POLIS 56 Analysen – Meinungen – Debatten
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Hessische Landeszentrale für politische Bildung POLIS 56 Analysen – Meinungen – Debatten Monika Hölscher (Hrsg.) Zerstörung – Vernichtung – Neuanfang Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 POLIS soll ein Forum für Analysen, Mei- nungen und Debatten aus der Ar beit der Hessischen Landes zentrale für politische Bildung (HLZ) sein. POLIS möchte zum demokratischen Diskurs in Hessen bei- tragen, d.h. Anregun gen dazu geben, wie heute möglichst umfassend Demo- kratie bei uns ver wirklicht werden kann. Der Name PO LIS erinnert an die große geschichtli che Tradition dieses Problems, das sich unter veränderten gesellschaft- li chen Bedingungen immer wieder neu stellt. Politische Bildung hat den Auftrag, mit ihren bescheidenen Mitteln dazu einen Beitrag zu leisten, indem sie das demo- kratische Bewusstsein der Bür gerinnen und Bürger gegen drohende Gefahren stärkt und für neue Heraus forderungen sensibilisiert. POLIS soll kein behäbiges Publikationsorgan für ausgereifte aka- demische Arbeiten sein, sondern ohne große Zeitverzö gerung Materialien für aktuelle Dis kussionen oder Hilfestel- lungen bei konkreten gesellschaftlichen Proble men bieten. Das schließt auch mit ein, dass Auto rin- nen und Autoren zu Wort kommen, die nicht unbedingt die Meinung der HLZ wi derspiegeln. Inhalt Monika Hölscher: Vorwort 3 Reinhard Neebe: Der Anfang vom Ende: Die Pogromnacht vor 75 Jahren in Hessen 5 Judith Kessler: Fast „unsichtbar“: Juden in der SBZ / DDR seit 1945 29 Wolfgang Kraushaar: Antisemitismus in der radikalen Linken (1967–1976) 43 Kristina Meyer: Wiedergutmachung nach 1945: Politik, Praxis und sozialdemokratisches Engagement 61 Elisa Klapheck / Monika Hölscher: „Religion ist dafür da, Menschen stark zu machen“ 87 Autorinnen und Autoren 95 56 Polis 1 2 Polis 56 Vorwort Im März 1994 führte Renate Für viele Überlebende des Ho- Knigge- Tesche, die seit dem 1. Ja- locausts schien es nach Ausch- nuar 1993 das von der hessischen witz, Theresienstadt oder Bu- Landesregierung neu eingerich- chenwald anfangs unmöglich, tete Referat „Gedenkstätten für nach Deutschland zurückzukeh- die Opfer des Nationalsozialis- ren und in einem Land zu leben, mus“ leitete, die erste März-Ta- dessen Terrorregime Millionen gung durch. Thema damals war von Juden in die Vernichtungsla- „Verfolgung und Widerstand in ger deportiert und ermordet hat- Hessen 1933–1945“. Ziel dieser Ta- te. Und doch gab es Menschen, gungen war es, Lehrerinnen und die genau dies taten, unfreiwillig Lehrer sowie Interessierte aus- oder freiwillig, als Displaced Per- führlich über einen Teilbereich der sons, Flüchtlinge aus dem Osten nationalsozialistischen Diktatur zu oder Remigranten. Sie wagten ein informieren. Viele bekannte oder neues Leben und den Wiederauf- noch nicht bekannte Referentin- bau von jüdischen Gemeinden in nen und Referenten konnten im zwei unterschiedlichen deutschen Laufe der Jahre für einen Vortrag Staaten. gewonnen werden. Beim Neuanfang in einem weitest- Vom 1. bis 3. März 2013 fand gehend zerstörten und geteilten schließlich die 20. Tagung statt, Deutschland, in dem antisemiti- in deren Mittelpunkt das The- sches Gedankengut immer noch ma „Zerstörung – Vernichtung – vorhanden war, mussten viele Neuanfang. Jüdisches Leben in Hindernisse überwunden werden Deutschland nach 1945“ stand. Mit – und müssen es bis heute. der Zerstörung der Synagogen Ausgewählte Beiträge dieser Ver- vor 75 Jahren begann 1938 die or- anstaltung sollen in diesem Heft ganisierte Vernichtung der Juden veröffentlicht werden. nicht nur in Deutschland durch die Nationalsozialisten. Doch schon mit der Machtübernahme Hitlers Dr. Monika Hölscher 1933 endete die Hoffnung vieler Leiterin des Referats 2/III Juden, nun endlich als gleichbe- „Gedenkstätten für die Opfer rechtigte Mitglieder in der Gesell- des Nationalsozialismus / Zeit- 56 schaft angenommen worden zu geschichte / Rechtsextremismus“ sein – nach vielen Jahrhunderten der Unterdrückung und der Pog- rome in ganz Europa. Doch diese Hoffnung war nicht nur trügerisch sondern tödlich. Polis 3 Monika Hölscher (Hrsg.): Zerstörung – Vernichtung – Neuanfang 56 Polis 4 Reinhard Neebe Der Anfang vom Ende Die Pogromnacht vor 75 Jahren in Hessen1 Einleitung: stellv. Leiter der Ortspolizeibehör- de, der Marburger Bürgermeister Novemberpogrom 1938 Voß, am 9. November 1938 noch und eliminatorischer eine Wiedervorlage des Berichts Rassenantisemitismus „zwecks weiterer Ermittlungen“.2 Was sich hier als Routinevor- Am Vormittag des 8. November gang im Rahmen der ortspolizei- 1938 erschien der Kaufmann Sa- lichen Arbeit darstellte und über muel Bacharach bei der Ortspo- inzwischen alltäglich gewordene lizeibehörde der Stadt Marburg Übergrif fe gegen jüdische Per- und erstattete Anzeige wegen sonen und Einrichtungen nicht vorsätzlicher Sachbeschädigung hinauszugehen schien, gehörte an der in der Universitätsstraße tatsächlich zum lokalen Vorspiel gelegenen Synagoge. Die von des Novemberpogroms 1938 in der Kriminalpolizei noch am glei- der kurhessischen Provinz. Wurde chen Tage vorgenommenen Fest- die jüdische Bevölkerung seit der stellungen am Tatort ergaben, nationalsozialistischen „Machter- dass in der Nacht vom 7. auf den greifung“ 1933 bereits syste- 8. November „unbekannte Tä- matisch ausgegrenzt und ver- ter“ neun Scheiben der Synago- folgt, so offenbarte sich in der so- ge durch Steinwürfe zertrümmert genannten „Kristallnacht“ nun- hatten. Ferner fanden sich Spuren mehr unverhüllt der mörderische eines versuchten Brandanschlags Charakter der NS-Diktatur: Der mittels zweier mit einer brennba- öffentlich inszenierte Rückfall in ren Flüssigkeit gefüllten Weinfl a- die Barbarei markierte einen ent- schen, deren Explosion jedoch scheidenden Wendepunkt im außer einer „Schwärzung des eliminatorischen Rassenantisemi- Mauerteils“ keinen weiteren Scha- tismus des NS-Regimes, und den angerichtet hatte. Die Nach- das Ziel einer vollständigen Ver- forschungen nach den Tätern, so nichtung des europäischen Ju- 56 der Bericht des ermittelnden Kri- dentums wurde jetzt zweifelsfrei minalbeamten, seien „bis jetzt erkennbar. erfolglos“ geblie ben, und auch Seit den Forschungen von seitens der Isra elitischen Kultus- Wolf-Arno Kropat in den 1980er gemeinde bestehe kein Interes- und 90er Jahren ist bekannt, se an einer eventuellen Strafver- dass Hessen – genauer gesagt, folgung. Im merhin verfügte der dem nördlichen Hessen des Polis 5 Monika Hölscher (Hrsg.): Zerstörung – Vernichtung – Neuanfang Regierungsbezirks Kassel – die Personen von der Mehrheits- unrühmliche Rolle zukommt, den bevölkerung toleriert oder gar Auftakt der Novemberpogrome unterstützt wurde.3 Noch am gebildet, ja geradezu den Test- Abend des Attentats von Her- fall dafür abgegeben zu haben, schel Grynszpan auf Legations- inwieweit die Inszenierung des sekretär Ernst vom Rath in Paris „Volkszorns“ gegen Synagogen, kam es in der Nacht vom 7. No- Geschäfte, Wohnungen und nicht vember auf den 8. November in zuletzt gegenüber jüdi schen Kassel4 so wie in anderen nord- und osthessischen Städten, dar- unter auch Marburg, zu Synago- genschändungen und antisemi- tischen Ausschreitungen. Am 8. November folgten zahlreiche weitere Städte und Dörfer im ge- samten Regierungsbezirk Kas- sel, bevor sich dann am 9./10. November die Pogrome wie ein Flächenbrand über das gesamte Reichsgebiet ausbreiteten. Trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung und einer kaum mehr zu überschauenden Fülle von Publikationen zum Novemberpo- grom 1938 ist bis heute nicht voll- ständig geklärt, wie der Ablauf der Ereignisse in München und im Reich am 9./10. November 1938 im Zusammenspiel mit den frühen Pogromen in Nordhessen seit dem 7. November 1938 zu deuten ist. Handelte es sich hier um eine mehr oder weniger „spontane“ Reaktion aus der Bevölkerung auf den Mordanschlag auf den Bot- schaftssekretär in der deutschen Botschaft in Paris, die Reichs- 56 propagandaminister Goebbels geschickt zu nutzen wusste – oder um eine zielge naue „Inszenierung“ des Pogroms durch das NS- Regime und eine zentral gelenkte Strafanzeige von Samuel Bacharach wg. Sachbeschädigung der Eskalationsstufe in der Durch- Marburger Synagoge, 8.11.1938, in: HStAM 274 Marburg. Acc. 1984/19, setzung seines eliminatorischen Nr. Polis 125, Bl. 30 Rassenantisemitismus? 6 Reinhard Neebe: Der Anfang vom Ende Folgt man der Denkschule der „Der Antisemitismus aus rein „Funktio nalisten“, die das NS-Sys- gefühlsmäßigen Gründen tem als Form polykratischer Herr- wird seinen letzten Ausdruck schaft und den Holocaust primär fi nden in der Form von Po- als Ergebnis einer „kumulativen gromen. Der Antisemitis- Radikalisierung“ auf der Grundla- mus der Vernunft jedoch ge einer letztlich selbstzerstöreri- muß führen zur planmäßigen schen Ämter- und Institutionenri- gesetzlichen Bekämpfung und valität interpretiert, dann ging der Beseitigung der Vorrechte des Novemberpogrom auf die „per- Juden, die er nur zum Unter- sönliche Initiative“ von Goebbels schied der anderen zwischen zurück, während Hitler von den uns lebenden Fremden be- Vorgängen „im einzelnen [...] kei- sitzt (Fremdengesetzgebung). ne Kenntnis besaß“. Insofern kön- Sein letztes Ziel aber muß un- ne jedenfalls nicht von einer vor- verrückbar die Entfernung geplanten und inszenierten Akti- der Juden überhaupt sein. on des NS-Staats die Rede sein, Zu beidem ist nur fähig eine ebenso wie auch die „Endlösung“ Regierung nationaler Kraft der europäischen Judenfrage und niemals eine Regierung nicht von langer Hand vorbereitet nationaler Ohnmacht.“6 5 gewesen sei. Die neuere Forschung hat auf Die „Intentionalisten“ dagegen der Basis einer