begegnungen und chen Zusammenarbeit und die – wenn auch einer umfänglichen Korrespondenz ein en- mit der Reaktion „wir werden Ihnen helfen“ ges Vertrauensverhältnis. Goldmann hat die noch vagen – Zusage günstiger Entwick- Verhandlungen zum Luxemburger Vertrag, lungskredite nach Hause bringen. Für Ade- mandatiert vom Staat Israel sowohl wie von nauer war das Vieraugengespräch nicht zu- der JCC, mit ermöglicht und sie dann mit letzt vor dem Hintergrund der Kölner Ha- aus der Sackgasse geführt, er war in den Ra- kenkreuzschmierereien und sonstiger anti- tifizierungsprozess und danach in die indi- semitischer Vorkommnisse um die Jahres- viduelle Entschädigungsgesetzgebung im- wende ein erheblicher politischer Erfolg. mer wieder eingeschaltet. Bis an sein Le- Die zwei Patriarchen kamen nach ihrem bensende blieb er mit den Bonner Regie- Rückzug aus der Regierung erneut bei rungen in intensivem Kontakt. – Sehr ver- Adenauers privatem, aber hochpolitischem dient gemacht um die Anbahnung partner- Israelbesuch im Mai 1966 in Ben Gurions schaftlicher Verbindungen hat sich der is- Kibbuz Sde Boker zusammen, über den der raelische Kovorsitzende der Verhandlungs- Altkanzler in dieser Zeitschrift anschlie- delegation und nachher bis 1965 Chef der ßend einen wichtigen Beitrag schrieb (Die Kölner Israel-Mission, der ebenfalls aus Politische Meinung 115, 11. Jg. 1966, Seiten Deutschland stammende Felix E. Shinnar,

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Bundeskanzler trifft sich während seines USA-Aufenthaltes am 14. März 1960 im Waldorf-Astoria-Hotel mit dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion. Foto: Bundesbildstelle Berlin

„Wer unsere besondere Verpflichtung gegenüber den Juden und dem Staat Israel verleugnen will, ist historisch und moralisch, aber auch politisch blind.Der weiß nichts von der jahrhundertelangen deutsch- jüdischen Geschichte und nichts von den reichen Beiträgen, die von Juden zur deutschen Kultur und Wissenschaft geleistet worden sind. Er begreift nicht die Schwere der Verbrechen des nationalsozialisti- schen Massenmordes an den Juden.“

aus:Konrad Adenauer,„Bilanz einer Reise“ in:Die politische Meinung, Juni 1966,Nr.115,11.Jg.,Seite 17.

29 Die politische Meinung Niels Hansen zu dessen informativem Buch Bericht eines nig zu bieten“, wobei unbeachtet blieb, dass Beauftragten Adenauer und Ben Gurion mit ja lediglich von einem ersten Zeichen die einem Vorwort beisteuerten. Rede gewesen war. Im April 1951 führte Adenauer, vorbereitet von Altmaier, in Paris ein streng geheimes, Der Weg zum Israelvertrag zunächst aber ohne unmittelbares Ergebnis Zurück zum ausschlaggebenden Luxem- bleibendes Gespräch mit dem Staatssekre- burger Abkommen und seiner Vorge- tär im israelischen Finanzministerium, Da- schichte. Bereits im November 1949 hatte vid Horowitz, der als Voraussetzung für Ver- Adenauer dem Herausgeber der Allgemei- handlungen ein deutsches Kollektivschuld- nen Wochenzeitung der Juden in Deutsch- bekenntnis forderte. Ein solches war an- land, Karl Marx, ein oft zitiertes Interview ge- fänglich auch vom WJC verlangt worden, geben, in dem er betonte, das deutsche Volk doch bestanden dessen europäische Ver- sei „gewillt, das Unrecht, das in seinem Na- treter bei den durch Blankenhorn im Auf- men durch ein verbrecherisches Regime an trag des Kanzlers seit April 1950 geführten den Juden verübt wurde, so weit wieder gut- Gesprächen nur noch auf einem feierlichen zumachen, wie dies nur möglich ist, nach- Anerkenntnis der deutschen Verantwort- dem Millionen Menschen unwiederbring- lichkeit. Adenauer gab es am 27. September lich vernichtet sind. Diese Wiedergutma- 1951 vor dem Bundestag ab, und der Kern- chung betrachten wir als unsere Pflicht. Für satz lautete: „Im Namen des deutschen Vol- diese Wiedergutmachung ist seit 1945 viel kes sind unsagbare Verbrechen begangen zu wenig geschehen. Die Bundesregierung worden, die zur moralischen und materiel- ist entschlossen, die entsprechenden Maß- len Wiedergutmachung verpflichten.“ Der nahmen zu treffen.“ Neben der „morali- Wortlaut der sorgfältig redigierten grund- schen Wiedergutmachung“, bei der insbe- legenden Erklärung war über Altmaier und sondere dem Antisemitismus „in aller Goldmann mit der israelischen Regierung Schärfe“ der Kampf angesagt wird, sowie abgestimmt worden. Von einer Kollektiv- der – seit Jahren angelaufenen – individu- schuld war nicht die Rede, die sowohl Ade- ellen Entschädigung beabsichtige man, nauer wie auch Schumacher, Carlo Schmid „dem Staat Israel Waren zum Wiederaufbau und Gerstenmaier – mehrfach allerdings mit im Werte von zehn Millionen D-Mark zur dem Hinweis, von einer kollektiven Un- Verfügung zu stellen, und zwar als erstes un- schuld könne ebensowenig gesprochen mittelbares Zeichen dafür, dass das den Ju- werden – stets ablehnten. Dagegen war der den in aller Welt durch Deutsche zugefügte von Bundespräsident Heuss im Dezember Unrecht wieder gutgemacht werden muss“. 1949 geprägte Begriff der „Kollektivscham“ Das Angebot wurde jedoch in Israel anfangs eine Position, die Intellektuelle, Studenten mehr als skeptisch aufgenommen. Weder und die Presse ganz überwiegend durchaus jetzt noch in Zukunft wolle man von mitzutragen bereit waren, und er besitzt Deutschland Geschenke annehmen. Man auch heute noch Gültigkeit. bezichtigte den Bundeskanzler, der von ge- Die nächste Etappe war die in London am wissen Blättern gar Neonazi gescholten 6. Dezember 1951 abgehaltene, erneut strikt wurde, „in makabrer Art für jeden ermor- geheime Unterredung Goldmanns mit dem deten Juden eine D-Mark und sechzig Pfen- Bundeskanzler, in der dieser die „Flügel der

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Weltgeschichte“ spürte. Adenauer erteilte zende – 1951/52 so nicht vorhersehbare – die briefliche Zusicherung, auf der Grund- spektakuläre Aufschwung der deutschen lage der israelischerseits geltend gemach- Wirtschaft die problemlose Einhaltung ten Ansprüche von einer Milliarde Dollar in nicht nur der eingegangenen Globalver- Verhandlungen einzutreten. In dem Schrei- pflichtungen (verteilt auf zwölf Jahre drei ben heißt es, die Bundesregierung sehe „im Milliarden D-Mark zur Flüchtlingseingliede- Problem der Wiedergutmachung vor allem rung an den Staat Israel, 450 Millionen D- auch eine moralische Verpflichtung [. . .] Mark an die JCC, zwei Drittel in Warenliefe- und eine Ehrenpflicht des deutschen rungen, ein Drittel mittels Begleichung der Volkes“. Indes: Die vor dem Bundestag aus- britischen Erdölrechnung aus Guthaben drücklich erwähnte Konditionierung durch bei der Europäischen Zahlungsunion), son- die Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik dern auch den angemessenen Ausbau der entfiel, und diese ließ zum damaligen Zeit- individuellen Entschädigungs- und Rücker- punkt, in dem das Wirtschaftswunder sich stattungsgesetzgebung, bei der es um un- allenfalls von ferne abzuzeichnen begann, gleich höhere Größenordnungen ging. sehr zu wünschen übrig. Die geforderte Wirtschaftsminister Erhard gehörte mit sei- Summe, die 4,2 Milliarden D-Mark ent- nem nie versagenden Optimismus zu de- sprach, war verglichen mit den jüdischen nen, die Adenauer die Stange hielten, und Verlusten zwar bescheiden, angesichts der er war es im März 1965 auch, der als Bun- aktuellen deutschen Wirtschafts- und Fi- deskanzler den sich nach dem Staatsbe- nanzkraft aber außerordentlich hoch. We- such Ulbrichts in Ägypten immer mehr ver- der mit dem Kabinett noch erst recht mit heddernden Knoten der deutschen Nah- dem Parlament war etwas abgesprochen, ostpolitik auf Anraten Rainer Barzels be- eine kurz zuvor von Hermann J. Abs, dem herzt durchschlug und Israel endlich die Delegationsleiter bei der in Vorbereitung diplomatischen Beziehungen anbot. befindlichen Londoner Konferenz zur Re- Die risikoreiche, vielleicht nicht immer gelung der deutschen Vor- und Nach- ganz stimmige Israelpolitik Adenauers auf kriegsschulden, ausgesprochene Warnung, dem verschlungenen Weg zum Luxembur- sich auf keine präjudizierende Bindung ein- ger Abkommen (und auch danach) ist von zulassen, blieb unbeachtet. Der bei dem deutscher und israelischer Seite gelegent- denkwürdigen Treffen anwesende Blan- lich problematisiert worden. Sie war im kenhorn traute Augen und Ohren kaum. Ganzen betrachtet jedoch eine hochbe- deutende geschichtliche Leistung. Der – durch die Erarbeitung des Generalvertrages Die große Leistung des Bundeskanzlers zeitweise aufs Äußerste belastete – Regie- Adenauer riskierte sehr viel, und er gewann rungschef hat das mit so heikler Fracht be- alles. Nicht nur gelang es ihm, im Verlauf ladene Schiff nicht nur als Kapitän, sondern der krisenträchtigen, fast halbjährigen Ver- auch als Steuermann durch oft stürmische handlungen den nachdrücklichen Wider- See in den sicheren Hafen geführt. Er nutzte stand von Abs, seines störrischen Finanz- dabei nicht zuletzt seine taktischen Fähig- ministers Fritz Schäffer und von Länder- keiten, um innenpolitische Widersacher bankpräsident Wilhelm Vocke zu überwin- auszuspielen, etwa mit dem erwähnten den. Zudem ermöglichte der später einset- Brief Schumachers. Oder indem er an die

31 Ihren NamenmitdemWiedergutma- die ganzefriedliebendeWeltverknüpfen Staates Israel,dieGesamtheitderJudenund rett bemerkte1953dazu:„DieBürgerdes individuelle Entschädigungenleistete.Sha- gar nichtsundÖsterreichnurrelativmagere umso mehr,alstrotzstarkenDrucksdieDDR giösen Beweggründeherausstellte.Diesgilt bei mandiemoralischenundauchreli- mals undspäter–anerkanntwurden,wo- standekommen vonjüdischerSeite–da- Rolle desBundeskanzlersbeidessenZu- Luxemburger Vertragunddiepersönliche Zahlreiche Zeugnissebelegen,wiesehrder wenig befriedigendeResultateaus. Allensbach-Umfrage dazuimHerbst1952 völkerung hintersichzuhaben,wieseine Adenauer wiederholtbehauptete,dieBe- kommen Bonnswaren.Zudem:Obschon picht aufeinzuweitgehendesEntgegen- desrepublik aufkommen–keineswegser- erwünschte WiederbewaffnungderBun- ler müsstendannfürdieimKaltenKriegso gleichen, dasheißtdieeigenenSteuerzah- Sorge, siehättenletztlichdieZechezube- wurde, obgleichdiedreiAlliierten–aus John J.McCloydifferenziertvermittelt kanisches Drängen,vonHochkommissar wie es,aufisraelischesundjüdischameri- Washingtons aneinerLösunganknüpfte, mehrfache GeltendmachungdesInteresses 32 politische Die Meinung Historisch-Politische Historisch-Politische Erscheinungsweise: jährlich. Erscheinungsweise: jährlich. Demokratische Politik DM 38,–/sFrDM 35,–/öS277,– Konrad-Adenauer-Stiftung Archiv fürChristlich- Herausgegeben von der Englische Broschur. Mitteilungen ISSN 0943-691XISSN emVra ne e.( 21 13 014 1) 22 91 39 . beim Verlag unterTel. (0 Erhältlich injedergutenBuchhandlungoder 19. des gen und20.Jahrhunderts. Entwicklun- undsozialen politischen gen, Vorgeschichteihrer geisti- imKontext der und undParteien Bewegungen kratischen christlich-demo- zurGeschichte der gen Forum fürForschungen undDarstellun- ein bieten Konrad-Adenauer-Stiftung der Mitteilungen« Die »Historisch-Politischen dung eingehen,„Adenauer-Ehen“. ansprüche keineneuegesetzlicheVerbin- des EhepartnerszwecksErhaltihrerRenten- schaften vonVerfolgten,dienachdemTod heute nenntmaninIsraelLebensgemein- hatte etwasfastReligiösesansich“.Noch zu IsraelengeBeziehungeneingehensollte, schen denbeidenVölkerngeschehenwar, dass Deutschlandnachallem,waszwi- Peres schrieb1970:Adenauers„Gefühl, tiefst moralischundreligiös“bestimmtwar. Zeit“, dessenHaltunggegenüberIsrael„zu- als „einendergroßenStaatsmännerunserer dem Artikel„TheGreatnessofAdenauer“ Ben Gurionihninder dem RücktrittdesBundeskanzlerswürdigte wöhnlichen Erfolgenerreichthaben.“Nach zigartigste, wasSiebeiallenIhrenunge- wohl, wennichessagendarf,mitdasEin- Führer desneuenDeutschlandbeten,ist Ihre GesundheitundIhrWohlergehenals genheit: „DassvielejüdischeMenschenfür ropa.“ GoldmannmeintebeigleicherGele- im vonKriegundTyranneiverwüstetenEu- nitären undinternationalengutenWillens zum Symbolwiedererstarktenhuma- 80. Geburtstag:„IhrePersönlichkeitwurde schem Verantwortungsgefühl.“Undzum kenntnis undgetragenvontiefemmorali- ohne Präzedens,beschlossenausfreierEr- chungsabkommen, derhistorischenTat Jerusalem Post Köln Weimar Niels Hansen

Böhlau mit Die politische Moral als Staatsräson Meinung

Kommen wir auf Titel und Beginn dieses Bei- liches gilt übrigens, wenn auch nicht in iden- trages zurück: Ging es in erster Linie um ein tischer Weise, für die vielschichtige Motiva- Rentréebillett zur internationalen Gesell- tion der Deutschlandpolitik Ben Gurions. schaft, um das bekannte Wort Heines trotz Dass sich das eine und das andere nach der so andersartigen Ausgangssituation ab- außen und nach innen in nuancierter Ge- zuwandeln? Das war ohne Frage die eine wichtung niederschlagen, entspricht politi- Triebfeder, obwohl sich die Bundesrepublik scher Praxis: Dem Kanzler war natürlich da- bereits als Partner des Westens akzeptiert ran gelegen, international den moralischen fand und formal eine Einlasskarte zur Völ- Aspekt herauszukehren, was auch mit dem kergemeinschaft nicht mehr benötigte. Dies Hinweis geschah, es handele sich um keine gilt umso mehr, als Adenauer die von ihm eigentliche völkerrechtliche Verpflichtung. immer wieder betonte „Macht des Juden- Für den Hausgebrauch war ihm dagegen tums“, besonders in den USA, überschätzte, die Unterstreichung des deutschen Interes- denn die Wirkungsmöglichkeiten der jüdi- ses gleichfalls wesentlich. Wenn Goldmann schen Verbände auf die amerikanische Ad- in den Memoiren das „politische Interesse“ ministration waren damals, was sich auch Bonns hervorhebt, „das Hassgefühl des an der Geschichte des Luxemburger Ver- Weltjudentums zu mildern“, so macht das trags nachweisen lässt, trotz des hohen An- die begriffliche Entsprechung der beiden sehens Israels in den Vereinigten Staaten al- Seiten der Medaille deutlich. In einem Arti- lenfalls marginal. kel „Adenauer und das jüdische Volk“ von 1976 brachte er es anders zum Ausdruck: „Er hätte – heute ist es möglich, es öffentlich zu Moral und Realpolitik sagen – wahrscheinlich die Vereinbarung Der moralische Imperativ, wie ihn die Bun- mit Israel ,billiger‘ haben können. [. . .] Die destagserklärung und der Londoner Brief Tatsache, dass Adenauer, der bestimmt in vom Herbst 1951 unterstreichen und wie er genügendem Maße realpolitisch dachte, während der Ratifizierungsdebatte immer um zu verstehen, dass Israel vielleicht auch wieder zum Ausdruck kam, ist von solchen eine kleinere Summe akzeptiert hätte, ge- realpolitischen Erwägungen logisch nicht gen den Rat seiner meisten Mitarbeiter den zu trennen. Moral gründet im Sinne von Kant relativ großen Betrag schließlich anbot, ist auf der Vernunft, Moral und Staatsräson – der beste Beweis, dass er in all diesen Ver- eine Antinomie, die heute im Zeitalter zu- handlungen nicht nur von politischen, son- nehmender außenpolitischer „Globalisie- dern auch von tief moralischen Motiven ge- rung“ ohnehin hoffentlich an Relevanz ver- leitet war.“ Nicht von ungefähr kennzeich- lieren wird – gehören bei kluger, weitsichti- net Konrad Adenauer in seinen Erinnerun- ger Politik zusammen. Sie sind dann nicht gen das Israelabkommen als „ein politi- antithetisch, sondern komplementär. Ge- sches Ereignis, das mindestens in die glei- wiss, Moral ist ein dehnbarer Begriff, mit dem che Reihe gestellt werden musste mit dem man mancherlei Postulate zu rechtfertigen Deutschlandvertrag und mit dem Vertrag pflegt, doch in der Auseinandersetzung mit über die Europäische Verteidigungsge- der Schoah ist er eindeutig, und er war hin- meinschaft“. Jahrzehnte später vermögen sichtlich einer Entschädigung mit recht ver- wir vermutlich noch klarer als damals die standener Realpolitik deckungsgleich. Ähn- Berechtigung dieses Urteils zu ermessen.

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