ZeitschriftZeitschrift fürfür MIP ParteienwissenschaftenParteienwissenschaften Aus dem Inhalt

Dr. Johannes N. Blumenberg/Prof. (em.) Dr. Karl-Heinz Naßmacher Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos?

Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen: Wie sehr spiegeln sich regionale Unterschiede in Sachsen in den Einstellungen zu Ausländern und Muslimen wider?

Malte Feldmann Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen

Oliver Kannenberg, M.A./Daniel Hellman, M.A. Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten

Alexander Hobusch Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe?

Edoardo Caterina Die Ursprünge des Art. 21 GG: die Idee der Parteiregulierung in Verfassungs- debatten der Nachkriegszeit

Prof. Dr. iur. Patricia M. Schiess Rütimann MIP 2019 Die liechtensteinischen Parteien und das Recht Heft 1 Julian Lechner 25. Jahrgang Politische Theorie Politischer Parteien: Normative Elemente und innerparteiliche ISSN 2192-3833 Konsequenzen einer Republikanischen Perspektivierung Politischer Parteien

Herausgegeben vom Prof. Dr. Silvana Krause/Bruno Marques Schaefer/Tiago Alexandre Leme Barbosa/ Dr. Carolina Pimentel Corrêa/Prof. Dr. Helcimara Telles Institut für Deutsches Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018: Ein neues Paradigma der und Internationales Finanzierung, Anti-Politik und Soziale Netzwerke Parteienrecht und Parteienforschung Prof. Dr. Olaf Jandura/Dr. Linards Udris Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? Die Berichterstattung in Schweizer Printmedien vor den eidgenössischen Abstimmungstagen.

Durim Berisha, LL.M. Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo Herausgeber

Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF)

Prof. Dr. Thomas Poguntke Prof. Dr. Sophie Schönberger

Das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung ist eine zentrale interdisziplinäre wissenschaftliche Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gem. § 29 Abs. 1 S. 2 HG NW.

Redaktion Dr. Alexandra Bäcker

Layout Dr. Alexandra Bäcker

Zitierweise: MIP 2019, S.

Die Zeitschrift für Parteienwissenschaften ist hervorgegangen aus den Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (Jahrgänge 1991-2018) und wird ab dem Jahrgang 2019 unter der Kurzbezeichnung MIP fortgeführt.

Der Bezug ist kostenfrei. Sie können das PRuF als Herausgeber des MIP mit einer Spende unterstützen: Helaba Landesbank Hessen-Thüringen (NL Düsseldorf) Kontoinhaber/Empfänger: Heinrich-Heine-Universität (HHU) IBAN: DE 48 3005 0000 0004 0148 17 BIC: WELADEDD Verwendungszweck: MIP 500 400 00 00

Postanschrift Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Universitätsstraße 1 Geb. 23.31 Raum 01.35 D – 40225 Düsseldorf Tel.: 0211/81-15722 Fax: 0211/81-15723 E-Mail: [email protected] Internet: www.pruf.de MIP 2019 25. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial ...... 4

Aufsätze

Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? ...... 5 Dr. Johannes N. Blumenberg/Prof. (em.) Dr. Karl-Heinz Naßmacher

Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen: Wie sehr spiegeln sich regionale Unterschiede in Sachsen in den Einstellungen zu Ausländern und Muslimen wider? ...... 13 Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband

Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen ...... 28 Malte Feldmann

Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten ...... 41 Oliver Kannenberg, M.A./Daniel Hellman, M.A.

Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? ..... 51 Alexander Hobusch

Die Ursprünge des Art. 21 GG: die Idee der Parteiregulierung in Verfassungsdebatten der Nachkriegszeit ...... 60 Edoardo Caterina

Die liechtensteinischen Parteien und das Recht ...... 74 Prof. Dr. iur. Patricia M. Schiess Rütimann

Politische Theorie Politischer Parteien: Normative Elemente und innerparteiliche Konsequenzen einer Republikanischen Perspektivierung Politischer Parteien ...... 83 Julian Lechner

Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018: Ein neues Paradigma der Finanzierung, Anti-Politik und Soziale Netzwerke ...... 94 Prof. Dr. Silvana Krause/Bruno Marques Schaefer/Tiago Alexandre Leme Barbosa/ Dr. Carolina Pimentel Corrêa/Prof. Dr. Helcimara Telles

1 Inhaltsverzeichnis MIP 2019 25. Jhrg.

Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? Die Berichterstattung in Schweizer Printmedien vor den eidgenössischen Abstimmungstagen...... 111 Prof. Dr. Olaf Jandura/Dr. Linards Udris

Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo ...... 121 Durim Berisha, LL.M.

„Aufgespießt“

„Machtoption“ und „gewünschte Koalitionen“ – zur Problematik imaginierter Koalitionen im Vorfeld der Wahl ...... 130 Dr. Deniz Anan

Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der Parteienfinanzierung ...... 134 Alexander Hobusch

Das Wahlvorschlagsrecht auf Parteitagen: Die Idealvorstellung der innerparteilichen Demokratie im Spiegel der Parteipraxis ...... 138 Christian Bruns

Rechtsprechung und Literatur

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ...... 140 1. Grundlagen zum Parteienrecht ...... 140 Sven Jürgensen 2. Chancengleichheit ...... 147 Dr. Alexandra Bäcker 3. Parteienfinanzierung ...... 155 Dr. Heike Merten 4. Parteien und Parlamentsrecht ...... 159 Jasper Prigge 5. Parteien und Wahlrecht ...... 161 Frederik Orlowski

2 MIP 2019 25. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Rezensionen ...... 168 Rechtsprechungsübersicht ...... 173 Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung ...... 176

PRuF intern

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter ...... www.pruf.de

3 Editorial MIP 2019 25. Jhrg.

Editorial konferenz Parteienwissenschaften (GraPa), die sich am 1. und 2. Februar 2019 zum zehnten Mal jährte Prof. Dr. Thomas Poguntke/ und auch im kommenden Jahr fortgeführt werden Prof. Dr. Sophie Schönberger wird, findet auch das alljährliche Parteienwissen- schaftliche Symposion am 05. und 06. April 2019 wieder statt, in diesem Jahr zu dem Thema „Parteien Die in diesem Heft zusammengestellten Beiträge und Wahlen“. zeigen, dass sich die MIP inzwischen mit ihrer Letztere Tradition wurde im vergangenen Jahr aus nunmehr 25. Ausgabe als Publikationsplattform für Gründen des bevorstehenden Wechsels in der Insti- parteienwissenschaftliche Beiträge fest etabliert hat. tutsleitung ausnahmsweise ausgesetzt, wobei die da- Politikwissenschaftlich und juristisch, in histori- durch bedingte Lücke im Veranstaltungskalender zu scher und auch internationaler Perspektive widmen einem späteren Zeitpunkt gefüllt wurde. Am 18. und sich unsere Autorinnen und Autoren konkreten 19. Oktober 2018 fand die in Kooperation mit dem Problemen aus der politischen Praxis wie auch PRuF von Prof. Dr. Sophie Schönberger und Prof. Grundlagenfragen der Parteienwissenschaften. Das Dr. Christoph Schönberger organisierte Tagung „Die Spektrum der Beiträge ist ein Beleg dafür, dass un- ‚Reichsbürger‘: Eine neue verfassungsfeindliche Be- terschiedliche Disziplinen hier einen produktiven wegung zwischen Staatsverweigerung und Rechts- Austausch pflegen. persiflage“ statt. Dort wurde in interdisziplinärer Dem Anspruch, unbeschränkten und kostenlosen Perspektive die Rolle der sozialen Ressource Recht Zugang zu diesen Forschungsergebnissen im Internet näher beleuchtet, die von der Reichsbürgerbewegung zu ermöglichen, wird das MIP bereits für alle Ausga- einerseits im Hinblick auf das bestehende staatliche ben gerecht, indem die Gesamtausgabe zum Down- Recht grundlegend in Frage gestellt, zugleich aber in load auf der Internetseite des PRuF zur Verfügung paradoxer Weise als abstrakte Idee in besonderer steht. Über das MIP-Beitragsverzeichnis sind alle Weise stark gemacht wird. Mit über hundert Teil- Beiträge in den bisher erschienen Ausgaben des nehmern und auch großer Resonanz im Nachgang MIP, sortiert nach Autor, recherchierbar und direkt (Links zu den Veranstaltungsberichten finden Sie aufrufbar. auf unserer Webseite) war die Tagung ein großer Er- folg. Inzwischen ermöglicht der technische Fortschritt al- lerdings eine komfortablere elektronische Produkti- Ein besonderes Ereignis in diesem Jahr verdient on, Verbreitung und Rezeption, auf die auch das auch besondere Würdigung in diesem Vorwort: Am PRuF nicht mehr verzichten möchte. Um die Attrak- 29. März 2019, einen Tag nach seinem 70. Geburts- tivität und Sichtbarkeit der MIP weiter zu steigern, tag, findet die feierliche Übergabe einer Festschrift sollen die künftigen Ausgaben daher mithilfe einer an Prof. Dr. Martin Morlok statt, der bis zum Win- Open-Source-Software zur Verwaltung und Veröf- tersemester 2018/2019 Direktor des PRuF und Inha- fentlichung von wissenschaftlichen Zeitschriften pu- ber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechts- bliziert werden. Damit einher geht eine Veränderung theorie und Rechtssoziologie an der HHU war. Auf des Erscheinungsbildes der MIP, Periodizität und ein diese Weise ehren die Kolleginnen und Kollegen so- Platzreglement sollen jedoch beibehalten werden, wie Schülerinnen und Schüler Martin Morloks inter- wobei im Interesse der Aktualität der MIP häufigere disziplinäre, internationale, der Praxis zugewandte Veröffentlichungstermine angestrebt werden. Nähere Tätigkeit nach gutem akademischem Brauch. Dem Informationen zur Umstellung und den veränderten darin auch zum Ausdruck kommenden Dank für ge- Publikationsvorgaben werden wir sobald möglich meinsame Arbeit, den steten und bereichernden ge- auf der Internetseite des PRuF veröffentlichen. danklichen Austausch mit dem Jubilar, schließt sich das PRuF-Team von ganzem Herzen an. Es ist uns Wir hoffen, dass Sie – die Autorinnen und Autoren eine Freude, dass Martin Morlok dem PRuF weiter- sowie Leserinnen und Leser – den kommenden MIP hin – auch, aber nicht nur über das Kurtorium – ver- im neuen Gewand weiterhin die Treue halten. bunden bleibt. Alle an den Parteienwissenschaften Interessierten können indes unverändert von unserer Veranstal- tungstradition profitieren. Neben der Graduierten- Düsseldorf, im März 2019

4 MIP 2019 25. Jhrg. Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? Aufsätze

Die SPD am Scheideweg – War die große Wogen schließlich glätten. Zeitgleich fand eine Per- Koalition alternativlos? sonaldebatte statt, die in der Art und Weise, mit der sie geführt wurde, Fremdschämen auslöste und an deren Ende das Nachsehen hatte. An- Dr. Johannes N. Blumenberg1/ drea Nahles wurde Parteivorsitzende, natürlich ohne Prof. (em.) Dr. Karl-Heinz Naßmacher2 die Basis zu bemühen, denn „es sei ein Irrtum, zu glauben, dass Basisdemokratie automatisch die bes- 4 1. Ausgangslage: Kein Weihnachtsgeschenk für ten Ergebnisse hervorbrächte“ , so Nahles. die SPD 2017 Ein Weihnachtsgeschenk wurde der SPD mit der Großen Koalition also wahrlich nicht gemacht und Mit der Schlagzeile „Große Koalition: Ein Weih- die SPD beschenkte sich ebenfalls nicht, wie ein nachtsgeschenk für Deutschland!“ begrüßte 1966 Blick auf die aktuellen Prognoseergebnisse zeigt, bei BILD den Start der ersten „großen Koalition“ in denen sie Anfang November 2018 zwischen 13% Bonn. Damals verfügten die Koalitionsparteien noch und 15% schwankte5. über mehr als neunzig Prozent der Bundestagsman- date. Heute sind es noch gut fünfzig Prozent – und Dabei wäre die große Koalition aus politikwissen- erneut wurde eine „große Koalition“ herbeigeführt. schaftlicher Sicht (nicht nur im Seminar) keineswegs Sie galt – wieder einmal – als „alternativlos“. Zu- so alternativlos gewesen, wie sie öffentlich darge- mindest ist das die Meinung der amtierenden Bun- stellt wurde und eine Ablehnung hätte ebenso nicht deskanzlerin, bei der Alternativlosigkeit längst eine automatisch zu einer Neuwahl geführt. In unserem rhetorische Standardvokabel ist. Beitrag stellen wir deshalb vier für die SPD gangba- re Wege vor und skizzieren deren mögliche Implika- Alternativlos schien die große Koalition auch für tionen. Wir können zeigen, dass die große Koalition Teile der SPD-Führung zu sein, nachdem Verhand- für die SPD keineswegs alternativlos war, aber auch lungen zu einer Jamaika-Koalition von der FDP ge- das Bestreiten der anderen Wege mittelfristig wahr- platzt worden waren. Und dies trotz der klaren Wei- scheinlich nicht zu einem Erstarken der deutschen gerung von Martin Schulz erneut für eine „GroKo“ Sozialdemokratie geführt hätte. zur Verfügung zu stehen. Das Platzen der Jamaika-Verhand- lungen, die Strategie- und Kurs- wechsel der SPD-Parteiführung verbunden mit einer seit Jahren kleiner werdenden Stammwäh- lerschaft und der systematischen Schwäche der europäischen So- zialdemokratie3 – die SPD ist, positiv ausgedrückt, in einer schwierigen Lage. Auch intern standen die Zeichen eher auf Sturm. „#NoGroKo“ war Wochen- lang ein Hashtag, mit dem ein Teil der SPD, allen voran die Jusos und der Juso-Chef Kevin Kühnert, versuchte, die große Koalition doch noch zu verhindern. Ein Mitgliederentscheid sollte die

1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Mannheim. 4 ZEIT ONLINE (2018): Nahles fordert Gabriel zu Zurückhal- 2 Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft (em.), Carl tung auf, 16.02.2018, https://www.zeit.de/politik/deutschland/ von Ossietzky Universität Oldenburg. 2018-02/sozialdemokratie-andrea-nahles-sigmar-gabriel-zu 3 Richard Stöss (2017): Der Niedergang der Sozialdemokratie rueckhaltung, zuletzt geprüft am 27.09.2018. ist hausgemacht (und daher umkehrbar). http://www.polsoz. 5 Wahlrecht.de (2018): Sonntagsfrage Bundestagswahl. Online fu-.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/team/stoess/ verfügbar unter http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm, publikationen/Wahlana-Stoess.pdf. zuletzt aktualisiert am 06.11.2018.

5 Aufsätze Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? MIP 2019 25. Jhrg.

Als Raster dient uns dabei das in Abbildung 1 prä- tivprinzip dient als Puffer, um unterschiedliche Erre- sentierte Pfaddiagramm. Nach dem Scheitern der Ja- gungszustände des Publikums (Aufgeregtheit wie maika-Verhandlungen bestanden demnach vier ver- 1972 und - zumindest medial – 2017 bzw. Gleichgül- schiedene Handlungsalternativen: zwei ohne eine tigkeit als Normalfall der „westlichen Demokratie“ Mitwirkung der SPD und zwei für eine Kooperation mit geringer oder sinkender Wahlbeteiligung) aufzu- zwischen CDU/CSU und SPD. Die Entscheidung fangen. Und dies eben auch, wenn der Widerspruch über die beiden ersten Optionen konnten Bundesprä- zwischen „Kanzlerdemokratie“ (der Medien) und sident und Bundeskanzlerin jeweils alleine treffen, Verhältniswahl (des Bundeswahlgesetzes) offenbar die Wahl zwischen den beiden anderen lag letztlich wird. Zwar traten auch 2017 zwei Kanzlerkandidaten bei der SPD-Führung. Sie musste sich vor Aufnahme der beiden (ehemaligen) „Volksparteien“ gegenein- von Verhandlungen zwischen einer großen Koalition ander an, aber die Wähler bevorzugten in hohem und der Absicherung einer Minderheitsregierung Maße kleinere Parteien, von denen zwei in keinem entscheiden. Nur bei Ablehnung beider Möglichkeiten Falle mitregieren wollten, zumindest „jetzt nicht, so war die Alternative des Grundgesetzes zwangsläufig: nicht oder noch nicht“. Und so sieht bei „personali- Neuwahl des Bundestages oder Ernennung eines sierter Verhältniswahl“ (und vollem Ausgleich der Kanzlers/einer Kanzlerin, also die nicht tolerierte Überhangmandate) der neugewählte eben Minderheitsregierung. aus: ungewöhnlich groß und mit ungewöhnlich vie- len Parteien. Wer das vor fünfzig Jahren (1965 bis Wir beginnen mit der historisch unwahrscheinlichs- 1969) für möglich gehalten hat (so F.A. Hermens ten Variante, der vollständigen Ablehnung jeglicher und seine „Kölner Schule“ der Politikwissenschaft7), Mitwirkung der SPD an der Neubildung einer Bun- wurde damals verlacht und ist heute vergessen. Aber desregierung. wenden wir uns der aktuellen Lage zu. 2. Neuwahl und Minderheitsregierung (nach Gegen die von manchen Medien gebetsmühlenhaft Art. 63 GG) wiederholte Option „Neuwahlen“ steht zunächst ein- mal die Verfassungslage: Wie der erst 2016 gewählte Sicher wollen manche Bürger am liebsten ständig Bundespräsident in seinem WamS-Interview vom wählen. Schließlich offenbart sich darin der Volks- 19. November 2017 erwähnte,8 sind Neuwahlen wille in seinem Rohzustand. Und auch für Politiker ohne ihn nicht möglich. Und wie in den Medien auf- ist der Wahlkampfmodus bequemer als das Ringen gezeichnete Gespräche deutlich machten, mit ihm um Kompromisse. Andererseits kann man die Wähler wohl auch eher nicht! nicht so lange wählen lassen, bis die Politiker mit dem Ergebnis etwas anzufangen wissen. Schließlich haben Dafür ist sicher von Bedeutung, dass die Väter und die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine rein re- Mütter des Grundgesetzes dem leichtfertigen Um- präsentative Demokratie gewollt. Und das Land ist gang mit Neuwahlen in der Weimarer Republik auf damit fast siebzig Jahre sehr gut gefahren. Zwar gab ihre Weise vorgebeugt haben. Eine Selbstauflösung es gelegentlich schier endlose Koalitionsverhandlun- des Parlaments ist in Berlin (im Gegensatz zu man- gen, so wie die nun beendeten (beispielweise 1961, chen Ländern) verfassungsrechtlich nicht möglich. als die FDP ihren Wählern das Ende der Ära Ade- Der Weg zur Auflösung des Bundestages, den die nauer versprochen hatte), und bislang drei „große Kanzler Brandt (1972), Kohl (1982) und Schröder Koalitionen“, aber sonst hat das Modell Deutschland (2005) beschritten haben,9 war (noch) nicht mach- mit wechselnden „kleinen Koalitionen“ reibungslos bar, weil eine geschäftsführende Bundeskanzlerin funktioniert. Die Aufgabe der FDP darin war offen- (im Gegensatz zum gewählten und ernannten Kanz- sichtlich, die Folgen ihrer eigenen Existenz für das ler) nicht das Recht hat, die Vertrauensfrage nach politische System aufzufangen. Dazu ist die heutige Art. 68 GG zu stellen. FDP-Führung offenbar nicht mehr bereit. 7 Werner Kaltefleiter: Die Kölner Schule für Politische Wissen- Repräsentative Demokratie erteilt den gewählten Po- schaft, in: Vera Kaltefleiter-Gemmecke (Hrsg.): Demokratische litikern/Abgeordneten/Parteien – wie Werner Patzelt Existenz heute, Band 20, Köln: Athenäum, 1972, S. 19-24. zu Recht betont hat – den Auftrag „den Volkswillen 8 Frank-Walter Steinmeier (19.11.2017): Interview mit der Zei- zu veredeln“6 – oder anders gesagt: das Repräsenta- tung Welt am Sonntag. Online verfügbar unter http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter- 6 Werner Patzelt: Edel sei der Volkswille, in: Frankfurter Allge- Steinmeier/Interviews/2017/171119-Interview-Welt-am- meine, 21.01.2015 (unter Verweis auf Ernst Fraenkel: Sonntag.html, zuletzt geprüft am 27.09.2018. Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl., Stutt- 9 Rudzio, Wolfgang (2015): Das politische System der Bundesre- gart: Kohlhammer, 1973). publik Deutschland, 9. Aufl., Wiesbaden: Springer VS., S. 231f.

6 MIP 2019 25. Jhrg. Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? Aufsätze

Bleibt als Weg zu Neuwahlen allein die Prozedur ei- ren), die Schatzmeister der demokratischen Parteien ner Kanzlerwahl (nach Art. 63 GG). Zunächst muss müssten bei dem Gedanken an Neuwahlen in der Bundespräsident dem Bundestag einen Kanzler- „Schnappatmung“ verfallen sein.12 kandidaten vorschlagen. Findet dieser eine gesetzli- Abseits der finanziellen und logistischen Herausforde- che Mehrheit, muss der Bundespräsident ihn ernen- rungen hat jedoch auch das Dilemma der SPD selbst nen. Findet der vom Bundestagspräsidenten Vorge- gegen eine Neuwahl gesprochen. Die ausgesprochene schlagene nicht die „Kanzlermehrheit“, kann der und mit einer Neuwahl verbundene Hoffnung der Bundestag 14 Tage lang alleine versuchen mit Mehr- SPD war eng mit der Erneuerung der Partei in der Op- heit einen Kanzler zu wählen. Erst wenn dieser Ver- position verknüpft. Dies aber zu einem Preis, den ei- such fehlgeschlagen ist, muss der Bundestagspräsi- gentlich kaum jemand (und vor allem die Parteispit- dent einen sogenannten dritten Wahlgang durchfüh- ze) nicht zu zahlen bereit gewesen wäre. Bei Neu- ren, also eine letzte Abstimmung zur Kanzlerfrage. wahlen konnte im Frühjahr 2018 nach übereinstim- Und für diesen Fall hat das Grundgesetz (in Art. 63, mender Diagnose von ARD-Deutschlandtrend und Absätze 3 und 4) klare Regeln anzubieten: ZDF-Politbarometer kein substantiell anderes Ergeb- Erhält ein Kandidat (egal wer und von wem vorge- nis herauskommen. Zwar hätte die Wahl aus unserer schlagen) eine Kanzlermehrheit, muss der Bundes- Sicht zu noch geringerer Wahlbeteiligung geführt. präsident ihn/sie ernennen. Den Parteien, die es nicht fertiggebracht hatten eine Regierung zu bilden, wäre überdies der schwarze Pe- Das erschien letztlich nach den gescheiterten Jamai- ter zugeschoben worden. In Folge hätten SPD und ka-Sondierungen und angenommenen gescheiterten CDU weiter an Stimmen verloren und die kleineren GroKo-Verhandlungen unwahrscheinlich. Der wahr- Parteien, allen voran die AfD, hätten schon damals scheinliche Fall war deshalb bis zuletzt in diesem hinzugewonnen, was eine große Koalition nur noch Szenario die eingangs genannte Option. wahrscheinlicher gemacht hätte, um die unliebsame Hat keiner der Vorgeschlagenen die Unterstützung Vielparteienkoalition zu umgehen. Warum also die durch die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl Wähler bemühen, wenn Politikern und Journalisten des Bundestags (2018 also = 355 MdB) gefunden, nichts anderes einfällt. „Jamaika“ geht nicht, also dann (und nur dann) steht der Bundespräsident (und hat nur die GroKo eine Mehrheit. nur er allein) vor einer schweren Entscheidung. Er Auch ist hochgradig ungewiss, ob eine Erneuerung, muss entweder wie von der SPD gewünscht, möglich gewesen wäre. - den mit relativer Mehrheit gewählten Bundes- Der Fisch stinkt auch in diesem Fall vom Kopf her. kanzler ernennen – oder (zur Erlösung der Die jetzt für die große Koalition aufgestellte Mann- Medien) schaft macht zwar deutlich, dass auch auf dieser Ebene Wandel möglich ist, aber ob dieser in der Op- - den Bundestag auflösen (Art. 63 Abs. 4 GG). position noch stärker ausgefallen wäre, ist fraglich. Nehmen wir also an, es wäre zu Neuwahlen gekom- Gleichzeitig täte die SPD gut daran, auch die Rich- men, dann hätte ein Wahltermin frühestens im Mai, tung der Erneuerung zu hinterfragen, denn „mehr wahrscheinlich aber erst im Juni 2018 liegen kön- links“ ist nicht gleichzusetzen mit „mehr Wähler“. nen. Neuwahlen wären aber – entgegen der lautstar- Schließlich tragen die verbliebenen Wähler wohlweis- ken Bekundungen mancher Politiker10 – auch deswe- lich den Agenda 2010-Kurs weiterhin mit. Die unzu- gen schwer vorstellbar gewesen, weil den Parteien friedenen Wähler wieder mit ins Boot zu holen, dürfte (mit Ausnahme von AfD und FDP11) nach Abschaf- hingegen schwierig sein, haben die Sozialdemokra- fung der „Wahlkampfkostenerstattung“ (von 1967 ten diese doch in deren Wahrnehmung bereits verra- bis 1994) dafür schlicht das Geld gefehlt hätte. Was ten und die jungen nachkommenden Wähler kennen immer der Wahlkampf 2017 gekostet haben mag die SPD schon gar nicht mehr als andere Partei. (wir werden es leider erst im Frühjahr 2019 erfah- 3. Der Wille der WählerInnen 10 So etwa SPD-Schatzmeister auf dem Berliner Parteitag im Dezember 2017. Diese Überlegung führt uns erneut zum Wählerwil- 11 Diese Parteien haben auf Grund der Stimmengewinne bei der len, jenem obskuren Produkt rechtswissenschaftli- Bundestagswahl 2017 erhebliche Mittel aus der staatlichen cher Theorie und medialer Politikpräsentation. Teilfinanzierung zu erwarten. Für alle anderen Parteien wird, aufgrund der absoluten Obergrenze für die insgesamt zu ver- teilenden staatlichen Mittel (gemäß § 18 Parteiengesetz), der 12 Für Einzelheiten s. Deutscher Bundestag: Festsetzung der Zuschuss aus der Staatskasse entsprechend schrumpfen. staatlichen Mittel für das Jahr 2017, 22. Februar 2018, S. 7.

7 Aufsätze Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? MIP 2019 25. Jhrg.

Viel war in den Medien und außerhalb seit dem 24. ben. Daten sind nie perfekt. So wird in diesem Da- September 2017 vom Wählerwillen die Rede. Dass tensatz (wie in allen anderen Datensätzen, auch der die Wähler die große Koalition abgewählt hätten, kommerziellen Anbieter) der Anteil der Wählerin- wurde angesichts der massiven prozentualen Verluste nen und Wähler massiv überschätzt. Es ist weiterhin von CDU, CSU und SPD kolportiert. Folgerichtig schwierig Antworten von demokratiemüden Perso- sah die SPD zunächst ihre Position darin, diese ver- nen zu erhalten. In Bezug auf Wechselwähler ist zu- meintlich ungewollte (und für die eigene Profilbil- dem dem Erinnerungsvermögen der Befragten zu dung ohnehin nicht förderliche) Koalition nicht mehr misstrauen. Nichtsdestotrotz erlauben die Daten zu- zustande kommen zu lassen. Und auch nach Ab- mindest einen in der Tendenz sehr reflektierten Ein- bruch der Sondierungsgespräche zur Jamaika-Koali- blick in den Wählerwillen. tion, argumentierten SPD-Parteivorstand und JuSos Anders, als dies in kommerziellen Befragungen oft- gegen die Große Koalition mit Verweis auf den mals gemacht wird, wurden die Befragten gebeten Wählerwillen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, anzugeben, für wie wünschenswert sie persönlich dass im deutschen parlamentarischen System nicht verschiedene Koalitionen halten würden. Die Skala Koalitionen gewählt, sondern lediglich die Zusam- reicht dabei von -5 (überhaupt nicht wünschenswert) mensetzung des Bundestages bestimmt wird. Den bis +5 (äußerst wünschenswert). In Bezug auf den Parteien obliegt anschließend, wie der Bundespräsi- oftmals zitierten Wählerwillen sprechen die Ergeb- dent damals ausgeführt hat, die Regierungsbildung. nisse Bände. Wir beginnen zunächst mit einer Be- Nicht vorgeschrieben ist es den Parteien allerdings, trachtung der Präferenzen von allen Befragten: sich auch an Regierun- gen zu beteiligen. Sie müssen lediglich ihre Grafik 1: Der Wille aller WählerInnen politischen Ziele ein- bringen. Wenn sich eine Partei nun jedoch mit Schwarz-Gelbe Koalition Verweis auf den Wäh- lerwillen nicht in die Regierung einbringt, so Rot-Grüne Koalition ist zumindest zu fragen, ob dies dem Wähler- Große Koalition willen auch wirklich entspricht. Aus Sicht der SPD dürften vier Schwarz-Grüne Koalition Gruppen analytisch be- sonders interessant Ampel-Koalition sein: Die Wähler der SPD, Wähler die vor- her die SPD gewählt Jamaika-Koalition und nun einer anderen Partei ihre Stimme ge- Rot-Rot-Grüne Koalition geben haben (Wechsel- wähler), die Wähler der CDU (als zweite an -3 -2,5 -2 -1,5 -1 -,5 0 ,5 1 1,5 2 2,5 3 der großen Koalition beteiligte Partei) und Wechselwähler, die zuvor der CDU ihre Stimme ge- Alle Grafiken zeigen eine verkürzte Darstellung der geben hatten. Zur Analyse des Sachverhaltes kann Skala aus der oben genannten Frage. Die Punkte eine wissenschaftliche Befragung vor der Wahl her- markieren jeweils das arithmetische Mittel der Ant- angezogen werden. Die Daten der German Longitu- worten der Befragten und die Balken darum das so- dinal Election Study (GLES) 2017 entstammen per- genannte Vertrauensintervall. Innerhalb dieses Ver- sönlichen Befragungen von über 2000 Personen vor trauensintervalls liegt das wahre arithmetische Mit- der Wahl. Ausgewählt wurden die befragten Bürge- tel in der Bevölkerung mit einer Wahrscheinlichkeit rinnen und Bürger über sogenannte Registerstichpro- von 95 Prozent, sofern die Befragung den statisti-

8 MIP 2019 25. Jhrg. Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? Aufsätze schen Anforderungen an die Repräsentativität ge- Auf Basis von Grafik 1 wird bereits erkennbar, dass nügt. Diese Angabe ist notwendig, da Befragungsda- der „Wählerwille“ wohl am ehesten der großen Koa- ten nie zuverlässig einen bestimmten Punkt bestim- lition und danach den drei Zweiparteien-Koalitionen men können, auch wenn dies oft so dargestellt wird. „Schwarz-Gelb“, „Rot-Grün“ und „Schwarz-Grün“ ent- sprach. Koalitionen mit Grafik 2: Der Wille der SPD-WählerInnen drei Parteien werden ins- gesamt schlechter bewer- tet – dies gilt auch für Schwarz-Gelbe Koalition die Jamaika-Koalition. Wäre diese Koalition zu Stande gekommen, Rot-Grüne Koalition wäre dem Wählerwillen insofern sogar weniger Große Koalition entsprochen worden, als es bei der anderen realistischen Koalitions- Schwarz-Grüne Koalition option „große Koalition“ der Fall war. Ampel-Koalition Für SPD und CDU be- deutsamer als die Mei- Jamaika-Koalition nung der Gesamtbevöl- kerung ist natürlich die

Rot-Rot-Grüne Koalition Meinung derjenigen, die eine der beiden Par- teien gewählt haben -3 -2,5 -2 -1,5 -1 -,5 0 ,5 1 1,5 2 2,5 3 (Grafiken 2 und 3).

Auch hier zeigt sich, dass die große Koaliti- on gar nicht so ungerne Grafik 3: Der Wille der CDU-WählerInnen gesehen wurde. Zwar wären Zweierkoalitio- nen mit dem „natürli- Schwarz-Gelbe Koalition chen“ Koalitionspartner die besten Optionen aus Sicht der Wähler gewe- Rot-Grüne Koalition sen, die große Koaliti- on rangiert jedoch bei Große Koalition beiden Gruppen direkt auf dem zweiten Platz. Mehrparteienkoalitio- Schwarz-Grüne Koalition nen – und damit auch Jamaika – sind auch Ampel-Koalition hier die schlechter be- wertete Alternative.

Jamaika-Koalition Noch weiter verfestigt sich dieses Bild bei Be- trachtung der Wechsel- Rot-Rot-Grüne Koalition wähler. So richtet sich auch bei den ehemali- -3 -2,5 -2 -1,5 -1 -,5 0 ,5 1 1,5 2 2,5 3 gen SPD-Wählern die Tendenz der Antworten auf eine Zweiparteien-

9 Aufsätze Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? MIP 2019 25. Jhrg. koalition. Nicht anders sieht es bei den Wechslern Was die Parteien nun auch in ihre Wahlergebnisse der CDU aus. Diese präferierten im großen Teil eine hineininterpretieren wollten, der Wählerwille ging Schwarz-Gelbe Koalition (viele Wechsler wählten eindeutig in Richtung einer Zweiparteienkoalition. bei dieser Wahl – wohl zum Teil auch strategisch – Dabei war die große Koalition für viele Wählerinnen die FDP), die große Koalition war aber auch für die- und Wähler bei weitem nicht die schlechteste Alter- se Gruppe eine nicht zu schlechte Alternative. native. Jedenfalls war sie aus ihrer Sicht besser, als dies „Jamaika“ gewesen Grafik 4: Der Wille der ehemaligen SPD-WählerInnen wäre. Insofern konnte sich auch keine der gro- ßen Parteien mit Ver-

Schwarz-Gelbe Koalition weis auf den Wähler- willen aus der Verant- wortung ziehen. Rot-Grüne Koalition 4. Tolerierte Minder- heitsregierung und gro- Große Koalition ße Koalition Verblieben sowohl ver- Schwarz-Grüne Koalition fassungstheoretisch als auch empirisch nur tole- Ampel-Koalition rierte Minderheitsregie- rung und große Koaliti- on, die eigentlichen Op- Jamaika-Koalition tionen der SPD-Führung. In der SPD war der Rot-Rot-Grüne Koalition Kampf zwischen „See- heimer Kreis“ und „Par- -3 -2,5 -2 -1,5 -1 -,5 0 ,5 1 1,5 2 2,5 3 lamentarischer Linken“, also dem rechten und dem linken Parteiflügel, Grafik 5: Der Wille der ehemaligen CDU-WählerInnen bereits vor dem Berli- ner Parteitag voll ent- brannt. Ein weiterer

Schwarz-Gelbe Koalition Bundesparteitag folgte in Bonn und dann durf- ten auch noch die Par- Rot-Grüne Koalition teimitglieder darüber abstimmen, ob ihre Par- tei wieder als Mehr- Große Koalition heitsbeschafferin für die CDU-Kanzlerin mit

Schwarz-Grüne Koalition dem bislang schlechtes- ten Wahlergebnis ihrer Partei dienen wollte. Ampel-Koalition Beide hätten Besseres verdient gehabt, sowohl Jamaika-Koalition die dienstälteste Partei in Deutschland, als auch jene Kanzlerin, Rot-Rot-Grüne Koalition die das Land (seit 2005) im Wesentlichen -3 -2,5 -2 -1,5 -1 -,5 0 ,5 1 1,5 2 2,5 3 erfolgreich durch die

10 MIP 2019 25. Jhrg. Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? Aufsätze

Krisen der Weltpolitik manövriert hat. Man mag ihre ßen- und Europapolitik zu verfolgen und mit der ge- „alternativlose“ Politik in Einzelpunkten kritisieren, meinsamen Mehrheit im Bundestag zu stützen. zum Beispiel beim Atomwieder–ein und dann doch Als Garant für diese politische Linie wird die Bundes- –ausstieg, beim Rettungsschirm für französische kanzlerin der CDU/CSU-geführten Regierung den Banken und deutsche Lebensversicherer oder bei der amtierenden (zu der Zeit also Sigmar Gabriel) Au- Bearbeitung der Flüchtlingskrise, aber das Gesamt- ßenminister (als Person, nicht etwa als Vertreter sei- paket ihrer Außenpolitik kann sich neben denen der ner Partei) im Amt belassen, ggfs. dem Bundespräsi- Kanzler Adenauer (Westbindung), Brandt (Ostpoli- denten einen Nachfolger erst nach Rücksprache mit tik), Schmidt (Abwehr der strategisch gefährlichen der SPD-Fraktion vorschlagen. SS20-Raketen) und Kohl (deutsche Einheit, Vertie- fung der europäischen Integration) durchaus sehen Für alle Fragen der Innen-, Wirtschafts- und Sozial- lassen: funktionierende Zusammenarbeit mit vier politik behalten sich beide Seiten volle Handlungs- französischen Präsidenten unterschiedlicher Couleur freiheit vor, d.h. die unionsgeführte Minderheitsre- und unterschiedlichen Temperaments, Balance zwi- gierung kann sich für ihre Maßnahmen eine beliebi- schen drei amerikanischen Präsidenten und einem ge Mehrheit in Bundestag und Bundesrat suchen, die russischen Alleinherrscher, erfolgreiches Lavieren SPD wird – soweit sie es für richtig hält – dagegen im Verhältnis zur Türkei, Vermeidung allzu großen opponieren. militärischen Engagements in den zahlreichen Kon- Beide Partner dieser Vereinbarung werden sich im flikten der Weltpolitik – und das alles ohne die Ver- Bundestag gemeinsam dafür einsetzen, dass die bündeten zu verärgern. SPD-Fraktion die Vorsitzenden im Haushaltsaus- Diese Stabilität zu sichern war das wichtigste Ziel schuss und im Auswärtigen Ausschuss stellt. aller Konservativen nach dem Scheitern der Jamai- Eine eventuelle Ausrufung des Gesetzgebungsnot- ka-Sondierungen. Wenn die SPD-Führung keine Al- stands gemäß Art. 81 GG bedeutet keine Aufkündi- ternative ansteuerte, war eine erneute GroKo unver- gung dieses Stabilitätspaktes (zur Sicherung der meidbar. Dennoch drängt sich die Frage auf, hätte Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland die außen-, welt- und europapolitische Rolle nach außen). Deutschlands als verlässlicher Partner fortgeführt werden können, ohne die zweitgrößte Partei in den Der Stabilitätspakt endet mit der regulären Neuwahl Augen ihrer Funktionäre, Mitglieder und Wähler zu des Bundestages 2021 oder ggfs. mit seiner vorheri- ruinieren? Die Antwort lag schon im November gen Auflösung nach Art. 68 GG. 2017 nahe: keine Neuwahlen, keine Totalverweige- Im Übrigen verpflichten sich die Partner zum re- rung, keine GroKo, sondern eine tolerierte Minder- spektvollen Umgang miteinander, auch bei allen heitsregierung in Form eines „Stabilitätspaktes“ zwi- Kontroversen in der Innen-, Wirtschafts- und Sozial- schen einer regierenden Union und einer opponie- politik. renden SPD. Dieser Pakt hätte als Plan B auch beim Mitgliedervotum der SPD in Betracht kommen kön- Festlegung von Kündigungsbedingungen für den nen und etwa folgende Inhalte haben können: Fall, dass eine Seite die weitere Anwendung der dar- in getroffenen/ hier vorgeschlagenen Vereinbarun- Die SPD wird nichts tun, um die Bildung einer uni- gen für unzumutbar hält. onsgeführten Minderheitsregierung (aus CDU und CSU allein, aus CDU/CSU und FDP oder aus Ein solcher Pakt hätte sich relativ zügig aushandeln, CDU/CSU und Grünen) zu verhindern (z.B. durch durch die Parteigremien beschließen und gegebenen- Stimmenthaltung bei allen Wahlgängen zur Kanzler- falls durch die Parteimitglieder absegnen lassen. wahl nach Art. 63 GG und Verzicht auf einen Ge- Der hier skizzierte Stabilitätspakt hätte Kontinuität genkandidaten, ggfs. sogar durch Wiederwahl der der Außen- und Europapolitik mit Flexibilität für die bisherigen Kanzlerin im ersten Wahlgang). Regierungszusammensetzung sowie für die Innen-, Die SPD wird in der laufenden Legislaturperiode Wirtschafts- und Sozialpolitik verbunden. Die Kanz- kein konstruktives Misstrauensvotum einbringen lerin hätte auch in diesem Fall weiterregieren und oder ein von dritter Seite eingeleitetes unterstützen. die SPD als Oppositionspartei um das Vertrauen ih- rer früheren (oder anderer) Wähler werben können, Die Partner des „Stabilitätspaktes“ verpflichten sich, ohne jedoch als regierungsunwillige Partei dazuste- schriftlich fixierte Grundlinien für eine deutsche Au- hen. So blieb jedoch nur der alternativlose Weg in die große Koalition.

11 Aufsätze Blumenberg/Naßmacher – Die SPD am Scheideweg – War die große Koalition alternativlos? MIP 2019 25. Jhrg.

5. Fazit Hätten die Barone der deutschen Sozialdemokratie – wie es der Auftrag des Berliner Parteitages war13 – tatsächlich „ergebnisoffen“ sondiert, dann wäre ein solcher „Stabilitätspakt“ sicher als Möglichkeit für eine „stabile Regierung“ am Horizont erschienen. Das hätte noch im Jahre 2017 ein „Weihnachtsge- schenk für Deutschland“ werden können. So aber sind die SPD-Granden zügig auf Frau Merkels Man- tra eingestiegen: Erstens ist eine Mehrheitsregierung alternativlos. Zweitens (nach dem Jamaika-Desaster) ist die GroKo alternativlos. Drittens vor allem aber ist die geschäftsführende Kanzlerin alternativlos! Das Ergebnis von Sondierungen unter dieser Vorga- be war deutlich vorhersehbar. Alle Beteiligten gin- gen ohne Plan B in die Urabstimmung der SPD-Mit- glieder. Deren Ergebnis gab ihnen Recht, es folgten zunächst ein Aufatmen, dann eine Serie von Schar- mützeln in der GroKo und schließlich zwei über- deutliche Niederlagen bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Ob dieser Alternativlosigkeiten ist wohl auch der weitere Weg der SPD fürs erste vorgezeichnet. Weder Neuwahl noch Minderheitsregierung oder GroKo hätten dazu geführt, dass die SPD erneut in der Wäh- lergunst gewonnen hätte. Für die SPD scheint über- dies klar zu sein, dass dies nur über eine programma- tische und personelle Erneuerung möglich ist. Die vergangene Regierungsbildung war unvermeidbar Frau Merkels letztes Gefecht. Ob die von CDU und SPD gewollte „Stabilität“ der großen Koalition bis 2021 hält, ist ohnehin fraglich.

13 „…auszuloten, ob und in welcher Form die SPD eine neue Bundesregierung mittragen kann. Die Gespräche führen wir konstruktiv und ergebnisoffen.“ SPD (2017): Beschluss des Parteivorstandes vom 04.12.2017. Unser Weg. Für ein modernes und gerechtes Deutschland. Online verfügbar unter https:// www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Bundesparteitag_2017/Or dentlicher_BPT/20171204_Beschluss_Leitantrag_II.pdf, zuletzt aktualisiert am 04.12.2017, zuletzt geprüft am 27.09.2018.

12 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze

Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Dresden und Sachsen: Wie sehr spiegeln sich regionale Chemnitz. In Dresden demonstriert seit Oktober Unterschiede in Sachsen in den Einstellun- 2014 nahezu ununterbrochen jeden Montag die fremden- und islamfeindliche PEGIDA und vermag gen zu Ausländern und Muslimen wider? selbst nach mehr als vier Jahren mehr als tausend Menschen zu mobilisieren.3 Keine andere Bewegung 1 Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband in Deutschland hat dies bislang über einen so langen Zeitraum und in einer so dichten Abfolge von Kund- gebungen vermocht. Für nicht wenige Kommentato- 1. Einleitung ren avancierte Dresden dadurch geradezu zur 4 In Sachsen hat die AfD bei der letzten Bundestags- „Hauptstadt des Rassismus.“ Und in Chemnitz kam wahl 2017 mehr Stimmen auf sich vereint als jede es im Herbst 2018 nach dem Tod eines Chemnitzer andere Partei. 27,0 % der Zweitstimmen entfielen auf durch Asylbewerber zu einem Protest, zu dem sich die AfD, 26,9 % auf die CDU. Die „Linke“ erhielt Rechtsradikale, PEGIDA- und AfD-Anhänger ver- 16,1 % der Stimmen, im Abstand gefolgt von der einten. In den Politik und den Medien war die Rede SPD (10,5 %), FDP (8,2 %) und den Grünen (4,6 %). von „Hetzjagden“ auf Ausländer und Flüchtlinge, In keinem anderen Bundesland vermochte die AfD in dass sich viele Bürger an den Protesten von AfD und der Bundestagswahl derart stark zu reüssieren. Und Rechtsradikalen beteiligt hätten und dass rechtsradi- dass sich daran in der nächsten Zeit etwas ändern kale Tendenzen schon lange vorher in Chemnitz be- wird, ist keineswegs sicher: Umfragen weisen zwar standen hätten (vgl. u.a. Der Tagesspiegel 2018). der AfD für die kommende Landtagswahl im Herbst Leipzig blieb bisher aus dem Fokus auf rechtspopu- 2019 weniger Stimmen zu als der CDU, doch beläuft listische, rechtsextreme Tendenzen in Sachsen weit- 2 sich der Rückstand nur auf wenige Prozentpunkte. gehend ausgeklammert. Dass hängt auch damit zu- Zentrales Thema der AfD war und ist die Einwande- sammen, dass es ähnliche Ereignisse wie in Dresden 5 rungs- und Flüchtlingsfrage. Und so hat es nicht an und Chemnitz bislang nicht gab. In Leipzig ist eher Stimmen gefehlt, die den Sachsen aufgrund der die linksextreme Szene stark, und PEGIDA hat hier Wahlergebnisse ein übergroßes Ausmaß an Auslän- keine vergleichbare Basis aufbauen können wie in derfeindlichkeit und Rechtspopulismus, wenn nicht Dresden (vgl. Backes et al. 2016: 34, Yendell und gar Rechtsextremismus zugeschrieben haben. Die Decker 2016: 64ff.). Zwar bildete sich ebenfalls in Wahlergebnisse schienen für viele Beobachter ein- Leipzig zunächst eine Art PEGIDA Ableger heraus mal mehr den Eindruck zu bestätigen, der sich vor- („LEGIDA“), doch er vermochte nur wenige Men- her schon herausgebildet hatte. Und in der Tat: die schen zu mobilisieren und stellte seine Aktivität NPD hatte mehrere Jahre zuvor überproportional nach längerer Zeit der Erfolglosigkeit wieder ein. viele Stimmen für sich mobilisieren können und es Manche Kommentatoren meinen: es hätte sich in bis zur Vertretung im Landtag geschafft (vgl. u.a. Leipzig kein vergleichbares Phänomen wie PEGIDA Brandstetter 2007, Moritz und Staud 2016), rechtsra- herausbilden können, weil es hier von vornherein einen dikale Straftaten und fremdenfeindliche Übergriffe starken Gegenprotest gab. Andere glauben eher an sind in Sachsen seit längerem überproportional häu- Mentalitätsunterschiede zwischen Dresden und Leipzig. fig (vgl. u.a. Backes 2016: 28, Quent 2016: 75). Und Und manche glauben, es wirke bis heute nach, dass spektakuläre Proteste gegen Flüchtlinge – an Orten Dresden zu DDR-Zeiten einst im „Tal der Ahnungs- wie Heidenau, Freiberg oder Bautzen (vgl. u.a. Kur- tenbach 2018) – haben in den letzten Jahren den Ein- 3 Die Gruppe „Durchgezählt“ hat eine Zeitlang für jede PEGI- druck bekräftigt, es wären ausländerfeindliche Res- DA-Kundgebung eine Schätzung der Teilnehmerzahlen vor- sentiments in Sachsen weit verbreitet. genommen. Dies ist seit längerem nicht mehr der Fall, es fin- den Zählungen nur noch sporadisch statt. Am 23. Juli 2018 Zwei sächsische Städte haben im Zusammenhang zählte die Gruppe zwischen 1.400 und 1.800 Menschen, beim vierten Jahrestag im Oktober 2018 zwischen 3.200 und 4.100 mit Protesten gegen Flüchtlinge und Asylbewerber Teilnehmer (mobile.twitter; Durchgezählt@durchezaehlt). in jüngster Zeit in besonderem Maße die öffentliche 4 So in einer An-Moderation in den ZDF Tagesthemen am 18.04.2016. 1 Der Autor ist Professor für Soziologie (em.), Institut für Sozial- 5 Eine Ausnahme bilden Ereignisse in Leipzig Connewitz, bei de- wissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. nen Rechtsradikale randalierten. Vgl. Spiegel Online vom 2 Eine Übersicht über die Parteipräferenzen in Sachsen (ebenso 16.08.2018, „Prozess um rechte Randale“ (http://www.spiegel wie in anderen Bundesländern) auf der Basis aktueller Umfra- .de/panorama/justiz/leipzig-connewitz-prozess-wegen-randale gen findet sich unter https://dawum.de/. -wie-im-kriegsgebiet-a-1223488.html; Zugriff 05.12.2018).

13 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg. losen“ lag, abgeschnitten vom West-Fernsehen. Dem- 2. Zielsetzung und methodisches Vorgehen gegenüber war in Leipzig nicht nur West-Fernsehen möglich, sondern es kamen auch zu internationalen Im Folgenden soll der Frage der Ausländer- und Messezeiten vermehrt Ausländer in die Stadt.6 Fremdenfeindlichkeit und der AfD-Wahlerfolge in Sachsen nachgegangen werden. Nach einem Ver- Nimmt man den Zweitstimmenanteil für die AfD in gleich mit bundesweiten Umfragen stehen die regio- der letzten Bundestagswahl, so scheint es, als gäbe es nalen Unterschieden innerhalb Sachsens im Vorder- in Leipzig tatsächlich eine geringere Neigung zum grund der Diskussion: Wie sehr spiegeln sich in der Rechtspopulismus und zur Fremdenfeindlichkeit als regionalen Variation der Proteste und der Stimmen- in den anderen beiden Städten. In Leipzig vermochte anteile für die AfD Unterschiede in den Einstellun- die AfD 18,3 % der Zweitstimmen zu holen, in Dres- gen gegenüber Ausländern und Muslimen wider? Er- den waren es 22,5 %, in Chemnitz 24,3 % Die Un- weist sich Dresden als Ort der PEGIDA Kundgebun- terschiede gehen in die erwartete Richtung, sind aber gen als überproportional fremdenfeindlich? Und wie insgesamt eher gering. Wenn die AfD höhere Wäh- verhält es sich mit Chemnitz? lerstimmanteile für sich verbuchen konnte, dann in den kleineren und mittelgroßen Orten Sachsens. Bevölkerungsumfragen aus jüngerer Zeit, die für die drei Städte Vergleichsmöglichkeiten bieten, fehlen.10 So vor allem in den Gemeinden und Landkreisen der Es gibt lediglich zwei kleinere, unabhängig vonein- „Landesdirektion“ (Regierungsbezirk) Dresden: im 7 ander entstandene Erhebungen mit Schwerpunkt auf Wahlkreis Bautzen errang die AfD 32,8 % , im (rechts-)politische Orientierungen der Bürger in Dres- Wahlkreis Görlitz 32,9 % und in der Sächsischen den und in Chemnitz (Fehser 2016, Rippl et al. 2016). Schweiz 35,5 % (10 Prozentpunkte mehr als die Des Weiteren gibt es eine Leipziger Bürgerumfrage, CDU!). In manchen Gemeinden der Sächsischen in der einzelne Fragen zu Ausländern und Asylbewer- Schweiz wurden sogar Werte zwischen 37 % und bern gestellt wurden (vgl. Stadt Leipzig 2016: 79ff.). 40 % erreicht – in Gemeinden paradoxerweise, die Da sich das Fragespektrum und die Frageformulierun- auf den ersten Blick wirtschaftlich gut dastehen gen (und z.T. auch der Befragungsmodus, telefonisch müssten, stellen sie doch bevorzugte Fremdenver- 8 vs. postalisch) unterscheiden, ist ein Vergleich der kehrsorte in der Nähe von Dresden dar. In den Ge- drei Erhebungen untereinender im Hinblick auf die meinden und Landkreisen der Landesdirektion hier diskutierten Fragen allerdings nicht möglich. Chemnitz kam die AfD im Durchschnitt auf etwas niedrigere Werte als in der Landesdirektion Dres- Die einzige Vergleichsoption, die sich bietet und es den: auf Anteile zwischen 26,4 % und 29,2 %. Und erlaubt, zumindest eine der drei Städte in den Fokus im Wahlkreis Leipzig-Land belief sich der Anteil zu rücken – Dresden im Vergleich mit Sachsen –, mit 26,9 % ebenfalls auf einen niedrigeren Wert.9 stammt aus dem Jahr 2010. Sie basiert auf einer tele- fonische Befragung von Einwohnern ausgewählter Ortsamtsbezirke der Stadt Dresden im Vergleich mit 6 Der Ausländeranteil lag 2017 in Leipzig bei 8,7 %, in Dresden bei 6,5 % und in Chemnitz bei 7,0 %. In den Landkreisen einer telefonischen Befragung der Bürger des Lan- liegt er darunter, zwischen 1,9 % und 4,0 % (Sächsischer des Sachsen (letztere basierend auf einer Kumulati- Ausländerbeauftragter 2018: 126). on mehrerer bundesweiter Umfragen der vorange- 7 Der Begriff „Landesdirektion“ ersetzt in Sachsen den früher gangenen Jahre). Der Vergleich legt nahe, dass die üblichen Begriff „Regierungsbezirk“. Der Wahlkreis Bautzen Ausländerfeindlichkeit in Dresden zu dieser Zeit besteht – ebenso wie die anderen Wahlkreise – aus mehreren niedriger lag als in Sachsen als Ganzes (vgl. Institut Wahlkreisen auf Gemeindeebene. Im Wahlkreis Bautzen I er- rang die AfD in der Stadt Bautzen 32,3 % der Stimmen, im für Interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung Wahlkreis Görlitz in der Stadt Görlitz 31,5 % der Stimmen 2010: 109).11 Desgleichen erbrachte ein Vergleich von (vgl. www.bundeswahlleiter.de; www.statistik.sachsen.de). Dresden (im Frühjahr 2014) mit den Städten Ham- 8 In Bad Schandau lag die AfD-Stimmenzahl bei 37 %, in Sebnitz burg (2011) und Düsseldorf (im Frühjahr 2014) auf bei 38 %, in Wehlen und Hohenstein bei 40 %. Es sind alle- der Grundlage schriftlich-postalischer Bevölkerungs- samt kleinere Orte mit maximal 3.600 Einwohnern. Lokale Besonderheiten sind daher nicht ausgeschlossen. Zu einer re- gionalisierten Analyse der Wahlergebnisse in Sachsen für die 10 Vergleichende Daten zum Thema Einstellung zu Ausländern NPD in der Bundestagswahl 2004 vgl. Spier (2007). Zu den finden sich für die drei Städte lediglich in einer Erhebung des rechtsmotivierten Straftaten in den Regionen Sachsens in jün- Verfassers aus dem Jahr 1996 (Reuband 2019). gerer Zeit vgl. Quent (2016: 81f.) 11 Da sich die Erhebungen für Sachsen auf eine Kumulation 9 Zahlen nach www.statistik.sachsen.de (Zugriff 28.11.2018). bundesweite Erhebungen aus früheren Jahren stützen, ist al- Der niedrige Wert für Leipzig-Land schließt nicht aus, dass lerdings nicht ausgeschlossen, dass der zwischenzeitlich statt- rechtsextreme Strukturen auch hier partiell existieren (vgl. gefundene Rückgang ausländerfeindlicher Ressentiments den dazu Quent 2016: 83). Gesamtbefund etwas kontaminiert.

14 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze umfragen selbst wenige Monate vor der PEGIDA Angelegt waren die Erhebungen als repräsentative Entstehung keinen Hinweis für eine überproportio- Studien, etwaige Abweichungen von der amtlichen nale Ausländerfeindlichkeit in Dresden. Der Lang- Statistik wurden vom Erhebungsinstitut durch eine zeitvergleich für Dresden zeigte zudem, dass die Gewichtung auf Landesebene nach den Merkmalen Ressentiments gegenüber Ausländern seit den Alter und Bildung ausgeglichen. Ein derartiger Aus- 1990er Jahren auf einen Tiefstand gesunken waren gleich gewährleistet freilich nicht zwangsläufig auch (Reuband 2015: 137). einen Ausgleich auf der Ebene der einzelnen Städte oder Landkreise. Hier kann es – wie in Dresden der Aber was damals galt, muss nicht mehr heute gelten, Fall – selbst nach einer Gewichtung auf Landesebe- zumal im großen Stil neue Gruppen von Ausländern ne zu größeren Abweichungen von der Grundge- – Flüchtlinge und Asylbewerber mit muslimischem samtheit kommen.16 Wir haben deshalb für Dresden Hintergrund – im Rahmen der „Flüchtlingswelle“ 2015 unter Rückgriff auf den Mikrozensus eine Abschät- nach Deutschland gekommen sind. So auch in Sachsen: zung der Effekte vorgenommen und die Daten stadt- Zwischen 2014 und 2015 erhöhte sich die Zahl der bezogen nach Alter und Bildung gewichtet. Neuzugänge unter den Asylbewerbern um das sechs- fache, gegenüber dem Jahr 2011 liegt die Zahl im Jahr Bei zwei der in unserem Zusammenhang relevanten 2015 gar mehr als das 25-fache höher.12 In einer Ge- Fragen blieben die Zahlen im Wesentlichen unverän- sellschaft, die sich durch einen niedrigen Anteil an dert, in einem Fall stieg der Anteil ausländerfeindli- Ausländern auszeichnet, muss ein derartiger Anstieg cher Äußerungen um einige Prozentpunkte an. Ange- – besonders wenn er sich auch im öffentlichen Raum sichts der moderaten Auswirkungen halten wir die widerspiegelt und im Alltag sichtbar wird – für die Verzerrungen in der sozialen Zusammensetzung Bürger umso spektakulärer erscheinen. noch für tolerabel.17 Da ohnehin Gewichtungen nicht für die übrigen Städte und Landkreise in der Diffe- Als empirische Basis der folgenden Analyse verwen- den wir den „Sachsen Monitor“. Er stellt eine reprä- sentativ angelegte Bevölkerungsumfrage im Auftrag 15 Die Daten der Umfrage lassen sich aufgliedern nach 13 kreis- der „Sächsischen Staatskanzlei“ dar und ist als regel- freien Städten und Landkreise (weitere Untergliederungen sind nicht möglich). Die folgende Analyse bezieht sich in erster Li- mäßige Erfassung politischer – insbesondere auch nie auf den Vergleich der Städte mit den übrigen Teilen des rechtspopulistischer – Einstellungen in Sachsen kon- Direktionsbezirks, zu denen die jeweiligen Landkreise gehö- zipiert.13 Die erste Erhebung fand 2016 statt, weitere ren. In der Aggregatdatenanalyse an späterer Stelle zum Zu- folgten 2017 und 2018. Die Auswahl der Personen im sammenhang von Afd-Wahl und den Einstellungen zu Aus- ländern werden die 13 kreisfreien Städte und Landkreise als Alter ab 18 Jahren erfolgte nach dem Random-Route- Einheiten der Analyse zugrunde gelegt. Verfahren, die Befragungen fanden mündlich face- 16 In größerem Maße überrepräsentiert sind jüngere Befragte to-face statt. Durchgeführt wurden sie von dimap. (nahezu die Hälfte unter 30 Jahren) sowie Befragte mit Abitur oder Hochschulbildung. Warum dies der Fall ist, insbesondere Grundlage unserer Analyse ist der kumulative Daten- hinsichtlich der Alterszusammensetzung, ist unklar. Denkbar satz, bestehend aus den Erhebungen der Jahre 2016 sind u.a. differentielle Verweigerungsquoten, Abweichungen der bis 2018 mit zusammen 3.005 Befragten.14 Die Zahl Interviewer von den Vorgaben bei der Auswahl der Befragten. der Befragten in Dresden beläuft sich auf 417, in 17 Die Statistiken des Mikrozensus für Dresden wurden uns Leipzig auf 486 und in Chemnitz auf 193 Personen. freundlicherweise vom Statistischen Landesamt Sachsen zur Die Zahl der Befragten im sonstigen Teil der jeweili- Verfügung gestellt. Gewichtet wurde von uns zur Prüfung der Effekte auf der Basis einer Kombination von Altersgruppen gen Landesdirektionsbezirke variiert zwischen 354 (unter 24, 25-44, 45-65, 65+) und Bildung (Volks/Hauptschule, im Bezirk Leipzig (ohne die Stadt Leipzig gerech- Realschule, FHS und mehr). Eine nennenswerte Änderung der net), 638 im Bezirk Dresden (ohne Dresden) und 927 Randverteilungen findet sich lediglich beim Statement, die Personen im Bezirk Chemnitz (ohne Chemnitz).15 Bundesrepublik wäre durch Ausländer in „gefährlichem Maß überfremdet“. Die Zustimmung liegt im ungewichteten Daten- satz bei 38 %, im den nach dem Bundesland gewichteten Da- 12 Die Zugänge in der Asylbewerberzahl lagen 2011 bei 2.695, tensatz bei 41 % und in dem nach dem Stadtprofil gewichte- 2014 bei 11.786, 2015 bei 69.900. Nach diesem Höhepunkt ten Datensatz bei 49 %. Bei den anderen Fragen – Überfrem- ist die Zahl der Zugänge gesunken, 2016 lag sie bei 14.888, dung in Wohngegend, Zuzug von Muslimen verbieten – bleiben 2017 bei 9.183 (Sächsischer Ausländerbeauftragter 2018: 138). die Werte im Vergleich sowohl zum ungewichteten als auch zu dem nach Bundesland gewichteten Datensatz in Dresden 13 Zuvor gab es regelmäßige Umfragen für die Sächsische Staats- nahezu gleich, differieren allenfalls um zwei Prozentpunkte. kanzlei. Eine Zusammenstellung bedeutsamer Befunde und Inwieweit womöglich eine selektive Erfassung jenseits der ge- Zeitreihen finden sich in Schöppner und Sagurna (1995), nannten sozialen Merkmale durch Ausfälle etc. stattfand (wie Donsbach und Förster (2010). etwa Verweigerung des Interviews durch Personen mit xeno- 14 Der Datensatz wurde freundlicherweise von der Sächsischen phoben Einstellungen), ist eine andere Frage, sie kann man- Staatskanzlei zur Verfügung gestellt. gels externer Validierungsdaten nicht geklärt werden.

15 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg. renziertheit möglich sind, wie wir es für Dresden ge- auch in Skalen zur Messung rechtspopulistischer Ori- tan haben18, begnügen wir uns im Folgenden in ei- entierungen eingehen. Des Weiteren ziehen wir eine nem ersten Schritt mit einer Analyse, die sich auf die offen konstruierte Frage zu den wichtigen Proble- Gewichtung auf Landesebene stützt. Damit wird ein men in Sachsen heran. Die Antworten darauf sagen erster, allgemeiner Überblick gewonnen. In einem etwas über den subjektiven Stellenwert wahrgenom- zweiten Schritt nehmen wir eine Analyse unter Ver- mener Probleme aus. Dass sich darin ebenfalls das wendung der Multiplen Klassifikationsanalyse vor Agenda Setting der Medien und nicht nur eigene Be- (Andrews et al. 1975). Die Multiple Klasssifikations- troffenheit widerspiegelt, kann als gesichert gelten. analyse (MCA) bestimmt die Effekte nichtmetri- Fragen zu Wahlpräferenzen und Wahlverhalten wur- scher Variablen auf eine metrische abhängige Varia- den im „Sachsen Monitor“ nicht gestellt. Erfragt ble jeweils mit und ohne Kontrolle der übrigen un- wurde lediglich die Parteineigung. Daraufhin mein- abhängigen Variablen.19 Das Verfahren hat den Vor- ten 66 % (mit minimalen Unterschiede je nach Stadt teil der Anschaulichkeit, gibt die Werte für die ein- und Region), sie würden keiner Partei zuneigen. zelnen Kategorien in Abweichung von Mittelwert Dass es so viele sind, spiegelt nicht allein sächsische der abhängigen Variablen aus. In unserem Fall ge- oder ostdeutsche Verhältnisse wider (auch wenn dort hen die sozialen Merkmale Geschlecht, Alter, Bil- die Werte im Allgemeinen höher liegen als im Wes- dung sowie Ausbildungsstatus (letzteres in Ermange- ten), sondern auch Eigenheiten der gewählten Frage- lung von Angaben über Studenten/Schüler-Status) in konstruktion. Umfragen der Forschungsgruppe Wah- den (ungewichteten) Datensatz als Kontrollmerkma- len, die sich auf eine etwas andere Frageformulie- le in die Berechnung ein. Die daraus resultierenden rung stützen, erbringen deutlich niedrigere Werte.22 Ergebnisse weisen die „reinen“ regionalen Effekte jenseits stichprobenbedingter und regionaler Unter- 20 mag es sich mehr um generelle Vorbehalte handeln als um schiede in den sozialen Merkmalen aus. eine Haltung, die mit einer totalen Zurückweisung gleichzu- setzen ist. Man könnte neutraler hier auch von ethnozentri- 3. Verbreitung ausländerfeindlicher Einstellungen schen Einstellungen sprechen. Wir verwenden den Begriff dennoch angesichts der weithin üblichen Praxis. Angemerkt Im „Sachsen Monitor“ sind drei Fragen in Statement- sei ergänzend, dass einige der Erhebungen des „Sachsen Mo- form enthalten, die Aussagen über Ausländer und nitors“ zusätzlich noch ein oder zwei andere Fragen zu Ein- dem Islam beinhalten: zur Wahrnehmung der „Über- stellungen gegenüber Ausländern/Muslimen umfassen, die hier jedoch ausgeklammert bleiben, weil sie nicht in allen drei fremdung“ der Bundesrepublik durch Ausländer bzw. Erhebungen gestellt wurden und die Fallzahl für Vergleiche der Wohnumgebung durch Ausländer sowie zum Zu- sonst zu problematisch wäre. zug von Muslimen. Alle drei Fragen sind mit jeweils 22 Die Formulierung im „Sachsen Monitor“ lautet: „Viele Leute unterschiedlicher Akzentsetzung als Indikator für eth- in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten nozentrischen Einstellungen – für Ausländer- und Partei zu, obwohl sie ab und zu auch mal eine andere Partei Fremdenfeindlichkeit21 – geeignet, weswegen sie oft wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie zu einer bestimm- ten Partei in Deutschland zu? Wenn ja, welcher Partei neigen Sie zu? Im (telefonisch durchgeführten) „Politbarometer“ der 18 In den Aufgliederungen nach Alter und Bildung wären die Forschungsgruppe Wahlen aus den gleichen Erhebungsjahren Fallzahlen im Mikrozensus auf der Ebene der kleineren Orte nannten 2017 in Sachsen lediglich 44 % keine Parteineigung zu gering und werden daher nicht ausgewiesen. Nur auf der (eigene Analyse, GESIS ZA2391). Größere Unterschiede zu den Ebene größerer Einheiten wäre dies möglich. anderen Befragten der neuen Bundesländer existieren danach 19 Eine Alternative zur MCA wäre es, mit einer OLS-Regressions- nicht. Selbst gegenüber den Befragten in manchen westdeut- analyse zu arbeiten und die nichtmetrischen Variablen in schen Bundesländern halten sich die Unterschiede in Grenzen. Dummies zu überführen. Wir haben dies ergänzend ebenfalls Der Grund für die Differenz dürfte in Subtilitäten der Frage- getan, um die Effekte spezifischer Kategorien abzusichern. konstruktion liegen. Zum einen wurde in den Politbarometer Die entsprechenden Angaben dazu finden sich an gegebener Umfragen in einer Frühphase des Interviews Fragen zum The- Stelle in den Anmerkungen. ma Politik und ebenfalls zur Partei gestellt, die man im Fall einer Bundestagswahl nächsten Sonntag wählen würde. Dies 20 Die Unterschiede auf Städteebene, die aus einer ungleichen dürfte im Verlauf des Interviews eine Aktivierung der Partei- sozialen Zusammensetzung erwachsen, etwa einem höheren präferenzen und -bindungen im Bewusstsein der Befragten Anteil Gebildeter in den Großstädten, werden damit in ihren und spätere konsistente Antwortneigungen begünstigen. Zum Effekten ebenfalls ausgeschaltet. Dies ist zweifelsohne ein anderen variieren auch die Frageformulierungen leicht. Wäh- Nachteil, im vorliegenden Fall jedoch aufgrund der partiellen rend es im „Sachsen Monitor“ heißt „Neigen Sie einer be- Verzerrungen in der Zusammensetzung der Stichprobe auf re- stimmten Partei in Deutschland zu?“, ist die Frage im Politba- gionaler/städtischer Ebene nicht zu vermeiden. rometer weniger strikt formuliert: „Neigen Sie – ganz allge- 21 Wir verwenden im Folgenden den Begriff der Ausländer- mein gesprochen – einer bestimmten Partei zu?“. Durch die feindlichkeit, wohl wissend, dass die Bejahung eines oder Begrifflichkeit des „ganz allgemein gesprochen“ dürfte es mehrerer der Items nicht in jedem Fall Ausländerfeindlichkeit eher dazu kommen, dass das wiederholte Wählen der gleichen im strengen Sinne bedeuten muss. Bei manchen Befragten Partei mit einer Parteineigung gleichgesetzt wird.

16 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze

Welche Fragekonstruktion man auch als die aussage- aufgrund der Begrifflichkeiten (die allzu sehr an den kräftigere einschätzen mag – die des „Sachsen Moni- Sprachgebrauch der NS-Zeit erinnern) von einer Zu- tors“ oder der Forschungsgruppe Wahlen – was hier stimmung zurückschrecken. allein zählt ist, dass die Angaben auf so wenige Be- Man sollte die Antworten auf das Statement daher fragte beschränkt sind, dass es wenig Sinn macht, sie nicht allzu wörtlich nehmen, die Prozentangaben nicht hier ausführlicher heranzuziehen. unkritisch mit der Meinungsverteilung in der Bevöl- Das erste, hier zu diskutierende Statement lautet kerung gleichsetzen und vorschnell als Ausdruck ei- „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer ner rassistischen Orientierung interpretieren (wie in in einem gefährliche Maße überfremdet.“ Die Frage, der öffentlichen Rezeption oft der Fall). Gleichwohl: die im Zusammenhang mit Umfragen zu Ausländer- es steht außer Frage, dass mit diesem Statement ein feindlichkeit entwickelt wurde, hat in der Forschung bedeutsamer Bestandteil ausländerfeindlicher Orien- inzwischen fast schon den Charakter einer „Stan- tierungen gemessen wird und es als ein – wenn auch dardfrage“ erlangt und hat auch Eingang gefunden in nicht optimaler – Indikator gewertet werden kann. Umfrageserien, wie dem „Thüringen Monitor.“23 Was ergibt die Analyse der Frage für Sachsen im Die Frageformulierung ist nicht ohne Probleme. Sie Vergleich zur Bundesrepublik? Wie man Tabelle 1 ist nicht so eindimensional formuliert, wie es wün- entnehmen kann, stimmen 59 % der sächsischen Be- schenswert wäre. Der Bezug wird durch die Begriffe fragten der Aussage von der Überfremdung zu. Grö- „überfremdet“ und „in gefährlichen Maße“ kontami- ßere Unterschiede je nach Erhebungsjahr existieren niert. Vermutlich stimmen viele Befragten dem nicht. 2016 und 2017 belief sich der entsprechende Statement zu, die meinen, es gäbe zu viele Auslän- Anteil auf 58 %, 2018 auf 56 %. In der bundesweit der – und tun es allein deswegen, weil sie unter den angelegten „Mitte“-Studie des Leipziger Forschungs- Antwortvorgaben keine andere Wahl haben. Die An- teams um Oliver Decker und Elmar Brähler24 aus sicht, dass es in „gefährlichem Maße“ eine „Über- dem Jahr 2018, die ebenfalls face-to-face (kombi- fremdung gebe, müssen sie nicht teilen. Andere (vor niert mit einem schriftlichen Befragungsteil) statt- allem besser Gebildete) werden – auch wenn sie fand, und in der eine Fünfer-Skala (mit „teils-teils“ als glauben, es gäbe zu viele Ausländer – allein schon Mittelkategorie) statt eine Vierer-Skala (wie im

Tabelle 1: Einstellungen zu Ausländern/Muslimen nach Region (in %)

Chemnitz Dresden Leipzig Chemnitz Dresden Leipzig Insgesamt Umland Umland Umland Bundesrepublik durch Ausländer 64 67 41 66 40 64 59 überfremdet Wohnumgebung durch Ausländer 32 15 19 19 18 13 18 überfremdet Muslimen Zuwanderung 34 46 30 53 33 48 42 untersagen Problem Flüchtlinge/Asyl (offene Frage) 29 23 25 25 33 29 26

Umland = sonstige Regionen der Bezirke Chemnitz, Dresden bzw. Leipzig Frageformulierungen: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet“; „Meine persönliche Wohnumgebung ist durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet“; „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“ Antwortkategorien: Stimme voll zu – stimme eher zu – stimme eher nicht zu – stimme gar nicht zu“ (Hier: Anteil für „Stimme voll zu, Stimme eher zu“); „Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Probleme in Sachsen?“ (offene Frage)

23 Die Frage gibt es als Statement in zwei Varianten: mal mit ei- ner Fünfer-Skala (mit einer Mittelkategorie „teil-teils“) mal mit einer Vierer-Skala (wie im „Sachsen Monitor“) mit den Antwortkategorien „Stimme voll zu“ – „stimme eher zu“– 24 Seit kurzem wird der Begriff der „Mitte“-Studie von dem „stimme eher nicht zu“ – „stimme gar nicht zu“. In neuerer Leipziger Team nicht mehr verwendet, da die Bielefelder For- Zeit findet sich in den Arbeiten der Bielefelder Forschungs- schungsgruppe diesen Begriff ebenfalls für ihre Studien be- gruppe auch die (neutralere) Formulierung „Es leben zu viele nutzt. Stattdessen wurde die Bezeichnung „Leipziger Autori- Ausländer in Deutschland“. tarismus“-Studie gewählt.

17 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg.

„Sachsen Monitor“) eingesetzt wurde, stimmten in der dafür vermutlich auch wiederholt mobilisiert wurde. Umfrage 36 % der Aussage „voll und ganz oder So stammt bei den PEGIDA-Kundgebungen in der „eher“ zu. Weitere 28 % stimmten ihr „teils-teils“ zu Regel die Hälfte oder mehr der Teilnehmer von außer- (Decker et al. 2018: 74). Addiert man die Befragten halb der Stadt. Je größer die Teilnehmerzahl, desto mit „teils-teils“-Antwort zur Hälfte zu den Befürwor- eher ist dies der Fall (Reuband 2016: 169). tern, kommt man auf 50 %. Würde man die Zahl der Der zweite Indikator, der zur Beschreibung der Aus- „teils-teils“-Antworten vollständig dazu zählen25, länderfeindlichkeit herangezogen wird, bezieht sich käme man auf 64 %. Der Wert des „Sachsen-Moni- die persönliche Alltagsebene des Befragten. Es geht tors“ liegt dazwischen. Er legt, eine annähernde me- um die „Überfremdung“ in der eigenen Wohnumge- thodische Vergleichbarkeit der Erhebungen unter- bung: „Meine persönliche Wohnumgebung ist durch stellt, auf Seiten der sächsischen Bevölkerung keine die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß über- grundlegend andere Orientierung als unter den Bun- fremdet“. Dem Satz stimmen deutlich weniger Be- desbürgern als Gesamtheit nahe.26 fragte zu als dem vorherigen Satz – was letztlich auch Und wie stellt sich der regionale Vergleiche innerhalb erwartbar ist: weil allgemein die Neigung besteht, die Sachsens dar? Für Dresden lässt sich ein Zustim- Gefahren mehr im weiter entfernten und weniger im mungswert von 41 % ermitteln, für Leipzig von 40 % persönlichen Lebensraum wahrzunehmen (Fragen zur und Chemnitz von 64 %. Die übrigen Regionen des Kriminalitätsfurcht der Bürger oder zur Wahrneh- jeweiligen Landesdirektion (in den Tabellen verkürzt mung der wirtschaftlichen Lage zeigen ein ähnliches als „Umland“ der jeweiligen Städte bezeichnet) weisen Bild). Und weil nur ein Teil der Bürger in seiner all- höhere Anteile auf.27 Hinweise dafür, dass Dresden täglichen Umgebung auf Ausländer trifft. Aus dieser eine Sonderstellung einnimmt und sich durch eine Sicht spiegeln sich in den Antworten nicht nur die überproportionale Neigung zur Ausländerfeindlich- Einstellungen gegenüber Ausländer wider, sondern keit auszeichnet, finden sich nicht. Es findet sich le- ebenfalls die Gelegenheitsstrukturen für Kontakte. diglich ein Hinweis dafür, dass in dem regionalen Wie man ebenfalls der Tabelle 1 entnehmen kann, Einzugsbereich von Dresden – ähnlich wie in Leipzig wird das Statement mit dem Lokalbezug in Dresden – ein größerer Anteil von Personen die Ansicht teilt, genauso häufig wie in Leipzig bejaht, auffällig ist al- Deutschland wäre durch Ausländer „überfremdet“. lenfalls Chemnitz mit einem Wert, der über dem der Aus dieser Sicht existiert dort ein Potential, das mobi- anderen beiden Städte liegt. Damit wird das Muster, lisierbar wäre für Veranstaltungen wie PEGIDA und das sich zuvor schon abgezeichnet hatte, reproduziert. 25 Manche Autoren glauben, dass es sich bei „teils-teils“ um Ansonsten lassen sich keine nennenswerten Unter- eine versteckte Zustimmung handelt und subsumieren diesen schiede zwischen den Städten und den eher ländlich Wert bei manchen Analysen mit darunter (vgl. z.B. Decker et oder kleinstädtisch geprägten Regionen erkennen, was al. 2018: 72). angesichts der zuvor genannten Unterschiede auf den 26 Bedeutsamer ist vermutlich weniger, ob ein schriftlicher Befra- ersten Blick erstaunt. Aber mitzubedenken ist, dass gungsteil im Rahmen einer face-to-face-Umfrage eingesetzt oder Ausländer und Flüchtlinge in Städten zahlreicher sind nicht eingesetzt wurde, als vielmehr der Einsatz telefonischer Befragungen. Eingesetzt wurde das obige Statement (ebenso und die Chance, dort auf welche zu treffen, größer ist wie das zum Muslimzuzug) 2016 ebenfalls von der Bielefel- als in kleineren Orten. So ist es möglich, dass die Bür- der Forschergruppe im Rahmen einer Telefonbefragung. De- ger gegenüber Ausländern in den größeren Städten ren Werte zur Ausländerfeindlichkeit liegen niedriger als die aufgeschlossener sind als in den eher ländlichen, Werte in der Leipziger „Mitte“-Studie, die sich der face-to- face-Interviews mit schriftlichem Befragungsteil bedienen kleinstädtischen Regionen. Doch da hier auch mehr (vgl. dazu Reuband 2017a). Hinweise auf niedrigere Werte in Ausländer und Flüchtlinge leben, wird die Aussage Telefonbefragungen lassen sich im Vergleich zu face-to-face- allein aufgrund dessen häufiger bejaht, so dass sich Befragungen mit schriftlichen Befragungsteil ebenfalls dem die Unterschiede zwischen den Regionen auf der Wechsel der Befragungsmodalitäten im Zeitverlauf entneh- Ebene der Meinungsverteilung einebnen. men (vgl. Decker et al. 2016: Tab. auf S. 50, wobei allerdings unklar bleibt, wie sehr auch Periodeneffekte das Ergebnis mit- Der dritte Indikator ist auf die Zuwanderung durch beeinflusst haben könnten). Ob und wie sehr sich Telefonbe- Muslime gerichtet: „Muslimen sollte die Zuwande- fragungen im Antwortverhalten inhaltlich von Erhebungen unterscheiden, die wie im „Sachsen Monitor“ face-to-face rung nach Deutschland untersagt werden“. Wer diese ohne schriftlichen Befragungsteil oder mit schriftlichen Befra- Aussage bejaht, muss nicht notwendigerweise Musli- gungsteil (wie in den Leipziger „Mitte“-Studien) stattfinden, me per se ablehnen. Vorstellbar ist ebenso, dass man- wurde bisher nicht empirisch überprüft. cher Befragte in erster Linie an die „Flüchtlingswelle“ 27 Die höchsten Werte (mit Anteilen über 70 %) finden sich – wie des Jahres 2015 denkt und glaubt, man müsse dieser weitere Untergliederungen erbringen – im Vogtlandkreis, im Bezirk Zwickau und im Bezirk Görlitz. Entwicklung (vorerst) Grenzen setzen. Auch mag

18 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze mancher an islamischen Terrorismus oder andere der Todesstrafe) keinen Unterschied erbracht, ob die Wertorientierungen von Muslimen denken und des- Beantwortung der Fragen gegenüber dem Interviewer halb dem weiteren Zuzug skeptisch gegenüberstehen. stattfand oder ohne dessen Kenntnis vom Befragten Welche Gründe auch immer mit der Frage assoziiert selbständig an dessen Notebook beantwortet wurde.30 sind: dass sich die Frage als Indikator für ausländer- Auch ist zu bedenken, dass im Verlauf von face-to- feindliche Einstellungen eignet, steht außer Zweifel. face Interviews häufig ein Vertrauensverhältnis ge- schaffen wird, so dass sich die Befragten selbst zu Die Frage ist in gleicher Formulierung ebenfalls Be- Themen offen äußern, von denen sie zu Beginn des standteil der „Mitte“-Studien der Forschungsgrup- Interviews noch meinten, sie würden Fragen dazu pen in Bielefeld und Leipzig, in der Zahl und Benen- nicht beantworten (Reuband 1991). nung der Antwortkategorien jedoch nur vergleichbar mit der Studie des Leipziger Teams. Im „Sachsen Und was erbringt der interne, nach regionaler Zuge- Monitor“ stimmen 2018 41 % der Befragten dem hörigkeit ausdifferenzierte Vergleich? Wie man der Satz zu, dass Muslimen der Zuzug untersagt werden Tabelle entnehmen kann, äußern in Dresden 30 % sollte. In der Leipziger „Mitte“ Studie waren es im der Befragten eine Zustimmung, in Leipzig 33 % Jahr 2018 44 % der Bundesbürger, unter den Ost- und in Chemnitz 34 %. Eine stärkere Neigung der deutschen gar 52 % (Decker et al. 2018: 102). Ähn- Dresdner, islamfeindliche Orientierungen zu vertre- lich die Situation 2016, als der entsprechende Wert ten, ist nicht zu erkennen. Desgleichen gibt es dies- im „Sachsen Monitor“ bei 39 % lag, während er sich mal auch in Chemnitz – anders als zuvor – keine er- in der der Leipziger „Mitte“ Studie auf einen Anteil höhte Neigung zur Bejahung der Aussage. Wenn das von 41 % belief, und bezogen auf die Ostdeutschen Statement überproportional bejaht wird, dann wie- auf 54 % (Decker et al. 2018: 102). Von einer über- derum außerhalb der großen Städte. Am häufigsten proportionalen Abneigung gegenüber Muslimen im Umland von Dresden, auf etwas niedrigerem Ni- kann danach zur Zeit der Erhebung nicht gesprochen veau im Umland von Leipzig und Chemnitz. werden – im Gegenteil: die sächsischen Befragten Treibt man die Regionalisierung noch einen weiteren scheinen sogar etwas weniger ausländerkritisch oder Schritt voran und setzt auf der Ebene der dreizehn -feindlich eingestellt zu sein als der Durchschnitt der sächsischen Landkreise und kreisfreien Städte den (ostdeutschen) Bundesbürger.28 durchschnittlichen Anteil der Befürworter eines Inwieweit das Negativurteil der sächsischen Befrag- Muslim-Zuzugs-Verbots mit dem Stimmenanteil für ten möglicherweise dadurch etwas abgemildert wur- die AfD in der letzten Bundestagswahl in Beziehung de, dass die Beantwortung der Fragen nicht – wie in (vgl. Abbildung), so ergibt sich auf der Aggregatebene der bundesdeutschen Umfrage von Decker und Ko- ein recht deutlicher Zusammenhang (von r=.64, autoren – schriftlich, ohne Einsichtnahme durch den p<0,05). Auf der Individualebene war ein solcher Interviewer, stattfand und sich soziale erwünschte Zusammenhang in anderen Untersuchungen schon Antwortneigungen deshalb etwas stärker auswirken, deutlich geworden. Und auch in der vorliegenden ist ungeklärt. Aus Umfragen zu anderen Themen ist Untersuchung lässt sich – trotz aller Beschränkung bekannt, dass schriftliche Befragungen im Rahmen in der Erfassung der Parteineigung – ein entspre- von face-to-face Interviews eher zum Eingeständnis chender Zusammenhang nachweisen.31 Dass der Zu- sensibler Informationen – etwa zum eigenen Drogen- gebrauch – führen.29 Andererseits haben Umfragen 30 Ergebnisse einer eigenen bundesweiten face-to-face-Umfrage zu anderen sensiblen Themen (wie der Befürwortung mit Split-Variante des Vorgehens. 31 In unserer Untersuchung stimmten unter denen, die angaben, sie würden der AfD zuneigen, 89 % dem Statement zu. Unter 28 Etwas anders die bundesweiten Ergebnisse der Bielefelder den Wählern der CDU waren es 36 %, der FDP 21 %, der Forschergruppe. Im Jahr 2014 stimmten (im Rahmen einer SPD 20 %, der „Linken“ 23 %, und der „Grünen“ 10 %. Die- Vierer-Skala ohne teils-teils Kategorie) 18 % der Befragten jenigen, welche angeben, sie würden keiner Partei zuneigen – dem Satz zu, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutsch- sie stellen die große Mehrheit der Befragten – stimmten 46 % land verboten werden solle (Küpper et al. 2015: 33). In den dem Statement zu. Würde man sich auf den engeren Kreis der Folgejahren fallen die Verhältnisse weitgehend ähnlich aus. Befürworter beziehen – auf diejenigen, welche dem Statement Inwieweit der andere Befragungsmodus – telefonisch statt besonders stark („voll und ganz“) zustimmen – käme man bei face-to-face (in Kombination mit schriftlichem Befragungs- den AfD Anhängern auf einen Anteil von 39 % (2016: 38 %, teil) – dazu mit beitrug oder zeitspezifische Effekte der Erhe- 2017: 39 %, 2018: 40 %) Unter den Teilnehmern der PEGIDA- bungsphase dafür verantwortlich sind, ist eine offene Frage. Kundgebungen lag der entsprechende Anteil im November Vgl. dazu auch Anm. 26. 2015 bei 38 %, im Februar 2016 bei 40 % und im April 2016 29 In diesen Fällen wurde der Fragebogen allerdings in einem bei 56 % (vgl. dazu Reuband 2017a: 121), belief sich also im verschlossen Umschlag an den Interviewer zurückgegeben, Jahr 2016 auf höhere Werte als unter den AfD-Wählern im was ein zusätzliches Gefühl von Anonymität vermittelt. „Sachsen Monitor“.

19 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg.

sammenhang ebenfalls auf der Aggregatebene deut- lokale Gemeinsamkeiten der Problemdefinition sor- lich zutage tritt, ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich gen. 2015, als die Zuwanderung noch beträchtliche regionale Mentalitäten, insbesondere in Fragen des höhere Zahlen umfasste als 2016 und 2017, dürfte Islam, auf regionaler Ebene zu Parteipräferenzen das Ausmaß der Beunruhigung auf Seiten der Bürger verdichten. Der Zusammenhang der AfD-Wahlerfol- noch ausgeprägter gewesen sein. Dies legen zumin- ge mit dem Urteil, die Bundesrepublik wäre in gefähr- dest die Befunde aus diesen Jahren auf die Frage lichem Maße überfremdet, liegt demgegenüber auf der nach den wichtigsten Problemen in der Bundesrepu- Aggregatebene niedriger (r=.41) und erreicht auch blik nahe. Und was damals für die Bundesrepublik nicht die erforderliche statistische Signifikanzgrenze. als Problem gesehen wurde, dürfte mit Abstrichen Die Tendenz geht in die gleiche Richtung, aber sie ist ebenfalls für die Wahrnehmung der wichtigsten Pro- zu schwach. Natürlich wäre es für die Analyse frucht- bleme Sachsens gegolten haben.32 barer, man hätte Daten auf noch kleinräumigerer Ebene und in größerer Zahl zur Verfügung. Aber der 4. Der Einfluss sozialer Merkmale und regionale Befund eines engen Zusammenhangs zwischen Ein- Differenzierungen im Vergleich stellung zu Muslimen und AfD-Wahl ist zumindest ein Hinweis für entsprechende Querverbindungen Nun sind die Städte und Regionen, die bisher in der zwischen ausländerfeindlichen Einstellungen und Betrachtung waren, nicht alle gleichermaßen sozial AfD-Wahl auf regionaler Ebene. zusammengesetzt, und auch stichprobenbedingte Unterschiede in der Zusammensetzung der Befragten Für die Analyse auf der Individualebene ziehen wir sind nicht ausgeschlossen und können das Gesamt- als viertes die Frage zu den derzeit wichtigsten Pro- bild beeinträchtigen. Um diese möglichen Effekte zu blemen in Sachsen heran. Es handelt sich um eine of- berücksichtigen, unterziehen wir die Daten einer fene Frage, deren Antworten (mit Mehrfachnennun- „Multiplen Klassifikationsanalyse“ (MCA). Man gen) zu übergreifende Kategorien zusammengefasst kann damit den Effekt der regionalen Eigenheiten er- wurden. 26 % der Befragten nennen Flüchtlinge/Asyl- mitteln, unter Herausrechnung der Effekte der sozia- fragen/ Probleme der Integration. Bedeutsame Unter- schiede zwischen den Städten und Regionen lassen 32 Eigene Auswertungen zur Wahrnehmung der Probleme in der sich nicht erkennen – was vermutlich nicht zuletzt Bundesrepublik seitens der Befragten in Sachsen und der auch dem allgemeinen Agenda Setting der überloka- Bundesbürger insgesamt, jeweils auf der Basis der Politbaro- meter Studien der Forschungsgruppe Wahlen (GESIS ZA len und lokalen Medien geschuldet ist, die für über- 6888). Zum bundesweiten Trend vgl. Reuband (2017b: 113).

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Tabelle 2: Multiple Klassifikationsanalyse: Einstellung zu Ausländern/Muslimen in Abhängigkeit von sozialen Merkmalen und Region

Überfremdung BRD Überfremdung Wohnumgebung Muslim Zuwanderung Unadj. Adj. Unadj. Adj. Unadj. Adj. N= Eta Beta Eta Beta Eta Beta Dev. Dev. Dev. Dev. Dev. Dev. Geschlecht Mann 1454 -.05 -.01 -.02 .00 -.02 .01 .05 .01 .02 .00 .02 .01 Frau 1458 .05} .01} .02} .00 } .02} -.01 } Alter 18-29 473 -.22 .04 .17 .34 -.11 .19 30-44 452 .02 .03 .11 .12 -.05 -.05 .23 .09 45-59 610 .06.10 .01.03 .05.14 .04 .09.06 .03 *** ** 60-69 600 .02} -.02} -.05} -.07} .02} -.03 } 70+ 777 .06 -.04 -.17 -.25 .02 -.09 Bildung Kein Abschluss 31 .29 .23 .33 .24 .20 .13 Hauptschule 628 .35 .31 .23 .32 .34 .33 .28 .24 .28 Realschule 1293 .15.32 .11 .05.21 .02 .16.31 .13 *** *** *** Abitur, FHS 506 -.40} -.29} -.14} -.19} -.36} -.27 } Universität 454 -.48 -.46 -.32 -.30 -.52 -.50 In Ausbildung Nein 2763 .04 .03 .13 .01 .03 .12 .04 .04 .15 .18 .07 .17 Ja 149 -.76} -.54}*** -.26} -.46 }*** -.73} -.65 }*** Region Chemnitz 177 .02 -.03 .35 .29 -.20 -.26 Chemnitz Umland 904 .13 .05 -.06 -.07 .10 .04 Dresden 394 -.37 -.12.13 -.02 .03.10 -.34 -.13 .12 .22 .11 .19 Dresden Umland 614 .15} .09}*** .03} -.01}*** .19} .12 }*** Leipzig 477 -.28 -.23 -.01 .03 -.18 -.13 Leipzig Umland 346 .20 .18 -.03 -.01 .17 .16 R2 .14 .10 .13 R .37 .31 .37 *** p<0,001; ** p<0,01 Skalierung: je höher der Wert, desto negativer die Einstellung zu Ausländern/Muslimen. Unadj. Dev.: Abweichung vom Grand Mean ohne Kontrolle der sonstigen Variablen; Adj. Dev.: Abweichung vom Grand Mean nach Kontrolle der sonstigen Variablen. Grand Mean Überfremdung BRD: 2,58, Überfremdung Wohnumgebung: 1,73, Muslim Zuwanderung: 2,32. len Merkmale. Im Folgenden ziehen wir die Merk- Chemnitz ähnelt dem Durchschnitt. Die Bewohner der male Geschlecht, Alter und Bildung heran, ergänzt eher ländlich, kleinstädtisch strukturierten Gebiete äu- durch das Merkmal „In Ausbildung“. Letzteres wird ßern sich im Vergleich zu den Bewohnern der größe- verwandt, um dem unterschiedlich hohen Anteil von ren Städte kritischer gegenüber Ausländer. Studenten in den Populationen der Universitäts- und Wählt man die wahrgenommene Überfremdung in der Nicht-Universitätsstädte Rechnung tragen zu der eigenen Wohnumgebung als abhängige Variable, können. Ob jemand Student ist oder nicht, wurde treten die Merkmale Bildung und „in Ausbildung“ nicht eigens in den Erhebungen erfragt. erneut als erklärungskräftige Variable hervor. Als Wie man Tabelle 2 entnehmen kann, wirken sich weitere Variable mit statistisch signifikantem Effekt beim ersten Indikator – „Überfremdung“ in der Bun- tritt das Alter hinzu. Wobei gilt: je jünger die Be- desrepublik – die Merkmale Bildung und Ausbildung fragten sind, desto eher wird eine Überfremdung in auf das Urteil aus. Je höher das Bildungsniveau, desto der eigenen Umgebung genannt. Dies ist insofern seltener wird die Aussage bejaht. Desgleichen wird verwunderlich, als die Älteren üblicherweise häufi- sie seltener bejaht, wenn sich jemand in Ausbildung ger gegenüber Ausländern eine negative Einstellung befindet.33 Die übrigen sozialen Merkmale erweisen einnehmen (vgl. für Dresden Reuband 2015: 139)34 sich praktisch als bedeutungslos. Dresden und Leipzig bleiben weiterhin – wie im bivariaten Fall – die Orte, 34 Nimmt man die Analyse nach regionaler Zugehörigkeit diffe- in denen die Ressentiments am geringsten sind. renziert vor (OLS Regression mit identischer Merkmalskon- stellation wie zuvor), findet man statistisch signifikante Zu- 33 Denkbar ist, dass auch bei den Personen, die sich in der Lehre sammenhänge für Dresden ebenso wie für dessen Umland, befinden, über die Berufsschulen positive Einstellungen ge- desgleichen für das Umland von Leipzig und Chemnitz, nicht genüber Ausländern und Muslimen vermittelt werden. jedoch für Leipzig und Chemnitz.

21 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg. und sich überdies bei den zuvor diskutierten Fragen Themen die Korrelation der Indikatoren untereinan- keine vergleichbaren Altersbeziehungen fanden. Der der recht schwach ist und – wie Panelstudien bele- Grund für die „Anomalie“ dürfte sein, dass die Jün- gen – Einstellungen eher durch Instabilität als Stabi- geren sozial aktiver sind und in ihrer Freizeit häufi- lität gekennzeichnet sind. Stärker auskristallisierte ger im öffentlichen Raum auf andere Personen tref- Einstellungen finden sich nach Converse entweder in fen, einschl. auf Flüchtlinge und Migranten. Insofern den gesellschaftlichen Eliten, bei Personen mit höhe- könnte der Befund auch etwas mit Lebensstilen und rer Bildung und bei Personen mit großem Involve- der Gelegenheitsstruktur für Kontakte zu tun haben ment in die Politik. Oder in Bevölkerungskreisen, und nicht nur die Einstellungen zu Ausländern wie- die am dem Thema ein spezielles Interesse haben, dergeben. Bezüglich der regionalen Zugehörigkeit mehr als andere darüber diskutiert und reflektiert ha- wird nur ein einziger, signifikanter Effekt erkennbar: ben. Converse nennt sie „issue publics“. die schon früher, im bivariaten Fall gefundene Nei- Dass die Einstellungen in der Bevölkerung oft wenig gung der Chemnitzer, die Aussage überproportional auskristallisiert und z.T. wenig kohärent sind, ist kei- zu bejahen. Diese Tendenz bleibt auch nach Kon- ne vollkommen neue Erkenntnis. In gewissem Maße trolle der sozialen Merkmale erhalten.35 hat dies bereits Paul F. Lazarsfeld in seinen Wahl- Und wie verhält es sich mit dem dritten Indikator studien aus den späten 1940er Jahren ansatzweise – der Ansicht, dass man Muslimen die Zuwanderung thematisiert. Und er hat gezeigt, dass sich diese Situ- untersagen solle? Wie zuvor üben die Merkmale Bil- ation ändern kann, je mehr das Thema im Fokus der dung und „in Ausbildung“ einen Einfluss aus, eben- Diskussion und Reflexion gerückt wird. So nehmen falls das Alter. Dieses wirkt in ähnlicher Weise die Einstellungen in Wahlkampfzeiten an Kohärenz – wenn auch ziemlich abgeschwächt – wie zuvor be- zu (Lazarsfeld et al. 1968: xxxviii). Desgleichen hat schrieben: Jüngere scheinen eher die Aussage als die sich in anderen Panelstudien gezeigt, dass die Korre- Älteren zu bejahen. Bezüglich der regionalen Zuge- lationen von einer Welle zur anderen steigen – Fol- hörigkeit erweisen sich die Großstädter gegenüber ge, so die Vermutung, einer vermehrten Reflexion Muslimen als aufgeschlossener als die Einwohner der Befragten über den erfragten Sachverhalt. Man aus den eher ländlichen und kleinstädtischen Regio- hat diesen Effekt in Anspielung an den Reflexions- nen. Die Dresdner und Leipziger ähneln einander in prozess gelegentlich auch „Sokrates-Effekt“ genannt ihrer Ablehnung eines Zuwanderungsverbots, und (vgl. Jagodzinski et al. 1987). auch die Chemnitzer äußern sich in dieser Hinsicht In Analogie zu diesen Befunden könnte man mutma- recht ähnlich. ßen, dass das Ausmaß der Auskristallisation auf der Insgesamt, so das Resümee, lässt sich auch nach ent- Einstellungsebene – gemessen an der Korrelation sprechenden Kontrollanalysen weder für Dresden zwischen den Indikatoren für Ausländer/Muslim- noch für Chemnitz ein Profil ermitteln, das in Bezug feindschaft – dort am stärksten ausgeprägt ist, wo auf die Einstellungen zu Ausländern und Muslimen das Ausländer-Thema längere Zeit in der öffentli- so eindeutig ist, dass man fremdenfeindliche Protes- chen Diskussion im Vordergrund stand. Am ehesten te an diesen Orten als eine mehr oder minder „natür- ist dies in unserem Fall in Dresden zu erwarten, in liche“ Folge des vorherrschenden Meinungsklimas eingeschränkten Maß im nahegelegenen Einzugsbe- ansehen kann. Wenn es eine Anfälligkeit für entspre- reich der PEGIDA-Demonstrationen. chende Proteste gibt, dann eher in den angrenzenden Die Konsistenz der Einstellungen kann im vorliegen- Regionen. den Fall über die zuvor genannten Statements und die Nennung der Asyl-/Flüchtlingsproblematik als wichti- 5. „Issue Publics“ und die regionale Ausdifferen- ges Problem gemessen werden. Konsistenz meint im zierung der Einstellungsstruktur vorliegenden Fall eine enge Korrelation zwischen den Dass Einstellungen im politischen Bereich nicht voll jeweiligen Variablen – wobei der Zusammenhang auskristallisiert, sondern oft inkonsistent sind, hat nicht zwangsläufig logisch sein muss, sondern oft Philip Converse erstmals in seinem epochalen Bei- eher per Zuschreibung erfolgt (vgl. auch Converse trag „The Nature of Belief Systems in Mass Publics“ 1964). So wird jemand mit der Ansicht, Deutschland (1964) gezeigt. So hat er dargelegt, dass bei vielen wäre durch die vielen Ausländer gefährlich überfrem- det, in der Zeit der Befragungen – in Jahren zwischen 35 Nimmt man eine OLS-Regressionsanalyse vor, unter Einbe- 2016 und 2018 – in erster Linie an die Asylbewerber ziehung der sozialen Merkmale und der Variable Chemnitz und Flüchtlinge aus den überwiegend islamisch ge- als dichotome Variable, kommt man für Chemnitz auf einen beta-Koeffizienten von .11 (p<0,001). prägten Staaten gedacht haben. Für ihn muss die

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Tabelle 3: Korrelationen der Indikatoren untereinander nach Ort (Pearson r) Chemnitz Dresden Leipzig Chemnitz Dresden Leipzig Umland Umland Umland Überfremdung BRD/ .61 .31 .60 .42 .49 .35 Überfremdung Wohngegend

Überfremdung BRD/ .59 .51 .65 .54 .54 .55 Muslim- Zuwanderung Überfremdung Wohngegend/Muslim- .52 .29 .63 .32 .42 .26 Zuwanderung Überfremdung BRD/ .17 .23 .40 .27 .15 .25 Problem (offene Frage)

Überfremdung Wohngegend/ .20 .18 .39 .27 .26 .20 Problem (offene Frage)

Muslim- Zuwanderung/ .25 .22 .48 .23 .15 .19 Problem (offene Frage)

Arithmetisches Mittel .39 .29 .53 .34 .34 .30

Forderung nach einer Verringerung des Zuzugs von „Überfremdung“ in der Bundesrepublik weniger Muslimen daher subjektiv in gewissem Maße lo- durch die Wahrnehmung in der eigenen Wohnumge- gisch erscheinen. Dass die Verringerung in Form ei- bung beeinflusst wird als in den größeren Städten. nes Verbots jeglichen Zuzugs stattfinden soll, ist je- Sie könnte stärker losgelöst sein von eigenen All- doch nicht zwingend. Diese Option stellt lediglich tagserfahrungen. eine – radikale – Variante möglicher Optionen dar. Als drittes zeigt sich: in den Umlandregionen liegen Die Ergebnisse sind in Tabelle 3 zusammengestellt. die Korrelationen meist niedriger als in den drei Als wichtigstes Ergebnis lässt sich konstatieren: die Städten. Am wenigsten ist dies der Fall im Umland Korrelationen sind entlang der hier betrachteten Indi- von Dresden. Die Werte liegen zwar unter denen von katoren bei (nahezu) allen Vergleichen in Dresden am Dresden, aber sie ähneln denen von Leipzig oder größten. Dies gilt für den Zusammenhang zwischen überrunden sie sogar. Womöglich liegt ein Grund der Nennung der Asyl-/Flüchtlingsfrage in der offe- darin, dass es sich um das Einzugsgebiet für PEGIDA- nen Frage und der Wahrnehmung einer „Überfrem- Kundgebungen in Dresden handelt und einen Perso- dung“ der Bundesrepublik ebenso wie für den Zusam- nenkreis, der sich in der Vergangenheit ebenfalls vor menhang zwischen der wahrgenommenen „Überfrem- die Frage gestellt sah, in Dresden an PEGIDA-Kund- dung“ in der Bundesrepublik und der Forderung nach gebungen teilzunehmen oder der dies bereits getan einem Verbot der Zuwanderung durch Muslime. hat. Die Flüchtlingsfrage könnte bei ihnen in der Vergangenheit daher einen fast ähnlich hohen Stel- Als zweites zeigt sich: die Städte weisen in der Re- lenwert in der Alltagsdiskussion eingenommen ha- gel engere Zusammenhänge auf als die Umlandregi- ben oder noch einnehmen wie in Dresden36 – mit der onen. Doch dies trifft nicht bei allen Fragen glei- Folge, dass die kognitive Mobilisierung zum Thema chermaßen zu. Die Unterschiede sind dort am größ- Ausländer/Flüchtlinge ausgeprägter ist als in den an- ten, wo die Frage nach der „Überfremdung“ in der deren, eher ländlich, kleinstädtisch strukturierten Re- eigenen Wohngegend mit anderen Fragen in Bezie- gionen der anderen Bezirke. hung gesetzt wird. Nur in diesen Fällen liegen die Korrelationen in den eher ländlich, kleinstädtisch 36 Eine gewisse regionale Analogie erfährt dies auch in der strukturierten Gegenden beträchtlich niedriger als in Dichte der Facebook-Kommunikation im Internet im Zusam- Dresden, Chemnitz und Leipzig. Dies könnte, im Zu- menhang mit PEGIDA (vgl. Pleul und Scharf 2016). Je größer sammenhang mit den Unterschieden in der Verbrei- die Kommunikation über Flüchtlinge und Ausländer, desto eher dürften Fragen des Ausländer- und Flüchtlingszuzugs ein tung der Wahrnehmung von „Überfremdung“, ein Thema sein. Aus dieser Sicht ist die Zentralität des Themas in Hinweis dafür sein, dass hier die Wahrnehmung von einer Region ein möglicher Grund dafür, dass sich eine issue- spezifische Auskristallisation ereignet.

23 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg.

6. Diskussion und Schlussfolgerungen Wie sehr sich die Situation für einzelne ethnische Gruppen womöglich unterschiedlich darstellt – etwa Welche Implikationen haben die Befunde unserer für Flüchtlinge aus islamischen Ländern – und/oder Untersuchung? In der Öffentlichkeit gilt Sachsen oft auf der Ebene von Personen, die der ersten oder als Bundesland, in dem die Ausländerfeindlichkeit zweiten Migrantengeneration angehören, und in wel- besonders weit verbreitet ist. Doch die Wirklichkeit cher Form die Diskriminierung erfahren wird, war ist komplizierter. Legt man die Einstellungen der kein Gegenstand der Auswertung. Desgleichen ist es Bürger zugrunde, so ergeben sich beim Vergleich des eine offene Frage, wie sehr die Diskriminierung von „Sachsen Monitors“ mit den bundesweiten „Mitte- den Betroffenen überhaupt wahrgenommen und als Studien“ des Leipziger Forschungsgruppe für die solche gedeutet wird. Negative Kommentare auf hier betrachteten Indikatoren mehr Gemeinsamkei- Deutsch werden von Ausländern ohne Deutsch- ten als Unterschiede. Gewiss kann nicht ausge- kenntnisse nicht in ihrem Bedeutungsgehalt realisiert schlossen werden, dass Unterschiede im Befragungs- (es sei denn am Ton, mit der sie vorgetragen wer- modus Unterschiede auf der Einstellungsebene parti- den). Umgekehrt gilt, dass derjenige, der Diskrimi- ell überlagern. Aber die Effekte dürften nicht so nierung erwartet, für Anzeichen von Diskriminie- groß sein, um ein grundlegend anderes Bild zu be- rung besonders sensibilisiert ist, womöglich auch et- wirken. was als solche deutet, das einen anderen Sinn hat.37 Hinweise dafür, dass die Sachsen so abweichend gar Die Tatsache, dass die Unterschiede zwischen Sachsen nicht sind, wie oft angenommen, lassen sich nämlich und der Bundesrepublik als Ganzes bzw. den anderen auch Erhebungen entnehmen, die sich auf identische ostdeutschen Ländern beim Themenkomplex „Aus- Befragungsverfahren stützen. Dabei kommt es auf länder“ allenfalls gradueller Natur sind, schließt an- den Vergleichsmaßstab an. Wo Vergleiche mit der dererseits jedoch nicht aus, dass bei anderen politi- Bundesrepublik als Ganzes – und damit primär mit schen Themen die Unterschiede größer sein könnten den Westdeutschen – angestellt werden, treten des und sich z.T. daraus auch ein Teil der Dynamik für Öfteren Unterschiede im Grad der Fremdenfeind- die AfD-Wahlerfolge und PEGIDA speist (vgl. zur lichkeit und des Rechtspopulismus zutage (vgl. u.a. Politikorientierung im Ländervergleich Pickel et al. Beckmann und Krause 2012: 15, SVR-Forschungs- 2016: 20ff.). Aus Umfragen unter PEGIDA-Teilneh- bereich 2018: 25). Bei Vergleichen jedoch, die sich mern ist bekannt, dass der Protest über die Asylthe- auf Ostdeutschland beziehen, sind die Unterschiede matik hinaus durch eine generelle politische Unzu- reduziert oder aufgehoben (vgl. u.a. Decker et al. friedenheit mit geprägt ist (vgl. Vorländer et al. 2016: 50, Yendell 2016: 121). So gibt es z.B. auf der 2016, Geiges et al. 2016, Patzelt 2016, Reuband Basis des „European Social Survey“ keinen Hinweis 2017a, 2018). dafür, dass sich Sachsen in der Zeit der PEGIDA- Entstehung durch eine größere Verbreitung auslän- Was den speziellen Fall Dresden angeht, so ließ sich derfeindlicher Orientierungen auszeichnete als die in den hier analysierten Daten keine Besonderheit anderen ostdeutschen Bundesländer (Reuband 2017a). Dresdens feststellen, welches diese Stadt zu einem Hauptort des PEGIDA-Protests hätte werden lassen. Mit anderen Worten: was oft als spezifisch für Sachsen Desgleichen war auch in Chemnitz kein Muster zu erscheint, ist eher typisch für die ostdeutschen Län- erkennen, dass so eindeutig ist, dass man Proteste im der insgesamt. Natürlich ist es denkbar, dass die Un- Zusammenhang mit den Ereignissen im Herbst 2018 terschiede zwischen Sachsen und den übrigen Teilen als selbstverständlich hätte erwarten können. Zwar der Bundesrepublik weniger auf der Einstellungs- als wurde die AfD etwas häufiger gewählt als in Dres- der Handlungsebene existieren: dass Ressentiments den und Leipzig, auch glaubten die Befragten häufi- gegenüber Ausländern und Ausländerfeindlichkeit ger an eine „Überfremdung“ durch Ausländer. Aber eher ausagiert werden, von den Bürgern eher im All- gegen ein Verbot des Zuzugs von Muslimen spra- tag gezeigt oder geäußert werden. Aber dafür gibt es chen sich genauso viele aus wie in den beiden ande- keine hinreichenden Belege: die Unterschiede zwi- ren Städten. schen Sachsen und der Bundesrepublik sind im Erle- ben von Diskriminierung auf Seiten von Personen Weitaus bedeutsamer als die Unterschiede zwischen mit Migrationshintergrund gering. So gaben 2017 36 % den Städten Dresden, Chemnitz und Leipzig sind die der Befragten mit Migrationshintergrund in Sachsen Unterschiede zwischen den Städten und ihrem Um- an, entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben. In 37 Dies spricht dafür, Diskriminierungserfahrungen in Umfragen der Bundesrepublik waren es mit 32 % nahezu generell nicht global, sondern differenziert je nach Erfah- gleich viele (SVR-Forschungsbereich 2018: 20). rungsbereich konkret zu erfragen.

24 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze land. Wobei die größere Neigung zur Wahl der AfD auf bestehende soziale Netzwerke – auch von außer- und die stärker ausländer- und muslimfeindlichen halb der Stadt – zurückgegriffen werden konnte und Tendenzen im eher ländlich, kleinstädtisch struktu- dadurch eine kurzfristige Mobilisierung in größerem rierten Raum anzutreffen sind. Zwischen 2016 und Stil möglich wurde (vgl. Lutz 2018) 2018 scheinen die Unterschiede – weiteren Analysen Natürlich unterliegen unsere Befunde und Analysen, von uns zufolge – z.T. sogar noch zugenommen zu wie andere Studien auch, in gewissem Umfang auch haben: Während in Dresden, Leipzig und Chemnitz methodischen Beschränkungen. So mussten beim die Werte 2018 unter denen von 2016 liegen (wobei Vergleich mit bundesweiten Daten Unterschiede in es sich nicht immer um eine lineare Entwicklung der Fragenadministration der face-to-face-Interviews handelt), hat sich in dem Umland von Dresden und in Kauf genommen werden (mit bzw. ohne schriftli- von Chemnitz eine kontinuierliche Steigerung der chen Befragungsteil). Und im Fall des innersächsi- ausländerfeindlichen Orientierungen vollzogen. Der schen Vergleichs musste man sich damit arrangie- Kontrast zwischen Zentrum und Peripherie ist ge- ren, dass die Stichprobe des „Sachsen Monitors“ auf stiegen. Nur in Leipzig-Land findet sich keine ver- der regionaler Ebene nicht immer optimal ist, die so- gleichbare Entwicklung, sie ähnelt im Zeitverlauf ziale Zusammensetzung der Befragten partiell Ver- der Entwicklung in Leipzig-Stadt.38 zerrungen unterliegt. Ob diese jedoch so gravierend Warum gibt es keine Korrespondenz zwischen dem sind, dass sie ein anderes Bild vermitteln als es der Vorkommen von Massenprotest und Einstellungen Realität entspricht, muss bezweifelt werden. zu Ausländern/Muslimen auf regionaler Ebene? Für Dresden liegt als Vergleichsmöglichkeit eine Te- Warum zeichnet sich Dresden als Ort des Protests lefonumfrage mit zufallsgenerierten Festnetznum- von PEGIDA nicht durch eine überproportional hohe mern vom Juni 2015 mit 202 Befragten vor.39 Deren Ausländerfeindlichkeit aus? Für öffentlichen Protest Ergebnisse sind insgesamt eher geeignet, die Befun- – wie den von PEGIDA – sind vermutlich andere Fak- de aus dem „Sachsen Monitor“ für Dresden zu bestä- toren weitaus bedeutsamer als die Einstellungen der tigen als sie in Frage zu stellen. In der Dresden-Um- Bürger am Ort des Geschehens. Protest in Dresden frage von Stefan Fehser vom Juni 2015 stimmten der abzuhalten ist aus Sicht der Organisatoren strate- Aussage über ein Zuwanderungsverbot für Muslime gisch günstig: schließlich ist Dresden nicht nur Lan- 9 % der Befragten entweder „voll und ganz“ oder deshauptstadt, sondern auch eine Stadt mit hoher „eher“ zu, weitere 12 % äußerten ein „teils-teils“. symbolischer Bedeutung und Sichtbarkeit. Sie bietet Fasst man die drei Antwortkategorien zusammen, er- sich als eine Art Bühne an. Protest hier durchzufüh- gibt sich ein Anteil von 21 % (Fehser et al. 2016: 11). ren, garantiert Öffentlichkeit (vgl. Reuband 2016: Dieser ähnelt dem in unserer Untersuchung ermittel- 167, Rehberg 2016: 38). Und umso mehr können ten Anteil von 28 %. Dass er im „Sachsen Monitor“ auch Personen aus dem Umland zur Teilnahme moti- etwas höher liegt, dürfte neben etwaigen Effekten viert werden, die mit der Politik und der Handha- des Befragungsverfahrens40 vor allem den Ereignis- bung der Asylfrage unzufrieden sind. sen in der Zwischenzeit geschuldet sein: insbesonde- Desgleichen dürften die Ereignisse in Chemnitz sich re den gestiegenen Flüchtlingszahlen und Vorkomm- nicht allein auf die Mentalität und Einstellungen der nissen im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Chemnitzer zurückführen lassen. Der Massenprotest Asylbewerbern (wie der „Silvesternacht“ in Köln). vom Herbst 2018, aus Anlass des Todes eines Chem- nitzers durch einen Asylbewerber, ist nach Meinung mancher Beobachter maßgeblich auch der Tatsache 39 Es handelt sich um ein Subsample der Umfrage. Die Umfrage geschuldet, das von mehreren Akteuren aus dem selbst weist größere Befragtenzahlen auf. Dass der bei lokalen rechten Spektrum, einschl. der Fußball-Hooligans, Umfragen übliche Verzicht auf die Einbeziehung von Mobil- funkanschlüssen (diese gibt es nicht auf lokaler Ebene) zu 38 Zustimmende Antworten in der Jahresfolge 2016-2017-2018 Verzerrungen insbesondere im Segment der jüngeren Bevöl- liegen bei der Frage nach der Überfremdung in der Bundesre- kerung führt, ist zwar anzunehmen. Doch dürften die Auswir- publik: in Dresden bei 48 %-43 %-31 %, in Chemnitz bei kungen zur Zeit der Erhebung nicht allzu groß gewesen sein 65 %-67 %-62 %, in Leipzig bei 50 %-50 %-22 %, in Dresden- (dazu vgl. Reuband 2014). Umland bei 59 %-65 %-74 %, in Chemnitz-Umland bei 63 %- 40 Dass Telefonbefragungen die Ausländer- und Fremdenfeind- 66 %-73 %, in Leipzig-Umland bei 76 %-55 %-61 %. Bei der lichkeit im Vergleich zu face-to-face-Befragungen mit oder Frage nach dem Verbot einer Zuwanderung von Muslimen: in ohne schriftlichen Befragungsteil unterschätzen, ist wahr- Dresden bei 37 %-17 %-29 %, in Chemnitz bei 40 %-22 %- scheinlich (vgl. Anm 26). Ob dies auch für Umfragen gilt, die 36 %, in Leipzig bei 37 %-39 %-22 %, in Dresden-Umland von der Universität am Wohnort des Befragten aus durchge- bei 44 %-53 %-61 %, in Chemnitz-Umland bei 37 %-49 %- führt werden oder ob hier nicht eine Art Bonus-Effekt zum 51 %, in Leipzig-Umland bei 60 %-41 %-43 %. Tragen kommt, ist eine offene Frage.

25 Aufsätze Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Regionale Unterschiede müssen nicht nur auf der Decker, O. (2018), J. Kiess, J. Schuler, B. Handke Ebene der Verbreitung von Einstellungen bestehen, und E. Brähler: Die Leipziger Autoritarismus-Studie es kann sie (was bislang kein Gegenstand empiri- 2018: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf, in: scher Forschung war) auch geben auf der Ebene der Decker, O. und E. Brähler, Hrsg., Flucht ins Autori- Einstellungsstrukturen. Die vorliegende Analyse er- täre. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 65-116. brachte Hinweise für die Existenz von „issue pu- Der Tagesspiegel Online (2018): Wie rechts ist die blics“ auf regionaler Ebene. So waren in Dresden die Stadt? 02.09.2018. Korrelationen zwischen den Bestandteilen des „be- lief systems“ zum Thema Flüchtlinge/Asylbewerber Donsbach, W. und C. Förster (2010): Die Sachsen stärker als anderswo, gefolgt vom benachbarten Ein- im wiedervereinigten Deutschland. Erfahrungen und zugsgebiet von PEGIDA-Teilnehmern, dem Umland Einstellungen auf der Grundlage von 20 Jahren de- von Dresden. moskopischer Forschung. Dresden: TUD Press. Fehser, S. (2015): Eine gespaltene Stadt. Positionen Wie sehr sich die Zusammenhänge auf der Ebene der Dresdner Bevölkerung zum Thema Asyl. Dres- der Einstellungsstrukturen in dem Maße wieder ab- den: Kulturbüro Sachsen e.V. schwächen, wie das Ausländer- und Flüchtlingsthe- ma an Bedeutung verliert und keinen Gegenstand Geiges, I., S. Marg und F. Walter (2016): PEGIDA. mehr der Alltagsdiskussion bildet, ist eine andere, Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft. Biele- bislang nicht näher erforschte Frage. Desgleichen ist feld: Transcript. es eine offene Frage, wie sehr eine erhöhte Konsis- Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt- tenz auf der Einstellungsebene mit Prozessen der Po- forschung (2010): Rechtsextreme Strukturen, grup- larisierung einhergeht und wie sich dies auf der Be- penbezogene Menschenfeindlichkeit und bürger- wusstseins- und Handlungsebene auswirkt. schaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus Literatur in der Landeshauptstadt Dresden. Bielefeld: Univer- sität Bielefeld. Andrews, F.M., J.N. Morgan, J.A. Sonquist und I. Klem (1975): Multiple classification analysis. A re- Jagodzinski, W., S. Kühnel und P. Schmidt (1987): port on a computer program for multiple regression Is there a „socratic effect“ in non-experimental panel using categorial predictors. 2. Aufl. Ann Arbor, Mi- studies? Consistency of an attitude towards guest chigan: University of Michigan. workers, in: Sociological Methods and Research, 15, S. 259-302. Backes, U. (2016): Politisch motivierte Gewalt in Sachsen, in: G. Pickel und O. Decker, Hrsg., Extre- Küpper, B., A. Zick und D. Krause (2015): PEGIDA mismus in Sachsen. Eine kritische Bestandsaufnah- in den Köpfen. Wie rechtspopulistisch ist Deutsch- me. Leipzig: Edition Leipzig, S. 27-37. land, in: A. Zick und B. Küpper, Hrsg., Wut, Ver- achtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutsch- Beckmann, L. unter Mitarbeit von D. Krause (2012): land. Bonn: Dietz, S. 21-43. Expertise Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Sachsen 2008-2011 (im Vergleich zu 2002-2005) Kurtenbach, S. (2018): Ausgrenzung Geflüchteter. im Rahmen der Evaluation des Programms „Weltof- Eine empirische Untersuchung am Beispiel Bautzen. fenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“. Biele- Wiesbaden: Springer VS Verlag. feld: Universität Bielefeld. Lazarsfeld, P.F., B. Berelson, B. und H. Gaudet Brandstätter, M. (2007): Die sächsische NPD. Politi- (1968): The people’s choice. New York und Lon- sche Struktur und gesellschaftliche Verwurzelung, don: Columbia University Press [zuerst 1944]. in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 349-367. Lutz, M. (2018): Wie die Mobilisierung der Hooli- Converse, P. E. (1964): The Nature of Belief Sys- gans funktionierte, in: Die Welt Online, 30.08.2018 tems in Mass Publics, in: D.E. Apter, Hrsg., Ideolo- (https://www.welt.de/sport/fussball/plus181365216/ gy and Discontent. New York, S. 206-261. Chemnitz-Wie-die-Mobilisierung-der-Hooligans-fun ktioniert.html; Zugriff 03.12.2018). Decker, O., J. Kiess, E. Eggers und E. Brähler (2016): Die „Mitte“ Studie 2016: Methode, Ergeb- Moritz, T. und T. Straud (2017): Rechtsaußen, mit- nisse und Langzeitverlauf, in: O. Decker, J. Kiess tendrin, in: H. Kleffner und M. Meisner, Hrsg., Un- und E. Brähler, Hrsg., Die enthemmte Mitte. Autori- ter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen. Ber- täre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. lin: Ch. Links Verlag, S. 57-70. Gießen, 2. Aufl.: Psychosozial Verlag, S. 23-66.

26 MIP 2019 25. Jhrg. Reuband – Fremdenfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge in Sachsen [...] Aufsätze

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27 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg.

Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Weimarer Staatsrechtslehre, die sich inhaltlich wohl- wollend zu dem politischen Phänomen der Parteien Malte Feldmann1 verhielten. Um einen solchen „Anwalt der Demokra- tie“6 soll es hier gehen. Die folgende Untersuchung hat die Parteientheorie 2 I. Einleitung und Aufbau der Untersuchung des österreichischen Staatsrechtslehrers Hans Kelsen Die Weimarer Staatsrechtslehre ist nicht für ihre zum Gegenstand. In was für einen Diskurs ist seine Parteienfreundlichkeit bekannt. In Kurt Sontheimers Parteientheorie einzuordnen? Lässt sie sich einer der Klassiker „Antidemokratisches Denken in der Wei- von Triepel beschriebenen, bis heute viel zitierten, marer Republik“ heißt es gar, dass die Partei „in kei- vier historischen Stufen von Bekämpfung, Ignorie- ner Periode der […] Parteiengeschichte so verhaßt rung, Legalisierung und Inkorporation der Beziehung 7 und diskreditiert war wie in der Weimarer Repu- zwischen Staat und Partei zuordnen? Welche Funk- blik“.3 Insbesondere der breit rezipierte Vortrag tionen schreibt Kelsen den Parteien zu? In was für Heinrich Triepels mit dem Titel „Die Staatsverfas- einem Wahlsystem sollten Parteien seiner Auffas- sung und die politischen Parteien“ hat zu diesem Be- sung nach agieren? Wie sollten Parteien intern struk- fund eines weit verbreiteten Antiparteienaffektes der turiert sein? Und schlussendlich: Wie anschlussfähig Weimarer Staatsrechtslehre beigetragen. Doch nicht ist seine Parteientheorie noch heutzutage? Diese Fra- alle Staatsrechtslehrer zu Zeiten der Weimarer Repu- gen werden anhand der wichtigsten staats- und de- blik setzten darauf, angesichts des „Vordringen des mokratietheoretischen Schriften Kelsens, die während Parteienstaates“ – vermeintlicher Ausdruck einer der Weimarer Republik veröffentlicht wurden, unter- „atomistisch-individualistische[n] Staatsauffassung“, sucht. Hierzu zählen vornehmlich die Erstauflage einer pathologischen „Entartung des staatlichen Kör- von „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920), pers“, eines „Rückzugsgefecht[s] des Liberalismus seine „Allgemeine Staatslehre“ (1925) sowie die gegen die Massendemokratie“ – einen „echten Orga- umfassend erweiterte Zweitauflage von „Vom We- 8 nismus“4 herbeizuwünschen, der den vermeintlich sen und Wert der Demokratie“ (1929). staatszersetzenden Parteien endlich ein Ende bereite. Die Untersuchung wird nach zwei kürzeren Ab- Fernab dieser konservativen Strömung gab es auch schnitten zur Rezeption von Kelsens Parteien- und „demokratische Staatsrechtslehrer“5 innerhalb der Demokratietheorie (II.) und einer historischen Ein- ordnung (III.) die Parteientheorie Kelsens rekonstru- 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öf- ieren (IV.). Er formuliert diese am prononciertesten fentliches Recht, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Informations- in der Zweitauflage von „Vom Wesen und Wert der recht, Umweltrecht, Verwaltungswissenschaft – Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann, Goethe-Universität Frankfurt. Demokratie“, sodass diese Schrift im Zentrum der 9 2 Diese Untersuchung entstand im Rahmen eines von Herrn Dr. Untersuchung steht. Nach einer Zusammenfassung Philipp Erbentraut und Herrn Vicente Pons Marti ausgerichte- ten Seminars mit dem Titel „Zwischen Apologie und Antipar- oder Befürworter der Weimarer Republik waren“, vgl. Schön- teienaffekt: Parteientheorien im internationalen Vergleich“ im berger, Demokratisches Denken in der Weimarer Republik: Sommersemester 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt. Anfang und Abschied, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Den- Ich danke ihnen für die Durchführung des Seminars, ihre hilf- ken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 665. reiche Kritik und die Anregung einer Veröffentlichung. 6 Jestaedt/Lepsius, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker 3 Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Re- Hans Kelsen – Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Hans Kel- publik, München 1964, 2. Aufl., S. 198; vgl. zum Antiparteien- sen: Verteidigung der Demokratie, Tübingen 2006, S. XXVII. affekt als gewichtigen Faktor für das Scheitern der Weimarer 7 Zu dieser Stufenfolge Triepel (Fn. 4), S. 8. Republik die Darstellung von Bracher, Demokratie und 8 Diese Textauswahl orientiert sich an dem Sammelband „Hans Machtvakuum: Zum Problem des Parteienstaats in der Auflö- Kelsen: Verteidigung der Demokratie“, vgl. Fn. 6. Die Seiten- sung der Weimarer Republik, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), angaben der Schriften Kelsens beziehen sich ebenfalls auf die- Weimar: Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, se Textausgabe, die in folgenden Zitaten durch Siglen ausein- insb. S. 119 f. andergehalten werden können. 4 Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 9 Ebenso Song, Politische Parteien und Verbände in der Verfas- Berlin 1927 (Zitate S. 36, 34, 34, 37). sungsrechtslehre der Weimarer Republik, Tübingen 1996, 5 Dieser Begriff wird übernommen aus der Habilitationsschrift S. 157. Christoph Gusy erklärt die untergeordnete Rolle der von Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Parteien in den frühen Jahren der Weimarer Republik damit, Republik, Tübingen 2010, wenngleich zuzugeben ist, dass „daß Fragen der demokratischen Staatsform des Reiches in „demokratisch“ ein fragwürdiges Unterscheidungsmerkmal der Nationalversammlung überwiegend in der Konfrontation darstellt, weil, wie etwa Christoph Schönberger formuliert, von Parlamentarismus und Rätesystem diskutiert wurden“, „fast alle Autoren der Weimarer Zeit sich selbst als Theoreti- vgl. Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Re- ker demokratischer Ordnungen begriffen, ob sie nun Gegner publik, Baden-Baden 1993, S. 30. Dies dient auch als Erklä-

28 MIP 2019 25. Jhrg. Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Aufsätze seiner beißenden Kritik an Triepel (IV.1), wird die lehre“ der Rechtswissenschaft aber nicht nur neben Darstellung der Parteientheorie anhand von drei Per- Moral und Politik, sondern auch neben anderen Wis- spektiv- und Analysekategorien, namentlich Funktio- senschaftsdisziplinen, wie der Philosophie oder der nen, Wettbewerb und innere Organisation der Partei- zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu entstehenden en – angelehnt an Philipp Erbentrauts „Theorie und Soziologie, einen Selbststand zu ermöglichen.13 Soziologie der politischen Parteien im deutschen Diese grundsätzliche Trennung zwischen Sein und Vormärz 1815–1848“ –, erfolgen.10 Dementspre- Sollen und damit einhergehend das Verständnis der chend werden Kelsens Ansichten zu den Funktionen Rechtswissenschaft als „reine“ Sollens- bzw. Norm- der Parteien (IV.2.), Sinn und Zweck des Parteien- wissenschaft mag es auf den ersten Blick unwahr- wettbewerbs (IV.3.) und der Binnenstruktur von Par- scheinlich erscheinen lassen, dass Kelsen eine rekon- teien (IV.4.) in jeweils einzelnen Abschnitten behan- struktions- und untersuchungswürdige Behandlung delt. In einem zusammenfassenden und bewertenden eines in der Weimarer Republik nur spärlich nor- Abschnitt (V.) werden diese drei Perspektiv- und mierten politischen Phänomens liefert. Schließlich Analysekategorien hinsichtlich Strukturanalogien ver- gab es eine mit Art. 21 GG vergleichbare Norm noch glichen und die Hauptthesen dieser Arbeit hergelei- nicht. In der Weimarer Reichsverfassung (WRV) tet. Hierdurch soll die in der derzeitigen Rezeption war lediglich Art. 130 Abs. 1 WRV14 normiert, der der Parteientheorie Kelsens häufig postulierte An- von einflussreichen Stimmen als Ausdruck eines An- schlussfähigkeit schlussendlich mit einem illustrati- ti-Parteien-Affektes gelesen wurde.15 Doch verhin- ven Vergleich mit Gerhard Leibholz‘ Parteienstaats- derte die weitgehend fehlende Normierung der Par- theorie teilweise in Frage gestellt, teilweise bekräf- teien in der WRV nicht das Entstehen einer Parteien- tigt, in jedem Falle aber präzisiert werden. theorie. Stattdessen wurde versucht, „über die Lehre von den ungeschriebenen Verfassungsvoraussetzun- II. Die Rezeption von Kelsens Demokratie- und gen und eine adäquate Demokratietheorie den Partei- Parteientheorie en einen angemessenen Platz in Verfassungstheorie Der österreichische Staatsrechtslehrer Hans Kelsen und Verfassungsrecht zu sichern“.16 11 (1881–1973) wird national wie auch international Nicht anders verhält es sich mit Kelsen. Seine Demo- weniger als Demokratie- oder gar Parteientheoretiker, kratietheorie beinhaltet eine ausführliche Behandlung sondern vornehmlich als Rechtstheoretiker wahrge- des politischen Phänomens der Parteien. Nicht nur für nommen. Die beiden Staatsrechtslehrer, die sich im diese wird er schon seit geraumer Zeit äußerst positiv 21. Jahrhundert seinem Vermächtnis besonders an- rezipiert. Hans Boldt sieht in Kelsens Behandlung „des genommen haben, Matthias Jestaedt und Oliver Parteien-Phänomens und daran anschließend des Lepsius, erklären Kelsen etwa für den „im Weltmaß- stab nach wie vor am meisten und am intensivsten 13 studierte[n] und diskutierte[n] Rechtstheoretiker“.12 Eine konzise Zusammenfassung Kelsens Rechtstheorie findet sich bei Dreier (Fn. 11), S. 223–228. Als zentrales Werk Kelsens Rechtstheorie gilt seine 14 1934 erschienene „Reine Rechtslehre“. Darin macht „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ 15 sich Kelsen für eine Trennung von Sein und Sollen, Diese Lesart geht genealogisch wohl auf Leo Wittmayer zurück, vgl. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, von Recht und Politik sowie der Verneinung eines S. 64 ff. Ähnlich Triepel (Fn. 4), S. 28. Carl Schmitt behauptet, notwendigen Zusammenhangs zwischen Recht und dass die WRV keine Parteien kenne, vgl. Schmitt, Verfassungs- Moral stark. Er versuchte mit seiner „reinen Rechts- lehre, Berlin 1928, S. 248. Dies ist mit dem heutigen For- schungsstand kaum vereinbar. Christoph Gusy betont etwa, dass rung für die fehlende Auseinandersetzung Kelsens mit Partei- Parteien trotz ihrer „spärlichen Erwähnung“ in der WRV von en in der 1920 veröffentlichten Erstauflage von „Vom Wesen zahlreichen verfassungsrechtlichen Normen „als notwendige und Wert der Demokratie“. Elemente der Willensbildung der demokratischen Republik vor- ausgesetzt“ wurden, vgl. mit zahlreichen Beispielen ders. (Fn. 9), 10 Vgl. zu diesem methodischen Ansatz Erbentraut, Theorie und S. 32 ff. (Zitat S. 33). Des Weiteren zeigt die Antragsberechti- Soziologie der politischen Parteien im deutschen Vormärz gung der Parteien vor dem Staatsgerichtshof, dass Parteien aner- 1815–1848, Tübingen 2016, S. 19 ff. kannte Verfassungsorgane waren, vgl. Dreier, Der verfassungs- 11 Zu Leben und Werk von Kelsen, vgl. die Darstellungen von rechtliche Status politischer Parteien in der Weimarer Republik, Dreier, Hans Kelsen (1881-1973), in: Häberle/Kilian/Wolff in: Krüper/Merten/Poguntke (Hrsg.), Parteienwissenschaften, (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015, Baden-Baden 2015, S. 43 ff. (insb. S. 48 f.); ausführlich hierzu S. 219 ff. und Olechowski, Hans Kelsen und die österreichi- auch Gusy, (Fn. 9), S. 46–55. Generell zu dem Verhältnis der sche Verfassung, in: APuZ 34–35/2018, S. 18 ff.; ausführlicher WRV zu den Parteien Lübbe-Wolff, Das Demokratiekonzept der der Band Walter/Ogris/Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben Weimarer Reichsverfassung, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009. Wagnis der Demokratie, München 2018, S. 126 ff. 12 Jestaedt/Lepsius (Fn. 6), S. VIII. 16 Gusy (Fn. 9), S. 70.

29 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg.

Parlamentarismus [...] einen Höhepunkt [erreicht]“, teientheorie Kelsens in ihre spezifische ideenge- der „die älteren Demokratiereflektionen weit hinter schichtliche Debatte einzuordnen. Denn die in der sich zurück“ lasse.17 Bereits 1997 sprach Horst Zweitauflage von „Vom Wesen und Wert der Demo- Dreier „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, der kratie“ aus dem Jahre 1929 formulierte Parteientheo- zentralen demokratietheoretischen Schrift Kelsens, rie Kelsens wird nur verständlich im Kontext der den Status eines Klassikers zu.18 Durch die bereits zeitgenössischen Parteienstaatsdebatte der Weimarer erwähnten Jestaedt und Lepsius wird Kelsen gar als Republik (1.) als scharfe Intervention auf Heinrich einer „der bedeutendsten Theoretiker und [...] unbe- Triepels Rektoratsrede „Die Staatsverfassung der stechlichsten Analytiker der modernen Demokratie“ politischen Parteien“ aus dem Jahre 1927 (2.). beschrieben.19 Kelsens Demokratietheorie sei nicht nur von immenser ideengeschichtlicher Bedeutung, 1. Parteienstaatsdebatte so Jestaedt und Lepsius, sondern Kelsen sei der „ein- Obwohl bereits weit vor der Weimarer Republik dem zige Weimarer Theoretiker, dessen Demokratietheorie Wortlaut nach verwendet,23 nimmt der Begriff des heute noch anschlussfähig“ sei.20 Diesem Urteil explizit Parteienstaates erst mit der Weimarer Republik kon- zustimmend formuliert etwa der Ideengeschichtler krete Gestalt an. Laut Christoph Gusy wurden zwar Jens Hacke in seiner Studie zur politischen Theorie bereits zu Zeiten der Monarchie in Gefolgschaft der des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit die „fortschrittlich-liberalen Opposition“, vornehmlich ver- „Ausgangsthese“, dass von allen Staatsrechtslehrern treten von Max Weber, Friedrich Naumann und Hugo der Weimarer Republik „Kelsen dem heutigen Ver- Preuß, hohe Erwartungen an die Parteien herangetra- ständnis einer pluralistischen Parteiendemokratie mit gen,24 jedoch gelangte die Wissenschaft bis zur Zwi- parlamentarischem Repräsentativsystem am nächs- schenkriegszeit noch zu keinem eigenständigen, ver- ten [steht]“.21 Auch Dreier zufolge ist Kelsen derje- gleichbaren Konzept.25 Dieter Grimm und Christoph nige, der, bezogen auf seine Parteienstaatslehre, als Gusy erklären den Ursprung der Parteienstaatsthese der „modernste Denker“ der „Großen Vier“ Weimarer zu Beginn der Weimarer Republik jeweils mit dem er- Staatsrechtslehrer (Hermann Heller, Carl Schmitt, weiterten Wirkungskreis der Parteien, der mit dem Rudolf Smend und eben Kelsen) gelten sollte, eben Wechsel von Monarchie zur Republik nicht mehr nicht zuletzt da Kelsen „gewissermaßen eine Brücke beim Parlament ende, sondern darüber hinaus die Re- zur heutigen verfassungsrechtlichen Lage [baut]“.22 gierung und somit den Staat umfasse.26 Sitz der Sou- Ist Kelsens Demokratie- und Parteientheorie also veränität und Träger der Staatsgewalt war nicht mehr nicht nur von ideengeschichtlichem Wert, sondern der Monarch, sondern das durch Parteien vertretene heute noch anschlussfähig? Mangels eines allgemein- Volk. So sind „Volks- und Staatswille aus ihrer kon- stitutionellen Position des Gegeneinander in ein Ver- gültigen Maßstabs von „Anschlussfähigkeit“ kann 27 dieser Frage hier natürlich nur partiell nachgegangen hältnis von Vor- und Nachordnung gerückt“. werden; für die gegenständliche Parteientheorie Kel- Die früheste, ausführliche Charakterisierung der mo- sens soll jedenfalls untersucht werden, auf welchen dernen Demokratie der Weimarer Republik als Par- Prämissen sie und somit auch ihre im gegenwärtigen teienstaat findet sich wohl bei Richard Thoma in der Diskurs postulierte Anschlussfähigkeit fußt. 1923 erschienenen Erinnerungsgabe für Max Weber. Dort formuliert Richard Thoma: „Demokratien sind III. Historische und ideengeschichtliche Einord- notwendig immer irgendwie Parteienstaaten, denn die nung Mehrheit, die in ihnen entscheidet, ist praktisch not- wendig immer im weitesten Sinne des Wortes Partei Bevor diese Frage mithilfe einer Rekonstruktion beantwortet werden kann, gilt es zunächst, die Par- 23 Vgl. hierzu Erbentraut (Fn. 10), S. 30 Fn. 1. 24 Namentlich die Integration der Bürger in den Staat, einen im 17 Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpe- Vergleich zur Monarchie weniger gefahrvollen Machtwechsel ter, in: Kaase (Hrsg.), Festschrift Rudolf Wildenmann, Opla- sowie die Auswahl von geeigneten Führerpersönlichkeiten, den 1986, S. 221. vgl. Gusy (Fn. 9), S. 18–20. 25 18 Dreier, Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Struktur- Ebd., S. 23. elemente, Probleme, in: Walter/Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens 26 Grimm, Politische Parteien, in: Benda/Maihofer/Vogel Wege sozialphilosophischer Forschung, Wien 1997, S. 97. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Band 1, 2. Aufl., 19 Jestaedt/Lepsius (Fn. 6), S. XXVII. Berlin 1995, S. 600 f.; Gusy (Fn. 9), insb. S. 57 ff., 61 ff. 27 20 Ebd., S. XXVI. Gusy (Fn. 9), S. 60 f.; ähnlich S. 68: Staat und Gesellschaft „standen – anders als im Konstitutionalismus – fortan nicht 21 Hacke, Existenzkrise der Demokratie, Berlin 2018, S. 222. mehr nebeneinander, sondern ineinander; und beide waren 22 Dreier (Fn. 15), S. 55 f. aufeinander bezogen.“

30 MIP 2019 25. Jhrg. Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Aufsätze oder Parteienkoalition“.28 Von dieser analytisch-neu- tung, nach der überhaupt nicht in Abrede zu stellen tralen Bedeutung des Begriffs ausgehend findet der sei, dass der „Parteienstaat zur Tatsache geworden“ Begriff Parteienstaat spätestens mit Otto Koellreutters sei.35 „Das politische Parteiensystem“ sei, so Triepel, 1926 erschienener Schrift „Die politischen Parteien „die Selbstorganisation, die sich die Massendemokra- im modernen Staate“ eine negative Bedeutung.29 Doch tie geschaffen hat“.36 Im Folgenden fordert er jedoch reagiert Kelsen mit seiner Parteien(staats)theorie nicht weder die rechtliche Angleichung an die Wirklichkeit, auf Koellreutter, sondern auf Triepels berühmte Rede noch kann man behaupten, dass er die aus seiner poli- in der Berliner Aula im Jahre 1927 mit dem Titel tischen Position naheliegende Angleichung der Wirk- „Die Staatsverfassung der politischen Parteien“. lichkeit an das Verfassungsrecht fordert. Stattdessen redet Triepel – zur Überwindung der verhassten Mas- 2. Triepels Kritik am Parteienstaat sendemokratie – unversehens einer Führeroligarchie Triepel ist zwar Gegner der Parteienstaatsthese, aber das Wort, „[d]enn eine sichere Schutzwehr gegen das nicht auf undifferenzierte Art und Weise. Die Frage, Vordringen des Parteienstaats wird erst dann aufge- ob ein Staat als „Parteienstaat“ eingeordnet werden richtet sein, wenn die atomistisch-individualistische kann, hängt seiner Meinung nach davon ab, „ob man Staatsauffassung, aus der er geboren ist, aufgegeben die Dinge vom Standpunkte des formalen Rechts und durch eine organische ersetzt worden ist“.37 Die- oder nach Gesichtspunkten politischer Dynamik be- se stark normativ geleitete, argumentative Inkonse- urteilen will“.30 Triepel wird zwar im Rahmen des quenz blieb Kelsen bei der Lektüre Triepels Vortrag Weimarer Methodenstreits dem antipositivistischen nicht verborgen. Wieso sollte die organische Führer- Lager zugeordnet, trotzdem zeigt er hier seinen oligarchie den Widerspruch zwischen Verfassungs- „pragmatischen Arbeitspositivismus“,31 indem er wirklichkeit und Verfassungsrecht auflösen können? zwischen (s)einem rechtlichen und (s)einem tatsäch- Wie spätestens seit seiner Habilitationsschrift lichen Standpunkt differenziert. So widerspricht „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ gehandhabt, Triepel von einem Standpunkt des Rechts der Staats- formuliert Kelsen in der 1929 erschienen Zweitaufla- organ-These. Er sieht Parteien vielmehr als etwas ge von „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ in „extrakonstitutionelles“ an, deren Beschlüsse „als einer ihm typischen „dialogischen Arbeitsstruktur“38 vom Standpunkte des Rechts aus gesehen, unver- eine beißende Kritik an der Position Triepels. bindliche und unmaßgebliche Äußerungen eines dem Staatsorganismus fremden sozialen Körpers“32 seien IV. Rekonstruktion der Parteien(staats)theorie und leitet aus Art. 130 WRV ab, „daß die Verfas- von Kelsen sung die Partei als etwas Nichtstaatliches betrachtet, also eine Identifizierung von Partei und Regierung 1. Kritik an Triepels anti-demokratischen Wert- ausdrücklich ablehnt“.33 Parteien sind für ihn folg- maßstäben lich „keine rechtlich anerkannte Größe“.34 Grundle- Für Kelsen ist die Demokratie „notwendig und un- gend anders ist hingegen seine tatsächliche Betrach- vermeidlich ein Parteienstaat“.39 Die mit diesem Pos- tulat einhergehende Kritik an Triepel fällt bemer- 28 Thoma, in: Palyi (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Weber, II. kenswert „unpositivistisch“ aus. Kelsen schlägt gera- Band, München/Leipzig 1923, S. 45. Generell zur „Analytik der de nicht den Weg ein, anhand von anderen verfas- Demokratie“ von Richard Thoma, vgl. Hacke (Fn. 21), S. 85. sungsrechtlichen Normen als Art. 130 WRV, die die 29 Zur Parteienlehre Koellreuters, vgl. Song, (Fn. 9), S. 180 ff. Ähnlich negativ die bekannte Charakterisierung Carl Schmitts Existenz von Parteien voraussetzen, oder einfachge- von der Weimarer Republik als „labiler Koalitions-Parteien- setzlichen Normen zu argumentieren, dass die Par- Staat“ in Schmitt, Hüter der Verfassung, Berlin 1931, S. 88. teien als rechtliche Phänomene anerkannt sind.40 Diese negative Bedeutung oder zumindest ein „negative[r] Beigeschmack“ (so Stolleis, Parteienstaatlichkeit – Krisen- 35 Ebd., S. 32. symptome des demokratischen Verfassungsstaates?, VVDStRL 36 Ebd., S. 33. 44, Berlin 1986, S. 9) wohnt dem Begriff „Parteienstaat“ noch 37 heutzutage inne. Ebd., S. 36. 38 30 Triepel (Fn. 4), S. 29. Der Begriff einer „dialogische[n] Arbeitsstruktur“ stammt von Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der 31 Zu Triepels Methodik ausführlich Forschner, Rechtshand- Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), Tübingen 2010, S. 2. werk, Rechtsgemeinschaft und Rechtsidee. Fragmente wertge- 39 prägten Methodendenkens im staatsrechtlichen Werk Heinrich Kelsen, WuW 1929, S. 167. Triepels, AöR 136, 2011, insb. S. 631 ff. (Zitat S. 618). 40 In Fn. 18 (vgl. Kelsen, WuW 1929, S. 169) wirft Kelsen Trie- 32 Ebd., S. 30. pel nur sehr beiläufig Widersprüchlichkeit vor, da Triepel zwar beschreibe, dass sich die parteifeindliche Einstellung der 33 Ebd., S. 28. staatlichen Rechtsordnung des monarchischen Staates geän- 34 Ebd., S. 31. dert habe und anschließend sogar positiv-rechtliche Bestim-

31 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg.

Diesen Weg wählten seinerzeit Gustav Radbruch41 stehe, lässt Kelsen nicht zählen. Dies begründet er und heutzutage etwa Christoph Gusy42 oder Horst nicht nur mit den Weltanschauungsparteien, sondern Dreier43. Stattdessen konfrontiert Kelsen Triepel mit auch mit der „Erkenntnis“, es handele sich bei der seinen anti-demokratischen Wertmaßstäben, die er Überparteilichkeit lediglich um einen „ideologischen seiner Parteienstaatskritik zugrunde legte. So Schein […], den jeder Machtapparat um sich ver- schließt Kelsen seine nicht nur im Haupttext, son- breitet“.49 „Sie als Werkzeuge des Gesamtinteresses dern auch in mehreren Fußnoten ausgeführte Kritik einer solidarischen Gemeinschaft ausgeben heißt mit dem Finale: „Er möge verzeihen, hinter seinen bestenfalls: das Sollen für das Sein nehmen, an Stel- Worten ist – abgesehen von der Abneigung gegen le der Wirklichkeit das Ideal sehen, in der Regel je- die Demokratie – nichts zu sehen. Aber es ist ein doch nur: die Wirklichkeit – aus politischen Motiven überaus charakteristisches Dokument für die der de- – idealisieren, d.h. aber rechtfertigen.“ Überpartei- mokratischen entgegengesetzte „organische“ Staats- lichkeit und eine „Interessensolidarität aller Gemein- auffassung.“44 Nicht nur sei hinter Triepels Worten schaftsglieder ohne Unterschied der Konfession, Na- vor allem Demokratiefeindschaft auszumachen, son- tion, Klassenlage usw.“ nennt er „eine metaphysi- dern seine „Haltung […] dient – bewußt oder unbe- sche, oder besser: eine metapolitische Illusion“. wußt – politischen Kräften, die auf die Alleinherr- Spätestens bei der Frage einer tauglichen Alternative schaft eines einzigen Gruppeninteresses zielen, das zu den Parteien, etwa den von Triepel stark ge- in demselben Maße als es das entgegengesetzte nicht machten berufsständischen Gruppen, die Kelsen zu- zu berücksichtigen gewillt ist, sich ideologisch als folge als „materielle Interessengruppierungen“ zu- ‚organisches‘, ‚wahres‘, ‚wohlverstandenes‘ Gesamt- mindest in ihrer Eigenschaft als Interessengruppie- interesse zu verhüllen bestrebt“.45 Für Kelsen gibt es rung gar kein aliud sind, zeige sich diese „metapoli- gerade keine „Wesensunvereinbarkeit“ zwischen tische Illusion“. Die „von der politischen Theorie Staat und Partei.46 Eine solche zu postulieren, sei je- und der Staatsrechtslehre der konstitutionellen Mon- doch „die für die traditionelle Staatsrechtslehre typi- archie beliebte Diskreditierung der politischen Par- sche Methode! Was man politisch für wünschens- tei“ sieht er daher als einen „ideologisch mas- wert hält, deduziert man aus dem Wesen oder Be- kierte[n] Stoß gegen die Realisierung der Demokra- griff des Staates, und was man politisch ablehnt, tie“ an, schließlich könne „[n]ur Selbsttäuschung davon beweist man, daß es dem Wesen oder Begriff oder Heuchelei […] vermeinen, daß Demokratie des Staates widerspricht.“ Dahinter verberge sich „in ohne politische Parteien möglich sei“. Aber was für Wahrheit – wie so oft – ein bestimmtes, und zwar Funktionen erfüllen diese Parteien, damit auf die antidemokratisches Ideal“.47 Insbesondere das Argu- „Fiktion eines überparteilichen ‚organischen‘ Ge- ment, dass Parteien „eine bloße Gemeinschaft von samtwillens verzichtet“50 werden kann? Dies soll die Gruppeninteressen, […] also auf Eigennutz begrün- folgende Rekonstruktion Kelsens Argumentation er- det“ seien, „während der Staat das Gesamtinteresse geben, die Aufschluss über die Prämissen seiner Par- repräsentiert, also über den Interessengruppen, jen- teien(staats)theorie geben wird. seits der sie organisierenden politischen Parteien“ 48 mungen aufzähle, die dies zeigten, Parteien aber trotzdem als 2. Funktionen der Parteien „extra-konstitutionelle Erscheinung“ erachte. 41 Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen a. Interessenabbildung Verfassungsrechts (1930), in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Der Gemeinschaftswille komme im Parteienstaat Arthur Kaufmann, Bd. 14, Staat und Verfassung, bearb. von Hans-Peter Schneider, Heidelberg 2002, insb. S. 47 ff. Rad- eben nicht durch bloße Akklamation desselben zu- bruch kommt aufgrund der Darstellung der rechtlichen Grund- stande, sondern ist aufgrund der „unvermeidlichen lagen der Parteien zu dem Schluss, dass Parteien – entgegen Interessengegensätzlichkeit [...] nichts anderes als die Triepel – „wohl mehr als eine bloße soziologische Tatsache, eine Resultante, das Kompromiß zwischen entgegenge- ‚extrakonstitutionelle Erscheinung‘“ darstellten und man daher setzten Interessen“.51 „Die Gliederung des Volkes in bereits eher „von einem ‚parteienstaatlichen Verfassungs- recht‘ (Richard Thoma)“ sprechen könne, vgl. ebd., S. 53. politische Parteien bedeutet in Wahrheit“, so Kelsen, 42 Gusy (Fn. 9), S. 32 ff. „daß die organisatorische Bedingung für das Zustan- dekommen solcher Kompromisse, daß die Möglich- 43 Dreier (Fn. 15), S. 49 f. keit dafür geschaffen wird, daß sich der Gemein- 44 Kelsen, WuW 1929, S. 171 (Fn. 19). 45 Ebd., S. 172. 49 46 Ebd., S. 167 f. Die folgenden Zitate alle ebd., S. 170. 50 47 Ebd., S. 168. Ebd., S. 172. 48 Ebd., S. 169 f. 51 Ebd., S. 171.

32 MIP 2019 25. Jhrg. Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Aufsätze schaftswille in der Richtung einer mittleren Linie be- erfolgt im zweiten Kapitel von der Zweitauflage von wege.“52 Parteien haben folglich die Funktion, die im „Vom Wesen und Wert der Demokratie“. Dieses Ka- Volk vorhandenen Interessen abzubilden. Organische pitel trägt den Titel „Das Volk“. Darin hat es sich Überparteilichkeit wird sodann obsolet, da „die De- Kelsen zur Aufgabe gemacht, die Frage zu beantwor- mokratie als Parteienstaat den Gemeinschaftswillen ten, wer bzw. was eigentlich das Volk ist, das sich in nur als Resultante der Parteiwillen entstehen lassen der Demokratie selbst bestimmt.58 Wenn man die will“.53 Wenn an dieser Stelle Kelsens Parteientheo- Wirklichkeit betrachte, müsse man feststellen, dass es rie endete, klänge sie in der Tat sehr anschlussfähig. sich um „eher ein Bündel von Gruppen als eine zu- sammenhängende Masse eines und desselben Aggre- b. Kreationsfunktion gatzustandes“ handele. Grund hierfür sei die Spaltung Kelsen hört aber an dieser Stelle nicht auf: Nicht nur aufgrund „[v]on nationalen, religiösen und wirtschaft- ist es Aufgabe der Parteien, die Interessen des Vol- lichen Gegensätzen“.59 Das Volk existiere also nicht in kes abzubilden, nein, bevor sich das Volk nicht „in der Wirklichkeit, sondern nur „in einem normativen politische Parteien gliedert“, gäbe es „ein ‚Volk‘ als Sinne“ als Einheit. Für Kelsen ist das Volk folglich politische Potenz noch gar nicht“. „Die demokrati- kein soziologischer und damit auch kein nationaler, sche Entwicklung läßt die Masse der isolierten Ein- religiöser oder gar wirtschaftlicher, sondern „ein ju- zelindividuen sich zu politischen Parteien integrieren ristischer Tatbestand“. Den Tatbestand der „Volks- und entfesselt dadurch allererst soziale Kräfte, die einheit“ definiert er als „Einheit der das Verhalten man einigermaßen als ‚Volk‘ bezeichnen kann.“54 der normunterworfenen Menschen regelnden staatli- Bei Jean-Jacques Rousseau – den Kelsen als „viel- chen Rechtsordnung“. Volk sei also gar kein „Kon- leicht de[n] bedeutendste[n] Theoretiker der Demo- glomerat gleichsam von Menschen, sondern nur ein kratie“ und „Freiheitsapostel“ beschreibt55 – entsteht System von einzelmenschlichen Akten, die durch die das Volk erst durch den Gesellschaftsvertrag, der staatliche Rechtsordnung bestimmt sind“. Das Volk den Zusammenschluss Einzelner voraussetzt.56 Bei ist in Kelsens normativer Betrachtung schlussendlich Kelsen ist es der Zusammenschluss Einzelner zu Par- nichts anderes als die Summe der Handlungen derje- teien, wodurch das Volk entsteht.57 Wie ist diese nigen, die einer Rechtsordnung unterworfen sind.60 Parallele des erst durch einen Zusammenschluss ent- Hierbei handele sich um den Begriff des Volks als stehenden Volkes zu erklären? Um dies nachvollzie- Objekt. In einer Demokratie gebe es aber noch eine hen zu können, bedarf es einer Erläuterung des doch weitere Bedeutung des Volksbegriffs, das Volk als sehr spezifischen Volksbegriffs Kelsens, die jedoch Subjekt. Das Volk als Subjekt wird aus denjenigen für ein adäquates Verständnis Kelsens Parteientheo- gebildet, die „an der Erzeugung der staatlichen Ord- rie und ihren Vorannahmen unabdingbar ist. nung beteiligt sind“.61 Es sei „den demokratischen Die bisher rekonstruierte Kritik Triepels und die Ideologen meist gar nicht bewußt […], welche Kluft Entwicklung Kelsens eigener Parteien(staats)theorie sie verhüllen, wenn sie das ‚Volk‘ in dem einen mit dem ‚Volk‘ in dem anderen Sinne identifizieren.“ 52 Ebd. Dass diese Kluft jedoch bestehe, zeige sich schon 53 Ebd., S. 172. darin, dass die „Teilnahme an der Bildung des Ge- 54 Beide Zitate ebd. meinschaftswillens“ und damit „der Inhalt der soge- 55 Ebd., S. 156 f. nannten politischen Rechte […] auch in einer extre- 56 Zum Volk und dessen Entstehen erst durch den Gesellschafts- men Demokratie nur einen kleinen Ausschnitt des vertrag vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzi- Kreises der durch die staatliche Ordnung Verpflich- pien des Staatsrechtes (1762), in: ders., Politische Schriften, teten, des Volkes als Objekt der Herrschaft hrsg. von Ludwig Schmidts, Band 1, Paderborn 1977, S. 71 f. 62 (I., 5.): „Ehe man also den Akt untersucht, mit dem ein Volk dar[stellt]“. Dies habe nicht nur mit natürlichen einen König wählt, müßte man erst den Akt untersuchen, Faktoren wie Gesundheit oder Alter zu tun, sondern durch den ein Volk ein Volk wird. Denn dieser Akt geht not- „die demokratische Ideologie“ vertrage „noch viel wendigerweise dem anderen voraus und ist die wahre Begrün- weitergehende Einschränkungen des ‚Volkes‘“.63 Als dung der Gesellschaft.“ 57 Ich danke Philipp Erbentraut für den Hinweis, dass Julius 58 Vgl. Kelsen, WuW 1929, S. 162: „Allein was ist dieses ‚Volk‘?“. Fröbel bereits 1847 in seinem zweibändigen „System der so- cial Politik“ den Gesellschaftsvertrag nicht mehr zwischen In- 59 Ebenso wie die folgenden drei Zitate ebd., S. 163. dividuen, sondern zwischen Parteien hat entstehen lassen, vgl. 60 Ebd. hierzu Erbentraut (Fn. 10), S. 255 ff., und somit zwischen 61 Ebd., S. 164. Fröbel und Kelsen aufgrund ihrer parallelen Modifikationen 62 von Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine gewisse Ähnlichkeit Ebd., S. 164. auszumachen ist. 63 Ebd., S. 164 f.

33 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg.

Beispiele, die dennoch nicht verunmöglichten, eine c. Organe der staatlichen Willensbildung und In- Staatsform als demokratisch zu qualifizieren, führt korporation er den „Ausschluß der Sklaven und heute noch der Da für Kelsen das Volk selbst Staatsorgan ist,69 ist es Frauen von der politischen Berechtigung“ an.64 von dieser – selbst fragwürdigen – Warte aus betrach- Mehr noch: Er erklärt es für einen „Irrtum“, dass es tet nur folgerichtig, nicht nur das Volk als Staatsorgan „als völlig selbstverständlich“ gelte, die politischen anzuerkennen, sondern, da Volk und Partei ihrem Re- Rechte an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen und albegriffe nach eins seien, auch die Parteien. Parteien führt hierfür Sowjetrussland als Gegenbeispiel an. sind also nicht nur das Volk, sondern gleichzeitig An dieser Stelle verbirgt sich eine Kritik an einer staatliche Organe.70 Hierin begründet sich die Diktion Position Thomas, wonach Staatsbürgerschaft und des „Parteienstaates“ für Kelsen. Wenn sie aber Wahlrecht notwendigerweise miteinander verknüpft staatliche Organe darstellen, sind Parteien als solche seien.65 Wer aber ist dann das Volk im Subjektssin- auch verfassungsrechtlich zu verankern. Diesen ne, wenn nicht einmal die Staatsbürger? Konnex illustriert die Textstelle der Zweitauflage Für Kelsen sind nach einem „Realbegriff“ nur diejeni- von „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, an der gen Volk, die ihr politisches Recht „tatsächlich“ und Kelsen seine Inkorporationsforderung aufstellt: 66 „wirklich“ ausüben. Hier könnte man also an die Die moderne Demokratie beruht geradezu auf den Wahlberechtigten denken. Aber auch hier müsse man politischen Parteien, deren Bedeutung um so größer laut Kelsen wieder „zwischen jenen unterscheiden, die ist, je stärker das demokratische Prinzip verwirklicht als urteilslose Menge ohne eigene Meinung dem Ein- ist. Angesichts dieses Umstandes sind die – bisher flusse anderer folgen, und jenen Wenigen, die wirk- freilich nur schwachen – Tendenzen begreiflich, lich durch selbstständige Willensentscheidung […] die politischen Parteien verfassungsmäßig zu ver- Richtung gebend in das Verfahren der Gemeinschafts- ankern, sie auch rechtlich zu dem zu gestalten, was willensbildung eingreifen“.67 Welche Personengruppe sie faktisch schon längst sind: zu Organen der staat- 71 hat Kelsen hier im Auge? Er stößt schlussendlich in lichen Willensbildung. der Beantwortung seiner Frage „auf die Wirksamkeit Einerseits steht Kelsen damit deutlich im Wider- eines der bedeutendsten Elemente der realen Demo- spruch zu dem im Folgenden von ihm harsch kriti- kratie: der politischen Parteien, die Gleichgesinnte sierten Triepel (vgl. IV.1). Andererseits steht er damit vereinigen, um ihnen wirklichen Einfluß auf die Ge- in liberaler Tradition, schließlich war der Ruf nach In- staltung der öffentlichen Verhältnisse zu sichern.“68 korporation der Parteien unter den demokratischen Das ist das Ergebnis Kelsens langer und differenzie- Staatsrechtslehrern sehr verbreitet. Sie folgten dabei insbesondere Hugo Preuß, einem der bedeutendsten rungsreicher Suche nach dem Realbegriff des Volkes. 72 Für ihn sind dem Idealbegriff alle herrschaftsunter- Väter der Weimarer Reichsverfassung. Kelsen fügt worfenen Handlungen das Volk, dem Realbegriffe sich damit gut in den Befund von Kathrin Groh ein, nach diejenigen Personen, die sich in einer politi- dass „die demokratische Staatsrechtslehre diese letzte, schen Partei betätigen. Es bleibt also festzuhalten: erst in der Bundesrepublik tatsächlich erreichte Stufe Für Kelsen kreieren die Parteien das Volk nicht nur, der Verrechtlichung der Parteien durch Verfassungs- sie sind es auch. recht bereits in Weimar als Postulat formuliert“ hat- te.73 Als Zwischenergebnis lässt sich also festhalten, dass Kelsens Parteien(staats)theorie auf der vierten Stufe der Triepelschen Stufenfolge steht. Unerläss- lich ist es nach Kelsen also, Parteien in den staatli- 64 Ebd., S. 165. chen Herrschaftsapparat einzufügen, sie sind gar 65 Vgl. Thoma (Fn. 28), S. 43: „[…] und in dieser Staatsangehö- selbst Staatsorgan und sollten als solche in die Ver- rigenschaft muß, wenn Demokratie vorliegen soll, das Aktiv- bürgerrecht allen sozialen Schichten verliehen sein, auch den fassung inkorporiert werden. untersten und auch den oberen (Gegensatz: Sowjetrußland)“ oder ebd., S. 46: „In allen ihren Erscheinungsformen erweist 69 sich die Demokratie juristisch als eine sich selbst regierende Vgl. hierzu Jestaedt/Lepsius (Fn.6), S. XX. Genossenschaft aller erwachsenen Staatsangehörigen.“ Es ist 70 Bereits hier liegt der Vergleich zu Leibholz‘ Parteienstaatsthe- also naheliegend anzunehmen, dass Kelsen an dieser Stelle orie nahe, der aber, da nicht Rekonstruktion, sondern Kon- Thomas Position einer notwendigen Verknüpfung von Staats- struktion, erst in der Zusammenfassung erfolgen soll (vgl. V.). angehörigkeit und Wahlrecht in Zweifel ziehen möchte. 71 Kelsen, WuW 1929, S. 166; diese Forderung wiederholt sich 66 Kelsen, WuW 1929, S. 165. ebd., S. 200. 67 Ebd., S. 165 f. 72 Vgl. Groh (Fn. 5), S. 243. 68 Ebd., S. 166. 73 Ebd. (Fn. 5), S. 247.

34 MIP 2019 25. Jhrg. Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Aufsätze d. Integrationsfunktion e. Besetzung von obersten Verwaltungs- und Ge- richtsposten Insbesondere wendet sich Kelsen gegen Triepels Einschätzung, dass Parteien „atomistisch-individua- Der Vollständigkeit halber sei noch als letzte Funkti- listisch“ seien. Für ihn sind Parteien hingegen Kol- on der Parteien nach Kelsen aufgeführt, die obersten lektivorgane und eine offenkundige Funktion der Verwaltungs- sowie Gerichtsposten zu besetzen. Am Parteien sei die Integration. Es handelt sich dabei um deutlichsten wird dies im siebten Abschnitt der eine zweifache Integration: der Integration von Ein- Zweitauflage „Vom Wesen und Wert der Demokra- zelindividuen zu einem die Staatswillensbildung tie“, in dem Kelsen die Frage der Notwendigkeit der überhaupt erst ermöglichenden Kollektivorgan sowie Demokratisierung der Verwaltung verneint und da- die Integration der verschiedenen Parteiinteressen bei aufzeigt, wie das Verhältnis zwischen Parteien zum Gemeinschaftsinteresse.74 Zur Integrationsfunk- und Gerichten bzw. Verwaltung sein sollte. Er zieht tion erklärt Kelsen: in seinen Worten „die Demarkationslinie […], bis zu Daß das isolierte Individuum politisch überhaupt der die Wirkungssphäre der politischen Parteien rei- keine reale Existenz hat, da es keinen wirklichen chen darf“. Diese sind das Gesetzgebungsverfahren, Einfluß auf die Staatswillensbildung gewinnen kann, mithin das Parlament, und die „Berufung der obers- daß also Demokratie ernstlich nur möglich ist, wenn ten Vollzugsorgane“, wobei unter Vollzugsorgane sich die Individuen zum Zwecke der Beeinflussung sowohl Verwaltung als auch Gerichte zu verstehen des Gemeinschaftswillens unter dem Gesichtspunkt sind.78 Sinn und Zweck der Berufung der obersten der verschiedenen politischen Ziele zu Gemein- Stellen in den Vollzugsorganen und deren Verant- schaften integrieren, so daß sich zwischen das Indi- wortlichkeit vor dem Parlament ist Kelsen zufolge viduum und den Staat jene Kollektivgebilde ein- „eine gewisse, wenn auch keineswegs die einzig schieben, die als politische Parteien die gleich ge- mögliche Garantie für die gesetzmäßige Tätigkeit richteten Willen der Einzelnen zusammenfassen: das ist offenkundig.75 dieser Organe […], d.h. dafür, daß der Wille des Volkes ausgeführt wird“. Wenn Parteien aber Zusammenfassungen „gleich ge- richtete[r] Willen der Einzelnen“76 sind, verbindet Wieso soll dieser zugrundeliegende Gedanke der Kelsen mit Parteien weniger Kampfgemeinschaften77 Volkssouveränität aber auf die Besetzung nur der als vielmehr Gesinnungsgemeinschaften. Was aller- obersten Vollzugsorgane beschränkt bleiben? Kelsens dings an der Formulierung der „gleich gerichteten Antwort: In einem föderalen Staat drohe sonst die Willen der Einzelnen“ noch bemerkenswerter ist: Gefahr, dass die unteren Instanzen sich in „einen be- Kelsen verschweigt die fortlaufende Integrationsleis- wußten Gegensatz zu den vom Zentralparlament be- 79 tung, die innerhalb einer Partei notwendig ist, um schlossenen Gesetzen stellen“. Daher kommt Kelsen überhaupt eine Parteiposition zu formulieren. Hier zu dem Schluss: zeigt sich weniger ein „pluralistisches“ als eher eine Die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung – und das be- voluntaristisch-mechanische Vorstellung: In Parteien deutet bei demokratischer Gesetzgebung: der Volks- kommen Individuen zusammen, die ohnehin bereits wille und sohin: die Demokratie selbst – wird in der schon gleichgerichtete Willen haben. Wenn dies al- Mittel- und Unterinstanz zweifellos besser als durch lerdings so ist, sei an dieser Stelle die Frage aufge- Selbstverwaltungskörper durch von der Zentralstelle worfen, ob die durch die Parteien erfolgende Kreati- ernannte und ihr verantwortliche Einzelorgane, d.h. also: durch eine autokratische Organisation dieses on des nur der Idee und nicht der Wirklichkeit nach Teils der Staatswillensbildung gewahrt.80 gedachten Volkes als Einheit (vgl. hierzu IV.2.b.) nicht gleichzeitig auch dessen Integration beinhaltet Kelsen erkennt also, dass „eine demokratische Gesetz- und worin sich dann die „Integrationsfunktion“ von gebung nach einer autokratischen, d.h. von der Ge- der „Kreationsfunktion“ noch unterscheidet. setzgebung streng abhängigen Verwaltung verlangt“.81 Dies aber dient – im Endeffekt – den Gedanken der Volkssouveränität und des Volkswillens, von denen 74 Der zweite Aspekt behandelt Sinn und Zweck des Parteien- aus Kelsen seine Parteientheorie konzipiert. wettbewerbs und wird daher in IV.3.a. rekonstruiert. 78 75 Kelsen, WuW 1929, S. 168 f. Beide Zitate Kelsen, WuW 1929, S. 209; dass Kelsen unter 76 Vollzugsorganen sowohl Gerichte als auch die Verwaltung Die Definition von Parteien als Zusammenfassung „gleich ge- ansieht, ergibt sich aus ebd., S. 205. richtete[r] Willen der Einzelnen“ findet sich auch an früherer 79 Stelle der Zweitauflage, vgl. Kelsen, WuW 1929, S. 167. Beide Zitate Kelsen, WuW 1929, S. 206. 80 77 Wie z.B. bei Thoma (Fn. 28), S. 63; vgl. zu Thomas Position Ebd., S. 207. Song (Fn. 9), S. 147. 81 Jestaedt/Lepsius (Fn. 6), S. XXVI.

35 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg.

Als Zwischenergebnis des ersten Teiles der Rekon- „diese Integration aber besser im Parlament selbst als struktion lässt sich also festhalten, dass Parteien die in der breiten Masse der Wähler vor sich geht“.84 Aus Aufgabe haben, die Interessen des Volkes abzubilden diesen Zeilen spricht einige Wertschätzung gegenüber (a.). Bemerkenswert erscheint, dass das Volk nach den Parteien. Sie ermöglichen das, was sonst nur unter Kelsen erst durch den Zusammenschluss Einzelner viel schwierigeren Umständen möglich wäre: In einer mit gleich gerichteten Willen zu Parteien (Integrations- heterogenen Gesellschaft im Wege eines Kompromis- und Kreationsfunktion (b.) und (d.)) entsteht. Diese ses auf einen gemeinsamen Standpunkt zu kommen. Parteien sind für ihn Organe des Staates, sind also in Es geht ihm nicht um die gesellschaftliche Beilegung den Staat inkorporiert. In diesem Zusammenhang steht des „Streits des besseren Argumentes“, sondern um auch Kelsens Ruf nach verfassungsrechtlicher Veran- die Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit kerung der Parteien (c.). Weitere Aufgabe der Partei- des Parlamentes durch den Parteienwettbewerb. Wenn en ist es, die obersten Organe der Gesetzesvollzie- Kelsen also als Sinn und Zweck des Parteienwettbe- hung zu besetzen (e.), um sicherzustellen, dass sich werbs dessen integrative Kraft betont, ist diese Inte- der „Volkswille und sohin: die Demokratie selbst“ gration weniger eine deliberative, als vielmehr eine durchsetzen kann. Dieses Zwischenergebnis zu den institutionell-mechanische. Kelsen selbst spricht in Parteifunktionen leitet über zur nächsten Analyseka- diesem Zusammenhang vom „Wesen des demokrati- tegorie der Parteien(staats)theorie Kelsens, nämlich schen Parteienstaates“, das eben darin bestehe, das dem Sinn und Zweck des Parteienwettbewerbs. nicht „das Interesse einer einzelnen Gruppe zum Staatswillen“, sondern dieser Staatswillen „durch ein 3. Sinn und Zweck des Parteienwettbewerbs Verfahren bestimmt [werde], in dem mehrere partei- mäßig organisierte Gruppeninteressen als solche mit- a. Integrationsfunktion und Gemeinschaftswille- 85 produzent einander ringen und zu einem Ausgleich kommen“. Zunächst einmal ist zu wiederholen, dass für Kelsen b. Rechtliche Garantien und Verhältniswahl als der Gemeinschaftswille als „Resultante“ und als favorisiertes Format „Kompromiß zwischen entgegengesetzten Interessen“ Damit dies jedoch ermöglicht wird, befürwortet Kelsen 82 entsteht (vgl. IV.2.a./d.). Primärer Sinn und Zweck rechtliche Garantien, um sicherzustellen, „daß mög- des Parteienwettbewerbs ist die Integration der ver- lichst alle Parteiinteressen sich äußern und miteinan- schiedenen, mechanisch zu denkenden Parteiauffas- der in Konkurrenz treten können; damit es schließ- sungen (hierzu IV.2.d.), die dann im Wege eines lich zu einem Kompromiß zwischen ihnen komme“. Kompromisses zwischen diesen zahlreichen Parteiauf- Allerdings erscheint es verfehlt, mit diesen Äußerun- fassungen den Gemeinschaftswillen hervorbringen. gen „moderne“ rechtliche Garantien, genannt sei hier Ursächlich für diese Integrationsfunktion ist das Ma- nur das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus joritätsprinzip und damit einhergehend die Notwen- Art. 21 i.V.m. Art. 3 GG, zu assoziieren. Diese Garan- digkeit, Parteikoalitionen zu formen, um eine Mehr- tien böte viel eher das „Verfahren in einem auf dem heit im Parlament bilden zu können. Zu beachten ist Proportionalwahlsystem aufgebauten Parlament“.86 hierbei, dass die Integration durch den Parteienwett- Kelsen beantwortet damit die Frage nach dem von bewerb nicht auf Ebene der Bürgerschaft und damit ihm favorisierten Format des Parteienwettbewerbs. in der Öffentlichkeit vollzogen wird, sondern ledig- So spricht er sich bereits in der Erstauflage von lich innerhalb des Parlaments. So definiert Kelsen „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ sehr deut- den Begriff der Parteienkoalition als den Prozess lich für ein Verhältniswahlsystem aus. Hiermit er- „geringere Differenzen zwischen den Parteigruppen greift er Opposition zu anderen Stimmen des Wei- zurückzustellen und sich auf die wichtigsten gemein- marer Quartetts, wie etwa Rudolf Smend, der sich samen Interessen zu einigen“, die in einem Proportio- gegen ein Proporzsystem ausspricht.87 Wie erklärt nalwahlsystem83 „aus dem Bereiche der Wählerschaft sich diese frühe Positionierung Kelsens und warum in die des Parlamentes verschoben“ werde. Dies ver- sieht er gerade im Proportionalwahlsystem eine Ga- einfache die Integration der verschiedenen Auffassun- rantie für den Parteienwettbewerb und den daraus gen erheblich und bedeute daher „sozialtechnisch kei- hervorgehenden Gemeinwillen? neswegs ein Uebel, sondern im Gegenteil ein Fort- 84 Ebenso wie die vorherigen Zitate aus Kelsen, WuW 1929, schritt“. Der Vorteil zeige sich gerade darin, dass S. 199 f. 85 82 Kelsen, WuW 1929, S. 171. Kelsen, WuW 1929, S. 200. 86 83 Zu dem von Kelsen favorisierten Proportionalwahlsystem, Beide Zitate ebd., S. 200. vgl. Abschnitt IV.3.b. 87 Dreier (Fn. 15), S. 54.

36 MIP 2019 25. Jhrg. Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen Aufsätze

Kelsen betrachtet die Frage des Wahlsystems nicht festzuhalten, dass der Parteienwettbewerb durch rein unter funktionalen Gesichtspunkten, wie etwa möglichst viele Parteien in einem Repräsentativsys- der Stabilität der Regierung, sondern für ihn steht tem eine stark auf die Volkssouveränität abzielende eine möglichst spiegelbildliche Abbildung der Be- Richtung hat. Ist dies auch seinen Ausführungen zur völkerung im Vordergrund. Insbesondere sollte die Binnenstruktur von Parteien zu entnehmen? Minorität nicht ausschließlich durch die Majorität vertreten werden, um der Idee der Demokratie, der 4. Binnenstruktur von Parteien politischen Selbstbestimmung, Genüge zu tun: a. Aufruf zur innerparteilichen Demokratie Unter dem Gesichtspunkte der politischen Selbst- Bezüglich der Binnenstruktur von Parteien wird in bestimmung muß es unzulässig erscheinen, daß nur die Majorität ihre Repräsentanten in den Gesetzge- der Rezeption Kelsens Parteientheorie hervorgeho- bungskörper entsendet, daß die Interessen der Mi- ben, dass Kelsen den „Gedanke[n] der innerparteili- norität oder der Minoritäten von den Abgeordneten chen Demokratie im Kern klar erfasst und ausge- der Majoritätspartei vertreten werden. Soll man von sprochen“ und somit einen bedeutenden „Beitrag zur keinem fremden Willen beherrscht sein, darf man Ideen- und Verfassungsgeschichte des Art. 21 GG, auch nur von Angehörigen der eigenen Partei ver- […] speziell zu Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG“ geleistet treten werden. Darum wählt nach dem System der habe.90 Wie einflussreich Kelsens demokratietheore- Verhältniswahl nicht das Volk, sondern wählen die tische Schriften konkret für die Formulierung des einzelnen Parteien ihre Vertrauensmänner ins Par- Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG waren, lässt sich zwar nicht lament, in dem jede Partei und so auch die Minori- täten im Verhältnis zu ihrer ziffernmäßigen Stärke rekonstruieren. Kelsens immer wieder geäußerte vertreten sind.88 Forderung nach innerparteilicher Demokratie durch- zieht aber in der Tat seine staats- und demokratiethe- Aus heutiger Warte wirkt Kelsens Argumentation zum oretischen Schriften. So verbindet Kelsen bereits in Ende dieses Abschnitts etwas befremdlich, schließlich seiner „Allgemeine Staatslehre“ eine Forderung sind für ihn Abgeordnete nicht Vertreter des ganzes nach Verrechtlichung der Parteien mit einem Aufruf Volkes (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), sondern erschei- zur innerparteilichen Demokratie: nen lediglich als Vertreter der Parteien. Dies gilt umso mehr, als auch schon nach Art. 21 S. 1 WRV Abge- Wird die politische Partei zu einem entscheidenden Faktor im Prozesse der staatlichen Willensbildung, ordnete Vertreter des ganzen Volkes sein sollten. dann liegt es nahe, die Organisation der Partei unter Hierzu stellt sich Kelsen folglich in klare Opposition. diesem Gesichtspunkte gesetzlich zu regeln, insbe- Diese Positionierung findet sich in der Zweitauflage sondere dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb der von „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ nicht Partei selbst der Grundsatz demokratischer Kon- wörtlich wieder, vielmehr betont Kelsen seine Vor- trolle gewahrt bleibe, und die – gerade beim Sys- stellung, dass durch das Parlament die tatsächliche tem der Proportionalität so oft beklagte – Diktatur Interessenlage der Bevölkerung abgebildet werde. So der Parteiführer möglichst eingeschränkt werde.91 sei es „von größter Wichtigkeit, daß alle politischen Diese Forderung nach innerparteilicher Demokratie Gruppen im Verhältnis zu ihrer Stärke im Parlamente belegt Kelsen an anderer Stelle explizit mit seiner vertreten seien, damit die tatsächliche Interessenla- Lektüre von Robert Michels „Soziologie des Partei- ge, das ist aber die prinzipielle Voraussetzung, unter wesens“. So argumentiert er etwa in der Zweitauflage der ein Kompromiß zustande kommen kann, im Par- von „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ mit 89 lamente sich zunächst überhaupt darstelle“. Fußnotenverweis auf jenes Werk, wonach „gerade die Das Proportionalwahlsystem wird also einem Mehr- amorphe Struktur“ der Parteien es begünstige, „daß heitswahlsystem vorgezogen, weil nur ersteres die die sich [in Parteien] abspielenden Vorgänge der Ge- tatsächliche Interessenlage des Volkes abbilden kön- meinschaftswillensbildung einen ausgesprochen aristo- ne. Hierin zeigt sich wieder die dargestellte mecha- kratisch-autokratischen Charakter haben“.92 „Die nische Integrationsfunktion (a.) des Parteienwettbe- Wirklichkeit des Parteilebens, in dem bedeutende werbs. Die Interessenlage und damit die Demokratie Führerpersönlichkeiten sich noch viel stärker geltend wird von Kelsen nicht als deliberatives Ergebnis ei- machen können als innerhalb der Schranken einer ner Diskussion gedacht, sondern als ein mechani- demokratischen Staatsverfassung“, so Kelsen, „[…] sches Resultat hervorgehend aus den verschiedenen bietet dem Individuum in der Regel nur ein sehr ge- „tatsächliche[n] Interessenlage[n]“. Es bleibt zudem 90 Vgl. Dreier (Fn. 15), S. 56. 88 Kelsen, WuW 1920, S. 10. 91 Kelsen, AS 1925, S. 351. 89 Kelsen, WuW 1929, S. 199. 92 Kelsen, WuW 1929, S. 172.

37 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg. ringes Maß demokratischer Selbstbestimmung“.93 Mandat die logische Folge der Volkssouveränität.97 Diese Forderung nach gesetzlicher Regelung der in- Gleichzeitig ist sich Kelsen bewusst, dass das impe- nerparteilichen Demokratie ist in der Tat ein sehr rative Mandat in seiner alten Form nicht wiederkeh- fortschrittlicher Gedanke. Der Gedanke der gesetzli- ren könne. Nichtsdestotrotz befürwortet er doch den chen Regulierung der innerparteilichen Demokratie „Gedanke[n] einer ständigen Kontrolle des Abgeord- findet sich in sonstigen zeitgenössischen Beschrei- neten durch die zur politischen Partei organisierte bungen vor allem in Darstellungen, die amerikanische Wählergruppe“. Dies wäre geeignet, „[d]ie Unver- Gesetze, die in Reaktion auf das Phänomen der ameri- antwortlichkeit des Abgeordneten seinen Wählern kanischen „Parteimaschine“ verabschiedet wurden, gegenüber, die zweifellos eine der Hauptursachen beschreiben. In diesen Darstellungen geht es darum, für die Mißstimmung, die heute gegen die Institution den gesetzgeberischen Umgang der Amerikaner mit des Parlaments herrscht“, einzudämmen,98 was zu demokratischen Mängeln des Parteiwesens – etwa bei seinen radikaldemokratischen Reformvorschlägen den Primaries – zu beschreiben.94 Kelsen könnte für Parlament und die Binnenstruktur von Parteien, demnach in der Tat der erste deutschsprachige die die Zentralität des Volkssouveränitätsgedanken Staatsrechtslehrer sein, der die rechtspolitische For- abermals betonen, überleitet. derung nach Durchsetzung der innerparteilichen De- Zu den von Kelsen vorgeschlagenen Maßnahmen ge- mokratie aus dem amerikanischen Kontext auf die hören zunächst die Abschaffung der Immunität, die Weimarer Parteiendebatte überträgt. Dies ist umso Abschaffung der Indemnität und der automatische bemerkenswerter als er damit etwa die gegensätzli- Verlust eines Mandates als „Folge eines ausdrückli- che Position zu Radbruch einnimmt, der im Jahre chen Austrittes oder Ausschlusses aus der Partei“.99 1930 die Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung Kelsen möchte es jedoch nicht hierbei belassen. Er innerparteilicher Verhältnisse als bloßes Problem schlägt nach wohlwollender Erwähnung der russi- von Mehrheitswahlsystemen noch explizit ablehnt.95 schen Sowjetverfassung, die ein solches Recht für b. Ablehnung des freien Mandats und weitere Re- ihre Räte vorsähe, vor, den in Verfassung und Geset- formvorschläge zen normierten Parteien „das Recht auf Abberufung der Abgeordneten“ zu geben. Er erwägt es, den Par- Doch Kelsen hat noch weitere Reformvorschläge, die teien zu „überlassen, je nach Bedarf zur Beratung die innere Struktur der Parteien betreffen. Zwar ge- und Beschlußfassung über die verschiedenen Gesetze hört die Stellung des Abgeordneten – ob frei oder aus ihrer Mitte die ihr zur Verfügung stehenden durch ein imperatives Mandat gebunden – nicht un- Fachmänner zu delegieren, die jeweils mit der der po- mittelbar dazu, jedoch haben Kelsens Auffassungen litischen Partei nach dem Proporz zukommenden hierzu sowohl Aussagekraft für die sonstige innere Stimmenzahl auf die Entscheidung Einfluß nehmen“.100 Struktur der Parteien, als auch für das Leitmotiv, das Dieses jederzeitige Abberufungs- und Austausch- durch die Reformvorschläge gefördert werden soll. recht der Abgeordneten durch die Parteien diene Bereits in der Erstauflage von „Vom Wesen und dazu, dem Argument der „Volksfremdheit“ und dem Wert der Demokratie“ erklärt sich Kelsen die von Vorwurf von fehlender Sach- und Fachkenntnisse ihm diagnostizierte Neigung der „breiten Volksmas- entgegenzutreten.101 Kelsen sollte also nicht nur als sen“ zum imperativen Mandat mit dem „demokrati- derjenige erinnert werden, der zur innerparteilichen schen Prinzip“. „Denn das imperative Mandat – ehe- Demokratie aufrief, sondern auch – um die Volks- dem ein Requisit des ständischen Staates und darum souveränität zu realisieren – als Befürworter des im- besonders in der konstitutionellen Monarchie zum perativen Mandats und als Autor teils radikaldemo- alten Eisen geworfen – ist“, so Kelsen, „gleichwohl kratisch, teils expertokratisch anmutender Reform- nur die direkte Konsequenz der unveräußerlichen vorschläge jenseits der heutigen Verfassungslage. Volkssouveränität.“96 Auch der Zweitauflage von „Vom Wesen und Wert“ zufolge ist das imperative

97 93 Ebd, S. 172 f. Kelsen, WuW 1929, S. 185 (dort Fn. 27). 98 94 Vgl. nur Hasbach, Die moderne Demokratie, Jena 1917, Ebd. S. 487 f. sowie später – ebenfalls nur in Bezug auf den ameri- 99 Ebd., S. 186. Anzumerken ist, dass sein Reformvorschlag ei- kanischen Diskurs – bei Triepel (Fn. 4), S. 23 f. nes automatischen Mandatsverlusts (teilweise) geltendem 95 Radbruch, (Fn. 41), S. 53. Weitaus weniger überrascht, dass Landesrecht entsprach, vgl. etwa Art. 7 Ziff. 6 des württem- diese ablehnende Position auch bei Carl Schmitt zu finden ist, bergischen Landtagswahlgesetzes v. 4.4.1924. vgl. Schmitt (Fn. 15), S. 247. 100 Kelsen, WuW 1929, S. 188. 96 Kelsen, WuW 1920, S. 11. 101 Ebd.

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V. Zusammenfassung und Bewertung kratie. Teilweise arbeiten sich gegenwärtige Reform- vorschläge an denselben Bedenken ab, die bereits Es bleibt festzuhalten, dass Kelsen als klarer Fürspre- Kelsen motivierten, seine Reformvorschläge zu formu- cher der Parteien gelten darf. Er ist als ein Vertreter lieren.103 Wenn man Kelsens Parteientheorie auf diese der vierten Triepelschen Stufenabfolge der Beziehung bisher zusammengefassten Punkte reduzierte, könnte zwischen Parteien und Staat anzusehen, der die Inkor- man die häufig geltend gemachte Anschlussfähigkeit poration der Parteien in den Staat durch die seiner An- wohl ohne nähere Differenzierungen bejahen. sicht nach notwendige Verbindung von Demokratie und Parteienstaat einforderte. Parteien sollten nicht Eine solche abschließende Bewertung würde jedoch nur in der Verfassung ausdrücklich normiert werden, eine gewisse Prämisse Kelsens Parteientheorie außer sondern sogar als Organe der staatlichen Willensbil- Acht lassen: In allen Perspektiv- und Analysekatego- dung anerkannt werden. Funktion und Aufgabe der rien der Rekonstruktion, namentlich Funktionen, Wett- Parteien sind Kelsen zufolge, die Interessen des Vol- bewerb und innere Organisation der Parteien, wurde kes abzubilden, zu integrieren sowie die obersten immer wieder deutlich, dass Kelsen Parteien als ver- Verwaltungs- und Gerichtsposten zu besetzen. Die längerten Arm der Volkssouveränität ansieht. Im vom Stärken und mit ihr die Anknüpfungspunkte für eine Bundesverfassungsgericht begrifflich geprägten Duk- etwaige Anschlussfähigkeit der Kelsenschen Partei- tus ließe sich sogar eine Reduktion auf die Funktion en(staats)theorie sind aber wohl weniger in der des Sprachrohrs ausmachen.104 So argumentiert Kelsen Funktionsbeschreibung (IV.2.) als in seinen Ausfüh- auffällig mechanisch und voluntaristisch, immer rungen zu den anderen beiden Analysekategorien zu wieder wird ein dem politischen Prozess vorauslie- suchen. Insbesondere Kelsens pointierte Analyse gender, freilich heterogener Volkswille angenom- Triepels „metapolitische[r] Illusion“ eines fernab des men.105 Andere „moderne“ Funktionen der Parteien, Parteienkompromisses vorhandenen Gemeininteresses wie die Willensbildung und Beeinflussung der öf- macht Kelsens prozedurales Gemeinwohlverständnis fentlichen Meinung, kommen hingegen nicht vor. deutlich. Dieses erachtet den Parteienwettbewerb als Dies gilt auch für die politische Erziehung und Wil- notwendig, um „den Gemeinschaftswillen nur als Re- lensbildung des Volkes, nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG sultante der Parteiwillen entstehen“ zu lassen. In der der Kerninhalt des grundgesetzlichen Auftrags. Für gegenwärtigen Rechtswissenschaft sind hingegen ver- Kelsen sind Parteien nicht meinungsbildend, sondern einzelte Stimmen zu hören, die unter expliziter Beru- meinungsabbildend. Natürlich kann nicht Maßstab der fung auf Triepels Rektoratsrede aus dem Jahre 1927 Anschlussfähigkeit sein, dass Kelsen jegliche im heu- eine zumindest partielle Überwindung politischer Par- tigen Diskurs ausgemachten Funktionen der Parteien teien fordern.102 Hier könnte eine Besinnung, wenn im Rahmen seiner Demokratietheorie beschrieben hat. nicht gar eine „Arsenalisierung“ anhand Kelsens de- Dennoch handelt es sich bei dieser Strukturanalogie mokratietheoretischen Schriften, insbesondere zur um ein nicht zu ignorierendes Manko. Dies wird umso „metapolitische[n] Illusion“, gewinnbringend sein. deutlicher, wenn man sie der zeitgenössischen Partei- Als anschlussfähig kann aber sicherlich auch der von en(staats)theorie Richard Thomas gegenüberstellt, der Kelsen adäquat beschriebene, durch Parteien erreichte zivilisatorische Fortschritt gelten, politische Interes- 103 Vgl. vor allem Willke, Dezentrierte Demokratie: Prolegomena sengegensätze und Kompromissfindung aus der Ge- zur Revision politischer Steuerung, Berlin 2016, insb. S. 18 ff., sellschaft in das Parlament zu verschieben und auf 109 ff., der aufgrund der Komplexität der Sachfragen in der Wissensgesellschaft Expertengremien (in einem sog. Unterhaus) diesem Wege diese Konflikte überhaupt integrations- fordert und so – ähnlich wie Kelsen – der fehlenden Sach- und und kompromissfähig zu machen. Zudem schreckte Fachkenntnisse der Abgeordneten entgegentreten möchte. Kelsen nicht davor zurück, teils radikaldemokratische, 104 Die Verwendung des Begriffs „Sprachrohr“ durch das Bun- teils expertokratische Reformvorschläge fernab der desverfassungsgericht ist auf Gerhard Leibholz zurückzufüh- damaligen Verfassungslage zu formulieren. Beson- ren (vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation unter be- ders hervorzuheben sind natürlich seine Überlegungen sonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, Berlin/ Leipzig 1929, S. 118; wobei anzumerken ist, dass Leibholz zum mittlerweile in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG niederge- den Begriff wiederum von seinem Habilitationsvater Triepel legten, damals aber noch innovativen Reformvor- sowie von Erich Kaufmann übernommen hat, vgl. ebd. (dort schlag einer Regulierung der innerparteilichen Demo- Fn. 2)), wird aber schon lange nicht mehr verwendet. Hierzu Grimm (Fn. 26), S. 608 sowie Erbentraut (Fn. 10), S. 31. 102 Towfigh, Das Parteien-Paradox, Tübingen 2015. Hierzu auf- 105 Insb. letzterer Aspekt erscheint irritierend, wenn nicht gar pa- grund der Anknüpfung an ein „substanzielles, ‚überparteiliches‘ radox – gerade aufgrund des von Kelsen vertretenen prozedu- Gemeinwohl“, einer „zweckrationalen Kosten-Nutzen-Perspekti- ralen Gemeinwohlverständnisses. Zu Kelsens Voluntarismus ve“ sowie eines geschichtsvergessenen Novitismus kritisch Funke, Grenzen der rechtstheoretischen Aufklärung der Staats- Erbentraut, Der Staat 56, 2017, S. 142 ff. (Zitate S. 144, 146). rechtslehre, Der Staat 57, 2018, S. 267 ff., insb. S. 282, 286.

39 Aufsätze Feldmann – Die Parteien(staats)theorie von Hans Kelsen MIP 2019 25. Jhrg. den Volkswillen als Denkkategorie strikt ablehnt, die und Identität.112 Aber eben nicht nur bei Leibholz Aggregationsleistung der Parteien stark betont und „rücken die Parteien an die Stelle des Volkes“113 dem Faktor der öffentlichen Meinung größeren Raum – sondern auch in der Parteientheorie Kelsens. gewährt.106 Deliberation, Überzeugung und Kommu- Leibholz nimmt diese Gleichsetzung von Volk und nikation in einem öffentlichen Raum fernab des Parla- Parteien zwar auch vor, um die antipodische Bezie- ments haben in Kelsens Parteien(staats)theorie hinge- hung zwischen Repräsentation und Identität zu ret- gen keinerlei Platz. Umso irritierender ist es, dass die ten,114 geeint sind die beiden aber wiederum in ihrer Parteien für Kelsen das Volk nicht nur entstehen las- Motivation, Parteien und Volk gleichzusetzen, um sen, sondern er, indem er Volk und Parteien gleich- das Phänomen der politischen Parteien mit dem Ge- setzt, den Unterschied zwischen Volk und Parteien ni- danken der Volkssouveränität überhaupt vereinbaren velliert. Besonders dieser Aspekt erscheint mir bisher zu können.115 Angesichts des damaligen umkämpften nicht ausreichend Beachtung gefunden zu haben. demokratietheoretischen Diskurses mag die Gleich- Dies soll folgender Vergleich verdeutlichen: Eine ge- setzung von Partei und Volk zwar ein enorm wichti- wisse Nähe zwischen Kelsens und Gerhard Leibholz‘ ger Beitrag für die Anerkennung der zentralen Rolle Parteienstaatstheorie ist kaum von der Hand zu wei- der Parteien für die moderne Demokratie gewesen sen. Dies mag zwar nicht für den Ausgangspunkt ihrer sein. Aber eine solche unterkomplexe Gleichsetzung jeweiligen Positionen gelten, aber für ihr Verhältnis sollte für die heutige Zeit kaum als vorbehaltlos an- von Volk/Partei/Staat und damit für ihre Schlussfol- schlussfähig gelten dürfen. Es mutet daher etwas will- gerungen, die sie beide bezeichnenderweise in dem- kürlich an, wenn einerseits führende Köpfe der Bun- desrepublik Deutschland Leibholz‘ Parteientheorie selben Jahr zum ersten Mal unter demselben Begriff 116 des Parteienstaates fassen.107 Beide setzen Volks-, schon seit geraumer Zeit ins Archiv verbannen, Parteien- und Gemeinwillen gleich. Beide unterschei- Kelsens Parteientheorie andererseits seit neuestem den zwischen den in Parteien zu findenden Aktivbür- in toto ins Arsenal befördert wird. Nicht alles, was gern108 und dem Rest der zu beherrschenden Bevölke- Kelsen in seiner Parteien(staats)theorie formuliert rung. Beide belassen so neben den Parteien nicht viel hat, verdient das Etikett „anschlussfähig“. Der Platz für die Vertretung, ja für die Existenz des Vol- „Leibholzsche Kelsen“, der das Volk erst durch die kes fernab der Parteien – von Verbänden, Interessen- Parteien entstehen lässt, Volk und Partei gleichsetzt organisationen oder Bürgerinitiativen ganz zu schwei- und Parteien als staatliche Organe anerkannt wissen gen. Schlussendlich nivellieren sie mit ihren möchte, eben derjenige, der eine Parteienstaatstheo- Parteien(staats)theorien gleichermaßen die analyti- rie formulierte, sollte ebenfalls ins Archiv gestellt sche Unterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft.109 werden. Erst nachdem diese (Staats-)Spreu vom Weizen getrennt wurde, sollte die Anschlussfähigkeit Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kelsen Kelsens Parteientheorie für die heutige Diskussion teilt definitiv nicht Leibholz‘ vorstaatlichen Volksbe- erwogen werden. griff,110 seine plebiszitäre Diktion111 oder gar seine ei- gentümliche, mindestens dem Begriffe nach an Carl 112 Zu allen diesen Aspekten Siehr, Repräsentation bei Gerhard Schmitt angelehnte Dichotomie von Repräsentation Leibholz, in: Kaiser (Hrsg.), Der Parteienstaat: Zum Staats- verständnis von Gerhard Leibholz, Baden-Baden 2013, insb. S. 55 ff., S. 66 ff. 106 Vgl. Thoma (Fn. 28), insb. S. 62 f. 113 Siehr (Fn. 112), S. 67. 107 Vgl. das vierte Kapitel „Die Spannungen zwischen Verfas- 114 sungsrecht und Wirklichkeit in den Demokratien der Gegen- Mantl, Repräsentation und Identität: Demokratie im Konflikt, wart“ in Leibholz (Fn. 104), S. 98–123 (insb. S. 118 ff.). Wien 1975, S. 87. 115 108 Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie Dass Kelsen und Leibholz unterschiedlicher Auffassung zum (1958), in: Lenk/Neumann (Hrsg.), Theorie und Soziologie freien Mandat waren, stellt keinen Einwand gegen diese The- der politischen Parteien, Neuwied/Berlin 1968, S. 172. se dar. Während Kelsen – wie beschrieben – das imperative Mandat bevorzugt, verteidigt Leibholz bereits 1929 das freie 109 Für die analytische Unterscheidbarkeit gibt es – anders als für Mandat, vgl. Leibholz (Fn. 104), S. 94 ff. Doch Leibholz‘ den historisch überkommenen, strengen Dualismus zwischen Auffassung resultiert nicht aus Erwägungen der Volkssouve- Staat und Gesellschaft – weiterhin gute Gründe, dies zeigt ränität, sondern aus seinem elitären Repräsentationsbegriff, Grimm, (Fn. 26), S. 610 ff. vgl. hierzu Siehr (Fn. 112), S. 59. 110 Vgl. hierfür Leibholz, (Fn. 104), S. 46 ff. 116 Vgl. nur Dreier (Fn. 15), S. 52 ff. (dort Fn. 34); Hennis, Der 111 Leibholz, (Fn. 104) , S. 118 f.; selbst 1958 spricht Leibholz „Parteienstaat“ des Grundgesetzes: Eine gelungene Erfindung, bekanntlich noch davon, „daß der moderne Parteienstaat sei- in: Hofmann/Perger (Hrsg.), Die Kontroverse: Weizsäckers Par- nem Wesen wie seiner Form nach nichts anderes wie eine rati- teienkritik in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1992, S. 34 f., 38 f.; onalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie Grimm (Fn. 26), S. 613 ff.; Günther, „Eine in jede Richtung oder […] ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen veränderte Wirklichkeit“: Gerhard Leibholz und die antilibe- Flächenstaat“ sei, vgl. ders. (Fn. 108), S. 158. rale Bewegung, in: Kaiser (Fn. 112), insb. S. 36 f., 40.

40 MIP 2019 25. Jhrg. Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten Aufsätze

Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein Bundestagswahl 2017 basieren, stammen die in Ka- – Die Motivation von Zählkandidaten pitel 4 verwendeten qualitativen Aussagen aus leit- fadengestützten Interviews, die im Zuge dieser Ver- anstaltungen geführt wurden.4 Oliver Kannenberg, M.A./ 1 Daniel Hellman, M.A. 2. Theoretische Vorüberlegungen und Begriff- lichkeiten 1. Einleitung Die Kandidatenaufstellung galt lange Zeit in der Po- Zum Einstieg ein Gedankenexperiment: Zur nächs- litikwissenschaft als „Secret Garden of Politics“ ten Bundestagswahl treten nur noch die Kandidaten2 (Gallagher/Marsh 1988). Während im internationalen an, die realistische Chancen auf ein Bundestagsman- Vergleich aufgrund regionaler Spezialisten einige dat haben. Die Wahlzettel würden fast überall nur Länder verhältnismäßig gut erforscht sind (etwa Israel noch aus einem, selten zwei und sehr selten aus mit einer langen Liste an Veröffentlichungen, siehe mehr als zwei Direktkandidaten bestehen. Ein sol- etwa Kenig et al. 2015; Rahat 2006), musste lange cher Zustand könnte mit Recht als „Wahl ohne Aus- Zeit in Bezug auf die Aufstellungsverfahren zum wahl“ (von Arnim 2003) bezeichnet werden. Deutschen Bundestag auf die Vorarbeiten von Zeuner (1970) und Schüttemeyer/Sturm (2005) zurückge- Erst die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Ange- griffen werden. In der jüngeren Vergangenheit zeigt boten auswählen zu können, macht die Wahl zur sich erfreulicherweise auch in Deutschland eine er- Auswahl. Dieser Grundsatz kann als niedrigschwel- höhte Beschäftigung mit den Vorselektionsprozessen ligste Anforderung an die demokratische Technik der der Parteien. Zuvorderst ist die hier verwendete Personalbereitstellung gesehen werden (Dahl 1975; IParl-Studie zur Kandidatenaufstellung für die Bun- Nohlen 2014). Insofern stellt sich die Frage, wie die destagswahl 2017 zu nennen (Höhne 2017, S. 230). Parteien es schaffen, Kandidaten auch für aussichts- Darüber hinaus greifen auch Reiser und Steg Aspekte lose Plätze zu rekrutieren. Welche Motivation treibt der Personalrekrutierung für den Deutschen Bundes- die umgangssprachlich als Zähl- oder Füllkandidaten tag auf (Reiser 2013; 2018; Steg 2016). bezeichneten aussichtslos Platzierten an? Die Karrierewege von (Spitzen-)Politikern und die Dieser Frage will sich der vorliegende Aufsatz mit- dazugehörige Motivation, eine politische Karriere tels eines mixed methods Ansatzes nähern. Daher anzustreben, sind ebenfalls keineswegs erschöpfend werden verschiedene Datenquellen verwendet. Wäh- behandelt worden. In jüngster Vergangenheit wurden rend die Ausführungen in den Kapiteln 3, 5 und 6 auf verschiedene Studien dazu publiziert (Bailer et al. Daten einer standardisierten Befragung von Kandida- 2013; Gruber 2009; Herzog 1975; Ohmura et al. turbewerbern3 auf Aufstellungsversammlungen zur 2017). In Bezug auf die forschungsleitende Frage der Motivation, die in diesem Aufsatz als Summe an 1 Oliver Kannenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am In- Antrieben für eine mögliche Handlung verstanden stitut für Parlamentarismusforschung (IParl) in Berlin. Daniel wird, ist der ohnehin begrenzte Forschungsstand Hellmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IParl und am noch einmal geringer. So lassen sich grundsätzlich Lehrstuhl für Regierungslehre und Policyforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. nur wenige Untersuchungen der Kandidatenmotivati- on finden, welche zumeist den gesamten Pool an Be- 2 Aus Platzgründen und für einfache Lesbarkeit wird im Text nur die männliche Sprachform verwendet, sofern diese nicht werbern in den Blick nehmen (Höhne 2013; Norris/ Teil des Fragebogens und/oder von Zitaten ist. Die Personen- Lovenduski 1995, S. 166-170). Angesichts der Tat- bezeichnungen gelten stets für Personen männlichen und sache, dass die Bereitstellung von Wahlalternativen weiblichen Geschlechts. eine zentrale Funktionsbedingung demokratischer 3 Da ein großer Teil der Kandidaten zur Bundestagswahl 2017 Wahlen ist, überrascht die bestehende Forschungslü- (48,7 % der Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien) sowohl im Wahlkreis nominiert waren, als auch auf einer Lan- cke zur Motivation aussichtsloser Kandidaten. desliste standen, ist nicht auszuschließen, dass ein Aspirant Der Begriff des Zählkandidaten hatte seine Bedeu- beispielsweise im Wahlkreis befragt wurde, wo er keine Chance auf den Mandatsgewinn hat. Falls er allerdings abse- tung bereits zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs. hen kann oder es bereits feststeht, dass er einen aussichtsrei- Im dortigen Wahlsystem der absoluten Mehrheitswahl chen Listenplatz einnehmen wird, könnte dies seine Motivati- in Wahlkreisen ergaben sich durch den Zuschnitt der on beeinflussen. Um dieses Problem zu reduzieren, werden im Folgenden ausschließlich Kandidaturmotivationen – also Mo- 4 Details zu den Erhebungen können unter www.iparl.de/de/pro tivationen zu einer bestimmten Kandidatur – aber nicht Kan- jekt-kandidatenaufstellung.html abgerufen werden. Dort fin- didatenmotivationen untersucht. den sich auch Fragebögen mit allen hier verwendeten Fragen.

41 Aufsätze Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten MIP 2019 25. Jhrg.

Wahlkreise Hochburgen von Parteien. In eben jenen durch lassen sich für die Gruppen der aussichtsrei- sogenannten „Rivierawahlkreisen“ war die Wahl des chen und der aussichtslosen Kandidaturen verschie- Kandidaten dermaßen gesichert, dass dieser „im dene Motivationsitems vergleichen, die im An- Wahlkampf genauso gut auch an der Riviera weilen schluss durch qualitative Betrachtungen zu Typen konnte“ (Nipperdey 2017, S. 500). Die übrigen Kan- verdichtet werden. didaten, die keine realistische Aussicht auf einen Die Relation der Wichtigkeit der Items zueinander Mandatsgewinn hatten, wurden von den Parteien mit unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum zwi- unterschiedlichen Motiven aufgestellt. So sollte unter schen jenen mit hohen und jenen mit geringen Er- anderem mittels der Zählkandidaturen die Anzahl der folgsaussichten (siehe Abbildung 1). Für jeweils Befürworter erfasst werden, die eine Partei im Wahl- über 95% der Befragten war es wichtig oder sehr kreis auf sich vereinen kann (Groth/Bayer 1911, wichtig, die eigene Partei zu unterstützen und/oder S. 547; Nipperdey 2017, S. 501). Bis heute wird der Wählerinteressen zu vertreten. Bemerkenswert daran Begriff in der politischen Medienberichterstattung ist, dass auch ohne realistische Chance auf Einzug in verwendet, wenn Kandidaten scheinbar aussichtslos den Bundestag die Vertretung von Wählerinteressen antreten, besonders bei der stark vorgeprägten Bun- ein dominantes Motiv darstellt. Ähnlich verhält es despräsidentenwahl (Polaschek 2009, S. 18; Sturm sich mit der Motivation, Politik im Bundestag gestal- 2017, S. 4). Die Bezeichnung Füllkandidat bzw. ten zu wollen. Immerhin 87 % der Zählkandidaten Füllkandidatur hat sich weniger etabliert, kann aber empfanden dies als treibende Kraft für ihre Bewer- synonym verwendet werden. Der ohne Mandatsaus- bung. Auch wenn dies unter Berücksichtigung der sicht antretende Kandidat füllt gewissermaßen die mangelnden Erfolgsaussichten einen beträchtlichen ansonsten entstehenden Leerstellen. Anteil darstellt, zeigen sich diesbezüglich erste Un- In der Politikwissenschaft hat sich für aussichtslose terschiede zwischen den Gruppen. Politik im Bun- Wahlkreise der Begriff des Diaspora-Wahlkreises eta- destag zu gestalten, stellt für 99 % der aussichtsreich bliert (Gabriel et al. 2018, S. 10). So verwendet auch Aufgestellten eine wichtige Motivation dar. Ein wei- ein Kandidat in einem wenig aussichtsreichen Wahl- terer Unterschied lässt sich u.a. bei der Motivation, kreis diesen Begriff: „Ja, wir sind hier in der Diaspora Wahlkampferfahrungen sammeln zu wollen, ausma- […]. Hier haben es die Liberalen noch schwerer als chen. Für Füllkandidaten, die häufig das erste Mal woanders.“ (176-3-1) Wenn im Folgenden von Dia- für den Bundestag kandidieren, ist der Reiz einen spora-Kandidaten die Rede ist, bewegen sich die Aus- Wahlkampf zu führen, größer als für die meist routi- führungen demnach ausschließlich auf der Wahlkreis- nierteren Kandidaten auf vorderen Listenplätzen. ebene. Die Verwendung der Begriffe Füll- bzw. Etwa 50% der befragten Füll- und nur 29% der aus- Zählkandidaturen wird auf beide Ebenen bezogen. sichtsreichen Kandidaten erachten dies als wichtig. Ähnliches gilt für den Wunsch, die eigene Stellung 3. Spezifische Motive von Füllkandidaten in der Partei zu verbessern. Zwar gaben nur insge- samt 38 % der Füllkandidaten an, dies würde sie mo- Füllkandidaten wissen per Definition bereits, bevor tivieren, was allerdings im Vergleich zu 31 % unter sie sich um eine Kandidatur bewerben, dass sie auf den aussichtsreich Aufgestellten einen Unterschied verlorenem Posten kämpfen. Es liegt nahe, bei ihren darstellt. Entsprechend ist immerhin für einen Teil Bewerbungen andere Beweggründe zu vermuten als der Kandidaten, vor allem der Füllkandidaten, mit bei erfolgversprechenden Kandidaturen. Ob dies zu- der Kandidatur die Hoffnung verbunden, ihre Chan- trifft, soll im Folgenden anhand einer Befragung von cen für künftige Positionskämpfe, etwa um aus- Aspiranten – also Kandidaturbewerbern – betrachtet sichtsreiche Landtags-, Bundestags- oder Europapar- werden. Sie wurden gebeten, mittels einer Liste vor- lamentskandidaturen, in der Partei zu verbessern. gegebener Items zu bewerten, inwiefern diese sie zur Empirische Befunde widersprechen dieser These Bewerbung um eine Kandidatur motivierten. Ferner bisher eher (Manow/Flemming 2012, S. 768). wurde abgefragt, ob die Befragten nominiert wurden und wie sie ihre Chance einschätzen über die jewei- Füllkandidaten sehen sich häufiger durch einen lige Kandidatur in den Bundestag einzuziehen.5 Da- Mangel an gleichwertigen Kandidaten motiviert. Während 29 % von ihnen dem zustimmten, empfan- 5 Wir nehmen an, dass die Befragten ihre Mandatschancen rea- den nur etwa 21 % der potentiell erfolgreichen Kan- listisch einschätzen können, nicht zuletzt, weil sie den größten Anreiz haben, sich mit ihren Chancen auseinanderzusetzen. didaten dies als Motiv. Damit wird der Mangel an Darüber hinaus sind alle Fragebögen anonymisiert, sodass gleichgut geeigneten Bewerbern zwar allgemein als kein Rückschluss auf den tatsächlichen Nominierungs- und nachrangiges Motiv gesehen, das aber dennoch für Kandidaturerfolg einzelner Befragter möglich ist.

42 MIP 2019 25. Jhrg. Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten Aufsätze aussichtslos platzierte Kandidaten eher zutrifft. Diese Der Vergleich zeigt, dass Füllkandidaten teilweise Differenz lässt sich mithilfe der Angebot-Nachfrage- anders motiviert sind, als Kandidaten mit guten Modelle der Kandidatenrekrutierung erklären (Norris/ Chancen, in den Bundestag einzuziehen. Zugleich Lovenduski 1995, S. 16; Schüttemeyer/Sturm 2005, sind die Ergebnisse widersprüchlich. Während sie S. 552; Höhne 2013, S. 102-111). Kandidaturen, die öfter aus Mangel heraus kandidieren und sich eine eine hohe Mandatschance haben und damit auch mit Verbesserung ihrer Stellung verhoffen, sind sie den- den nicht zu unterschätzenden Gratifikationen des noch in hohem Maße motiviert, Politik im Bundes- Mandatserwerbs locken, ziehen mehr und geeignete- tag zu gestalten. Dies weist bereits daraufhin, dass re Bewerber an als aussichtslose Kandidaturen. Wer die Motivationslage innerhalb der Gruppe der Füll- sich also für eine aussichtsreiche Kandidatur be- kandidaten vielfältig und keineswegs homogen ist. wirbt, wird selten einen Mangel an anderen potenti- Diese Gruppen werden im folgenden Abschnitt prä- ellen Bewerbern erleben. Dies äußert sich nicht ziser durch die Auswertung leitfadengestützter Inter- zwangsweise in einer Vielzahl an Bewerbungen auf views herausgearbeitet. der Aufstellungsversammlung, die ohnehin eher sel- ten sind (Reiser 2013, S. 139). Vielmehr ist anzu- 4. Qualitative Typenbildung nehmen, dass bereits vorselektiert wird und die Kan- didatur eines allgemein als geeignet empfundenen Der Leitfaden beinhaltete zwar keine konkrete Frage Bewerbers andere vor einer Kampfkandidatur zu- zur Motivation der Kandidaten, im Verlauf der Be- rückschrecken lässt. Hingegen ist es auf unattrakti- fragung wurde das Thema dennoch immer wieder ven Positionen nicht unüblich, dass nach Kandida- angesprochen. Die Aussagen stammen von Stimmbe- turwilligen gesucht werden muss und man sich aus rechtigten, Kandidaten und besonders einflussreichen Mangel an anderen Bewerbern bereit erklärt, zu kan- Akteuren innerhalb des Aufstellungsprozesses, soge- didieren. Ähnlich können auch die Unterschiede nannten Selektoren. Daher wurden nicht nur Eigen-, zwischen den Mandatsaussichtsgruppen bezüglich sondern auch Fremdauskünfte über die Kandidatur- der Motivations-Items „innerparteilichen Wettbe- motivation und allgemeine Bewerberlage bei der fol- werb steigern“ (46% Zustimmung bei den Füll- und genden Typenbildung berücksichtigt. Die Aussagen 34% Zuspruch bei den aussichtsreichen Kandidaten) wurden nach inhaltlichem Schwerpunkt kategori- und „Aufforderung von einflussreichen Parteifreun- siert. Im Anschluss daran konnten unter Berücksich- den zur Kandidatur“ (29% Zustimmung bei den Füll- tigung theoretischer Vorüberlegungen drei verschie- und 24% Zuspruch bei den aussichtsreichen Kandi- dene Typen an Motivationen für aussichtlose Kandi- daten) interpretiert werden. daturen identifiziert werden.

Abbildung 1: Zustimmung zu Motivationsitems nach Aussicht auf Mandatsgewinn

Füllkandidat aussichtsreicher Kandidat 98,9 96,8 98,2 97,4 98,8 86,7

55,0 58,8 50,1 46,0 38,3 34,1 28,5 29,4 30,8 28,5 24,1 20,6

Quelle: IParl 2016/2017. Anmerkung: Dargestellt ist jeweils die Summe der Anteile „sehr wichtig“ und „wichtig“.

43 Aufsätze Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten MIP 2019 25. Jhrg.

„Insgesamt muss man sagen, das Interesse bei den gesetz ernst nehmen und Vertreter des ganzen Volkes Nicht-Aussichtsreichen, ist auch schwierig für uns sein.“ (142-3-1) Mit wesentlich mehr Pathos und fern- […]. Einen großen Blumentopf werden sie nicht ver- ab konkreter Politikinhalte formuliert folgender Aspi- dienen, aber man erwartet doch eine ganze Menge rant seinen Antrieb, eine Diaspora-Kandidatur zu von ihnen […].“ (92-2-1) Solche oder ähnliche Aus- übernehmen: „Ich glaube, ich will nicht Politiker wer- sagen von Seiten eines Selektors lassen sich bei ei- den, weil das ein toller Job ist und weil man eine gute ner Vielzahl der Interviewten in Bezug auf eine zu Absicherung hat, sondern von meiner Sicht her, ich besetzende Zählkandidatur wiederfinden. Das gerin- glaube an eine Veränderung. […] Sicher ist es gut, ab- ge Interesse auf der Nachfrageseite stellt die Parteien gesichert zu werden, aber die Motivation ist eigentlich – als monopolistische Anbieter von Kandidaturen – so ein bisschen eine gerechtere Welt.“ (139-3-1). vor die Herausforderung, dass sie grundsätzlich be- Stärker als der idealistische Antrieb, eine Auswahl strebt sind, ihrem Selbstanspruch einer möglichst darstellen zu wollen, können der Wille zur Verände- vollständigen Präsenz nachzukommen. rung und der Einsatz für bestimmte Themen auch bei Die idealistische Kandidatur: Listenkandidaten gefunden werden, die zu Protokoll geben, dass eine Listenkandidatur hilfreich für die Der erste Kandidaturtypus wird davon angetrieben, Präsenz von Themen im Wahlkampf sein kann. Glei- dass keine vermeintliche „Wahl ohne Auswahl“ zu- ches gilt, wohl noch stärker, für Direktkandidaten, standen kommen soll: „Dann ein […] Kreisverband denen im Wahlkampf von verschiedenen Anbietern gekommen ist und gesagt hat: ‚Du, wir haben noch eine Bühne geboten wird, ihre Vorstellungen und niemanden bei uns‘, ist auch nicht viel Arbeit einen Ziele darzulegen. Wahlkampf zu machen, wenn man weiß, man kommt nicht rein, das ist Ehrenamt, das tut man für die De- Die karrieristische Kandidatur: mokratie.“ (82-1-3) Die Annahme einer Nominierung In Abgrenzung zu den idealistischen Antriebsmus- kann in dieser Aussage als Folge einer starken Verin- tern, steht bei dem zweiten Typus die persönliche nerlichung eigener demokratischer Ideale verstanden Profilierung im Vordergrund: „Ich bin da reingegan- werden, weshalb wir diesen Typus als „idealistische gen, zunächst einmal, um Einfluss zu nehmen auf Kandidatur“ bezeichnen. Ein Teil der idealistischen meine Partei. […] Die Sache ist natürlich ein länger- Motivation folgt aus dem Verständnis, mit einer Kan- fristig angelegtes Projekt. Das heißt also, wenn ich didatur einen Dienst an der Demokratie zu verrichten. dieses Mal auf Platz 14 bin und einen guten Ein- Ein weiterer Einfluss auf die idealistische Kandida- druck mache, wird es vielleicht das nächste Mal bes- tur ist der Wunsch, die eigene Politikvorstellung zu ser werden.“ (152-3-1). präsentieren bzw. einen Teil dazu beizutragen, das Die sogenannte Ochsentour, also das langfristige politische System zu verändern: „Dieses Mal haben Hocharbeiten über verschiedene Ebenen innerhalb der wir alle gespürt, jetzt muss etwas passieren. Es kann Parteiorganisation, gilt nach wie vor als eine der zen- nicht mehr so weiter gehen. Wir sind alle bereit, viel tralen Erfolgsbedingungen für eine aussichtsreiche zu machen und etwas in diesem Land zum Guten zu Kandidatur (Höhne 2017, S. 244). Allgemein wird verändern und auf jeden Fall dazu beizutragen, dass dazu eine bestimmte Bereitschaft, sich in den Dienst es zu einer guten Veränderung kommt. Das hat mich der Partei gestellt zu haben, vorausgesetzt. Gerade in sehr motiviert […].“ (185-3-1) Es kann angenommen den Parteien, die über keine bzw. sehr geringe Chance werden, dass diese Motivation eher bei Wahlkreis- auf ein Direktmandat verfügen, kann auch die Annah- kandidaturen vorherrschend ist, wo der direkte Ver- me einer Diaspora-Kandidatur dazu gezählt werden. gleich verschiedener Politikvorstellungen zwischen den Kandidaten ausgeprägter ist. Sowohl auf der Kreis- als auch auf der Landesebene haben spätere Kandidaten angegeben, dass sie mit In manchen Aussagen der Aspiranten kommt deutlich dem Ziel antreten, ihre Stellung innerhalb der Partei zum Ausdruck, inwiefern von diesem Willen zur Ver- zu verbessern bzw. sich für eventuelle spätere (aus- änderung sowohl konkrete Inhalte als auch die grund- sichtsreichere) Kandidaturen bei den potentiellen sätzliche Funktionsweise der Politik berührt werden. Wählern im Land und/oder Kreis bereits bekannt zu So wird bei einem Interview eindeutig zu verstehen machen. In der obigen Aussage wird das Ganze als gegeben, dass ein konkretes Thema grundlegend für ein „Projekt“ bezeichnet, ebenso ließe sich gewisser- die Kandidaturmotivation gewesen ist: „Ich setze maßen von einem „Karriereplan“ sprechen. Damit mich seit Jahren gegen die Agenda-Politik der SPD soll nicht angedeutet werden, dass der Einzug in den ein. Außerdem würde ich die Worte aus dem Grund- Bundestag vollends planbar wäre. Vielmehr wissen

44 MIP 2019 25. Jhrg. Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten Aufsätze die Kandidaten, dass aus einer Kandidatur in der Di- ebene äußert sich ein Mitglied diesbezüglich so: „Ich aspora oder auf einem aussichtslosen Listenplatz finde schon, dass es auch ein Kriterium ist, wenn je- kaum negative Konsequenzen folgen. Ist die Person mand schon zum dritten Mal kandidiert/Wir müssen in der Lage, die notwendigen zeitlichen und finanzi- froh sein, dass Leute in aussichtslosen Wahlkreisen ellen Ressourcen aufzubringen, so wird der Wahl- dieses Geschäft machen.“ (135-4-1) Das letzte An- kampf grundsätzlich als Möglichkeit angesehen, triebsmuster für karrieristische Kandidaturen berührt wertvolle Erfahrung zu sammeln und darüber hinaus damit die in manchen Parteien gängige Ansicht, Lis- „sein Gesicht auch kommunal bekannt zu machen, tenkandidaten hätten „eine Verantwortung, Wahl- vielleicht für eine folgende Kommunalwahl oder kreise durchzuackern, Wahlkreise durchzupflügen, eine nächste Landtagswahl […].“ (158-3-1). die Leute zu überzeugen.“ (150-1-3). In dem Wissen um die innerparteiliche Anerkennung, Die pflichtbewusste Kandidatur: die eine aussichtslose Kandidatur mit sich bringt, wird bisweilen von den Parteifunktionären sowohl Vielfach wird in der politikwissenschaftlichen Dis- der Ansehenszuwachs als auch die zu gewinnende kussion auf die rückläufigen Mitgliederzahlen hinge- Erfahrung als Argumentationspunkt gegenüber un- wiesen, die besonders in weniger dicht besiedelten entschlossenen Bewerbern benutzt: „Wir haben dann Gebieten die lokalen Parteieliten vor zusätzliche jemanden für den Wahlkreis gesucht, der Erste ist Herausforderungen stellen (Wiesendahl et al. 2018). abgesprungen und dann haben wir gesagt: ‚[Namen Aufgrund des Faktums, dass ausnahmslos Parteimit- entfernt], du musst!‘ Er war sich sehr unsicher. Er glieder als Kandidaten aufgestellt werden, führt ein wollte ja schon auch gern auf die Landesliste, nur war verringerter Pool an möglichen Personen zu einer er- das zu spät. Aber wir haben dann gesagt: ‚Du kannst schwerten Auswahl. Die Probleme bei der Kandida- in diesem Wahlkampf schon mal Erfahrung sammeln tensuche aus Sicht der Kreisverbände werden dabei und dann bei der nächsten Bundestagswahl mit Lis- in folgender Aussage auf den Punkt gebracht: „Wer tenplatz und als Wahlkreiskandidat loslegen!‘“ (179- macht es denn überhaupt? Das ist das Hauptkriteri- 2-1) Nicht nur die Möglichkeit Erfahrung zu sam- um. Wen können wir ansprechen, der nicht sofort meln, sondern auch das Steigern der eigenen Be- schreiend davonläuft. Es ist tatsächlich so, dass es kanntheit bzw. des eigenen Ansehens innerhalb und nicht einfach ist jemanden zu finden. Es ist ein Amt außerhalb der Partei begründet die Annahme karrie- oder ein Mandat, was derjenige mitnimmt, ohne ristischer Motive bei einer aussichtslosen Kandida- Aussicht auf Erfolg. Es bedeutet viel Zeit und ist tur im Wahlkreis oder auf der Landesliste. auch ein finanzieller Aufwand, sich einzukleiden, die Fahrtkosten. […] Es ist völlig unrealistisch, ein Während aussichtslose Listenplätze von einem Par- Direktmandat zu holen. Wenn man das weiß, ist es teimitglied als „Füllposten, für die Leute, die mal ein noch schwieriger jemanden zu finden.“ (138-2-1). bisschen üben wollen“ (72-1-1) bezeichnet werden, kommt den Diasporakandidaturen innerparteilich Es kann angenommen werden, dass der dritte Typus eine weitere große Bedeutung zu. In 27 von 44 Fäl- an möglichen Beweggründen eine Sonderstellung len wurden die Wahlkreisaufstellungen vor den Lis- einnimmt, da er vorwiegend bei Kandidaturen auf tenaufstellungen terminiert. Eine Aufschlüsselung der Wahlkreisebene zu vermuten wäre. Dort stellen nach Parteien zeigt, dass bei (fast) allen untersuchten pflichtbewusste Kandidaturen in manchen Fällen ge- Listenaufstellungen von SPD, FDP und den Unions- wissermaßen die letzte Hoffnung der Partei dar, parteien die Wahlkreisnominierungen bereits abge- wenn weder karriereorientierte noch idealistische schlossen waren.6 Gleichzeitig stimmen bei diesen Bewerber auftreten: „Weil wir sowieso keine Hoff- Parteien mehr Befragte der Aussage zu, dass eine nung haben, irgendeinen Kandidaten direkt durchzu- Kandidatur im Wahlkreis wichtig oder sehr wichtig kriegen, sind das ja reine Zählkandidaten. Insofern für die Nominierung auf der Landesliste ist.7 ist natürlich klar, dass diejenigen, die praktisch immer schon auf den Zetteln gestanden haben, dass die die- Erfolgsunabhängig wird ein höherer Ressourcenein- ses Mal das auch wieder gemacht haben.“ (182-1-1). satz für die Partei positiv wahrgenommen und fließt in zukünftige Entscheidungen ein. Auf der Landes- Häufig wird eine solche Kandidatur von einem lang- gedienten Mitglied der Partei wahrgenommen, wel- ches in den seltensten Fällen eine höhere Position 6 Nach Parteien: CDU/CSU: 100 %, SPD: 100 %, FDP: 85,7 %, AfD: 42,9 %, Grüne: 28,6 %, Linke: 12,5 %. bzw. ein überregional gewähltes Amt anstrebt. Auf der lokalen Ebene genießt ein solcher Kandidat eine 7 Prozentuale Zustimmung (wichtig und sehr wichtig zusammenge- rechnet) nach Parteien: SPD: 81,0 %, CDU: 77,9 %, CSU: 60,3 %, gewisse Bekanntheit und hat nicht selten bereits in FDP: 59,4 %, Linke: 56,1 %, AfD: 54,4 %, Grüne: 52,1 %. vorherigen Wahlen die Direktkandidatur in Diaspora-

45 Aufsätze Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten MIP 2019 25. Jhrg.

Wahlkreisen übernommen. Ein Kandidat fasst die Policy-Felder, deren Wahrnehmung mittels der eigenen Situation in seinem Wahlkreis prägnant zusammen: Kandidatur gestärkt werden soll. Wenngleich die Rolle „Ich habe mich beworben, weil sich sonst niemand als Füllkandidat bekannt ist, neigt dieser Typus erkenn- gefunden hat.“ (27-3-1). bar dazu, die Auswirkungen seiner Kandidatur auf die Der Impuls zur Kandidatur kann einerseits von der Politik im Großen wie im Kleinen zu überschätzen. lokalen Parteielite kommen, indem sie „bekannte Somit müsste bei dieser Gruppe die Zustimmung zu Gesichter“ kontaktiert und um Unterstützung bittet: folgenden Items besonders ausgeprägt sein: „Politik „Er wurde vom Vorstand gefragt, ob er denn kandi- im Bundestag gestalten“, „Wähler/inneninteressen dieren wolle. Außer ihm wurden noch mehrere Perso- vertreten“ und „Das politische System verändern“. nen gefragt, die aber alle abgelehnt haben.“ (107-3-1). Kandidaturen mit karrieristischer Motivation sind Teilweise werden solche Findungsprozesse auch von hingegen stärker durch einen mehr oder minder lang- der Landespartei initiiert, wie im folgenden Fall: fristigen Plan angetrieben. Die erwartete positive „Da fragen wir dann bei aktiven Mitgliedern aus den Reaktion aus der Partei wird höher gewichtet als der Nachbarwahlkreisen oder bei Vorstandsmitgliedern, aufzubringende Einsatz an Ressourcen. In der Zu- ob sie eventuell bereit sind, den Wahlkreis zu über- kunft werden weitere Aufgaben bzw. Kandidaturen nehmen. […] Den [Namen entfernt], der gesagt hat: in der Partei angestrebt. Die dazugehörigen Items ‚Ich würde es eventuell machen, wenn es niemand des Fragebogens lauten folglich: „Wahlkampferfah- anders machen will.‘“ (185-2-1). rung sammeln“ und „Meine Stellung/Mein Ansehen Andererseits melden sich auch pflichtbewusste Kan- in der Partei verbessern“. didaten selber, da diese meistens die Lage vor Ort Den dritten und letzten Kandidaturtyp bezeichnen realistisch einzuschätzen wissen: „Die zentrale Frage wir als „pflichtbewusst“. Hierunter lässt sich das dabei ist, dass es niemand anders gab, der das ma- Parteimitglied ohne große Karriereambitionen vor- chen wollte. Ich kann mir vorstellen, dass es unter stellen. Die Kandidatur erfolgt aus einem Mangel an anderem daran liegt, dass ich relativ früh schon ge- Alternativen. Im Gegensatz zum ebenfalls wenig sagt habe, dass ich das wieder machen würde. Und karriereambitionierten Idealisten, weiß der Pflichtbe- da ich das bereits zweimal gemacht habe und die wusste um die geringen Veränderungsmöglichkeiten, Leute damit zufrieden waren, hat niemand gesagt, da die von seiner Kandidatur ausgehen. Für die eigene muss ich dagegen angehen. Allerdings vermute ich, Partei und häufig als Reaktion auf die Anfrage von dass auch ohne mein Zutun […] dann wäre es wahr- Parteikollegen tritt dieser Fall überwiegend bei Dia- scheinlich diesem jetzt verkleinerten Wahlkreis, den spora-Kandidaturen auf. Neben dem „Mangel an beiden eher kleinen Kreisverbänden unter Umstän- gleich gut geeigneten Bewerber/innen“ ordnen wir den schwergefallen, einen Kandidaten oder eine dieser Kandidaturmotivation noch die Punkte „Mei- Kandidatin zu finden […].“ (12-3-1). ne Partei unterstützen“ und „Aufforderung von ein- flussreichen Parteifreund/innen zur Kandidatur“ zu. Kandidaturtypen: Aus den geführten Interviews lassen sich somit drei 5. Quantifizierung der Motivationstypen verschiedene Typen bilden. Hier sei noch ange- merkt, dass es sich keinesfalls um voneinander ge- Inwiefern diese drei Typen tatsächlich distinkte trennte Motivationsgruppen handelt. Zwischen allen Gruppen darstellen, soll im Folgenden herausgear- drei Typen liegen Überschneidungen vor und jeder beitet werden. Eine Korrelationsanalyse der Items Kandidat wird zu einem gewissen Teil von allen Be- scheint diese Annahmen zu bestätigen. Signifikante weggründen zu seiner Bewerbung getrieben worden Zusammenhänge mittlerer Stärke finden sich zwi- sein. Um im nachfolgenden Kapitel mit den erhobe- schen den idealistischen sowie zwischen den karrie- nen Daten zu überprüfen, ob die qualitative Herlei- ristischen Motiven. Weniger deutlich sind die Korre- tung der Kandidaturtypen hinreichend Erklärungs- lationen zwischen den restlichen Items, die alle auf kraft für die Motivation liefert, werden den einzel- Pflichtbewusstsein hindeuten, ausgeprägt. Darüber nen Typen Items aus der im dritten Kapitel bereits hinaus verdeutlicht Abbildung 2 nochmals, dass die vorgestellten Frage8 zugeordnet. Motivgruppen nicht gänzlich distinkt voneinander sind. Vor allem Wahlkampferfahrung sammeln zu Die idealistische Kandidatur wird vordergründig als wollen, korreliert mit einer Vielzahl anderer Items. Dienst an der Demokratie oder den Wählerinteressen Trotzdem wird ersichtlich, dass sich die hergeleite- verstanden. In einigen Fällen sind es sogar bestimmte ten Typen auch in den repräsentativ erhobenen Da- 8 „Wie wichtig sind Ihnen folgende Aspekte bei der Kandidatur?“ ten wiederfinden.

46 MIP 2019 25. Jhrg. Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten Aufsätze

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse und vorherge- Wille, etwas gestalten und bewegen zu wollen, ist hender Überlegungen wurde jeder befragte Füllkan- für viele, die auf hinteren Listenplätzen und in aus- didat entsprechend seiner Antworten auf die Frage, sichtslosen Wahlkreisen kandidieren, eine entschei- was ihn motiviert, zu einem der Typen zugeordnet. dende Triebkraft. Für andere hingegen überwiegen Dazu wurde verglichen, welcher Itemgruppe er im Pflichtgefühl oder Karriereorientierung. Wie sich die Mittel besonders stark zustimmte.9 Das Verfahren Bewertung der Kandidaturaspekte zwischen Grup- ermöglicht in einer Vielzahl der Fälle eine eindeuti- pen unterscheidet, zeigt Tabelle 1. Die Gruppen he- ge Zuordnung der Zählkandidaten im Wahlkreis und ben sich in den jeweiligen, für sie konstitutiven auf den Landeslisten, die für weitere statistische Be- Merkmalen deutlich ab. Beispielsweise gaben 48,8% trachtungen unerlässlich ist. der Karrieristen an, es sei ihnen sehr wichtig, ihre Stellung in der Partei zu bessern. Bei den Idealisten Insgesamt verbleiben 332 Befragte, die auf aus- waren es 3,5% und bei den Pflichtbewussten emp- sichtslosen Positionen kandidiert haben und die fand dies niemand als sehr wichtig. Weniger deut- mehr oder minder deutlich einer Gruppe zuzuordnen lich sind diese Unterschiede bei den Items ausge- sind. Der mit Abstand größte Teil, nämlich 260 von prägt, die ohnehin großen Zuspruch – möglicherwei- ihnen, wurde als Idealisten klassifiziert, was 78,3% se aufgrund der nicht auszuschließenden sozialen Er- entspricht. Nur 44 und damit 13,3% sind klar karrie- wünschtheit – erhielten, etwa dem Wunsch, die eige- ristisch motiviert und 28, also 6,9% folgen eher ne Partei unterstützen zu wollen. Aber auch in dieser ihrem Pflichtbewusstsein. Diese Zahlen sollen nicht Hinsicht heben sich zumindest die pflichtbewussten suggerieren, dass 78,3% der Füllkandidaten aus- Kandidaten ab. Insgesamt sind die Gruppen vonein- schließlich idealistischen Motiven folgen. Die Moti- ander distinkt und gleichzeitig plausibel. ve überlagern sich zweifelsohne, in kaum einem Fall war nur ein Faktor ausschlaggebend. Die Zahlen Zuletzt soll ein Blick auf die Frage, wer die ver- sind aber geeignet, einen Trend aufzuzeigen. Der schiedenen Füllkandidaten sind, gerichtet werden. Da dieser Frage bisher nicht detailliert nachgegan- 9 Die Variablen wurden jeweils von 1 „gar nicht wichtig“ zu 4 „sehr wichtig“ kodiert. Gab ein Aspirant beispielsweise an, gen wurde, wollen wir an dieser Stelle zunächst le- Wahlkampferfahrungen zu sammeln wäre ihm „sehr wichtig“ diglich einige Thesen deskriptiv testen. Dabei ist zu (4), und sein Ansehen zu verbessern sei ihm „wichtig“ (3) ge- bedenken, dass das verhältnismäßig kleine N je wesen, so erhielt er als Wert für seine Zustimmung zu karrie- Gruppe keine generalisierenden Rückschlüsse zu- ristischen Motiven eine 3,5. War dieser Mittelwert höher als seine Zustimmung zu idealistischen und pflichtbewussten lässt. Trotzdem vermitteln die Ergebnisse erste An- Items wurde er als Karrierist gezählt. Es wurden darüber hin- haltspunkte für eventuelle weitere Forschungsan- aus all diejenigen Kandidaten ausgeschlossen, die im Mittel- sätze. wert den Items ihrer Gruppe nicht mindestens zustimmten (Mittelwert ≥ 3).

47 Aufsätze Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten MIP 2019 25. Jhrg.

Tabelle 1: Kandidaturaspekte nach Motivationsgruppen Karrieristen Idealisten Pflichtbewusste (N=44) (N=260) (N=28) Politik im Bundestag gestalten 31,8 76,9 21,4 meine Partei unterstützen 59,1 58,8 85,7 Aufforderung 2,3 2,7 32,1 Mangel 11,9 5,1 40,7 Wahlkampferfahrung 65,9 12 7,1 Wählerinteressen vertreten 68,2 84,9 32,1 Stellung verbessern 48,8 3,5 0 politisches System ändern 2,3 42,3 0 Quelle: IParl 2016/2017. Anmerkung: Dargestellt sind die Häufigkeiten der Antwort „sehr wichtig“. Lesebeispiel: 76,9 % der als idealistisch eingestuften Aspiranten gaben an, Politik im Bundestag zu gestalten sei für sie ein sehr wichtiger Grund für ihre Kandidatur gewesen. Die jeweils für die Gruppe charakteristischen Merkmale sind fett hervorgehoben.

Parteien bieten mit ihrer unterschiedlichen Organisa- Jenseits der Parteizugehörigkeit als Erklärung für die tionsstruktur sehr verschiedene Bedingungen für po- Antriebsunterschiede wären auch individuelle Eigen- tentielle Kandidaten. Daher wäre beispielsweise zu schaften wie Alter, Dauer der Parteimitgliedschaft erwarten, dass in Anti-Establishment-Parteien mehr und Geschlecht denkbar. Idealismus gefordert wird und die Kandidaten dies Vor allem in Bezug auf Alter und Parteimitglieds- antizipieren. Mit 90,5% und 88,9% weisen Linke chaftsdauer zeigen sich Gruppenunterschiede. Karri- und AfD den höchsten Anteil an idealistisch moti- eristisch orientierte Zählkandidaten sind im Schnitt vierten Kandidaturen auf (siehe Tabelle 2). Sie re- 35 Jahre alt und seit zehn Jahren in der Partei. Idea- präsentieren den linken bzw. rechten Rand des poli- listen hingegen sind mit 47 Jahren im Schnitt mehr tischen Spektrums der parlamentarischen Parteien- als zehn Jahre älter. Entsprechend sind sie bereits landschaft und verorten sich selbst stärker außerhalb länger Mitglieder ihrer Partei, wobei der Unter- des „politischen Establishments“, was diese These schied im Schnitt jedoch nur drei Jahre beträgt. Ähn- bestätigen würde. lich verhält es sich mit den Pflichtbewussten, die Parteien, die eher dem Typus der Honoratiorenpartei wiederum durchschnittlich 50 Jahre alt und seit 16 entsprechen, dürften mit ihren klareren Karrierepfa- Jahren Parteimitglied sind. Karrieristen treten den für Karrieristen attraktiver sein. Entsprechend scheinbar früher in ihre Partei ein, womöglich be- finden sich bei FDP (23,1%), und Union (17,2%) reits mit der klaren Intention, eines Tages in der Par- überdurchschnittlich viele Karrieristen. Den Pflicht- tei Karriere zu machen. Idealisten und Pflichtbe- bewussten könnte man zuletzt vor allem bei kleinen wusste hingegen treten ihrer Partei im Schnitt erst Parteien mit einer hohen Zahl an aussichtslosen zehn Jahre später bei. Kandidaturen vermuten. Tatsächlich ist dieser Typus Wenig ergiebig ist die Unterscheidung nach Ge- vor allem bei FDP (13,8%) und Grünen (12,8%) als schlecht und nach Kandidaturform. Männliche und kleinen Parteien vorhanden. Im Unterschied dazu weibliche Kandidaten unterscheiden sich kaum. Das lässt sich der geringe Anteil an pflichtbewussten gleiche gilt für Wahlkreis- und Listenkandidaten. Kandidaturen bei AfD und Linken zum einen durch Vor allem letzteres überrascht, angesichts der An- den hohen Anteil an Idealisten, als auch durch die nahme, pflichtbewusste Kandidaten fänden sich fast Möglichkeit beider Parteien, zumindest in den neuen ausschließlich auf Wahlkreisebene. Hier könnte eine Bundesländern Direktmandate zu gewinnen, erklä- stärker auf die Thematik fokussierte Untersuchung ren. Trotz der feinen Unterschiede gilt parteiüber- anknüpfen. greifend: Die Reihenfolge der Motivationsgruppen ist immer gleich. Stets sind weit mehr als 50% der Füllkandidaten Idealisten, mit weitem Abstand ge- folgt von Karrieristen und Pflichtbewussten.

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Tabelle 2: Motivationsgruppen nach Parteizugehörigkeit, Geschlecht, Kandidaturtypus, Alter und Dauer der Parteimitgliedschaft Karrieristen Idealisten Pflichtbewusste Gesamt CDU 17,2% 73,4% 9,4% 100% SPD 10,0% 85,0% 5,0% 100% Bündnis 90/Die Grünen 12,8% 74,5% 12,8% 100% Die Linke 7,1% 90,5% 2,4% 100% FDP 23,1% 63,1% 13,8% 100% AfD 5,6% 88,9% 5,6% 100%

männlich 14,9% 76,6% 8,6% 100% weiblich 11,8% 79,6% 8,6% 100%

Wahlkreis 11,1% 86,1% 2,8% 100% Liste 13,5% 77,4% 9,1% 100%

Gesamt 13,30% 78,30% 8,40% 100%

Alter (MW) 35,2 46,6 49,5 45,2

Dauer Parteimitgliedschaft (MW) 9,8 12,7 15,6 12,6 Quelle: IParl 2016/2017. Anmerkung: Die Werte für Parteizugehörigkeit, Geschlecht und Kandidaturtypus wurden zeilenweise prozentuiert. Alter und Dauer der Parteimitgliedschaft sind als Mittelwerte dargestellt.

6. Ausblick: Verteilung der Motivationen wäre angesichts der hohen demokratischen Bedeu- tung einer (Aus-) Wahl äußerst erstrebenswert. Wir konnten herausarbeiten, dass es verschiedene Typen von Motivationen für die Übernahme einer Insgesamt sind die Ergebnisse aus Sicht der Partei- aussichtslosen Kandidatur gibt. Die meisten treten enforschung zweigeteilt zu bewerten. An sich bietet vor allem an, um Politik, trotz geringer realer Chan- der hohe Anteil an idealistischen Kandidaturen we- cen auf einen Mandatserwerb, zu gestalten. Andere nig Anlass zur Besorgnis. Solange sich die Parteien sehen die Kandidatur als Sprungbrett für folgende mehrheitlich auf diese Füllkandidaten stützen kön- Wahlen und wieder andere kandidieren aus Pflicht- nen, ist für den Wähler die Wahl mit Auswahl si- bewusstsein ihrer Partei gegenüber. chergestellt. Gleichzeitig könnte ein sich verstärken- der Mitgliederrückgang strukturschwache Parteior- Vor allem junge Kandidaten, die früh in eine Partei ganisationen vermehrt vor Probleme stellen. Weiter- eintreten, scheinen eher karrieristisch motiviert zu hin müssen die Parteien für einen Großteil der Be- sein. Ob sie mit ausbleibendem Mandatserfolg resi- völkerung attraktiver werden, um aktive Mitglieder gnieren oder sich ihre Motive ändern, wäre etwa ein zu gewinnen, die den Pool an potentiellen Kandida- Ansatzpunkt für weitere Studien in diesem Feld. ten erhöhen. Auch die Frage der Verteilung der Motive über die Parteien konnte in diesem Aufsatz aufgrund geringer Fallzahlen nur schlaglichtartig behandelt werden. Literaturverzeichnis Hinsichtlich der Kandidatenaufstellung im Allge- Bailer, Stefanie/Meissner, Peter/Selb, Peter/Ohmura, meinen und unserer Thematik der Motivation von Tamaki (2013): Seiteneinsteiger im Deutschen Bun- Füllkandidaten im Speziellen besteht weiterhin eini- destag, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen- ger Forschungsbedarf. Eine gezielte Untersuchung schaften. der Motivation von Kandidaten sich bei Wahlen, Dahl, Robert Alan (1975): Polyarchy. Participation aussichtsreich als auch aussichtslos, aufzustellen, and opposition, New Haven: Yale Univ. Press.

49 Aufsätze Kannenberg/Hellmann – Zwischen Karriere und Pflichtbewusstsein – Die Motivation von Zählkandidaten MIP 2019 25. Jhrg.

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50 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? Aufsätze

Üppige Erhöhung der Parteien- und Frak- Gegen die Erhöhung der absoluten Obergrenze be- stehen durchgreifende verfassungsrechtliche Beden- tionsfinanzierung – zwei Fälle für Karls- 7 ruhe? ken . Insgesamt ist das Verfahren, mit dem die Än- derung zustande gekommen ist, reichlich unüblich und beachtlich: Kein fraktionsübergreifender An- 1 Alexander Hobusch trag, vielmehr ein überraschender Vorstoß der regie- rungstragenden Fraktionen, welcher die anderen der- art überrumpelte, dass diese die Erhöhung sogar Die staatliche Finanzierung diverser Akteure des poli- größtenteils ablehnten. Die Abstimmung im Plenum tischen Prozesses konnte sich im Jahr 2018 erhöhter war daher auch mit 371 Ja- und 285 Nein-Stimmen8 medialer Aufmerksamkeit erfreuen: Zum einen kam nicht sehr deutlich. Gegen die Änderung des Partei- es zu einer kräftigen Erhöhung der staatlichen Par- engesetzes ist mittlerweile eine abstrakte Normen- teienfinanzierung in der ersten Jahreshälfte, welche kontrolle beim Bundesverfassungsgericht anhängig9, – untypisch – sogar für hitzige Debatten im Parla- anders als im Falle der Erhöhung der Fraktionsfinan- ment sorgte. Zum anderen wurde, weit weniger kon- zierung, obleich auch hier Anlass bestünde, wie im trovers diskutiert, die Erhöhung der Finanzausstat- Folgenden zu zeigen sein wird. tung der Bundestagsfraktionen beschlossen. Der Bei- trag soll zunächst die beiden Erhöhungen in den II. Fraktionsfinanzierung Blick nehmen, bei den Fraktionen aber noch weitere aktuelle Streitpunkte untersuchen. Nach der Parteienfinanzierung wurden im Haushalt für das Jahr 2018, der wegen der unklaren Regie- I. Parteienfinanzierung rungsbildung erst spät verabschiedet wurde, die Zu- wendungen an die Fraktionen deutlich erhöht. Von Die Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung den bisher (Haushaltsjahr 2017) an die Bundestags- kam überraschend und sorgte auch ihrer Höhe nach fraktionen ausgeschütteten Geldleistungen in Höhe durchaus für Aufsehen: Von einer ermittelten Ober- von rund 88 Millionen Euro wurden die bereitge- grenze in Höhe von rund 165 Millionen Euro2 für das stellten Mittel nun für das Jahr 2018 auf rund 115 Jahr 2018 schraubte man die Obergrenze nun außer- Millionen Euro angehoben10. halb der bestehenden Indexierung auf 190 Millionen Euro für das Jahr 20193. Ein nicht unerheblicher Der deutliche Sprung sorgte in der Öffentlichkeit für Sprung, der durchaus einiger Rechtfertigung bedurft Kritik, so schrieb die Süddeutsche Zeitung etwa „Die hätte. Diese fiel in der gerade einmal vierseitigen Be- Fraktionen im Bundestag bekommen für das Jahr gründung4 aber denkbar knapp aus. Für den pauscha- 2018 mehr als 115 Millionen Euro. Das ist ein An- len Hinweis auf die erhöhten Kosten der Digitalisie- stieg um gut 30 Prozent“11. Doch warum dieser enor- rung durch die Betreuung sozialer Netzwerke und me Sprung? Und wie werden die Mittel der Fraktio- Webseiten5 etwa enthält die Gesetzesbegründung kei- 6 nerlei Zahlen, die abbilden oder erklären könnten, wie BT-Dr. 19/2509, S. 7; mit der gleichen Begründung auch etwa der Abgeordnete Özdemir, siehe 40. Sitzung Plenarprotokoll stark der Mehraufwand für die Parteien tatsächlich vom 15.06.2018, S. 3920, abrufbar unter http://dipbt.bundes tag. finanziell ins Gewicht fällt. Unbeachtet bleibt auch, de/dip21/btp/19/19040.pdf#P.3920 (abgerufen am 07.01.2019). ob mit digitalen Kommunikationswegen nicht gege- 7 Schönberger, Reden wir über Geld! Warum die Pläne der benenfalls auch Einsparungen einhergehen. Reichlich Großen Koalition zur Reform der Parteienfinanzierung verfas- irritierend wird die Begründung der Erhöhung aber sungswidrig sind, VerfBlog, 2018/6/11, https://verfassungs blog.de/reden-wir-ueber-geld-warum-die-plaene-der-grossen- dann, wenn behauptet wird, durch die Kürzung der koalition-zur-reform-der-parteienfinanzierung-verfassungswid Ansprüche durch die absolute Obergrenze werde die rig-sind/; Roßner, Bundestag erhöht Subventionen für Partei- Erhöhung u.a. des Wählerstimmenanteils aus dem en: Verfassungswidrig, stillos und schwach begründet,in: Le- Jahr 2016 „konterkariert“6. Diese Deckelung aber ist gal Tribune Online, 18.06.2018, www.lto.de/persistent/a_id/ ja gerade originärer Zweck der absoluten Obergrenze. 29219/; Hobusch, Gut für die Demokratie, schlecht für die Verfassung, in: FAZ online vom 27.6.2018 (http://einspruch. faz.net/einspruch-magazin/2018-06-27/fe870889297159c7ee0 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für cce53d2bc4de6/?GEPC=s2) (alles abgerufen am 07.01.2019). Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düssel- 8 dorf (Prof. Dr. Sophie Schönberger). Siehe www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/absti mmung/?id=525 (abgerufen am 07.01.2019). 2 BT-Drs. 19/2040. 9 https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebun 3 So nun § 18 Abs. 2 S. 1 PartG. destag_de/themen_az/innenpolitik/01-PDF/180927_Klagesch 4 BT-Drs. 19/2509. rift_Parteienfinanzierung.pdf (abgerufen am 07.01.2019). 5 BT-Dr. 19/2509, S. 6. 10 Siehe dazu BT-Drs. 19/2402, S. 4.

51 Aufsätze Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? MIP 2019 25. Jhrg. nen festgelegt? Grund genug, das Finanzierungssys- möglichkeiten (Mitgliederfunktion). Daneben orga- tem der Fraktionen einmal näher zu beleuchten, denn nisieren sie aber auch insgesamt die Arbeit des Par- hier sind gleich mehrere Fragen rund um die Höhe laments und sorgen dafür, dass dessen Aufgaben ef- der Finanzierung ungeklärt. fizient und geordnet erledigt werden können20 (Par- lamentsfunktion). Weiterhin sind sie „Scharnier“21 1. Die Rolle der Fraktionen zwischen den Parteien und dem parlamentarischen Fraktionen sind im Grundgesetz – außer in Art. 53a – Betrieb: Die in den Parteien geformten Inhalte wer- nicht ausdrücklich erwähnt. Explizite Aussagen zu den erst durch die Fraktionen in den parlamentari- ihrer Rechtsstellung und Finanzierung enthält das schen Prozess eingespeist22 (Parteifunktion). Grundgesetz nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt ihre Anerken- 2. Finanzierungsanspruch und Finanzierungsver- nung aber „aus der der Parteien in Art. 21 GG“12. fahren Die Fraktionen seien keine gesellschaftlichen Akteure Dass die Fraktionen als „Teile des Bundestages“23 oder Teile der Parteien13, sondern als „Teile“ bzw. auch staatlich finanziert werden, ist in Rechtspre- „ständige Gliederungen“ des Parlaments „in die orga- chung und Literatur anerkannt24. Ob ein verfassungs- nisierte Staatlichkeit eingefügt“14, sie sind „notwen- rechtlicher Anspruch der Fraktionen auf auskömmli- dige Einrichtungen des Verfassungslebens“15. Bei der che staatliche Finanzierung besteht, ist nicht endgültig Finanzierung der Fraktionen handelt es sich damit um geklärt, die gewichtige Rolle der Fraktionen für die einen besonderen Fall der Parlamentsfinanzierung16. parlamentarische Arbeit und die Bedeutung für die elementare Arbeitsfähigkeit des Parlaments deuten al- Die Fraktionen sind die „Parteien im Parlament“17, lerdings durchaus darauf hin, dass auch ein solcher Fi- sie durchdringen die gesamte parlamentarische Ar- nanzierungsanspruch besteht25, der – anders als bei beit und verhelfen dem Parlament erst zur Arbeits- den im gesellschaftlichen Bereich angesiedelten Par- und Handlungsfähigkeit. Sie erfüllen dabei maßgeb- teien – auf eine staatliche Vollfinanzierung abzielt26. lich drei abstrakte Funktionen18, die in verschiedene Richtungen weisen: Zum einen wirken sie nach in- Einfachgesetzlich finden sich die Regelungen zur Fi- nen auf ihre Mitglieder, denn Fraktionen bündeln die nanzierung der Bundestagsfraktionen in § 50 AbgG. Meinungen der einzelnen Abgeordneten, sie organi- § 50 Abs. 1 AbgG stellt dabei lapidar fest, dass die sieren die Meinungs- und Willensbildung und ver- Fraktionen „zur Erfüllung ihrer Aufgaben Anspruch helfen den Abgeordneten durch die vorgesehene Ar- auf Geld- und Sachleistungen“ haben. Nach § 50 beitsteilung19 zu der Möglichkeit der Spezialisierung Abs. 2 S. 1 AbgG setzen sich die Geldleistungen und ermöglichen dem Einzelnen stärkere Einfluss- rechnerisch aus drei Teilbeträgen zusammen, näm- lich dem Grundbetrag, dem Kopfbetrag für jedes

11 Siehe etwa Roßmann, Fraktionen erhalten 30 Prozent mehr 20 Geld, SZ-Online v. 20.07.2018 (www.sueddeutsche.de/politik/ Siehe etwa Schüttemeyer, Fraktionen im Deutschen Bundes- haushalt-fraktionen-erhalten-prozent-mehr-geld-1.4061778, tag 1949 - 1997, 1998, S. 24 f.; Das BVerfG spricht davon, abgerufen am 07.01.2019). dass die Fraktionen „den technischen Ablauf der Parlaments- arbeit in gewissem Grade […] steuern und […] erleichtern“, 12 Bereits BVerfGE 10, 4, 14; siehe auch E 70, 324, 250. so bereits BVerfGE 1, 208, 229. 13 Vgl. BVerfGE 1, 208, 225. 21 So BVerfGE 70, 324, 374 – Sondervotum Mahrenholz. 14 Zuerst BVerfGE 20, 56, 104; siehe auch E 62, 194, 202 und 22 Vgl. dazu etwa Klein, in: Herzog/Scholz/Herdegen u.a. E 80, 188, 231. (Hrsg.), Grundgesetz, 2013, Art. 38 Rn. 238; Di Fabio, Der 15 So bereits BVerfGE 10, 4, 14. Staat 29 (1990), 599, 611; Hölscheidt, Das Recht der Parla- 16 Siehe nur Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, mentsfraktionen, 2001, S. 54. 2001, S. 499; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), Ab- 23 Siehe die Nachweise in Fn. 14. geordnetengesetz, 2016, § 50 Rn. 6. 24 So bereits BVerfGE 20, 56, 104; aus der Literatur etwa Morlok, 17 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 32015, Art. 40 Rn. 33. NJW 1995, 29, 30; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), 18 Hobusch, DÖV 2018, 552, 553, mit Hinweis auf Hölscheidt, Abgeordnetengesetz, 2016, § 50 Rn. 5; Hölscheidt, Das Recht Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 255 ff.; zu den der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 500 ff. und 584 ff. Aufgaben der Fraktionen auch umfassend Bäcker, Der Aus- 25 Weitere Nachweise bei Schneider, Die Finanzierung der Par- schluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, S. 19 ff. lamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, 1997, S. 75; Heintzen, 19 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, DVBl. 2003, 706, 708; Schmidt-Jortzig/Hansen, NVwZ 1994, 2017, Art. 38 Rn. 135; Schüttemeyer, Fraktionen im Deut- 1145, 1148. schen Bundestag 1949 - 1997, 1998, S. 25; Morlok, in: Dreier 26 Statt aller etwa Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), (Hrsg.), Grundgesetz, 32015, Art. 40 Rn. 33; umfassend Morlok, Abgeordnetengesetz, 2016, § 50 Rn. 13; Schneider, Die Finan- in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, zierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, 1997, 2016, § 3 Rn. 61 f. S. 75; weitere Nachweise bei Hobusch, DÖV 2018, 552, 555.

52 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? Aufsätze

Mitglied und dem Oppositionszuschlag. Die Höhe weist den größeren Fraktionen auch mehr Mittel zu. der einzelnen Beträge legt der Bundestag jährlich Dies scheint jedenfalls auf den ersten Blick plausibel, fest (vgl. § 50 Abs. 2 S. 2 AbgG). Anhaltspunkt für wenn Fraktionen gerade auch nach innen wirken und die festzulegende Höhe ist der Bericht, welchen der die Meinungsbildung der Abgeordneten organisieren Bundestagspräsident erstellt und dem Bundestag sollen, was bei einer höheren Anzahl an Abgeordne- jährlich vorlegt: Dieser enthält nämlich sowohl eine ten jedenfalls nicht einfacher werden dürfte. Der Op- Untersuchung der Angemessenheit der Beträge als positionszuschlag soll Nachteile ausgleichen, welche auch einen – im Benehmen mit dem Ältestenrat er- die nicht die Regierung tragenden Fraktionen im Par- stellten – Anpassungsvorschlag für das folgende lament üblicherweise haben. So haben diese keinen Jahr (§ 50 Abs. 2 S. 3 AbgG). Zugriff auf die Ministerialbürokratie33, welche etwa durch Gesetzesvorlagen durchaus auch Aufgaben Die drei Elemente zur Ermittlung der Zuwendungs- übernimmt, die ansonsten Fraktionen leisten müssten: höhe sind dabei keineswegs verfassungsrechtlich Bei einer Oppositionsfraktion kann für die Erstellung determiniert, auch andere Ausgestaltungsmöglich- von Gesetzesinitiativen und für die Expertise zu ein- keiten sind aufgrund des Entscheidungsspielraums zelnen Sachthemen nicht ohne weiteres auf die Minis- des Gesetzgebers möglich und denkbar27. Allerdings terien zurückgegriffen werden. Daneben fallen Oppo- muss eine Ausgestaltung freilich die Gleichheit der sitionsfraktionen tatsächlich mehr Aufgaben zu als Abgeordneten in Form einer „Chancengleichheit der den Mehrheitsfraktionen: Anders als gemeinhin ver- Fraktionen“28, rechtlich abgeleitet aus der chancen- mutet verläuft die Linie der politischen Auseinander- gleichen Mitwirkung eines jeden einzelnen Abgeord- setzung eben nicht zwischen Parlament und Regie- neten29, beachten. rung, sondern zwischen Regierung sowie sie tragen- Die Festlegung der Höhe der Einzelbeträge erfolgt der Parlamentsmehrheit auf der einen und der Oppo- nicht in einem eigenen Gesetz, sondern nur durch sition auf der anderen Seite34. Die Kritik- und Kon- Einstellung des Betrages in den Haushalt30. trollfunktion des Gesamtparlaments gegenüber der Regierung wird also vornehmlich – von Ausnahmen 3. Die Mittelberechnung im Detail abgesehen – durch die Opposition wahrzunehmen Die drei Teilbeträge dienen unterschiedlichen Zwe- sein.35 Außerdem muss die Oppositionsfraktion sich cken. Der Grundbetrag soll sicherstellen, dass jede als Alternative zur Regierung positionieren können, Fraktion, unabhängig von ihrer Größe, ein Mindest- was mehr Aufwand bedeutet als die Unterstützung maß an Arbeitsfähigkeit erlangt31. Damit ist dieser der eigenen Regierungslinie36. Insofern liegt hier Teil von besonderer Wichtigkeit für kleinere Frakti- eine gerechtfertigte Abweichung von der ansonsten onen32. Für den Kopfbetrag ist dagegen nur entschei- zu wahrenden Gleichheit der Abgeordneten vor37. dend, wie viele Abgeordnete der Fraktion angehö- Die Ausgestaltung der Höhe der Teilbeträge kann ren: Je mehr Köpfe sie zählt, desto höher fällt dieser die verschiedenen Arten von Fraktionen unterschied- Teilbetrag aus. Der Kopfbetrag zeichnet damit die lich begünstigen oder benachteiligen: Ein hoher Mehrheitsverhältnisse des Parlaments nach und Kopfbetrag, der für jedes Fraktionsmitglied gezahlt 27 Hobusch, DÖV 2018, 552, 555; Schneider, Die Finanzierung wird, begünstigt die größeren Fraktionen im Parla- der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, 1997, S. 122; ment. Ein hoher Grundbetrag gleicht dagegen die Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), Abgeordnetenge- zahlenmäßigen Unterschiede wieder aus und führt setz, 2016, § 50 Rn. 14; siehe die Beispiele bei Hölscheidt, vielmehr zu einer leichten Verzerrung, wenn näm- Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603; ähnlich lich – gemünzt auf das einzelne Fraktionsmitglied – auch BVerfGE 84, 304, 333 f. 28 Siehe bereits Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481 ff. 33 29 BVerfGE 70, 324, 382 – Sondervotum Böckenförde; E 80, Dazu grundsätzlich und mit weiteren Nachweisen Martin, Staat- 188, 219 f.; Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, liche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, 1995, S. 98; 2001, S. 327 ff.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parla- 32015, Art. 38 Rn. 184; Bäcker, Der Ausschluss aus der Bun- mentsrecht, 2016, § 17 Rn. 72; Morlok, NJW 1995, 29, 30. destagsfraktion, 2011, S. 48 ff. 34 Siehe etwa Schütt-Wetschky, ZParl 34 (2003), 531, 535. 30 Zur Kritik daran bereits Jekewitz, ZParl 1982, 314, 333; v. Arnim, 35 Hobusch, DÖV 2018, 552, 555; mit weiteren Nachweisen Staatliche Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle?, 1987, S. 29. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603. 31 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603; 36 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603. Hobusch, DÖV 2018, 552, 555. 37 Bejahend mit weiteren Nachweisen Hölscheidt, Das Recht der 32 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), Abgeordnetenge- Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603; Hobusch, DÖV 2018, setz, 2016, § 50 Rn. 13; Hölscheidt, Das Recht der Parla- 552, 555; Jekewitz, ZParl 1982, 314, 337; andere Ansicht zu- mentsfraktionen, 2001, S. 603. letzt Klenner, DÖV 2018, 563 ff.

53 Aufsätze Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? MIP 2019 25. Jhrg. der Abgeordnete der „kleinen“ Fraktion anteilig eine derartig sensible „Entscheidung in eigener Sa- mehr „zählt“ als bei einer großen Fraktion. Das Bun- che“ – in Fortführung und Anlehnung an die Recht- desverfassungsgericht hat dazu ausgeführt, es sei sprechung zur Öffentlichkeit des Verfahrens bei der von Verfassungs wegen nicht geboten, die durch den staatlichen Parteienfinanzierung43 – auch hier die Wählerwillen bedingten Unterschiede in der Abge- Regelung in öffentlicher Beratung und Beschlussfas- ordnetenzahl durch eine erhöhte Gewährung des sung als eigener Gegenstand in einem Gesetz durch- Grundbetrages auszugleichen38, vielmehr erfolge der aus verfassungsrechtlich geboten erscheint44. „Ausgleich der unterschiedlichen Größe“ von Frakti- Vergleichsweise transparent sind die Finanzen aller- onen durch den Kopfbetrag39. dings durch die im Abgeordnetengesetz festgehalte- 4. Allgemeine Probleme der Fraktionsfinanzierung ne Rechenschaftspflicht in Bezug auf Herkunft und Verwendung der Mittel. Die Fraktionen müssen über a. Transparenz ihre Einnahmen und Ausgaben sowie über ihre Ver- Auch bei der zuletzt erfolgten Erhöhung der Zuwen- mögen Buch führen (§ 50 Abs. 2 AbgG) und über dungen an die Fraktionen ist die mangelnde Transpa- Herkunft und Verwendung der Mittel des abgelaufe- renz des Verfahrens in den Blick gerückt: Die kon- nen Kalenderjahres öffentlich Rechenschaft ablegen kreten Zahlen, wie hoch die Erhöhung nun ausfallen (§ 52 Abs. 1 AbgG). Die nach der Vorgabe des § 52 soll, konnte man in keiner Drucksache ohne Weite- Abs. 2 AbgG gegliederte Rechnung ist von einem im res auffinden. In den Beratungen des Haushaltes wa- Benehmen mit dem Bundesrechnungshof bestellten ren in zweiter Lesung ursprünglich nur 108,6 Millio- Prüfer zu testieren (§ 52 Abs. 4 S. 1 AbgG). Die ge- nen Euro eingeplant40, erst in der letzten Lesung des prüften Rechnungen der Fraktionen werden nach Zu- Haushaltes wurden die Beträge durch die Empfeh- leitung an den Bundestagspräsidenten als Bundestags- lungen des Haushaltsausschusses geändert41. Dieses Drucksache veröffentlicht (§ 52 Abs. 2 S. 4 AbgG). „Verwirrspiel“ entspricht aber durchaus der gängi- So lassen sich die Finanzen der Fraktionen in Bezug gen Praxis: Die korrekten Zahlen werden erst in der auf die Einnahmen und Ausgaben in relativ kurzem zeitlichen Abstand (im Vergleich zu den aufwendi- letzten Bereinigungssitzung, das heißt der letzten 45 Sitzung des (nichtöffentlich tagenden) Haushaltsaus- geren Rechenschaftsberichten der Parteien ) zum schusses in den Haushaltsplan eingefügt. Die dort Zeitpunkt der Mittelverwendung nachvollziehen. zuvor eingefügten Zahlen sind praktisch „Platzhal- b. Rücklagen ter“. Die Zeitspanne, in der eine öffentliche Kennt- nisnahme innerhalb der Haushaltsberatungen erfol- Ein bisher eher stiefmütterlich behandeltes Problem gen kann, ist also absichtlich auf einen denkbar kur- sind die Rücklagen, welche die Bundestagsfraktio- zen Zeitraum verkürzt: Erst kurz vor der dritten Le- nen über die Jahre gebildet haben. In den aktuellen sung sind also eventuelle Änderungen erkennbar. 43 Damit wird die Gefahr verstärkt, dass die Öffentlich- BVerfGE 40, 296. keit in der Kürze der Zeit nicht mehr in der Lage ist, 44 Siehe bereits v. Arnim, ZRP 1988, 83, 86; v. Arnim, Staatliche etwaige Änderungen zur Kenntnis zu nehmen, ge- Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle?, 1987, S. 29 ff.; v. Arnim, 42 Parteienfinanzierung, 1982, S. 110 ff.; Jekewitz, ZParl 1982, schweige denn zu diskutieren. 314, 333 ff.; Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, 1995, S. 86; Fischer, Abgeordnetendiäten Diese Geheimniskrämerei ist umso ärgerlicher, weil und staatliche Fraktionsfinanzierung in den fünf neuen Bun- aus den verfassungsrechtlichen Anforderungen an desländern, 1995, S. 202 ; a.A. Hölscheidt, Das Recht der Parla- mentsfraktionen, 2001, S. 594 mit Verweis auf Schneider, Die 38 BVerfGE 84, 304, 334. Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, 39 Ebd. 1997, S. 146. Allerdings geht Hölscheidt dabei auf die beson- deren Anforderungen an die Regelung als „Entscheidung in 40 Anlage zur BT-Drs. 19/1700, Einzelplan 02, Kapitel 0212, Titel eigener Sache“ gar nicht ein, sondern begnügt sich mit der 684 01 - 011. Siehe dazu http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/ Feststellung, das Haushaltsgesetz habe ja Gesetzesqualität und 19/017/1901700.pdf (abgerufen am 07.01.2019). eine explizite gesetzliche Festlegung sei nicht nötig, da der 41 So ist auf der Internetseite des Bundestages zum Haushalt Bürger weder Haushaltsplan noch Gesetzblätter durchforste. 2018 (www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw27-de- Die Vergleichbarkeit mit den Entscheidungen des Bundesver- haushaltsgesetz/561080; abgerufen am 10.1.2019) unter den fassungsgerichts zur Parteienfinanzierung und Abgeordneten- dort verlinkten Dokumenten lediglich diejenige Version des entschädigung wird nicht näher besprochen. Haushaltsgesetzes aufzufinden (Anlage zu BT-Drs. 19/1700, 45 Die Rechenschaftsberichte zeichnen die Entwicklung wegen Einzelplan 02, Kapitel 0212, Titel 684 01 – 011; Link siehe des deutlich größeren Umfangs und der wesentlich größeren Fn. 40), bei der noch lediglich rund 108 Millionen Euro in Organisation der Parteien nur sehr zeitversetzt nach. Aktuell den Haushaltsplan eingestellt sind. sind etwa nur die Rechenschaftsberichte der Parteien für das 42 v. Arnim, Der Verfassungsbruch, 2011, S. 36. Kalenderjahr 2016 bekanntgemacht, siehe BT-Drs. 19/2300.

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Zahlenwerken der Fraktionen, den geprüften Rech- dung keinen weitergehenden Begrenzungen. Das Ge- nungen für das Jahr 2017, wird dies besonders deut- setz geht ausdrücklich von der Möglichkeit der Bil- lich. Auch die „neuen“ im Bundestag befindlichen dung von Rückstellungen und Rücklagen aus, schließ- Fraktionen AfD und FDP haben innerhalb der sehr lich sind diese Posten bei der Einnahmen- und Ausga- kurzen Berichtsperiode (September 2017 bis Jahres- benrechnung explizit anzugeben54 und auch § 50 Abs. 5 ende 2017) bereits Rücklagen, das heißt im Gegensatz AbgG zeigt, dass der Gesetzgeber diese Möglichkeit zu Rückstellungen ungebundene passiva46, denen also eröffnen möchte. Insofern ist die Rücklagenbildung keine Verbindlichkeit gegenübersteht, angelegt: Bei einfachgesetzlich weder der Höhe noch dem Zweck der AfD wurden bereits 2,6 Millionen Euro derartig nach begrenzt, wie dies in einigen Landesparlamenten zurückgelegt47, bei der FDP-Fraktion immerhin 1,7 der Fall ist55. Zusammen mit der Thesaurierungsoption Millionen Euro48. Die Rücklagen der bereits im Bun- des § 54 Abs. 7 AbgG wird den Fraktionen überdies die destag vertretenen Fraktionen sind derweil noch ein- Möglichkeit eröffnet, nicht verbrauchtes Geld nicht nur mal kräftig angestiegen: Die CDU/CSU-Fraktion hat auf neue Rechnung ins nächste Jahr, sondern sogar in ihre Rücklagen um gut 2,6 Millionen Euro auf un- eine neue Legislaturperiode mitzunehmen und den für glaubliche rund 23 Millionen Euro gesteigert49. Die die Fraktionen als Untergliederung des Parlaments gel- SPD-Fraktion hat den Rücklagen einen Betrag von tenden Grundsatz der Diskontinuität zu überwinden56. lediglich 254 Tausend Euro hinzugefügt50 und befin- Verfassungsrechtlich begegnet die Möglichkeit der det sich nach einem defizitären Jahr 2016 (negatives Fraktionen zum (unbegrenzten) Rücklagenaufbau Jahresergebnis von über 750 Tausend Euro51) auch zunächst einmal Bedenken. Für die Zulässigkeit der dank Einsparungen bei den Ausgaben in Höhe von Rücklagenbildung wird zumeist Folgendes ins Feld fast 700 Tausend Euro52 wieder in den schwarzen geführt: Auch den Fraktionen darf die Tätigung von Zahlen. In Relation zu den anderen Fraktionen, die – mit Ausnahme der Grünen – stark an Rück- lagen zugelegt haben (jeweils ein Plus von über 2 Millionen Euro), scheint die finanzielle Situation hier – wohl auch wegen der deutli- chen Mandatsverluste – vergleichsweise ange- spannt. Die Entwick- lung der Rücklagen ver- anschaulicht nebenste- hendes Diagramm53. Das Abgeordnetengesetz unterwirft die Möglich- keit der Rücklagenbil- größeren Anschaffungen nicht verwehrt werden. 46 Im Folgenden sind unter Rücklagen nur solche im engeren Diese lassen sich mit den Jahresmitteln ggf. nicht Sinne gemeint. Teilweise wird der Begriff auch missverständ- entsprechend abbilden und müssen angespart wer- lich als Oberbegriff für Rücklagen und Rückstellungen ver- wendet. Zu den Begrifflichkeiten auch Hölscheidt, Das Recht den. Gegen unvorhergesehene Belastungen müssen der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 627. die Fraktionen Vorkehrungen treffen können. Sei es 47 BT-Drs. 19/3700, S. 8 f. eine parlamentarische Mehrbelastung durch externe 48 BT-Drs. 19/3700, S. 10 f. Sachverständige oder Untersuchungsausschüsse: 49 BT-Drs. 19/3700, S. 2 f. Eine gewisse Flexibilität ist für eine sachgerechte 50 BT-Drs. 19/3700, S. 5 f. Arbeit der Fraktionen von Vorteil. 51 BT-Drs. 18/13300, S. 5. 54 52 BT-Drs. 19/3700, S. 5 im Vergleich zu BT-Drs. 18/13300, S. 5. Vgl. § 52 Abs. 3 Nr. 2 lit. a) und b) AbgG. 55 53 Alle Tabellen oder Schaubilder entspringen der eigenen Dar- Nachweise bei Hobusch, DÖV 2018, 552, 558. stellung des Verf. 56 Weitere Nachweise bei ders., DÖV 2018, 552, 558.

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Versteht man die jährlichen Geldmittel, die den Grad, am öffentlichen Meinungskampf teilzunehmen Fraktionen nach § 50 Abs. 1 AbgG zufließen, als und somit auch indirekt in Konkurrenz zu anderen zweckgebundene Mittel zur Verwendung im entspre- Parteien zu treten, denen diese staatlichen Mittel chenden Jahr, ist ein Rücklagenaufbau hingegen mangels Fraktion im Parlament nicht offenstehen. nicht notwendig. Wenn bei der Angemessenheit der Überdies spielt die rechtliche Trennung für den Bür- Mittel für die Fraktionen und dem Vorschlag des ger eine nachrangige Rolle: Ob die Fraktion nun mit Bundestagspräsidenten jeweils das nächste Jahr als ausgefeilten Konzepten aufwartet oder die Partei, es Gegenstand der Planung herangezogen wird, so sind mehrt die Chancen der dahinterstehenden Partei auf die Geldmittel genau der Betrag, der für die Arbeit Wahlerfolge. Insofern hat das Bundesverfassungsge- einer Fraktion in einem Jahr auskömmlich ist. Für richt mit seiner pauschalen Aussage zur Überfinan- den Aufbau einer Fraktion gibt es ebenso wenig zu- zierung durchaus Recht, schließlich droht eine Ver- sätzliche Mittel wie für die drohende Abwicklung. zerrung des Wettbewerbs zuungunsten der nicht ver- Sofern dieser Jahresbetrag nicht ausreicht, sind Mit- tretenen Parteien. tel umzuschichten und ist ggf. im Folgejahr eine Er- Bei der Ausgestaltung der Finanzierung steht dem höhung der Mittel anzustreben. Entsprechend flexi- Parlament, obgleich beschränkt durch die stärkere bel ist ja auch das Anpassungsverfahren, das eine Kontrolle wegen des hier bestehenden strukturellen jährliche Korrektur ermöglicht: Die Fraktionen er- Kontrolldefizits als „Entscheidung in eigener Sache“, halten nicht etwa einen Geldbetrag für die gesamte ein gewisser Ausgestaltungsspielraum59 zu, der frei- Legislaturperiode, den sie sich vollständig selbst ein- lich vollständig überprüfbar ist. teilen, sondern einen Geldbetrag für jedes Jahr. Gibt man den Fraktionen die Möglichkeit, Ansparungen Die Möglichkeit der Rücklagenbildung alleine führt für spätere unvorhergesehene Ereignisse zu tätigen, nicht zu einer Überfinanzierung der Fraktionen. Die- so verstoßen die Rücklagen jedenfalls dann gegen se Gefahr besteht vielmehr in der Kumulation ver- das Gebot der angemessenen Finanzierung, wenn schiedener Regelungen, zu denen auch die Rückla- diese Ereignisse nicht eintreten und das Geld bei den gen gehören. Es sind auch Systeme denkbar, in de- Fraktionen verbleibt: Dann hat die Fraktion nämlich nen Rücklagen möglich sind und eine Überfinanzie- mehr erhalten, als notwendig war. rung verhindert wird, etwa wenn Rücklagen nur bis zum Ende der Legislatur angespart werden können Diese genannten positiven wie negativen Zweckmä- und nicht darüber hinaus mitgenommen werden kön- ßigkeitserwägungen können aber die abstrakte nen60: Denn dann sind auch Ansparungen für unvor- Rechtsfrage der Verfassungsmäßigkeit der Rückla- hergesehene Ereignisse weniger problematisch. Tre- genbildung jedenfalls nicht ausreichend beantwor- ten die Ereignisse nicht ein, verbleibt den Fraktionen ten. Ein Rückschluss von der Zweckmäßigkeit auf dadurch kein weitergehender Vorteil. Damit liegt die Verfassungswidrigkeit verbietet sich. Rücklagen das Problem vielmehr in der Höhe der Zuschüsse sind nur dann verfassungswidrig, wenn sie zu einer und der Möglichkeit der Thesaurierung, also der Überfinanzierung der Fraktionen führen57. Eine Mitnahme in die neue Legislaturperiode. Die hohen Überfinanzierung, das heißt eine Bereitstellung von Rücklagen sind dann lediglich (dafür aber sehr ge- Mitteln, die jenseits des Bedarfs der Fraktionen wichtiges) Indiz für eine Überfinanzierung der Frak- liegt, stellt mit den Worten des Bundesverfassungs- tionen. Per se verfassungswidrig ist die Möglichkeit gerichts eine verschleierte Parteienfinanzierung58 dar der Rücklagenbildung folglich nicht61. und verstößt damit gegen die Chancengleichheit der (auch außerparlamentarischen) Mitbewerber. Das c. Höhe der Zuschüsse mag zwar auf den ersten Blick irritieren, sind Partei Die Höhe der Fraktionszuschüsse ist in den vergan- und Fraktion finanziell strikt getrennt: Wäre diese 62 Trennung strikt durchzuhalten, dürfte eine Überfi- genen Jahren stetig gestiegen . Klare, insbesondere nanzierung der Fraktion auf den politischen Prozess 59 Siehe Fn. 27. außerhalb des Parlaments nur beschränkt durch- 60 Siehe dazu auch Hobusch, DÖV 2018, 552, 560 f. schlagen. Allerdings ist diese Grenze alleine schon 61 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), Abgeordnetenge- durch die Möglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit der setz, 2016, § 50 Rn. 28; Meyer, KritV 1995, 216, 241; Höl- Fraktionen verwischt. Diese ermöglicht es den Frak- scheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 629; tionen mit staatlichen Mitteln zu einem gewissen Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staat- liche Aufgabe, 1997, S. 187; weitere Nachweise bei Hobusch, 57 Auf etwaige haushaltsverfassungsrechtliche Probleme soll hier DÖV 2018, 552, 561 dort Fn. 93. nicht eingegangen werden, siehe etwa Fensch, ZRP 1993, 209. 62 Zur Entwicklung des Umfanges siehe v. Arnim, Finanzierung der 58 So bereits BVerfGE 20, 56, 105. Fraktionen, 1993, S. 8 ff; Hölscheidt, Das Recht der Parlaments-

56 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? Aufsätze verfassungsrechtliche Vorgaben zur Höhe der Frakti- tion strukturell überfinanziert ist65. Werden Rücklagen onszuwendungen sind nur schwerlich fassbar: Wie über einen langen Zeitraum oder in einer enormen kann man festlegen, welcher Betrag für die Arbeit Höhe angelegt, ist dies Indiz für eine unangemessene einer Fraktion auskömmlich ist? Was ist eine „ange- Höhe der Fraktionszuschüsse66: Denn dann waren die messene“ Finanzausstattung? jährlichen Zahlungen offenkundig höher als der tat- Erster Ansatzpunkt könnten Vergleiche mit anderen sächliche Bedarf. Parlamenten sein. So können starke Abweichungen Die Rücklagen der Bundestagsfraktionen lassen kaum bei vergleichbaren Größen von Fraktion und Parla- Zweifel daran bestehen, dass die Höhe der Fraktions- ment auf eine unangemessene Ausstattung hindeu- finanzierung unangemessen hoch ist. Betrachtet man ten63. Die Ausgangsfrage wird durch diese verglei- die Rücklagenpositionen der Fraktionen, so fällt zu- chende Betrachtung nicht beantwortet. Vielmehr ist nächst die größte Fraktion ins Auge. Die CDU/CSU- ein Abstellen auf die Aufgabenerfüllung der Fraktio- Bundestagsfraktion hat Rücklagen in Höhe von 22,9 nen vielversprechender64: Welche Kosten lassen sich Millionen Euro angehäuft. Diese wachsen auch seit ermitteln, wenn man alle (parlamentarischen und po- 2016 um gut 2,5 Millionen Euro im Jahr, von 2013 bis litischen) Aufgaben der Fraktionen in einen Kosten- 2015 stiegen sie sogar von rund 8,4 Millionen auf ansatz bringt? Allerdings: Ist der Mitwirkung am 17,6 Millionen Euro. Die SPD-Fraktion hat bereits Gesetzgebungsverfahren ein fixer Kostenpunkt zuzu- seit 2012 ein Rücklagenpolster von gut 10 Millionen ordnen? Wie viel ist es „wert“, wenn die Fraktion die Euro, welches mittlerweile auf 8,6 Millionen ge- Meinungsbildung der Abgeordneten durch Fraktions- schrumpft ist. Bei den Grünen und der Linken-Frakti- sitzungen fördert? Auch der Lösungsweg über die po- on haben vor allem die Linken aufgeholt: Von be- sitive Aufgabenbestimmung hilft also nicht sonderlich scheidenen Rücklagen in Höhe von 1,9 Millionen im weiter, gerade weil die politischen Aufgaben der Jahr 2012 kam man 2017 auf über 5 Millionen Euro Fraktion auch durchaus unterschiedlich verstanden und ist damit auf Augenhöhe mit den Grünen, die ei- werden können: Wie viel Öffentlichkeitsarbeit gehört nen vergleichbaren Betrag angespart haben. zur „Grundausstattung“, was geht darüber hinaus? Am deutlichsten zeigt sich die Rücklagenbildung Werden Veränderungen anhand von Indizes berech- aber bei den Fraktionen, die bisher noch gar keine net, so wie sich auch der Bundestagspräsident bei sei- hatten, also die neu ins Parlament eingezogen sind. nem Anpassungsvorschlag an der Tarifentwicklung im Öffentlichen Dienst orientiert, so sind jedenfalls Abweichungen von diesen Indizes mit besonde- rem Begründungsaufwand ver- bunden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung erscheint auch diesbezüglich übertragbar. Bisher wenig Beachtung gefun- den hat ein vergleichsweise sim- ples Instrument, welches jeden- falls dazu geeignet ist, eine Überfinanzierung der Fraktionen anzuzeigen. So lässt die Be- trachtung der Rücklagen Rück- schlüsse darauf zu, ob eine Frak-

fraktionen, 2001, S. 501 Siehe auch die Übersicht der Fraktions- 65 Hobusch, Mehr Zuschüsse für die Fraktionen: Darf es ein mittel seit 1990 beim Deutschen Bundestag: www.bundestag. bisschen mehr sein?, in: Legal Tribune Online, 24.07.2018, de/blob/272530/2cfdbf713d15a57468eef48d81dfca8f/kapitel_ www.lto.de/persistent/a_id/29925/ (abgerufen am 14.01.2019); 17_03_geldleistungen_an_die_fraktionen-pdf-data.pdf (abge- ders., DÖV 2018, 552, 561 f. mit einigen Nachweisen. rufen am 14.01.2019). 66 Hobusch, DÖV 2018, 552, 561 f.; Meyer, KritV 1995, 216, 63 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 597. 241 f.; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl (Hrsg.), Abgeord- 64 Ebd. netengesetz, 2016, § 50 Rn. 28.

57 Aufsätze Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? MIP 2019 25. Jhrg.

Zugegeben, wegen der Sondierungen lief der parla- ses Ungleichgewicht immanent ist67. Richtig ist aber mentarische Betrieb Ende 2017 zwar nicht auf Hoch- auch, dass es zur Festlegung des genauen Verhältnis- touren. Überraschend ist dann aber doch, dass von den ses der Elemente keine Idealformel gibt, die Ausge- Mitteln für die Fraktionsarbeit ein Großteil in die Rü- wogenheit kann sogar davon abhängen, wie das kon- cklagen gewandert ist: Am krassesten zeigt sich diese krete Parlament zusammengesetzt ist und so bei der Entwicklung bei den Fraktionen, die neu in den Bun- einen Zusammensetzung ideal, bei der anderen ver- destag eingetreten sind und noch kein „Rücklagen- fassungswidrig sein kann68. Insofern ist die Rückla- konto“ mitnehmen konnten (gem. § 54 Abs. 7 AbgG). genhöhe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion jeden- So hat die AfD-Fraktion für den Zeitraum vom falls Indiz dafür, dass sehr große Fraktionen von der 26.09.2017 bis 31.12.2017 Geldleistungen nach § 50 aktuellen Gewichtung der drei Elemente stärker pro- Abs. 1 AbgG in Höhe von rund 3 Millionen Euro er- fitieren als andere Arten von Fraktionen. halten. Davon wanderten unglaubliche 2,6 Millionen Euro in zweckfreie Rücklagen, 20.000 Euro in „ge- e. Thesaurierung in die nächste Legislaturperiode bundene“ Rückstellungen. Ein ähnliches Bild zeigt Anders ist die Lage bei der Thesaurierung in die sich bei der FDP, hier wurden 1,7 Millionen Euro neue Legislaturperiode. Die Möglichkeit, Rücklagen eingestellt. Geht man davon aus, dass von den Mit- in ein neues Parlament mitzunehmen, ist aus ver- telzuweisungen (FDP: 2,7 Millionen Euro; AfD: ca. schiedenen Gründen verfassungswidrig: Sie sorgt zu 3 Millionen Euro) ein so erheblicher Teil in Rückla- einem für eine Überfinanzierung der Fraktionen. Das gen investiert werden kann, ohne dass der Fraktions- „mitgenommene“ Geld ist nämlich gar nicht für die betrieb leidet, dann liegt die Überfinanzierung auf neu anbrechende Legislaturperiode gedacht gewesen, der Hand. auch gar nicht für die Fraktion, die sich als Rechts- Wenn die Rechnungen für das Jahr 2018 geprüft und nachfolger konstituiert. Die Gelder sind, wenn man veröffentlicht sind, lässt sich mehr über die weitere schon nicht davon ausgeht, dass sie nur „jahresbezo- Finanzentwicklung sagen: Denn die Auswirkungen gen“ gewährt werden, jedenfalls nur für die betreffen- der Mandatsverluste bei CDU/CSU und SPD sind de Fraktion gedacht und nicht für etwaige Rechts- den Zahlen für 2017 nicht zu entnehmen. Geht man nachfolger. Dies wird auch an der Berechnung deut- von den vereinbarten Kopf- und Grundbeträgen aus, lich: Eine Fraktion, die in der Opposition ist, erhält so muss die CDU/CSU-Fraktion mit Mindereinnah- den nicht unerheblichen Oppositionszuschlag. Die- men in Höhe von rund 3 Millionen Euro rechnen ser soll Nachteile ausgleichen, welche die Fraktion (dann noch rund 32 Millionen Euro), die SPD-Frak- in ihrer Rolle als Opposition hat, also in genau der tion muss Einbußen in ähnlicher Größenordnung Zeit, in der die Fraktion auch in der Opposition ist. wegstecken (Minus 2,2 Millionen Euro bei dann Sie soll nicht ein zusätzliches Polster darstellen, wel- noch verbleibenden Zuschüssen in Höhe von rund ches die Fraktion in einem neuen Parlament – dann 21,8 Millionen Euro). ggf. als Regierungsfraktion – zusätzlich nutzen kann. Gerade das Beispiel des Oppositionszuschlages zeigt d. Berechnungsverfahren die Probleme dieser uneingeschränkten Mitnahme deutlich auf. In Anbetracht der hohen Rücklagen ist jedenfalls die Frage naheliegend, ob nicht das Berechnungsverfah- Daneben verletzt die Möglichkeit auch die chancen- ren der Mittel in der aktuellen Ausgestaltung große gleiche Mitwirkung der anderen Fraktionen bzw. der Fraktionen, insbesondere die Regierung tragende in ihr organisierten Abgeordneten. Neu in das Parla- Fraktionen, bevorteilt. Möglicherweise sind die Vor- ment eintretende Fraktionen haben keine Möglich- teile der Ministerialbürokratie zu zurückhaltend ein- keit, im Voraus Gelder anzusparen. Die alten Frakti- gepreist worden. Denkbar ist auch ein zu niedriger onen haben gegenüber den „neuen“ einen erhebli- Ansatz der strukturellen Einsparungen bei größeren chen Startvorteil. Mit den aktuellen Zahlen lässt sich Verbänden: Die Organisation der Willensbildung das durchaus nachdrücklich festmachen: Alle bereits des 150. Abgeordneten fällt wegen des dann bereits bestehenden Parlamentsfraktionen haben Rücklagen bestehenden Organisationsgrades für die Abgeordne- von mindestens 5 Millionen Euro. Wenn man zu- ten 1-149 nicht so schwer ins Gewicht wie die des grunde legt, dass die neu einziehenden Fraktionen 20. Abgeordneten. Die Kosten der Koordination und jedes Jahr so viele Rücklagen anhäufen können wie Organisation der Abgeordneten nehmen anerkann- im kurzen Berichtsjahr 2017 (AfD: rund 2,6 Millio- termaßen ab einer gewissen Anzahl ab, weshalb durchaus naheliegend erscheint, dass dem Kopfbe- 67 Hobusch, DÖV 2018, 552, 562. trag ohne eine degressive Ausgestaltung ein gewis- 68 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 603.

58 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Üppige Erhöhung der Parteien- und Fraktionsfinanzierung – zwei Fälle für Karlsruhe? Aufsätze nen Euro; FDP: rund 1,7 Millionen Euro), so benö- Ein Fall für Karlsruhe dürfte dies gleichwohl, anders tigten sie 2 bis 3 Jahre, um ein entsprechendes Fi- als die Erhöhung der absoluten Obergrenze für die nanzpolster zu erhalten. Weil dieses angesparte Geld Parteienfinanzierung, eher nicht werden. Das Empö- etwa auch für Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben wer- rungspotential scheint erschöpft, jedenfalls aber nicht den kann, haben hier die bereits finanziell „abgesi- so weit zu reichen, dass auch in dieser ureigenen An- cherten“ Fraktionen einen handfesten Vorteil. gelegenheit der parlamentarisch vertretenen Kräfte, Nicht verbrauchtes Geld muss am Ende der Legisla- ihrer unmittelbaren Eigenfinanzierung, das Bedürfnis turperiode wieder in den Haushalt fließen. Die Mög- nach Rechtfertigung, geschweige denn Kontrolle be- lichkeit, die Rücklagen in unbegrenzter Höhe auf die steht. Der Sache nach also zwei Fälle für Karlsruhe, nachfolgende Fraktion zu übertragen, ist aus den aber nur eine Gelegenheit des Gerichts, Finanzie- oben genannten Gründen verfassungswidrig. rungsfragen auf den Prüfstand der Verfassung zu stellen. 5. Die Erhöhung 2018 Entgegen des ersten Anscheins war die Erhöhung um 30 % nicht gierigen Fraktionen, sondern vor allem einer simplen Tatsache geschuldet: Der Bundestag hat plötzlich sechs anstatt vier Fraktionen und er hat deutlich mehr Abgeordnete. Bei einem Grundbetrag von rund 5 Millionen Euro macht das schon einmal 10 Millionen Mehrkosten, rechnet man noch den Oppositionszuschlag dazu, ergeben sich schon Mehr- kosten von dann 11,5 Millionen Euro. Nimmt man die Kopfbeträge der neu eintretenden Fraktionen inklusi- ve des Oppositionszuschlages hinzu, so kommt man auf weitere 21 Millionen Euro Zusatzkosten. Insofern ist der Sprung von 88 Millionen auf ca. 115 Millionen Euro im Großen und Ganzen in Ordnung. Allerdings gingen die Fraktionen bei der Bestimmung der neuen Werte für Grund- und Kopfbetrag über den Vor- schlag des Bundestagspräsidenten hinaus: Dieser hatte vorgeschlagen den Grundbetrag auf 5.085.804 Euro anzuheben, den Kopfbetrag auf 106.164 Euro69, was eine Erhöhung um 3 % dargestellt hätte. Die tat- sächlich dann in den Haushalt eingestellten Beträge wichen dann mit 5.238.420 Euro für den Grund- und 109.344 Euro für den Kopfbetrag nicht unwesentlich davon ab70. Grund- sowie Kopfbetrag wurden damit über die Steigerung der Indizes hinaus um 3 % ange- hoben. Jedenfalls dieser Sprung entbehrt jeder nach- vollziehbaren Grundlage. Insbesondere die hohen Rücklagen aller Bundestagsfraktionen zeigen, dass ein Mehrbedarf über die üblichen an Indizes ausge- richteten Anhebungen vorliegend nicht besteht71. Die Anhebung vertieft also die schon bestehende Überfi- nanzierung der Fraktionen. 69 Siehe die Angaben in BT-Drs. 19/2664, S. 2 unter V.2. die Angaben als monatliche Werte. 70 Siehe die Erläuterungen zu den Haushaltsansätzen unter www. bundestag.de/blob/272530/2cfdbf713d15a57468eef48d81dfca8f/ kapitel_17_03_geldleistungen_an_die_fraktionen-pdf-data.pdf (abgerufen am 14.01.2019). 71 Hobusch, Mehr Zuschüsse für die Fraktionen: Darf es ein bisschen mehr sein?, in: Legal Tribune Online, 24.07.2018, www.lto.de/persistent/a_id/29925/ (abgerufen am 14.01.2019).

59 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Die Ursprünge des Art. 21 GG: die Idee zierte6, dieselbe Meinung. In diesem Zusammenhang darf Art. 21 GG nicht als die von Triepel prophezeite der Parteiregulierung in Verfassungsde- 7 batten der Nachkriegszeit „Inkorporation“ angesehen werden, da er Parteien nicht dem Staatsapparat zuordnet, sondern sie als „im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Grup- 1 Edoardo Caterina pen“8 betrachtet. Aus diesem Grund war auch Gerhard Leibholz mit Art. 21 unzufrieden: „Das große Miss- verständnis, dem man nur in Bonn erlegen ist, [...] ist 1. Der wunderliche Artikel 21 GG nur dies, dass man glaubte, einfach die moderne par- Art. 21 GG ist eines der originellsten Kennzeichen der teienstaatliche Demokratie mit der repräsentativ par- deutschen Verfassung. Es ist überflüssig, alle Kom- lamentarischen Demokratie sozusagen kombinieren mentatoren, die das in den vergangenen 70 Jahren an- zu können“9. Art. 21 sei also das Ergebnis eines gemerkt haben, aufzulisten. Tatsächlich stellte Art. 21 „großen Missverständnisses“ oder, anders gewendet, GG einen dramatischen Kurswechsel nach der Zeit wäre es ein Missverständnis, in Art. 21 eine Verar- der Weimarer Verfassung dar, die keine positive Re- beitung der Parteienstaatsdebatte zu sehen. gelung über das Parteiwesen enthielt. „Art. 21 ist Nur Hans Kelsen hatte die grundlegende Idee des ohne Beispiel in der deutschen Verfassungsge- Art. 21 vorausgeahnt. In der zweiten Auflage des 2 schichte“ , weshalb er wie ein Unikum erscheinen Werkes Vom Wesen und Wert der Demokratie könnte. In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, (1929) polemisierte Kelsen gegen Triepel und sein dass ein solcher Eindruck irreführend ist und dass ablehnendes Verhalten gegenüber Parteien. Er plä- Art. 21 GG nicht aus dem Nichts entstanden ist. dierte dagegen für eine Verankerung des Parteiwe- Einige Stimmen in der Literatur sehen eine Erklä- sens in der Verfassung10 und für eine Demokratisie- rung für das Entstehen des Art. 21 GG in der Wei- rung des innerparteilichen Lebens. Dabei wurde er marer Debatte über den Parteienstaat3. Diese Annah- von Robert Michels inspiriert, auf den er sich aus- me lässt sich indes nicht mit Fakten belegen. Erstens drücklich bezieht11. Kelsens Überlegungen blieben spielten die Protagonisten dieser Debatte keine un- aber vage. Insbesondere seiner kurzen Bemerkung mittelbare Rolle bei der Ausarbeitung des Grundge- über innerparteiliche Demokratie mangelte es an Be- setzes nach dem Krieg4. Zweitens sind nur wenige stimmtheit: kein klarer Vorschlag (z.B. ein Gesetz Zeilen jener umfangreichen Debatte mit dem tat- oder ein Verfassungsartikel über die politischen Par- sächlichen Inhalt des Art. 21 anschlussfähig. Im Üb- teien), nur ein allgemeines Streben nach einer recht- rigen rankte sich der Streit um den Parteienstaat an lichen Einkleidung der faktischen Relevanz der Par- erster Stelle um die Frage, ob Parteien als Staatsor- teien. Außerdem war Kelsen deutlich gegen den Ge- gane eingeordnet werden könnten. Diese Frage un- danken einer „wehrhaften Demokratie“, dessen Aus- terscheidet sich zweifellos maßgeblich von der Frage druck Art. 21 freilich (auch) ist12. der Regulierung der Parteien. So stand beispielsweise Art. 21 zeichnet keine klare und einseitige ideologi- Gustav Radbruch für eine positive Anerkennung der sche Matrix vor. Das Instrument des Parteiverbots Parteien im Verfassungsrecht und hielt doch eine zeigt auf, dass die Verfassungsnorm zugleich den Regulierung derselben aufgrund ihrer „Eigengesetz- Vorstellungen von Bismarcks Sozialistengesetzen 5 lichkeit“ für unmöglich. Interessanterweise teilte nahesteht, uns an Mannheims und Löwensteins The- auch Carl Schmitt, der in seiner Verfassungslehre orien der „wehrhaften Demokratie“ erinnert, Carl die Parteien mit der öffentlichen Meinung identifi- Schmitts Ideal einer wertgebundenen Verfassungs- ordnung widerspiegelt und schließlich die Rolle des 1 Der Autor ist Doktorand an der Scuola Superiore Sant’Anna (Pisa, Italien). 6 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 247. 2 J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 7 Vgl. H. v. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen 2018, Art. 21 Rn. 1. Parteien, 1927, 8. 3 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grund- 8 So BVerfGE 20, 56 (101). gesetz, Kommentar, 2. Bd., 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 4 f. 9 4 G. Leibholz, Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, Nur Radbruch wird in den Verfassungsdebatten in Bezug auf RSW 1951, 99 (110). die politischen Parteien ausdrücklich zitiert (Herrenchiemsee, 10 Unterausschuss I, 3. Sitzung). Vgl. H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, 19. 11 5 Vgl. G. Radbruch, Die politischen Parteien im System des deut- Vgl. ebd., 23. schen Verfassungsrechts, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Hand- 12 Vgl. H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, Blätter der buch des deutschen Staatsrechts, 1. Bd., 1930, 280 (293 f.). Staatspartei 1932, 3-4.

60 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze

Verfassungsgerichts betont. Wie Jan-Werner Müller schnitt IX, Art. 118-121), in denen sich schon der Geist scharfsinnig bemerkt hat: „Ein kelsenianisches In- des späteren Art. 21 GG zeigt: das innerparteiliche strument wird benutzt, um eine schmittianische Stra- Demokratiegebot und das Parteiverbot (durch ein Ge- tegie zu verfolgen“13. richt zu erlassen) für verfassungsfeindliche Parteien. Ersteres wird in der badischen Verfassung nicht als Paradox ist, dass eine so besondere und originelle Grundsatz zum Ausdruck gebracht, sondern lediglich Norm fast wie eine Selbstverständlichkeit nach den vorausgesetzt, indem Elemente der innerparteilichen Schrecken des Nationalsozialismus erscheint. Man Demokratie durch spezifische Vorschriften konkreti- könnte daher versucht sein, zu glauben, dass Art. 21 siert werden. So gewährleisten Art. 119 und 121 die GG kaum eine Erklärung braucht, außer die bittere Freiheit des Eintritts in eine und des Ausscheidens Lehre der Geschichte und dass die Quellen dieser aus einer Partei. Zudem wird das Führerprinzip in- Vorschrift nicht in Urkunden und Papieren zu suchen nerhalb der Partei grundsätzlich verboten. In der ba- sind, sondern in den Lebenserfahrungen der Men- dischen Verfassung nicht berücksichtigt wird aller- schen, die Deutschland nach dem Krieg wieder auf- dings der Bereich der Kandidatenaufstellung. gebaut haben. Interessanterweise lässt sich auch bei der im Übrigen vorherrschenden „professoralen At- Gleichwohl wird Abschnitt IX der badischen Verfas- mosphäre“ im Parlamentarischen Rat ein Bruch aus- sung lediglich als Einzelfall betrachtet, der keinen machen, gerade als Art. 21 GG zur Debatte kam. „Die Einfluss auf die Entstehung des Art. 21 GG hat, da Vergangenheit unseres deutschen Parteiwesens, insbe- sich in den Verhandlungen des Parlamentarischen Ra- sondere mit Rücksicht auf die Partei, die uns zwölf tes kein Hinweis auf das badische Vorbild finden Jahre lang terrorisiert hat, spricht für unseren Antrag“: lässt15. Das ist zwar richtig, doch belegt dies allein, mit diesen Worten plädierte Johannes Brockmann dass im Parlamentarischen Rat selbst nicht ausdrück- (Zentrumpartei) für ein Transparenzgebot hinsicht- lich Bezug auf die badische Verfassung genommen lich der finanziellen Quellen der Parteien14. wurde. Ein mittelbarer Einfluss ist damit jedoch nicht ausgeschlossen, sondern liegt – wie zu zeigen sein Ideen treten aber nicht spontan in Verfassungstexte wird – vielmehr nahe angesichts der Vorbereitung des ein, sondern sie brauchen Menschen, die sie unter- Verfassungsentwurfs für den Parlamentarischen Rat stützen, selbst dann, wenn sie völlig selbstverständ- durch den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. lich sind. Häufig ist ihr Weg in die Verfassung ver- nebelt und gewunden, ihn zu erhellen dient dieser 2.1. Herrenchiemsee (1948) Beitrag, indem die (Vor-)Geschichte einer Idee re- konstruiert und eine Frage beantwortet wird: Wer Im Herrenchiemseer Entwurf (HChE) sind politische hat Art. 21 GG erdacht? Parteien in Art. 47 geregelt. Die Wesensverwandt- schaft zwischen Art. 47 HChE und Art. 21 GG ist of- 2. Gegen den Strom der Zeit: von Freiburg über fenkundig: Beide Normen sehen die Freiheit der Par- Chiemsee bis nach Bonn (1947-1949) teienbildung, ein innerparteiliches Demokratiegebot, ein gerichtliches Parteiverbotsverfahren und ein Par- Die badische Verfassung vom 18. Mai 1947 ist die teiengesetz vor. Lediglich das Transparenzgebot des erste europäische Verfassung, die eine umfangreiche Art. 21 I 4 GG findet sich in Art. 47 HChE nicht. Ins- Regulierung des Parteiwesens vorgesehen hat. Die gesamt betrachtet lässt sich daraus aber schließen, bayerische Verfassung des Vorjahres enthielt nur dass hier unterschiedliche Formen dasselbe Wesen eine Vorschrift (Art. 15), der zufolge verfassungs- teilen. Eine gewisse Kontinuität der Beratungen des feindliche „Wählergruppen“ von der Teilnahme an Herrenchiemseer Verfassungskonvents und des Parla- Wahlen und Abstimmungen ausgeschlossen waren mentarischen Rates in Bonn spiegelt sich auch in der (sog. „Parteiquarantäne“). Der Sache nach handelte es persönlichen Rolle Carlo Schmids (SPD), der nach sich also weder um eine spezifische Norm zu politi- seiner Teilnahme am Verfassungskonvent die Debatte schen Parteien noch um ein echtes Parteiverbot. Im über politische Parteien in der Bonner Pädagogi- Gegensatz zu dem bayerischen Vorbild widmet die schen Akademie unverzüglich in Gang brachte. Am badische Verfassung den politischen Parteien einen 8. September 1948, zwei Wochen nach dem Schluss ganzen aus vier Artikeln bestehenden Abschnitt (Ab- der Arbeiten auf Herrenchiemsee, legte Carlo Schmid vor dem Parlamentarischen Rat den notwen- 13 J.W. Müller, Militant Democracy, in: Rosenfeld/Sajo (Hrsg.), digen Inhalt einer verfassungsrechtlichen Norm über The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, 1253 (1261). politische Parteien dar. 14 K.B. v. Doemming/R.W. Füsslein/W. Matz, Entstehungsgeschich- 15 So S. Rixen, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz und eu- te der Artikel des Grundgesetzes, JöR NF 1951, 202 (207). ropäisches Parteienrecht, Kommentar, 2009, Einl. Rn. 20 a.E.

61 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Eine Untersuchung der Entstehung des Art. 21 GG reits ein Artikelentwurf21 erörtert, der anhand der Er- kann daher nur unter Berücksichtigung der Arbeiten gebnisse der ersten zwei Sitzungen abgefasst wurde: von Herrenchiemsee erfolgen. Politische Parteien Art. 33 waren eines der Hauptprobleme, die die Herren- (1) Wahlvorschläge können nur von politischen chiemseer Väter beunruhigt hatten. Zwei der drei Parteien eingereicht werden. Unterausschüsse, nämlich Unterausschuss I („Grund- (2) Die Bildung politischer Parteien ist frei. Durch satzfragen“) und Unterausschuss III („Organisations- Bundesgesetz werden Bestimmungen gegen solche fragen“), beschäftigten sich lange mit der verfas- Parteien getroffen, die sich die Beseitigung der sungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien. freiheitlichen und demokratischen Grundordnung Nur Unterausschuss III kann aber als eigentlicher zum Ziel gesetzt haben. Das Gesetz darf die Bil- Vater des Art. 47 HChE (und damit als „Großvater“ dung oder Betätigung einer Partei nicht von ihrer des Art. 21 GG) gelten. Aus den Verhandlungen des vorherigen Zulassung abhängig machen und darf das Recht, beschränkende Maßnahmen zu treffen, Unterausschusses I ging nur Art. 47 II 2 hervor, der nur dem Staatsgerichtshof einräumen. das Verbot eines parteipolitischen „Blocksystems“ (3) Durch Bundesgesetz kann ferner bestimmt wer- vorsah, jedoch später vom Parlamentarischen Rat ge- den, dass Wahlvorschläge der Parteien von deren strichen wurde. Das Übrige hat seinen Ursprung in eingeschriebenen Mitgliedern im Wege der Vor- Art. 33 des vom Unterausschuss III beschlossenen wahl beschlossen sein müssen. Verfassungsentwurfs. (4) Sieht das Bundeswahlgesetz die Verhältniswahl vor, so kann es bestimmen, dass Parteien, die nicht Das Problem der politische Parteien wurde sofort in wenigstens 5 v.H. aller gültiger Stimmen auf sich der ersten Sitzung des Unterausschusses (am 13. Au- vereinen, keinen Sitz erhalten und dass auf zusam- gust) in Angriff genommen16. Hermann Brill (SPD) mengerechnete Reststimmen einer Partei nicht schlug folgende Willensäußerung vor17: mehr Sitze entfallen, als die Partei in den Wahlkrei- sen unmittelbar erlangt hat. Der Verfassungsausschuss ist zu der Überzeugung gekommen, dass die Konstituierung aller Staatsor- Die Ähnlichkeit mit der badischen Verfassung ist of- gane ohne eine gesetzliche Regelung des Partei- fenkundig: Freiheit der Parteienbildung, ein gericht- rechts unmöglich ist. Er empfiehlt deshalb zu prü- liches Organ (Staatsgerichtshof), das die Freiheit der fen, ob etwa die Vorschriften der Art. 118 bis 120 Parteien einschränken kann, wahlgesetzliche Vor- der badischen Verfassung eine geeignete Diskussi- schriften, die die viel befürchtete Parteienzersplitte- onsgrundlage darstelle. rung vermeiden sollen. Brill empfahl ebenfalls, Vorschriften über die Kan- Otto Suhr erhob den Einwand, dass Absatz II hinter didatenaufstellung (am Beispiel der amerikanischen dem Notwendigen zurückbleibe, da er nur negative pre-elections) zu erlassen, so dass auch das Vorfeld Verpflichtungen für politische Parteien vorschrieb. der Wahlen „unter öffentliche Kontrolle“ gestellt Im Gegensatz dazu plädierte Suhr für „die Schaffung werden könne. Otto Suhr (SPD) befürwortete eine eines Parteiengesetzes, das auch positiv die staats- Regelung, nach der nur politische Parteien berechtigt rechtlichen Aufgaben und Pflichten der Parteien seien, Wahlvorschläge einzureichen, da er eine Un- festzulegen habe“22. Offensichtlich zitierte Suhr, der terwanderung durch SED-nahe Organisationen be- Berliner Delegierte, fast wörtlich einen Artikel aus fürchtete. Später wurden die Artikel der badischen dem am 22. April 1948 vorgelegten Entwurf der Verfassung verlesen und der Unterausschuss be- Berliner Verfassung, der folgendermaßen lautete: schloss, die Willensäußerung zusammen mit den „Die staatsrechtlichen Aufgaben der Parteien und Vorschlägen von Brill und Suhr anzunehmen sowie ihre Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit werden zusätzlich die Freiheit der Parteienbildung zu ge- durch ein Gesetz über das Parteiwesen bestimmt“ währleisten18. Die Verhandlungen setzten sich in der (nachgehend Art. 27 der Berliner Verfassung von zweiten (14. August)19 und fünften Sitzung (17. Au- 1950)23. Auch in die Diskussion um Maßnahmen ge- gust)20 fort. Während der fünften Sitzung wurde be- gen verfassungsfeindliche Parteien schaltete sich Suhr ein, indem er den Unterausschuss darauf auf- 16 Unveröffentlicht. Bibliothek des Deutschen Bundestages, merksam machte, dass auch „praktische antidemo- M70250, Protokolle der Sitzungen der Unterausschüsse, Un- terausschuss III: Organisationsfragen [im Folgenden: Prot. Ua 20 Ebd., 84 f. III], 1-16. 21 Ebd., 105 f. 17 Ebd., 10. 22 Ebd., 84. 18 Ebd., 11. 23 Vgl. H.J. Reichhardt (Hrsg.), Die Entstehung der Verfassung 19 Ebd., 17 f. von Berlin, 2. Bd., 1990, 1956 ff.

62 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze kratische Betätigung“ und nicht nur bloße Zielset- satz I anders formuliert. Im „kommentierenden Teil“ zung zu verfolgen sei. Der Unterausschuss nahm seines Berichtes27 erklärte der Unterausschuss: Suhrs Vorschläge an. Im Anschluss wurde die Rolle Wahlvorschläge sollen nicht von Gewerkschaften, des Verfassungsgerichtshofes diskutiert. Auch wenn Kulturbünden und ähnlichen Gruppen eingebracht Suhr sich gegen eine politische Betonung des Ge- werden können, sondern nur von Gruppen, die sich richtshofes aussprach, blieb der Ausschuss bei der dem zu schaffenden Parteiengesetz unterstellen. Der im Entwurf (und zuvor in der badischen Verfassung) Ausdruck „Parteien“ läßt sich natürlich, wenn dies niedergelegten Vorstellung, die „Beschränkung einer nötig erscheint, vermeiden. Parteitätigkeit“ dem Staatsgerichtshof zu überlassen, Art. 47 HChE weicht zudem darin ab, dass er weiter- wenngleich mit einer wichtigen Spezifizierung: auf gehend die sog. „Blockpolitik-Klausel“ (Art. 47 II 2 Vorschlag von van Doemming wurde der Tätigkeits- HChE)28 vorsieht, die als Folge der langen und hitzi- bereich des Verfassungsgerichtshofes auf das Partei- gen Debatte im Unterausschuss I29 Eingang in den verbotsverfahren beschränkt. Leusser warf die Frage Normtext fand. Für eine Rekonstruktion der Entste- auf, wer ein entsprechendes Verfahren vor dem Ge- 24 hung des Art. 21 GG, in den diese Klausel nicht auf- richtshof einleiten können sollte . Der Ausschuss genommen wurde, kann eine nähere Auseinanderset- folgte in Teilen dem bayerischen Beispiel, indem er zung mit der Arbeit des Unterausschusses I unter- zwar der Regierung das Antragsrecht zuerkannte, bleiben. Allerdings sind dessen Beratungen in zwei- aber (auf Vorschlag von Küster) dieses von der not- erlei Hinsicht durchaus beachtenswert. wendigen Zustimmung des – politisch „neutraler“ wirkenden25 – Bundesrates abhängig machte. Zunächst gilt dies für Hermann Brills „Vorschlag ei- nes Gesetzes über das politische Parteiwesen“30. Der Als Ergebnis wurde folgende Fassung dem Plenum 26 Inhalt des in der 6. Sitzung des Unterausschusses am vorgelegt : 19. August vorgelegten Vorschlages nahm die Leitli- Art. 33 nien des Parteiengesetzes von 1967 vorweg: (1) Wahlvorschläge können nur von politischen 1. Eine demokratische Staatspraxis ist ohne ein gut Parteien eingereicht werden. funktionierendes Parteiwesen unmöglich. Deshalb (2) Die Bildung politischer Parteien ist frei. ist es aus allgemeinen Gründen notwendig, für das (3) Durch Bundesgesetz können die Rechtsverhält- Verfassungselement der politischen Partei durch nisse der Parteien und ihre Mitwirkung bei der politi- Gesetz eine Rechtsform zu finden. schen Willensbildung näher geregelt werden. Das 2. Das Gesetz hat zuerst zu verhüten, dass politische Gesetz kann insbesondere bestimmen, daß Wahl- Parteien, die die Errichtung einer Diktatur erstreben, vorschläge einer Partei von den Mitgliedern im sich krimineller Mittel bedienen. Um das zu errei- Wege der Vorwahl beschlossen sein müssen. chen, sind die entsprechenden Vorschriften des Straf- (4) Das Bundesverfassungsgericht kann Parteien, gesetzbuchs unter dem Gesichtspunkt der politischen die sich nach der Art ihrer Tätigkeit die Beseiti- Partei zu qualifizieren und neue Tatbestände zu gung der freiheitlichen und demokratischen Grund- schaffen, die sich gegen Kampfverbände richten. ordnung zum Ziel gesetzt haben, auf Antrag der Bun- desregierung, der der Zustimmung des Bundesrats 3. Ein besonderes Zulassungsverfahren für politische bedarf, für verfassungswidrig erklären. Das Gericht Parteien soll nicht stattfinden; Parteibildungen kön- kann einstweilige Anordnungen gegen solche Partei- nen nach den allgemeinen Bestimmungen des Ver- en treffen. Ohne verfassungsgerichtliche Entschei- einsrechts frei erfolgen. dung kann keine Behörde gegen eine Partei wegen 4. Alle politischen Parteien müssen eine demokrati- verfassungswidriger Bestätigung einschreiten. sche Organisation besitzen. (5) Sieht das Bundeswahlgesetz die Verhältniswahl a) Satzung und Programm müssen in gewissen Ab- vor, so kann es bestimmen, daß Parteien, die nicht ständen neu bestätigt oder revidiert werden, wenigstens 5 v.H. aller gültiger Stimmen auf sich b) die Vorstände müssen jährlich in geheimen vereinigten, keinen Sitz erhalten und daß auf zu- Wahlen neu bestellt werden, sammengerechnete Reststimmen einer Partei nicht 27 Veröffentlicht in P. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948- mehr Sitze entfallen, als die Partei in den Wahlkrei- 1949, Akten und Protokolle, 2. Bd., 1981, 279 ff. sen unmittelbar erlangt hat. 28 „Abreden der Parteien, durch die die Abgeordneten in ihrer Stimmabgabe so gebunden werden, als ob in der abstimmen- Weitestgehend entspricht dies Art. 47 HChE, abge- den Körperschaft nur eine Partei vertreten sei, sind verboten“. sehen von zwei Unterschieden: Zum einen ist Ab- 29 Unveröffentlicht. Bibliothek des Deutschen Bundestages, M70257, Protokolle der Sitzungen der Unterausschüsse, Un- 24 Prot. Ua III, 84 f. terausschuss I: Grundsatzfragen [Im Folgendem: Prot. Ua I] 25 Ebd., 85. 62-68; 82-93; 179-182. 26 Vgl. ebd., 105 f. 30 Vgl. Prot. Ua I, 180 ff.

63 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg.

c) Vorstände und die übrigen Parteiorgane müssen politische Parteien auszuarbeiten33. Auf Herren- auf öffentlichen Tagungen von Parteidelegierten poli- chiemsee war Hermann Brill ein Protagonist. Es ist tische und finanzielle Rechenschaft ablegen. also höchstwahrscheinlich, dass auch die „Grundge- 5. Bei politischen Wahlen sind alle Parteien den danken“ des Parteienartikels auf Brill zurückgehen. gleichen Bedingungen zu unterwerfen. a) Wahlkandidaten müssen in Vorwahlen durch die Darüber hinaus berührte jene Debatte des Unteraus- Urabstimmung der Mitglieder bestimmt werden. Bei schusses I viele wichtige Punkte, die auch später wie- Verhältniswahlen mit geschlossenen Listen sind sie der relevant wurden: das „Parteimonopol“ bei Wahl- in der Reihenfolge der Höchstbestimmung in den vorschlägen, der etwaige Unterschied zwischen Ver- Vorwahlen auf den Wahlvorschlag zu setzen. fassung und Verfassungswirklichkeit bei der Regulie- b) Für jeden Kandidaten ist ein Höchstbeitrag an rung der Politik, die Chancengleichheit der Parteien. Wahlkosten zu bestimmen. c) Behinderung der Wahlfreiheit durch Versamm- Nur die Diskussion über DDR-Blockpolitik erwies lungssprengung, Bedrohung der Redner, Zerstörung sich als nicht sehr weitblickend. In der Vorstellung des von Partei- und Wahllokalen ist besonders unter Stra- Unterausschusses verfolgte das Instrument des Partei- fe zu stellen (Ideal- und Realkonkurrenz in den ein- verbotes eigentlich den politischen Zweck, die Demo- schlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs). kratie gegen die kommunistische Partei zu verteidi- d) Splitterparteien sind durch das Erfordernis einer gen, nicht gegen neonazistische Umtriebe. Die Ver- Mindestzahl von Wählerstimmen für die Zuteilung handlungen lassen daran keinen Zweifel: die Herren- eines Mandats von der Teilnahme an der Volksver- chiemseer Väter fürchteten sich davor, dass die KPD tretung auszuschließen. Sie können, nachdem sie und DDR-nahe Massenorganisationen auch in der sich beworben haben, aufgelöst werden. BRD erfolgreich sein könnten. Anders jedoch die ba- 6) Die Durchführung der Vorwahlen der Wahlkan- didaten und die Finanzwirtschaft der Partei ist dische Verfassung, die Vorbild für Art. 47 HChE war. durch öffentliche Behörden zu kontrollieren. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Hauptfiguren 7) Zuwiderhandlungen gegen die strafbaren Tatbe- der Herrenchiemseer Debatte über politische Parteien stände des Gesetzes über das politische Parteiwe- Otto Suhr und Hermann Brill waren. Carlo Schmid sen sind durch Schwurgerichte abzuurteilen. spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Ihm Brills Vorschlag setzte eigentlich die fünf „Grundge- kommt aber das Verdienst zu, die Kontinuität zwi- danken“ um, die in der Sitzung am 18. August vor- schen dem Verfassungskonvent und dem Parlamen- gestellt wurden31: tarischen Rat gewährleistet zu haben. 1. Aus dem politischen Verfassungselement Partei Zuerst war es Otto Suhr, der vorschlug, dass die soll eine juristische Figur des Verfassungsrechts ge- Verfassung auf ein einfaches Gesetz über politische macht werden. Parteien verweisen sollte. Wie oben bereits erwähnt, 2. Es soll eine klare Scheidung zwischen der wirkli- liegt es nahe, dass diese Idee dem Berliner Verfas- chen politischen Partei und der verbrecherischen sungsentwurf von 1948 entlehnt ist. Es verspricht Organisation bestehen. 3. Das Prinzip der Vereinsfreiheit soll bei der Par- daher weitergehende Erkenntnisse, die Arbeiten des teibildung aufrecht erhalten bleiben. Verfassungsausschusses der Berliner Stadtverordne- 4. Es ist eine demokratische Parteiverfassung zu tenversammlung näher zu beleuchten. fordern. In der 42. Sitzung des Verfassungsausschusses (am 5. Das Verfahren bei politischen Wahlen ist für alle 2. März 1948)34 wurde der damalige Art. 8 des Ver- Parteien nach gleichen Bedingungen zu ordnen. fassungsentwurfs angenommen, der lautete: „Die Besonderes Augenmerk muss hier den Regeln über staatsrechtlichen Aufgaben der Parteien und ihre die Transparenz der Parteifinanzen gelten, die letzt- Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit bestimmt ein lich auch in Art. 21 I 4 (Fassung von 1949) enthalten Gesetz über das Parteiwesen“35. Der originelle Arti- sind. Bei aufmerksamer Lektüre der Protokolle zeigt sich die entscheidende Rolle von Hermann Brill, der 33 Vgl. ebd., 91: [Dr. Schmid] „Die hinsichtlich eines künftigen in beiden Unterausschüssen erschien, in den Sitzun- Parteiengesetzes dargelegten Grundgedanken seien außeror- gen am 18. und 19. August lange Reden hielt32 und dentlich beachtlich, so dass er Dr. Brill bitte, den Entwurf ei- der von Carlo Schmid beauftragt wurde, die „fünf nes entsprechenden Verfassungsartikels vorzubereiten“. 34 Gebote“ umzusetzen und einen Artikelentwurf über Vgl. H.J. Reichhardt (Hrsg.), Die Entstehung der Verfassung von Berlin, 2. Bd., 1990, 1309 f. 35 Der Absatz wurde am 22. April stilistisch umformuliert: „Die 31 Vgl. ebd., 91. Die Liste wurde aber von Brill am 19. August staatsrechtlichen Aufgaben der Parteien und ihre Pflichten ge- vorgelesen, ebd., 180. genüber der Öffentlichkeit werden durch ein Gesetz über das 32 Vgl. etwa ebd., 85 ff. Parteiwesen bestimmt“. Vgl. ebd., 1888.

64 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze kelvorschlag enthielt aber auch einen zweiten Absatz: diesem Zusammenhang erstellte Hoegner am 8. Mai „Die Statuten der Parteien müssen erkennen lassen, 1947 eine Liste der Punkte, die diskutiert werden auf Grund welchen Verfahrens die Wahlvorschläge sollten. Punkt C.5 lautete „Presse-, Vereins-, und aufgestellt werden“. Die Formulierung wurde von Versammlungswesen“. Brill korrigierte: „das Presse- Friedrich-Wilhelm Lucht (SPD) vorgeschlagen. Der und Parteiwesen“43. Drittens geht Brills Interesse für eigentliche Urheber aber war Suhr. In der Sitzung er- die Regulierung der Parteien mindestens bis 1938 zu- innerte Kurt Landsberg (CDU) daran, dass Suhr „bei rück. Damals war Brill Mitglied der Untergrundorga- Einbringung der Verfassungsvorlage“ ausführte, „dass nisation „Deutsche Volksfront“, dessen politisches das gesamte politische Leben auf den Parteien basiere Manifest das „Zehn-Punkte-Programm“ war. Brill und dass in den Verfassungen früherer Jahrzehnte nie- schrieb einen Kommentar dazu, dessen Titel „Frei- mals von den Parteien die Rede gewesen sei“36. Suhr heit!“ lautete44. Dort findet sich eine erstaunliche wurde von Art. 18 des SPD-Verfassungsentwurfs in- Passage45, die es wert ist, wiedergegeben zu werden: 37 spiriert . Auf Vorschlag Landsbergs wurde Absatz 2 Die Freiheit ist erst gesichert, wenn mehrere Parteien jedoch gestrichen, da „solche Einzelheiten“ dem künf- ein politisches Recht auf politische Wirksamkeit im 38 tigen Parteiengesetz zu überlassen gewesen wären . Staate haben. Daraus ergibt sich, dass die Parteien Nun war dieser Vorschlag Suhrs noch ziemlich vage ihrer Natur nach etwas anderes sind als Vereine. und formalistisch. Hermann Brill aber füllte ihn mit Der Liberalismus stellte sie fälschlich den Vereinen gleich, die Diktatur identifizierte fälschlich Partei inhaltlicher Substanz. Hermann Brills Vorreiterrolle und Staat. Wir werden durch ein Verfassungsgesetz mag auch durch seine außerordentliche Lebenserfah- über das Parteiwesen die Parteien dahin stellen, rung erklärt werden: promovierter Jurist, Mitglied wohin sie gehören: in die Gesellschaft – ihre Mit- der SPD, Widerstandskämpfer, Gefangener im KZ glieder vor Autokratie, ihre Finanzen vor Korruption, Buchenwald39. Brill hatte sehr klare Vorstellungen ihre Führer vor Verleumdung, das Volk selbst aber über die Regulierung politischer Parteien und seine vor dem Unfug der Parteisplitterungen schützen. Reden skizzierten das künftige Parteienrecht der Dieses Zitat spricht für sich selbst. Es ist der jüngste BRD. Daher lohnt es sich, in der gebotenen Kürze Nachweis über das Projekt eines Verfassungsartikels auf die Person Brill einzugehen. über politische Parteien, der auffindbar ist. Das starke persönliche Interesse Brills für das ver- Der Vollständigkeit halber zu erwähnen sind auch fassungsrechtliche Problem der politischen Parteien die „Richtlinien für eine künftige deutsche Verfas- lässt sich anhand weiterer Fakten belegen: sung“, die von Carl Spiecker im August 1947 ver- Erstens hat Brill ein Tagebuch über die Beratungen fasst wurden und nach denen Parteien „nach demo- auf Herrenchiemsee geführt40. Am Schluss des Tage- kratischen Prinzipien“ organisiert sein sollten46. Es buches verzeichnete Brill seine – sozusagen – „Her- ist unklar, welchen Einfluss diese oder andere Richt- renchiemseer Siege“, unter denen die „Regelung des linien auf Herrenchiemsee tatsächlich entfalteten47. Parteiwesens“ nachzulesen ist41. Zweitens hatte Brill Sicher zeugen sie davon, wie verbreitet der Wunsch schon an der Ausarbeitung eines Verfassungsent- nach demokratisch eingehegten Parteien im Nach- wurfs mitgewirkt, als er 1947 zusammen mit Fritz kriegsdeutschland war. Eberhard die Erstellung der „Vorschläge für eine 2.2. Von Herrenchiemsee nach Bonn: zur Rolle Verfassungspolitik des Länderrates“ förderte42. In des Parlamentarischen Rates (1948-1949) 36 Ebd., 1309. Die Arbeiten des Parlamentarischen Rates in Bonn 37 Vgl. ebd., 713. Der Artikel lautete: „(1) Das Recht, Wahlvor- sind schon ausführlich studiert und beschrieben wor- schläge einzureichen, steht nur den politischen Parteien zu. (2) Alles nähere bestimmt ein Gesetz über das Parteiwesen“. Der Entwurf der SPD wurde im September 1947 abgefasst. 43 Vgl. W. Werner, Akten zur Vorgeschichte der BRD 1945- 38 Vgl. ebd. 1949, 2. Bd., 1979, 428 ff. Brills Vorschlag war aber nicht er- 39 Vgl. dazu S. Kurtenacker, Der Einfluss politischer Erfahrungen folgreich und wurde nicht in Glums Schlussentwurf angenom- auf den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2017, 24 ff. men (vgl. W. Werner, Akten zur Vorgeschichte der BRD 1945-1949, 3. Bd., 1982, 990 ff.). 40 Vgl. R. Griepenburg, Hermann Louis Brill: Herrenchiemseer 44 Tagebuch 1948, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1984 In H.L. Brill, Gegen den Strom, 1946. (34), 4, 584. 45 Ebd., 71. 41 Ebd., 622. 46 Vgl. M. Morlok, Art. 21, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kom- 42 Bei dem „Deutschen Büro für Friedensfragen“. Vgl. S. Kur- mentar, 3. Aufl. 2015 unter Hinweis auf die 2. Aufl. 2006, tenacker, Der Einfluss politischer Erfahrungen auf den Ver- Rn. 8. fassungskonvent von Herrenchiemsee, 2017, 189 ff. 47 So implizit Morlok (ebd.).

65 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg. den48, so dass es an dieser Stelle ausreicht, einen all- lungsbereich für den einfachen Gesetzgeber (d.h. der gemeinen Überblick zu geben. Dabei gilt der Fokus Gegenstand des künftigen Parteiengesetzes) um- der Frage: Hat der Parlamentarische Rat neue Ele- schrieben wurde. Die wichtigste Verbesserung war mente in die Debatte über politische Parteien einge- aber, dass der AllRA den Grundsatz der innerpartei- führt? Nach hier vertretener Ansicht muss dies ver- lichen Demokratie ausdrücklich in die neue Fassung neint werden. Alle wesentlichen Gesichtspunkte einführte. Art. 47 HChE enthielt einen solchen Grund- wurden schon auf Herrenchiemsee diskutiert. satz nur implizit, indem er das (demokratische) Kan- didatenaufstellungsverfahren als Hauptgegenstand Selbst Art. 21 I 4 GG ist kein originäres Produkt des eines Parteiengesetzes betrachtete. Der Parlamentari- Parlamentarischen Rates. Wie bereits erwähnt, griff sche Rat strich den Bezug auf „Vorwahlen“, da dies die von Brockmann vorgeschlagene Rechenschafts- als „selbstverständlich“ erachtet wurde52. Dagegen pflicht die Rede Schmids vom 8. September 1948 bemerkte der AllRA, dass die bloße Forderung nach auf49, der wiederum auf das zurückgriff, was zwei einem Parteiengesetz den Spielraum des Gesetzge- Wochen zuvor bereits Hermann Brill auf Herren- bers zu breit gemacht hätte. Daher wurde der Grund- chiemsee ausgeführt hatte50. satz der innerparteilichen Demokratie als Grenze des In den stenographischen Protokollen des Parlamenta- gesetzgeberischen Spielraums und des künftigen In- rischen Rates findet sich keine Generaldebatte über haltes des Parteiengesetzes ausgestaltet. Dies ist der politische Parteien. Die ständige Umformulierung Anmerkung53 des AllRA zu entnehmen, in der auch des Artikelentwurfs zwischen September und De- die konkrete Bedeutung des innerparteilichen Demo- zember 1948 (sieben unterschiedliche Fassungen in kratiegebots erläutert wurde: drei Monaten) und die ausbleibende Verhandlung Der Gesetzgeber sollte sich bei einer Regelung der offenbaren, dass die Arbeiten des Parlamentarischen inneren Ordnung der Parteien darauf beschränken, Rates eher in einer Verfeinerung als in einer Kreati- dass ihre innere Ordnung demokratischen Grund- on bestanden. Dabei ist aber anzuerkennen, dass die- sätzen entspricht. (z.B. Wahl der Organe der Par- se Verfeinerung sehr erfolgreich war: die Bezüge zur teien durch regelmäßig wiederkehrende geheime Blockpolitik und zum Wahlsystem wurden in weiser Wahlen, Notwendigkeit der Aufstellung von Sat- Voraussicht gestrichen, der Stil der Formulierung zungen und Programmen, die einer Abstimmung wesentlich verbessert. sind. Aufstellung von Kandidaten auf Grund von Vorschlagslisten, auf die die Mitglieder Einfluss In der Sitzung des Allgemeinen Redaktionsausschusses haben sollen, Ablegung von Rechenschaftsberich- (im Folgenden: AllRA) vom 13. Dezember 1948 ten über die politische Tätigkeit und der Finanz- kann jedoch ein Wendepunkt für die inhaltliche Aus- wirtschaft gegenüber den Mitgliedern). richtung der Verfassungsnorm gesehen werden. 51 Leider gibt es keine stenographischen Protokolle jener Hans Hugo Klein hebt insoweit zu Recht hervor , Sitzung, sondern nur die oben wiedergegebene „An- dass die Vorschrift in der dort beschlossenen neuen merkung“. Deswegen lässt sich nicht sagen, auf wen Fassung eine etwas andere Bedeutung erhalten hat, konkret Art. 21 I GG in seiner endgültigen Fassung indem die „Mitwirkung bei der politischen Willens- eigentlich zurückzuführen ist. Fest steht aber, dass der bildung des Volkes“ zur verfassungsrechtlichen Auf- AllRA aus drei Mitgliedern bestand: von Brentano gabe der Parteien erklärt wurde, wohingegen in der (CDU), Zinn (SPD) und Dehler (FDP). In der Sit- Vorfassung mit dieser Formulierung noch der Rege- zung des Hauptausschusses vom 15. Dezember 1948 48 Vgl. K.B. v. Doemming/R.W. Füsslein/W. Matz, Entstehungs- wurde der Vorschlag des AllRA für Art. 21a I ange- geschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR NF 1951, 202; nommen und Art. 21a II wurde zusammengeführt H.H. Klein, Art. 21, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz aus dem Vorschlag von Fritz Eberhard (SPD) zu- Kommentar, 2012, Rn. 108 ff.; W. Henke, Art. 21, in: Kahl/ Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, sammen mit der CDU/CSU Fraktion und dem Vor- [1991], Rn. 5 f.; C. Gusy, Art. 21, in: AK-GG, 2001, Rn. 13 ff.; schlag Dehlers für einen Art. 21a III. In dieser Sit- M. Morlok, Art. 21, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommen- zung nahm Art. 21 GG grundsätzlich schon seine tar, 3. Aufl. 2015, Rn. 8 f. Form an, mit Ausnahme zweier noch erfolgter Ände- 49 So M. Morlok, Art. 21, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kom- rungen: Am 5. Mai 1949 strich der Hauptausschuss mentar, 3. Aufl. 2015, Rn. 9. auf Vorschlag des AllRA das „oder“ zwischen „frei- 50 Vgl. auch K.H. Naßmacher, Ordnungsrahmen für eine plurale Parteiendemokratie. Das Beispiel des politischen Geldes, in: Keynes/Schumacher (Hrsg.), Denken in Ordnungen in der Po- 52 So Katz (SPD) in der Sitzung des Organisationsausschusses litik, 1997, 37. vom 24. September. 51 H.H. Klein, Art. 21, in Maunz /Dürig (Begr.), Grundgesetz 53 Allgemeiner Redaktionsausschuss, Stand 13. Dezember 1948 Kommentar, 2012, Rn. 118. (Drs. 370).

66 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze heitliche“ und „demokratische“ in Art. 21a II. Am Außerdem wünschte Daty eine gerichtliche Kontrolle 6. Mai 1949 nahm das Plenum Brockmanns Vor- der Parteien. Andere Briefe Datys sind in den Quel- schlag an und fügte Satz 4 in den ersten Absatz ein; len der Verfassung des Landes Baden 194759 nach- die endgültige Fassung ist aber das Ergebnis des Än- zulesen: Sie zeugen von einer entscheidenden Rolle derungsvorschlages Zinns (SPD), der am 8. Mai des Präfekten im verfassungsgebenden Prozess des 1949 gebilligt wurde. Landes Baden. 2.3. Der verfassunggebende Sous-préfet (1946-1947) Daty war ein Beamter, der in einer hierarchischen Organisation arbeitete, und es ist anzunehmen, dass Die badische Verfassung hatte also bedeutenden er unter Anregung seiner Vorgesetzten handelte60. Einfluss auf die Ausarbeitung des Art. 21 GG. Nun Die ursprüngliche Anweisung war direkt aus Paris stellt sich die Frage: „Wer hat Abschnitt IX der badi- gekommen. Am 24. April 1946 hatte die (erste) fran- schen Verfassung erstellt?“. zösische Nationalversammlung eine Entschließung Der IX. Abschnitt erschien erst im Verfassungsent- angenommen61, in der die Regierung aufgefordert wurf54, der im Dezember 1946 vom badischen Justiz- wurde, „genaue Anweisungen an die Leitung der ministerium erstellt wurde. Die badische „beratende französischen Verwaltung in Baden-Baden“ zu ertei- Landesversammlung“ nahm den Abschnittsentwurf len, um „die für die Entwicklung des demokrati- an, fügte aber eine wichtige Änderung ein: nämlich schen Geistes unentbehrliche Neubildung der Ge- ein echtes Parteiverbot, während der Ministerialent- werkschaften und der genehmigten politischen Par- wurf nur eine „Parteiquarantäne“ nach dem Beispiel teien“ zu begünstigen62. Im Dezember 1945 erließ der bayerischen Verfassung vorsah55. Nach Feuchte56 die französische Militärregierung in Baden einen Be- war der Ministerialdirektor Paul Zürcher Herausge- schluss (Ordonnance)63 über die Neubildung demo- ber des von seinem Mitarbeiter Theodor Maunz er- kratischer und antifaschistischer politischer Parteien, stellten Abschnitts IX. Es ist aber unwahrscheinlich, in dem die Militärregierung sich eine strenge Kon- dass Abschnitt IX ohne den Beitrag von Gabriel trolle über die „deutlich demokratische Leitung der Daty entstanden wäre. Gabriel Daty war ein sous- Partei“ vorbehielt. préfet attaché bei der „Délégation Supérieure pour le Von daher ergibt sich ein besonderes Interesse der Pays de Bade“ unter dem Gouverneur Pierre Pène, Franzosen für die deutschen Parteien, in dem sich der mit der Führung des „Départment des Affaires eine Debatte, die in Frankreich in den Jahren 1944- administratives“ betraut wurde. 1945 stattfand, widerspiegelte (dazu im Folgenden). Am 2. November 1946, einen Monat vor der Erstel- lung des Ministerialentwurfs, schrieb Daty einen Brief an die badische Regierung, in dem er eine verfas- sungsrechtliche Regulierung der politischen Parteien anforderte57. Insbesondere war dem Präfekten die in- nerparteiliche Demokratie ein wichtiges Anliegen: 58 Ebd.; auch wiedergegeben in: P. Feuchte (Hrsg.), Quellen der Les partis ne seront pas reconnus sur le plan consti- Verfassung des Landes Baden 1947, 1. Bd., 1999, 135. tutionnel en tant qu’organe de l’Etat ou organisme 59 Vgl. P. Feuchte (Hrsg.), Quellen der Verfassung des Landes administratif. L’individu a une opinion politique Baden 1947, 1. Bd., 1999, 239 f. qu’il manifeste par son vote et ce n’est pas le parti 60 Nichtsdestoweniger hatte Daty auch ein persönliches wissen- qui intervient en son nom dans le fonctionnement schaftliches Interesse: er veröffentlichte ein Buch über die des institutions démocratiques. L’Organisation du polnische Verfassung (G. Daty, La Constitution Polonaise, parti devra être inspirée par les principes démocra- 1933), in dem er Bedenken über die Parteienzersplitterung äu- ßerte und für das konstruktive Misstrauensvotum plädierte tiques: élections à tous les stades des membres des (ebd., 43). bureaux, aucune autorité supérieure du parti ne de- 61 vant désigner les membres des échelons inférieurs. Journal officiel de la République française. Débats de l'As- semblée constituante, 55, 1946, 2208 f. Les partis devront tenir des congrès annuels58. 62 “faire parvenir des instructions précises à la direction de l'ad- ministration française de Baden-Baden, afin dè favoriser la re- 54 P. Feuchte (Hrsg.), Quellen der Verfassung des Landes Baden constitution et l'action des syndicats et des partis politiques 1947, 1. Bd., 1999, 135 ff. autorisés, indispensables au développement de l'esprit démo- cratique” 55 Ebd., 434 ff. 63 Ordonnance Nr. 23 (13. Dezember 1945), in: Journal Officiel 56 Ebd., 135. du Commandement en Chef Français en Allemagne, 9, 1945 57 Erst veröffentlicht in F.R. Pfetsch, Verfassungspolitik der (21. Dezember), 54. Vgl. auch Arrêté Nr. 26 des gleichen Ta- Nachkriegszeit, 1985. 183 f. ges (ebd., 58).

67 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg.

3. Von Freiburg bis nach Paris: der gescheiterte gehenden Eingriff in die Vereinigungsfreiheit sah Versuch eines „französischen Art. 21“ (1944-1946) wie er bei totalitäreren Staaten zu finden sei71. Guy Mollet, der kurz darauf Generalsekretär der SFIO 3.1. Die Debatte in der französischen National- wurde, wies diese Argumente zurück und führte aus, versammlung (1945-1946) dass ganz im Gegenteil das „statut des partis“ die Par- Es steht zu vermuten, dass es Verbindungen zwi- teienfreiheit durch die Wahrung der politischen Chan- schen den Worten Datys und den Verhandlungen der cengleichheit und des Mehrparteiensystems sichern französischen Nationalversammlung 1945-1946 gibt. würde. Nur die Parteien, die eine Bedrohung für die Am 30. November 1945 fand die erste Sitzung des „demokratischen Freiheiten“ seien, hätten „begrenzt“ „Verfassungsausschusses“ innerhalb der National- werden sollen. Daraufhin zitierte Mollet den be- versammlung statt. Dieser Ausschuss, dessen Vorsit- rühmten Wahlspruch von Saint-Just: „Keine Freiheit zender André Philip64 (SFIO) war, hatte die Aufga- für die Feinde der Freiheit!“72. Sein Parteigenosse be, einen Verfassungsentwurf für die Nationalver- Zaksas fügte hinzu, dass das Wort „statut“ irreführend sammlung zu erstellen. Die Tagesordnung wurde von sei, da es sich nicht um eine detaillierte Regulierung Philip in einem „Studienplan“ festgelegt65. Der letzte der Parteien handele, sondern nur darum gehe, ein Punkt des ersten Abschnitts des „Studienplans“ lau- paar Grundsätze über die politischen Parteien der tete: „Parteiengesetz (innere Ordnung, Ausgaben- Verfassung hinzuzufügen73. Dennoch blieben in ei- kontrolle)“66. Eine Woche später, am 7. Dezember ner Gesamtschau nicht nur Kommunisten und Radi- 1945, wurde der Tagesordnungspunkt in der 5. Sit- kale, sondern auch die Rechtsgerichteten skeptisch. zung des Ausschusses diskutiert. Montillot (UR) äußerte Zweifel, dass Zweck der an- gestrebten Verfassungsergänzung tatsächlich nur die Der Ausschuss spaltete sich in zwei auf. Grundsätz- Umgrenzung der Staatsgewalten sei; Copeau (RR) lich waren nur Sozialisten (SFIO) und Christdemo- erachtete das „statut“ für „moralistisch“ und auf die kraten (MRP)67 für eine verfassungsrechtliche Regu- Erstarrung des Parteiensystems zielend74. lierung des Parteiwesens68. Der Debatte lässt sich entnehmen, dass die meisten Zu Beginn der Sitzung wurde festgehalten, dass der Mitglieder des Ausschusses die Unterschiede zwi- Zweck eines Parteiengesetzes darin bestehen sollte, schen Parteiverbot, innerparteilicher Demokratie und die Demokratie durch die Schaffung weniger und gut Rechenschaftspflichten nicht nachvollzogen hatten. organisierter Parteien zu stärken69. Das war insbeson- Regulierung wurde mit „Institutionalisierung“ ver- dere die Auffassung von Daniel Boisdon (MRP), wechselt. Beispielweise befürchtete René Capitant ein demzufolge das „statut des partis“ die Aufgabe haben „Parteimonopol“ und argwöhnte, dass das Parteienge- sollte, nicht die gegenwärtige politische Lage „einzu- setz notwendigerweise jeden Bürger gezwungen hätte, frieren“, sondern Parteifinanzen zu kontrollieren, und Mitglied einer Partei zu werden75. Selbst diejenigen, Parteien zu zwingen, eine „feste Basis“ in der Wähler- die einen Verfassungsartikel über Parteien für not- schaft zu haben. Der „Radikalsozialist“ Pierre Cot wendig hielten, waren sich im Unklaren über die ei- erklärte dagegen seinen Widerstand gegen den Arti- gentliche rechtliche Bedeutung einer solchen Neuheit. kelentwurf, der – nach seiner Ansicht – beispiellos gewesen wäre und durch starre Regeln zu einer „po- Eine Ausnahme stellte insoweit André Philip dar, lizeilichen Kontrolle“ der Parteien geführt hätte70. der eine sehr klare Vorstellung hatte: „Es handelt Ähnlich war auch die Argumentation von Fajon sich nicht darum, eine vollständige Regulierung [der (PCF), der in dem „statut des partis“ einen zu weit- Parteien] in die Verfassung aufzunehmen, sondern nur einen einfachen Satz, der dem Gesetzgeber gebie- 64 André Philip (1902-1970) war ein Jurist und führendes Mit- glied der sozialistischen Partei Frankreichs (SFIO). tet, entsprechende Regulierung durch ein ordentliches Gesetz vorzunehmen“76. Damit wurde die Vorstellung 65 Siehe Assemblée National Constituante, Séances de la Commis- sion de la Constitution. Comptes rendus analytiques, 1946, 27. 71 66 Französisch: „Le statut des partis (organisation intérieure, Ebd., 58. contrôle des dépenses)“ (ebd.). 72 Ebd., 58 f. 67 Daniel Boisdon, Henri Teitgen (MRP), Gilbert Zaksas, Guy 73 Ebd., 59. Mollet, Pierre-Emmanuel Guillet, Francis Leenhardt (SFIO). 74 Ebd., 61. 68 Dagegen waren Pierre Cot (RRRS), Etienne Fajon (PCF), 75 Vgl. ebd., 63. René Capitant (UDSR), Robert Montillot (UR) and Pascal 76 Copeau (RR). Ebd. („il ne s’agit pas d’insérer dans la constitution une régle- mentation complète, mais une simple phrase imposant au lég- 69 Ebd., 56 f. islateur de faire cette réglementation par une loi ordinaire, une 70 Ebd., 57, 61. phrase qui établisse tout de même un cadre“).

68 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze von einem französischen Parteiengesetz skizziert. dass parteilose Kandidaten aufgestellt werden können. Äußerst bemerkenswert ist, dass Philips Artikelent- Jedoch hatte der Ausschuss beschlossen, dass das wurf dem späteren Art. 21 GG auffallend ähnlich ist. „statut“ kein Parteimonopol enthalten sollte81. Nach Philip sollte die innere Ordnung der Parteien Am 20. Februar 1946 befasste sich der Verfassungs- den Grundsätzen („principes essentiels“) der Dekla- ausschuss mit dem Vorschlag des Unterausschusses. ration der Menschenrechte, der Finanztransparenz Der Artikelentwurf wurde für unbefriedigend gehal- und der Demokratie entsprechen; ein von der Regie- ten, da die Mehrheit gegen ein Parteimonopol war. rung unabhängiges Organ sollte die Einhaltung die- François de Menthon (MRP) schlug vor, einen neuen ser Grundsätze durchsetzen. Entwurf abzufassen, kam mit dieser Initiative aber Nach Philips Rede beschloss der Ausschuss (22 ge- zu spät: Zwischenzeitlich wurde Philip zum Minister gen 18 Stimmen), das „statut des partis“ in die Ver- ernannt und verließ sein Amt als Vorsitzender des fassung einzufügen, mit dem Vorbehalt, dass die An- Verfassungsausschusses und Zaksas (SFIO) kündig- wendung des „statut“ die Aufgabe eines „außerstaat- te an82, dass die Sozialisten einen Artikel über politi- lichen Gefüges“ sein solle77. Danach schlug Philip sche Parteien nicht mehr unterstützen würden. Letzt- „Leitlinien“ („schéma du statut“) vor, denen das lich fiel daher der Vorhang vor diesem „französi- „statut“ entsprechen sollte, und der Ausschuss nahm schen Art. 21“, aber nicht nur vor diesem: Bei dem sie mit 22 gegen 17 Stimmen an78. Danach sollten Volksentscheid im Mai 1946 wurde gar die gesamte folgende Punkte gewährleistet sein: von der Nationalversammlung verabschiedete Ver- 1. Pluralität der Parteien; fassung zurückgewiesen. 2. Einhaltung der wesentlichen Grundsätze der Er- 3.2. Väter ungeborener Kinder: das Erdenken klärung der Menschenrechte durch die Parteien; 3. interne demokratische Organisation der Parteien; des „statut des partis“ (1944-1945) 4. Kontrolle über ihre Ausgaben und Ressourcen. Wer aber hat nun in Frankreich das „statut des par- Im Januar 1946 fasste ein Unterausschuss („Sous- tis“ erdacht? Wie bereits erwähnt, war die Rolle Phi- commission de l’élection et de la souveraineté natio- lips zentral. Allerdings war er nicht der einzige Va- nale“)79 den Entwurf des „statut des partis“ ab80. ter des Vorschlags des „statut des partis“. Er könnte, sozusagen, als „politischer Vater“ betrachtet werden, Art. 8 in dem Sinne, dass er derjenige war, der während der Die Gründung einer einzigen Partei ist verboten, da Erarbeitung des Verfassungsentwurfs konkret auf sie den Grundsätzen der republikanischen Freiheit die Einfügung eines Parteienartikels drängte. Dane- widerspricht. ben gibt es weitere einflussreiche Personen. Zu nen- Die Wähler wählen Kandidaten aus rechtlich kon- stituierten politischen Parteien aus. nen sind hier Robert Salmon und Jean-Daniel Jur- Nur diejenigen sind politische Parteien, die: gensen, die als „ideelle Väter“ bezeichnet werden a) sich an die Grundsätze halten, die in der Erklä- können. Die ursprüngliche Idee, ein „statut des par- rung der Menschenrechte an der Spitze der Verfas- tis“ in die Verfassung einzufügen, lässt sich auf sie sung festgelegt sind; zurückführen. Als „theoretischer Vater“ könnte (b) durch ihre interne Organisation eine demokrati- François de Menthon gelten, da er der erste war, der sche Herrschaft sicherstellen; die Idee einer verfassungsrechtlichen Vorschrift über (c) die staatliche Kontrolle über ihre Ressourcen Parteien aus einem rechtstheoretischen Gesichts- und Ausgaben akzeptieren. punkt überzeugend begründete. Dies ist der erste Entwurf eines Artikels über politi- Selbstverständlich ist dieses Bild vereinfachend und sche Parteien, den eine verfassunggebende Versamm- unvollständig. Die Idee „eines französischen Art. 21“ lung verfasst hat. In zwei wichtigen Punkten entfernt wurde nicht nur von bestimmten Männern, sondern sich aber der Entwurf von Philips Leitlinien. Erstens auch von der allgemeinen politischen Atmosphäre in weist er nicht darauf hin, dass ein unabhängiges Or- Frankreich zur Zeit der „Dämmerung“ der Dritten gan mit der Anwendung des Parteiengesetzes betraut Republik hervorgebracht. Die französische Debatte werden soll. Zweitens schließt er ausdrücklich aus, wurzelte in der verbreiteten Enttäuschung über das 77 Ebd., 64 („l’application de ce statut serait faite par un organ- damalige politische System. Während des Krieges isme extérieur à l’État“). betrachteten viele Intellektuelle, Publizisten und Wi- 78 Ebd., 66. derstandskämpfer die Parteien als eine Bedrohung 79 Dessen Mitglieder waren Louis Noguères (SFIO), Alice Spor- tisse (PCF) und Daniel Boisdon (MRP). 81 Vgl. ebd., 64 f. 80 Vgl. ebd., 425. 82 Vgl. ebd., 426.

69 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg. für das Gemeinwohl. Eindrücklich beschreibt dies den Verhandlungen der verfassunggebenden Ver- ein kurzer Aufsatz von Simone Weil aus dem Jahre sammlung in der Nachkriegszeit. Im August 1945, 194083. Der Titel spricht für sich selbst: „Anmerkung ein paar Monate vor der Wahl der Nationalversamm- zur generellen Abschaffung der politischen Parteien“. lung, veröffentlichte Philip eine kurze „Thesenliste“ Selbst wenn Weils Radikalthese eine Minderheits- über die künftige Verfassung Frankreichs90. Die ers- these (wenn auch keine vereinzelte84) war, bot te These plädierte für eine neue Menschenrechtser- Frankreich in der Nachkriegszeit fruchtbaren Boden klärung, die nicht nur Individuen, sondern auch die für parteifeindliche Tendenzen. Anders als Deutsch- Medien (insbesondere Zeitungen) und politische land und Italien musste Frankreich sich nicht mit dem Parteien binden sollte. Stimmte eine Partei der Men- Zusammenbruch eines totalitären Regimes, sondern schenrechtserklärung nicht zu, dann sollte sie aufge- des seit 1875 existenten konstitutionellen Regierungs- löst werden, denn „Parteien sollen die Freiheit ha- systems auseinandersetzen. 70 Jahre allgemeine Wah- ben, jegliche Doktrin zu verfechten, außer der, nach len brachten auch eine starke Kritik des Parlamentaris- der die anderen Parteien liquidiert werden sollen“91. mus und des alten Parteiensystems hervor. Die Par- Später floss dieser Parteiverbotsvorschlag ein in das teienzersplitterung, die Zügellosigkeit der Parteifüh- „schéma du statut“, das bereits erwähnt wurde. rerschaft, die innerparteiliche Korruption und die Selbst wenn die Rolle Philips entscheidend war, las- Herrschaft besonderer Interessen bildeten die Haupt- sen sich viele Bestandteile des „schéma du statut“ zielscheiben der Polemik. nicht ihm zuschreiben. Im Jahr 1944 schrieb Philip Vor diesem Hintergrund wurde eine beeindruckende eine Streitschrift über die notwendigen „Strukturre- Zahl von Verfassungsentwürfen aufgesetzt85. In der formen“ in Frankreich92, in der er aber noch keine von Jean-Éric Callon herausgegebenen Sammlung86 besondere Vorschrift über politische Parteien vor- sind 19 Projekte aufgenommen, die in den Jahren schlug, sondern nur Überarbeitungen des Verhältnis- 1940-1945 geschrieben wurden, von denen 7 sich wahlrechts, um das Ziel zu erreichen, ein Drei- bis ausdrücklich mit politischen Parteien beschäftigen87. Vier-Parteiensystem auszubilden93. Die Idee des Das einflussreichste dieser Projekte war das der „statut des partis“ ist in Philips „vor-1945-Überle- „Studienkommission für die Verfassungsreform“, da gungen“ nicht aufzufinden, weshalb die Ursprünge es den Ausgangspunkt für die Arbeit vieler promi- dieser Idee woanders, und zwar in anderen Verfas- nenter Mitglieder der Nationalversammlung von sungsprojekten zu suchen sind. 1945 darstellte88. Die Kommission wurde im Januar Zunächst kann ausgeschlossen werden, dass die 1944 in Algier von de Gaulle auf Vorschlag Philips „charte des partis“, auf die Vincent Auriol im Jahre gebildet. In diesem Projekt wurde die Bedeutung po- 1942 Bezug nahm94, als Vorbild des „statut des par- litischer Parteien besonders betont: Für ein richtiges tis“ anzusehen ist. Auriol verstand unter der „charte Funktionieren der Demokratie sollten sie wenige, des partis“ keine Regelung der inneren Ordnung des stark, gut organisiert und ideologisch orientiert sein. Parteiwesens, sondern nur eine Reihe wahlrechtli- Typischerweise teilten diese Vorstellung Philip und cher Vorschriften über den politischen Wettbewerb. andere Sozialisten89. Philip war das Verbindungs- Auch das Projekt von Felix Gouin (1943) scheint glied zwischen der Kriegszeitverfassungsdebatte und nicht relevant zu sein, da Gouin in den Debatten um 95 83 S. Weil, Écrits de Londres et dernières lettres, 1957, 126 ff. das Jahr 1945 abwesend blieb und das Projekt bis 96 84 Vgl. z.B. Anonymus, Sur les réformes à apporter au régime 1998 nicht einmal veröffentlicht wurde . politique de la France, Cahiers Politiques 1943, 8 (August), 3. 90 85 A. Philip, Thèses pour server à la discussion sur la future Con- Siehe dazu ausführlich B. Mirkine-Guetzévitch (Hrsg.), Les stitution, Cahiers Politiques 1945, August/September, 321. idées politiques et sociales de la Résistance: documents clan- 91 destins 1940-1944, 1954. “les partis doivent avoir le droit de soutenir n’importe quelle doctrine, sauf qu’il faut supprimer les partis” (ebd.). 86 J.É. Callon, Le projets constitutionnels de la Résistance, 1998. 92 87 A. Philip, Les réformes de structure : pour la rénovation de la Dabei handelt es sich um die Projekte von Auriol (1942), république, 1944. Gouin (1943), Salmon und Jurgensen (1943-1944), Moch 93 (1944), die “Commission d’études de la réforme de la Consti- Ebd., 18 f. tution” (1944), de Menthon (1945) und Philip (1945). 94 Vgl. J.É. Callon, Le projets constitutionnels de la Résistance, 88 Ebd., 203. 1998, 103 ff. 95 89 Vgl. den Brief Philips an Guy Mollet aus April 1943 (in: ebd., Vgl. ebd., 174. 26) und den Brief an de Gaulle März 1944 (ebd., 240). Diese 96 Außerdem ist der Inhalt des Projekts ziemlich speziell: nach Vorstellung wurde auch von Léon Blum geteilt, vgl. B. Mirkine- Gouin wäre das Hauptziel der Verfassungsvorschriften über Guetzévitch (Hrsg.), Les idées politiques et sociales de la Ré- politische Parteien gewesen, die Gerontokratie der Parteien- sistance: documents clandestins 1940-1944, 1954, 64. führerschaft zu bekämpfen (vgl. ebd., 104).

70 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze

Die erste Urkunde, in der das „statut des partis“ Er- er bei dem Parteitag der MRP 1945 hielt, zeigt seine wähnung findet, ist ein Verfassungsentwurf, der An- Vorstellungen über die künftige Verfassung auf. In fang 1944 von Robert Salmon und Jean-Daniel Jur- seinen Augen wurden die Institutionen der Dritten gensen aufgesetzt wurde97. Der Entwurf, der 202 Arti- Republik nach dem Ersten Weltkrieg schwach, leer kel und 2 Anlagen zählt, wurde in der illegalen Zeit- und oligarchisch. Um eine „wahre Demokratie“ zu schrift „Cahiers de Défense de la France“ veröffent- bilden, wäre es notwendig gewesen, die Mängel der licht und spiegelt das leidenschaftliche Engagement repräsentativen Regierung durch neue Regeln zu ver- dieser zwei jungen (26 und 27 Jahre alt!) und gebil- bessern. Solche Regeln bestünden in „unmittelbarer deten Widerstandskämpfer wider. „Du statut des Demokratie, tatsächlicher Kontrolle der Wähler über partis“ ist der Titel der ersten der beiden Anlagen die Repräsentanten, Repräsentation der kollektiven („Annexes“). Ausgangspunkt ist hier hauptsächlich, und ständigen Interessen, Regulierung der parlamen- wie bei Philip, das Problem der Parteienzersplitte- tarischen Gesetzgebung und Kontrolle über die Exe- rung. Die von Salmon und Jurgensen vorgeschlagene cutive“99. In diesem Zusammenhang wäre eine er- Lösung war neuartig: ein besonderes Verfassungsge- neuerte Rolle der Parteien wegweisend gewesen, setz über die politischen Parteien. Danach war vor- denn sie sind „unentbehrliches Instrument der De- gesehen, dass die Parteien sich in ein Register eintra- mokratie sowie Voraussetzung ihrer Entwicklung“. gen sollten, um an Wahlen teilnehmen zu können, Im Besonderen sollten Parteien den Wählern „die und dass ein Parteianerkennungsverfahren vor dem Beachtung der demokratischen Methode bei der Kan- „Conseil politique de Justice“ erfolgen sollte. Au- didatenaufstellung“ und „ein Studien-, Informations- ßerdem sollte nach dem „statut des partis“ den Par- und Beschwerdebüro“gewährleisten. De Menthon teien die Pflicht auferlegt werden, sich eine Satzung begründete dies so: und eine bestimmte innere Organisation zu geben. La démocratie doit exiger, pour sa défense et son Es ist plausibel, dass Jurgensens und Salmons Vor- avancement, qu’un statut constitutionnel soit donné schlag einen (wenigstens mittelbaren) Einfluss auf aux partis politiques; il est élémentaire de les die Arbeit des Verfassungsausschusses ausübte. Ers- obliger tant à une forme démocratique qu’à une tens, weil Salmon Mitglied des Ausschusses war, publicité et à un contrôle de leur budget, ainsi que de fixer de façon précise leur responsabilité propre selbst wenn er in der Sitzung vom 7. Dezember 1945 en cas, notamment, de diffusions de fausses nou- abwesend war. Zweitens, weil „Défense de la France“ velles, d’outrages ou d’agitation antirépublicaine.100 mit einer Auflage von rund 400.000 Exemplaren eine der Leit-Zeitungen im besetzten Frankreich war. Nach de Menthon verlangt eine Demokratie dem- Es spricht daher zwar einiges dafür, dass auch Philip nach, dass politische Parteien in der Verfassung re- und de Menthon von Salmons und Jurgensens Pro- guliert und verpflichtet werden, sich demokratisch jekt erfuhren. Der Inhalt des von Jurgensen und Sal- zu organisieren („forme démocratique“), die Öffent- mon erdachten „statut des partis“ ist aber weit ent- lichkeit („publicité“) und die Rechnungsprüfung fernt von dem eigentlichen Ansatz des später von („contrôle de leur budget“) zu akzeptieren. Außer- Philip entworfenen „schéma du statut“. Ein weiterer dem stellte sich de Menthon vor, dass das „statut des möglicher Einfluss ist daher noch zu identifizieren. partis“ vom „Conseil Politique“ zusammen mit der „Haute Cour de Justice“ angewandt würde. Um das Dies gelingt mit einem Blick auf François de Bild abzurunden, ist zu erwähnen, dass de Menthon Menthon, der Professor für öffentliches Recht an der zudem für eine Verhältniswahl, staatliche Wahl- Universität Lyon und prominentes Mitglied der kampfkostenerstattung und chancengleichheitsför- christdemokratischen „Mouvement Républicain Po- dernde Maßnahmen plädierte. Unklar bleibt, ob de pulaire“ (MRP) war. Er kann als „stiller Protagonist“ Menthon auch an ein Parteiverbot dachte, als er ein- der Arbeit des Verfassungsausschusses unter Vorsitz forderte, dass die Parteien die Verantwortung für von Philip bezeichnet werden. Er nahm an den Ver- „falsche Nachrichten, öffentliche Verleumdung und 98 handlungen als „rapporteur“ teil. Der Bericht , den antirepublikanische Agitation“101 übernehmen soll-

97 Siehe Cahiers de Défense de la France, [1943-1944], IV, 29; auch veröffentlicht in M. Granet, Défense de la France: histo- und erst veröffentlicht im August 1945 in der Zeitschrift „Ca- ire d'un mouvement de résistance 1940-1944, 1960, 227 ff., hiers Politiques“ unter dem Titel „Vers la constitution de la und in J.É. Callon, Le projets constitutionnels de la Résis- Quatrième République“. tance, 1998, 60 ff. (aber ohne die Anlage); auch online ver- 99 fügbar unter www.gallica.bnf.fr. Ebd., 22. 100 98 Siehe F. de Menthon, Vers la quatrième République, 1946. Ebd., 23. Der Bericht wurde von der Parteiversammlung aufgenommen 101 Ebd.

71 Aufsätze Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] MIP 2019 25. Jhrg. ten. Gewiss war er für Sanktionen in diesen Fällen, mationsberichten des „Ministeriums für die verfas- die allerdings erst noch näher festzulegen waren. sunggebende Versammlung“108 veröffentlicht. Offenkundig ist, wie ähnlich der Ansatz von de Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Menthon dem Inhalt des „schéma du statut“ (und des auch in der italienischen Nationalversammlung eine Art. 21 GG!) ist. große Debatte über die verfassungsrechtliche Be- trachtung politischer Parteien stattfand. Doch unter- 4. Exkurs: Von Paris bis nach Rom – Der zwei- schied sich der Hintergrund der Debatte in Italien deutige Art. 49 der italienischen Verfassung von dem in Frankreich und in Deutschland. Die Itali- ener, die in wenigen Jahren den Übergang von Ho- Die Verhandlungen der französischen Nationalver- noratiorenparteien und Zensuswahlrecht zur faschis- sammlung(en) blieben auch in Italien nicht ohne Fol- 102 tischen Diktatur erlebten, betrachteten Volksparteien gen , wo in den Jahren 1946-1947 die italienische als ein innovatives und rein positives Phänomen: Sie Nationalversammlung die neue Verfassung ausarbei- hatten in der Tat nicht erfahren, was später „Parteien- tete. Der „italienische Verfassungskonvent“ fand kratie“ („Partitocrazia“) genannt worden wäre. Die während der Arbeit des „Studienausschusses zur Re- Väter und Mütter der italienischen Verfassung hat- organisation des Staates“ statt. Dort wurden die Leitli- ten die klare Absicht, die neue demokratische Repu- nien der künftigen Verfassung diskutiert und ein Be- blik auf die Parteien zu bauen. richt (aber kein Verfassungsentwurf) für die National- versammlung vorbereitet. Am 20. März 1946 legte Aus diesem Grund ging ein erheblicher Teil der De- der Verfassungsrechtler Costantino Mortati dem Stu- batte darum, ob Parteien besondere verfassungs- dienausschuss einen Vorbericht über „subjektive poli- rechtliche Vorrechte genießen sollten109. Schließlich tische Rechte“ vor103. Mortati hatte die Akten der fran- schlug aber die Nationalversammlung diesen „partei- zösischen Nationalversammlung gelesen und bezog enstaatlichen Weg“ nicht ein. sich ausdrücklich auf die Debatte des Verfassungsaus- Der andere große Teil der Debatte ging um die inne- schusses. Das am 7. Dezember 1945 angenommene re Ordnung der Parteien. Wie oben bereits erwähnt, „schéma du statut“ ist in italienischer Übersetzung in war Mortati der erste, der für die Einführung des in- Mortatis Vorbericht104 und auch im Schlussbericht des 105 nerparteilichen Demokratiegebots in die Verfassung Studienausschusses wiedergegeben . Tatsächlich plädierte. Seine Partei, die „Democrazia Cristiana“ schlug Mortati auch einen Artikelentwurf vor, der 106 (DC), teilte diese Vorstellung sofort und der von dem „schéma du statut“ ähnelte , in beiden wurden Merlin und Mancini (DC) dem ersten Unteraus- Finanztransparenz und demokratische Grundsätze bei schuss („Prima Sottocommissione“) vorgelegte Ent- der innerparteilichen Willensbildung gefordert. Ob- wurf skizzierte grundsätzlich einen „italienischen wohl Mortatis Vorschlag innerhalb des Studienaus- 110 107 Art. 21“ . Einem solchen Entwurf widersetzten sich schusses zurückgewiesen wurde , blieb diese „fran- die Kommunisten resolut. Anfangs waren die Sozia- zösische Idee“ der Parteiregulierung in den folgenden listen für eine verfassungsrechtliche Regulierung der Monaten noch einflussreich. Im Juli 1946 wurde die Parteien, aber dann veränderten sie ihre Vorstellung. italienische Übersetzung eines französischen Gesetz- Genau wie in Frankreich! entwurfes über die politischen Parteien in den Infor- Der heutige Art. 49 der italienischen Verfassung wurde grundsätzlich von dem Sozialisten Lelio Basso abgefasst. In einem Kommentar zu seinem Entwurf 102 Siehe dazu ausführlich U. De Siervo, Le idee e le vicende co- erklärte Basso, dass er sich um die demokratische stituzionali in Francia nel 1945 e 1946 e la loro influenza sul dibattito in Italia, in: ders. (Hrsg.), Scelte della Costituente e 108 Bollettino di informazione e documentazione del Ministero cultura giuridica, 1. Bd., 1980, 354. della Costituente, Supplemento dedicato a idee e progetti sul- 103 In G. D’Alessio, Alle origini della Costituzione italiana. I la- la Costituente e la Costituzione in Francia, 20. Juli 1946, 7. vori preparatori della “Commissioni per studi attinenti alla ri- Verfasser des Gesetzentwurfes war ein gewisser Sognel. organizzazione dello stato” (1945-1946), 1979, 335 ff. 109 Vgl. Atti dell’Assemblea Costituente. Commissione per la Co- 104 Ebd., 344. stituzione, prima sottocommissione, 1948, 413. 110 105 Vgl. Ministero per la Costituente, Relazione all’Assemblea „I cittadini hanno diritto di organizzarsi in partiti politici che Costituente, 1946, 135. si formino con metodo democratico e che rispettino la dignità e la personalità umana, secondo i principi di libertà ed 106 In G. D’Alessio, Alle origini della Costituzione italiana. I la- eguaglianza. Le norme per tale organizzazione saranno dettate vori preparatori della “Commissioni per studi attinenti alla ri- con legge particolare“, in: Atti dell’Assemblea Costituente, organizzazione dello stato” (1945-1946), 1979, 345. Atti della Commissione per la Costituzione, 2. Bd, (Relazioni 107 Vgl. ebd., 444. e proposte), 1947, 34.

72 MIP 2019 25. Jhrg. Caterina – Die Ursprünge des Art. 21 GG [...] Aufsätze

Binnenstruktur der Parteien kümmerte111. Gleichwohl lisiert hat. Fast nichts von dieser Debatte ist in den war die Formulierung des vom Unterausschuss ange- französischen Verfassungen geblieben und sehr we- nommenen Artikelentwurfes zweideutig: „Alle Staats- nig hat im italienischen Art. 49 überlebt. Das hat zu bürger haben das Recht, sich frei in Parteien zu orga- der verbreiteten Überzeugung beigetragen, dass die nisieren, um in demokratischer Weise an der Ausrich- Idee der verfassungsrechtlichen Parteienregulierung tung der Staatspolitik mitzuwirken“112. Was aber be- eine einzigartige Besonderheit der deutschen Verfas- deutet „in demokratischer Weise“? Betrifft es die in- sungsordnung sei, die ihre Wurzeln in der Erfahrung nere Organisation der Parteien oder bezieht es sich nur des Nationalsozialismus und der sich daraus erge- auf den Wettbewerb unter den Parteien? Das Problem benden Idee der „wehrhaften Demokratie“ hat. Das dieser Zweideutigkeit wurde vor dem Plenum disku- trifft nur teilweise zu. Die oben rekonstruierte Ge- tiert und Piero Calamandrei (Partito d’Azione) befür- schichte zeigt, dass das gleiche Ideal einer „wohlge- wortete in einer eindrucksvollen Rede die Notwen- ordneten Parteiendemokratie“ auch in Frankreich digkeit eines verfassungsrechtlichen innerparteilichen und Italien geteilt (selbst wenn unterschiedlich de- Demokratiegebots113. Mortati unterbreitete einen Än- kliniert) wurde. Daher ist Art. 21 GG kein Unikum derungsvorschlag, um das Problem der Zweideutig- und die Idee eines Parteienartikels war nicht spezi- keit zu lösen und klar festzustellen, dass die innere fisch deutsch. Art. 21 GG ist der bleibende Teil ei- Ordnung politischer Parteien demokratischen Grund- ner umfangreicheren Debatte, die in Europa in den sätzen entsprechen sollte114. Allerdings wurde der Jahren 1945-1949 stattfand. Vorschlag abgelehnt und Art. 49 blieb unverändert. Wie gezeigt, entwickelte sich die Idee einer durch Anscheinend nahmen die italienischen Verfassungs- ordentliches Gesetz umzusetzenden Verfassungsvor- väter und Verfassungsmütter Art. 49 nur an, weil sie schrift über politische Parteien zuerst in Frankreich davon ausgingen, dass er den Weg für eine gesetzli- im Jahre 1945. Ihre theoretische Fundierung erhielt che Regulierung des Parteiwesens nicht öffnen wür- sie dort zweifellos von François de Menthon. Da- de. Eine grammatikalische Auslegung des Artikels nach reiste die Idee nach Italien, wo Costantino kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass die „demo- Mortati vergebens versuchte, sie in der verfassung- kratische Methode“ auch innerhalb der Partei An- gebenden Versammlung durchzusetzen. Und im wendung findet, da das Subjekt des Satzes „alle deutschen Art. 21 GG steckt zumindest ein bisschen Staatsbürger“ (und nicht „alle Parteien“) ist. Frankreich. Die erste deutsche Verfassung, die aus- führlich das Parteiwesen regulierte, war die Verfas- Heute setzen sich die italienischen Verfassungs- sung eines Landes unter französischer Besatzung. rechtler fast einstimmig für eine Auslegung des Arti- Wahrscheinlich ist das kein Zufall. Dennoch muss kels ein, der zufolge sich die „demokratische Metho- auch die entscheidende Rolle von Hermann Brill, die de“ auch auf die innere Ordnung der Partei be- später in Vergessenheit geriet, anerkannt werden. zieht115. Ein italienisches Parteiengesetz hat gleich- Zusätzlich wirkten auch geschichtliche Umstände wohl nie das Licht der Welt erblickt. (die kommunistische Bedrohung im Osten und die 5. Fazit: das nachkriegs-europäische Ideal einer grauenvollen Erfahrungen des Nationalsozialismus) „wohlgeordneten Parteiendemokratie“ an der Entstehung des Art. 21 GG mit. Schließlich ist es erstaunlich, wie in diesen verschie- Art. 21 GG ist nur die Spitze eines Eisbergs, die sich denen Debatten die gleichen Begriffe, die gleichen aus einer breiten europäischen Debatte herauskristal- Argumente und sogar die gleichen Worte häufig 111 Vgl. Atti dell’Assemblea Costituente, Atti della Commissione wieder aufgegriffen wurden. Im Jahr 1930 bedauerte per la Costituzione, 2. Bd., Relazioni e proposte, [ohne Da- Gustav Radbruch, dass die Parteien als das Tabu tum], 11 ff. („partie honteuse“) des öffentlichen Rechts angesehen 112 „tutti i cittadini hanno diritto di organizzarsi liberamente in wurden116. Nur 15 Jahre später plädierten so viele partiti politici allo scopo di concorrere democraticamente a Menschen in ganz Europa für die Einführung von determinare la politica del Paese“. Grundsätzen über politische Parteien in die neuen 113 Plenum, Sitzung 4. März 1947. Vgl. Atti della Assemblea co- Verfassungen. Das kann nur die Macht einer großar- stituente, Discussioni, 1948, 1753. tigen Idee sein. 114 Plenum, Sitzung 22. Mai 1947. Vgl. ebd., 4158. 115 Siehe vor allem die Referate und Diskussionen auf der Ta- gung der Vereinigung der italienischen Verfassungsrechtler vom 17. und 18. Oktober 2008: Associazione Italiana dei Co- 116 G. Radbruch, Die politischen Parteien im System des deut- stituzionalisti, Annuario 2008. Partiti politici e società civile a schen Verfassungsrechts, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Hand- sessant’anni dall’entrata in vigore della Costituzione, 2009. buch des deutschen Staatsrechts, 1. Bd., 1930, 280 (288).

73 Aufsätze Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht MIP 2019 25. Jhrg.

Die liechtensteinischen Parteien und das II. Geschichte der politischen Parteien Recht Die Gründung der ersten beiden – und bis heute größten – Parteien erfolgte spät, aber ohne ausländi- Prof. Dr. iur. Patricia M. Schiess Rütimann1 schen Einfluss: 1918 wurde sowohl die Christ- lich-soziale Volkspartei gegründet, welche 1936 mit dem Liechtensteiner Heimatdienst zur Vaterländi- I. Ziel dieses Beitrags schen Union (VU) fusionierte, als auch die Fort- Dieser Beitrag stellt die Parteien Liechtensteins und schrittliche Bürgerpartei (FBP). ihre rechtliche Ordnung vor. Dabei zeigt sich, dass Um den jungen Rechtsanwalt Wilhelm Beck (1885- die rudimentär gehaltene gesetzliche Regelung durch 1936)7 hatte sich ab 1912 eine sozialliberale Opposi- die Forderungen der GRECO nach mehr Transpa- tionsbewegung gebildet. 1914 gründete sie die Zei- renz bei der Parteienfinanzierung und durch Partei- tung „Oberrheinische Nachrichten“ (seit 1936 austritte von Parlamentariern sowie durch die Spal- „Liechtensteiner Vaterland“ genannt), deren Redak- tung einer Partei an ihre Grenzen stößt. tor Beck bis 1921 blieb. Beck und drei seiner Mit- Gleichzeitig wird illustriert, wie Liechtenstein streiter wurden 1914 in den Landtag gewählt. Im Fe- Rechtsrezeption betreibt. Liechtenstein kennt wie bruar 1918 gründeten sie für die Landtagswahlen die 8 die Schweiz kein Parteiengesetz. Die Parteien kon- Christlich-soziale Volkspartei. Die um die seit 1878 stituieren sich als Vereine. Das liechtensteinische herausgegebene Zeitung „Liechtensteiner Volksblatt“ Vereinsrecht entspricht dem Schweizer Vereins- gescharte, stärker konservativ und fürstentreuer aus- recht.2 Jetzt, wo es darum geht, völkerrechtliche gerichtete Mehrheit formierte sich daraufhin am 22. Vorgaben zur Transparenz umzusetzen, orientiert Dezember 1918 ebenfalls als Partei. Auch in der sich Liechtenstein an Österreichs Parteiengesetz,3 FBP war mit Eugen Nipp (1886-1960) ein Zeitungs- 9 ohne es vollständig zu übernehmen. So wird das redaktor treibende Kraft. liechtensteinische Recht auch in Zukunft nicht ver- In den folgenden Jahren wandte sich Liechtenstein langen, bei größeren Spenden den Namen und die von Österreich ab und suchte die Zusammenarbeit Adresse des Spenders oder der Spenderin auszuwei- mit der Schweiz. Nicht zuletzt auf Betreiben von sen und Großspenden sofort zu veröffentlichen.4 Ei- Wilhelm Beck erhielt Liechtenstein 1921 eine neue genständige Lösungen hat Liechtenstein im Wahl- Verfassung mit direktdemokratischen Rechten.10 recht getroffen.5 Den rund 20'000 Stimmberechtigten gewährt es viele direktdemokratische Rechte.6 Erst 1993 schaffte eine dritte Partei den Einzug in den Landtag, die 1985 im Zug der neuen sozialen und ökologischen Bewegung gegründete Freie Liste 1 Die Autorin ist Titularprofessorin für öffentliches Recht und (FL).11 2013 erhielt die neue Gruppierung DU (Die Verfassungsvergleichung an der Universität Zürich. Sie arbei- tet als Forschungsleiterin Recht am Liechtenstein-Institut in Unabhängigen) auf Anhieb vier Sitze im Landtag. Bendern FL. Ein im Jahr 2011 aus der VU ausgetretener Abge- 2 Siehe Kapitel V. ordneter hatte sie gegründet. 3 BuA Nr. 55/2018, S. 11 (siehe Fn. 61). Dies mangels bundes- 7 rechtlicher Vorgaben zur Politikfinanzierung in der Schweiz. Gerda Leipold-Schneider, „Beck, Wilhelm“, Stand: 31.12.2011, Gesetzgebung und Literatur finden sich bei Andrea Töndury, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online Gekaufte Politik? Die Offenlegung der Politikfinanzierung als (eHLFL), URL: https://historisches-lexikon.li/Beck,_Wilhelm. Erfordernis politischer Chancengleichheit, Schweizerisches Alle Websites wurden zuletzt abgerufen am 22.01.2019. Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht ZBl 119/2018, 8 Wilfried Marxer, „Christlich-soziale Volkspartei (VP)“, S. 563-579. Stand: 31.12.2011, https://historisches-lexikon.li/Christlich- 4 Siehe die Website des Österreichischen Rechnungshofes www. soziale_Volkspartei_(VP). rechnungshof.gv.at/sonderaufgaben/parteiengesetz/parteispen 9 Donat Büchel, „Nipp, Eugen“, Stand: 31.12.2011, https://his den.html, auf der Spenden ab 50'000 Euro unverzüglich ver- torisches-lexikon.li/Nipp,_Eugen, und Alois Ospelt, in: Fort- öffentlicht werden. schrittliche Bürgerpartei – FBP Liechtenstein (Hrsg.): 100 5 Siehe Kapitel III. 2. Jahre FBP. Die Geschichte der Fortschrittlichen Bürgerpartei von 1918 bis 2018, Vaduz 2018, S. 16. 6 Siehe z.B. Bernhard Ehrenzeller/Rafael Brägger, Politische 10 Rechte, in: Kley/Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Wilfried Marxer, Parteien im Wandel. In: Frick/Ritter/Willi Liechtenstein, LPS 52, Verlag der Liechtensteinischen Akade- (Hrsg.): Ein Bürger im Dienst für Staat und Wirtschaft. Fest- mischen Gesellschaft, Schaan 2012, S. 637-685, und Wilfried schrift zum 70. Geburtstag von Hans Brunhart, LPS 56, Ver- Marxer, Direkte Demokratie in Liechtenstein. Entwicklung, lag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Regelungen, Praxis, LPS 60, Verlag der Liechtensteinischen Schaan 2015, S. 241-270, S. 243. Akademischen Gesellschaft, Bendern 2019. 11 Marxer (Fn. 10) S. 247 f.

74 MIP 2019 25. Jhrg. Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht Aufsätze

Nach den Wahlen vom 5. Februar 2017 setzte sich - Gesetz über die Bezüge der Mitglieder des Land- der 25 Mitglieder zählende Landtag wie folgt zusam- tages und von Beiträgen an die im Landtag vertre- 20 men: FBP 9 Sitze, VU 8 Sitze, DU 5 Sitze, FL 3 Sitze. tenen Wählergruppen Der zweimalige Erfolg der DU ist nicht nur wegen - Parteienförderungsgesetz (PPFG)21 der Sperrklausel12 bemerkenswert, sondern auch we- gen der hohen Wahlbeteiligung.13 Neue Parteien Die Verfassung erwähnte 1921 weder Parteien, können kaum neue Wählerinnen und Wähler mobili- Wählergruppen noch die Fraktionen. Die Parteien sieren, sondern müssen sie von anderen Parteien ab- und Fraktionen werden auch heute nicht genannt. werben.14 1939, als Liechtenstein mit dem so genannten Pro- porzgesetz22 das Verhältniswahlsystem einführte, ver- Im März 2018 verließ ein langjähriger FBP-Abge- wendete die Verfassung erstmals den Begriff „Wäh- ordneter seine Partei. Im Sommer 2018 wurde ein lergruppe“. Er findet sich heute in Art. 46 LV und Abgeordneter aus der DU ausgeschlossen, woraufhin Art. 49 über den Landtag sowie in Art. 96 LV, der zwei weitere Fraktion und Partei verließen. Die drei die Bestückung des Richterauswahlgremiums mit ehemaligen DU-Abgeordneten gründeten am 21. Abgeordneten regelt. Alle drei Bestimmungen wei- September 2018 eine neue Partei mit dem Namen sen einen engen Bezug zu den Wahlen auf. Sie neh- Demokraten pro Liechtenstein (DpL).15 Seit Herbst men auf das Volksrechtegesetz (VRG) Bezug, wes- 2018 sind die Sitze im Landtag deshalb folgender- halb dem Begriff in beiden Erlassen dieselbe Bedeu- maßen verteilt: FBP 8 Sitze, VU 8 Sitze, DU 2 Sitze, tung zukommen muss. Bereits das Proporzgesetz FL 3 Sitze, DpL 3 Sitze, 1 Parteiloser. verwendete den Begriff Wählergruppe als Sammel- begriff für Wahlberechtigte, die zusammen einen III. Gesetzliche Grundlagen Wahlvorschlag einreichten, also auch für neu ge- gründete oder bisher erfolglose Gruppierungen und 1. Erlasse mit Bedeutung für die politischen Par- für Gruppen von Wahlberechtigten, die sich noch teien nicht konsolidiert hatten. Dies gilt auch für das Die wichtigsten Regelungen für die Parteien finden VRG. Art. 37 Abs. 2 VRG verlangt für die Einrei- sich in den folgenden Erlassen:16 chung eines Wahlvorschlages nur die Unterschrift - Verfassung (LV)17 von 30 Stimmberechtigten. Weil sich diese keine Or- ganisation zulegen müssen, sieht Art. 38 VRG er- 18 - Volksrechtegesetz (VRG) satzweise vor, wer die im VRG vorgesehenen Hand- - Geschäftsordnung für den Landtag (GOLT)19 lungen im Namen der Wählergruppe vornehmen darf. Nicht nur das VRG, sondern auch die GOLT und das Gesetz über die Bezüge enthalten weder eine Defini- tion der Parteien noch regeln sie ihre Rechte und 12 Siehe sogleich Kapitel III. 2. Pflichten. Im Gesetz über die Bezüge findet sich die 13 Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen: 2017 77,8%; 2013 Grundlage für die Auszahlung von Beiträgen an die 79,8%; 2009 84,6%; 2005 86,5%; 2001 86,7%. Siehe www. „im Landtag vertretenen Wählergruppen“, womit landtagswahlen.li/stimmbeteiligung/10. wieder auf das VRG Bezug genommen wird. Auch 14 Roger Beck, Rechtliche Ausgestaltung, Arbeitsweise und Re- das Parteienförderungsgesetz (PPFG) enthält keine formbedarf des liechtensteinischen Landtags, LPS 53, jur. Diss. Universität Zürich, Verlag der Liechtensteinischen Aka- Definition der Partei. Es zählt aber die Vorausset- demischen Gesellschaft, Schaan 2013, S. 112. zungen auf, die eine Partei erfüllen muss, um in den 23 15 Wilfried Marxer, „DU – Die Unabhängigen für Liechtenstein“, Genuss der Beiträge zu kommen. Stand: 12.11.2018, https://historisches-lexikon.li/DU_–_Die_ Unabhängigen_für_Liechtenstein. Als der FBP-Abgeordnete aus der Partei austrat, ohne 16 Die Gesetze sind zugänglich unter: www.gesetze.li/konso/suche; die Kommissionen zu verlassen, in die er als einziges sowohl in der aktuell gültigen Version („konsolidiertes FBP-Mitglied gewählt worden war, stellte sich die Recht“, versehen mit einer LR-Nummer) als auch in der ur- sprünglichen Version (zu finden unter „Landesgesetzblatt“). 20 Gesetz vom 17. Dezember 1981 über die Bezüge der Mitglie- 17 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober der des Landtages und von Beiträgen an die im Landtag ver- 1921 (LGBl. 1921 Nr. 15 LR 101). tretenen Wählergruppen (LGBl. 1982 Nr. 22 LR 171.20). 21 18 Gesetz vom 17. Juli 1973 über die Ausübung der politischen Gesetz vom 28. Juni 1984 über die Ausrichtung von Beiträ- Volksrechte in Landesangelegenheiten (Volksrechtegesetz, gen an die politischen Parteien (LGBl. 1984 Nr. 31 LR 162). VRG, LGBl. 1973 Nr. 50 LR 161). 22 Gesetz vom 18. Januar 1939 über die Einführung des Verhält- 19 Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechten- niswahlrechtes (LGBl. 1939 Nr. 4). stein vom 19. Dezember 2012 (LGBl. 2013 Nr. 9 LR 171.101.1). 23 Siehe Kapitel V. und VI. 1.

75 Aufsätze Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht MIP 2019 25. Jhrg.

Frage, ob die FBP weiter in den Kommissionen ver- Restmandate erhalten nur Wählergruppen, die bereits treten war und er seine Sitze behalten durfte. In den ein Mandat erlangt haben.27 Mehrere Versuche zur Ab- betreffenden Kommissionen musste nämlich je ein schaffung oder Senkung der Sperrklausel scheiterten.28 Mitglied pro Wählergruppe (so Art. 96 Abs. 1 LV für Aktuell suchen die Parteien Frauen für die Gemeinde- das Richterauswahlgremium) respektive mindestens ratswahlen vom Frühling 2019.29 Frauenorganisatio- ein Mitglied pro „in Fraktionsstärke im Landtag ver- nen fordern eine Geschlechterquote.30 Es wird näm- tretene Partei“ (Art. 71 Abs. 4 GOLT) Einsitz neh- lich lediglich eine der elf Gemeinden von einer Ge- men. Es wurde zum Problem, dass das Gesetz keine meindevorsteherin geleitet. In drei Gemeinderäten Definition der politischen Partei enthält und das Ver- finden sich drei Frauen, in den anderen eine oder hältnis zwischen Partei und Wählergruppe nicht klärt.24 zwei, in einem gar keine. Insgesamt stehen 84 männ- 2. Liechtensteins Wahlrecht liche (81,6%) 19 weiblichen Gemeinderatsmitgliedern (18,4%) gegenüber. Im Landtag sitzen 3 Frauen (12%) In den Landtag gewählt werden kann nur, wer auf ei- und 22 Männer (88%). Dies nachdem 2005 und 2009 ner Wahlliste kandidiert (Art. 49a Abs. 2 VRG). 30 bereits sechs Frauen gewählt worden waren31 und Stimmberechtigte müssen ihre Unterstützung für die 2017 nicht weniger Frauen kandidierten als in den Liste mittels Unterschrift bekunden (Art. 37 VRG). vorherigen Wahlen. Über all die Jahre standen nicht Sie müssen sich nicht zu einem Verein zusammen- nur weniger Frauen als Männer auf den Wahllisten, schließen, registrieren lassen oder sonstige Vorga- sondern ihre Wahlchancen waren auch deutlich ben erfüllen. schlechter als die ihrer männlichen Konkurrenten.32 Wie die Parteien und Wählergruppen ihre Kandida- tinnen und Kandidaten nominieren, ist ihnen über- IV. Weitere Charakteristiken des politischen Sys- lassen. Üblich ist ein öffentlicher Aufruf. Darüber tems hinaus sprechen Parteiverantwortliche geeignete Per- Liechtensteins Staatsangehörigen steht eine große sonen an. Die eigentliche Nomination erfolgt bei Anzahl an politischen Rechten zur Verfügung. Initia- VU, FBP und FL in Nominationsversammlungen. tiven (Einbringung von Gesetzesvorschlägen und Die Stimmberechtigten dürfen panaschieren (Art. 49a Vorschlägen für Verfassungsänderungen) und Refe- Abs. 1 VRG). Das heißt, dass sie Kandidatinnen und renden (Zurückweisung von Gesetzen und Finanzbe- Kandidaten einer Wahlliste auf eine andere Liste schlüssen des Landtages) werden in der Regel von setzen dürfen, sofern auf dieser nicht alle Plätze ver- Verbänden und Einzelpersonen lanciert. Dabei kann geben sind oder sie vorher Namen durchstreichen. es sich durchaus um Parteimitglieder handeln, die Die Stimmberechtigten können so ihre Stimmen auf sich parteiintern nicht durchsetzen konnten. Unver- mehr als eine Partei aufteilen. zichtbar sind die Parteien nur für die Rekrutierung An der Verteilung der Sitze nehmen gemäß Art. 46 des politischen Personals. Abs. 3 LV nur Wählergruppen teil, die „acht Prozent der im ganzen Land abgegebenen gültigen Stimmen 27 StGH 1966/2 (= ELG 1962-1966, 230 ff.). Ein Beispiel für erreicht haben“.25 Es reicht also nicht, nur in einem die Sitzverteilung findet sich bei: Beck (Fn. 14) S. 62 Fn. 20. 28 der beiden Wahlkreise die 8%-Hürde zu nehmen.26 Zuletzt abgelehnt wurde eine Initiative der FL: BuA Nr. 106/2013, Landtags-Protokolle 2013, S. 2316-2329 (Sitzung

24 vom 5. Dezember 2013), BuA Nr. 45/2014, Landtags-Proto- Siehe auch Kapitel VI. 1. und Fn. 56. kolle 2014 S. 844-858 und S. 1668-1674 (Sitzungen vom 4. 25 Zur Geschichte der ursprünglich sogar auf 18% angesiedelten Juni und 1. Oktober 2014). Sperrklausel siehe Wilfried Marxer, Wahlrecht Liechtenstein 29 Zur Mühe der Parteien, Kandidatinnen zu gewinnen: Linda – Sperrklausel, Grundmandat, Restmandat, Bendern 2014 (Im Märk-Rohrer, Frauen und politische Parteien in Liechtenstein, Auftrag der Regierung erstellt und BuA Nr. 45/2014 beige- Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut Nr. 48, Bendern 2014, heftet). Die BuA sind zugänglich unter: www.llv.li/inhalt/110 http://dx.doi.org/10.13091/li-ap-48. Es ist allerdings auch nicht 999/amtsstellen/fruhere-berichte-und-antrage. StGH 1962/1 einfach, Männer zu rekrutieren: Wilfried Marxer, Gemeinde- (= ELG 1962-1966, 191 ff.) hob die Sperrklausel von 18% als ratswahlen 2011: Probleme der Rekrutierung von Kandidatin- verfassungswidrig auf. nen und Kandidaten, Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut 26 Zur Problematik der Sperrklausel siehe insbesondere Peter Nr. 31, Bendern 2011, http://dx.doi.org/10.13091/li-ap-31. Bussjäger, Art. 46 LV, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.): 30 Siehe insbesondere: www.hoiquote.li/. Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung. Online-Kom- 31 mentar, Bendern 2016, verfassung.li (Stand: 05.02.2016) Ka- Die Anzahl Frauen: 1997: 1 Frau, 2001: 3 Frauen, 2005: 6, pitel II.B.1 und Kapitel VI. Siehe auch die Vorschläge von 2009: 6, 2013: 5, 2017: 3. Wilfried Marxer, Optimierung des Wahlsystems in Liechten- 32 Wilfried Marxer, Landtagswahlen 2013 – Frauen im Fokus, stein, Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut Nr. 43, Bendern Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut Nr. 41, Bendern 2013, 2013, http://dx.doi.org/10.13091/li-ap-43. http://dx.doi.org/10.13091/li-ap-41, S. 20 ff.

76 MIP 2019 25. Jhrg. Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht Aufsätze

Koalitionsregierungen von VU und FBP, die seit tantinnen und Repräsentanten ausgiebig zu Wort Jahrzehnten eine Mitteorientierung aufweisen,33 sind kommen.37 die Regel.34 Die fünf Mitglieder der Regierung wer- Angesichts der überschaubaren Mitgliederzahl kann den vom Landtag dem Landesfürsten vorgeschlagen. jedes Mitglied an Parteianlässen zwanglos in Kon- Er ernennt sie (Art. 79 Abs. 2 LV). Die Regierungs- takt treten mit der Parteiführung sowie den Regie- mitglieder sind nur so lange im Amt, wie sie das rungs- und Landtagsmitgliedern. Vertrauen von Landtag und Landesfürst geniessen (Art. 80 LV). Die Regierungsratskandidatinnen und V. Rechtsnatur der Parteien -kandidaten rekrutieren sich nicht aus dem Kreis der Abgeordneten. Vielmehr werden sie von den Partei- VU, FBP und FL sind seit jeher als Verein organi- en gemeinsam mit den Landtagskandidatinnen und siert. Ihre Statuten sind im Internet veröffentlicht. -kandidaten nominiert und mit diesen im Landtags- Die DU konstituierten sich erst nach ihrem Wahl- wahlkampf eingesetzt. Es ist den Parteien unbenom- erfolg von 2013 als Verein. Ihre Statuten sind nicht men, dem Landtag nach seiner Wahl andere Perso- öffentlich zugänglich. Die DpL ließen sich unmittel- nen für die Regierung vorzuschlagen. Viele Regie- bar nach der Gründung als Verein im Handelsregis- rungsmitglieder stellten sich nie einer Volkswahl. ter eintragen. Ihre Website befindet sich (Stand Ende Andere waren vor ihrem Mandat in der Regierung Januar 2019) noch im Aufbau. Im Handelsregister im Landtag oder auf Gemeindeebene aktiv. Beim eingetragen ist seit 1995 auch die VU. Landtag handelt es sich um ein Milizparlament.35 Liechtenstein übernahm 1926, als es sein Personen- Art. 57 LV garantiert das freie Mandat.36 und Gesellschaftsrecht (PGR)38 schuf, das liberale Die Regierungsmitglieder gehören in VU und FBP schweizerische Vereinsrecht fast wörtlich (vergleiche dem Parteipräsidium an. Es ist jedoch nicht üblich, Art. 246-260 PGR mit Art. 60-79 ZGB).39 Vereine dass ein Regierungsmitglied das Parteipräsidium in- erlangen gemäß Art. 246 Abs. 1 PGR die Rechtsper- nehält. Die aktuellen Präsidenten von VU und FBP sönlichkeit, sobald ihr Wille, als Körperschaft zu be- sowie der Co-Präsident und die Co-Präsidentin der stehen, aus den Statuten ersichtlich ist.40 Dies gilt für FL gehören nicht einmal dem Landtag an. Bei den sämtliche Vereine, also auch für solche mit politi- Vorsitzenden von DU und DpL handelt es sich hin- schem Zweck. Beide Rechtsordnungen lassen eine gegen um Landtagsabgeordnete. freiwillige Eintragung im Handelsregister zu (Art. 247 Die engen Verbindungen zwischen der VU und dem Abs. 1 PGR). Nur für Vereine mit einem nach kauf- „Liechtensteiner Vaterland“ sowie FBP und „Liech- männischer Art betriebenen Gewerbe ist sie zwin- tensteiner Volksblatt“ bestehen nach wie vor. Ent- gend (Art. 247 Abs. 2 PGR). Ein solches Gewerbe sprechend gut ist die Öffentlichkeit über die Aktivi- führen Parteien nicht. Es ist deshalb rechtskonform, täten von VU und FBP informiert. Wie eine medien- dass die Mehrheit der Parteien bis jetzt nicht im wissenschaftliche Dissertation unlängst nachwies, Handelsregister eingetragen ist und zwei Parteien berichten beide Zeitungen überproportional häufig ihre Statuten nicht im Internet veröffentlicht haben. über die FL und die DU. Sie lassen deren Repräsen- In Zukunft wird das PPFG die Eintragung im Han- 33 Marxer (Fn. 10) S. 254. Siehe auch Wilfried Marxer, Manife- delsregister zur Voraussetzung für die Ausschüttung sto Research – Forschungsbericht Liechtenstein (Stand 2017), öffentlicher Gelder machen (so Art. 2 Abs. 1 lit. a Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut Nr. 61, Bendern 2018, Entwurf-PPFG41) und einen Internet-Auftritt verlan- http://dx.doi.org/10.13091/li-ap-61. Zum breiter gewordenen gen. Diese Pflichten werden sich nur auf die nationa- Spektrum der politischen Positionen: Christian Frommelt, le Partei erstrecken. Ob lokalen Sektionen und Ein- Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute – ein Vergleich. In: „Wer Bescheid weiss, ist beschei- heiten für jugendliche, weibliche oder ältere Mitglie- den“. Festschrift zum 90. Geburtstag von Georg Malin, LPS 37 58, Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesell- Roman Büsser, Politischer Parallelismus und normative An- schaft, Bendern 2016, S. 291-312, S. 309 ff. sprüche an Öffentlichkeit – Der Fall Liechtenstein, Diss. Uni- versität Zürich, 2018. 34 Näher dazu Marxer (Fn. 10), S. 249 ff. Siehe den Koalitions- 38 vertrag vom 28. März 2017: www.fbp.li/files/attachments/ Personen- und Gesellschaftsrecht vom 20. Januar 1926 2017-03-28-Koalitionsvertrag-2017---2021-unterzeichnet.pdf. (LGBl. 1926 Nr. 4 LR 216.0). 39 35 Beck (Fn. 14) S. 123 ff. Mit der letzten Revision (LGBl. 2007 Nr. 38) wurden die Be- 36 stimmungen des PGR noch enger an denen des ZGB ausge- Siehe Peter Bussjäger, Art. 57 LV (Stand: 01.09.2016), in richtet: BuA Nr. 95/2006, S. 18-20 und S. 37-43. verfassung.li (Fn. 26), und Herbert Wille, Die liechtensteini- 40 sche Staatsordnung. Verfassungsgeschichtliche Grundlagen Die Eintragung im Register ist nicht erforderlich. So ausdrück- und oberste Organe, LPS 57, Verlag der Liechtensteinischen lich BuA Nr. 95/2006, S. 38. Akademischen Gesellschaft, Schaan 2015, S. 475 f. 41 Siehe Fn. 61.

77 Aufsätze Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht MIP 2019 25. Jhrg. der Rechtspersönlichkeit zukommt, bestimmt sich fest und ergänzt ihn in Abs. 3 um 55'000 CHF pro nach ihrer Ausgestaltung.42 Das Vereinsrecht ver- Jahr an jede im Landtag vertretene Partei.46 Überdies langt hierfür eigene Statuten und den Willen, als ei- werden gestützt auf Art. 12a Gesetz vom 17. Dezem- genständige Körperschaft zu bestehen. Unabhängig ber 1981 über die Bezüge47 pauschal 10'000 CHF plus von der rechtlichen Ausgestaltung müssen die Finan- 5'000 CHF pro Abgeordnete respektive pro Abgeord- zen der Ortsgruppen in Zukunft in die Jahresrech- neter ausbezahlt.48 Insgesamt schüttet das Land in der nung der nationalen Partei integriert werden (Art. 6 Legislatur 2017-2021 jährlich 1'095'000 CHF aus.49 Abs. 5 Entwurf-PPFG). Indem das PPFG an die Landtagswahlen anknüpft, Das PPFG macht den Parteien weder heute noch in müssen die pro Partei ausbezahlten Beträge während Zukunft Vorgaben, wer Mitglied werden darf.43 Al- der gesamten Legislatur gleich bleiben. Und zwar lerdings öffnen nur die Statuten der FL die Mit- auch dann, wenn ein Abgeordneter oder eine Abge- gliedschaft für Personen aus dem Ausland (Art. 3 ordnete nach der Wahl nicht der Fraktion seiner re- Abs. 1 FL-Statuten). Während die FBP nur Liechten- spektive ihrer Partei beitritt oder im Laufe der Amts- steinerinnen und Liechtensteiner als Mitglied auf- zeit Fraktion und Partei verlässt. Auch Art. 12a Ge- nimmt (Art. 4 Ziff. 1 FBP-Statuten), steht die Mit- setz über die Bezüge knüpft mit der Erwähnung der gliedschaft in der VU allen in Liechtenstein wohn- Wählergruppe an der Wahl – und nicht an der Kon- haften Personen ab 16 Jahren offen, unabhängig von stituierung als Fraktion – an. ihrer Nationalität (Art. 3 Abs. 1 VU-Statuten). Explizite Regelungen, wie mit Austritten aus und Spaltungen von Fraktionen und Parteien umzugehen VI. Parteienfinanzierung ist, fehlen. Aus diesem Grund arbeitete das Land- Wie hoch die Einnahmen der Parteien sind und wel- tagspräsidium im Herbst 2018 eine Übergangslösung che ihre Quellen, ist – abgesehen von den Beiträgen für die DU-Trennung aus.50 Sie sieht vor, dass die der direkten staatlichen Parteienfinanzierung des Lan- drei ehemaligen DU-Abgeordneten (die mittlerweile des und der Zahlungen der Gemeinden an lokale Sek- die DpL gründeten) eine neue Fraktion bilden und tionen – nicht bekannt. Bis jetzt gab es weder Spen- Einsitz im Landtagspräsidium erhalten. Im Gegenzug denverbote noch Obergrenzen für Spenden. Ersteres verliert die DU (da sie nur noch zwei anstatt der von wird sich mit der Revision des PPFG ändern. Art. 14 Abs. 1 GOLT geforderten drei Abgeordneten zählt) ihren Fraktionsstatus und damit die Vertretung Zuerst werden nun das geltende Recht und die ange- im Landtagspräsidium. Des Weiteren regelt die Ver- strebte Revision vorgestellt. Danach erfolgt ein Ver- einbarung die Bestückung der Kommissionen und gleich mit den Empfehlungen der GRECO. Delegationen. Die Parteienfinanzierung klammert sie 1. Direkte staatliche Parteienfinanzierung aus, mit der Begründung, dass diese im PPFG gere- gelt und Sache der Regierung ist.51 Die direkte staatliche Parteienfinanzierung findet ihre Grundlage im Parteienförderungsgesetz (PPFG).44 Art. 3 Abs. 1 PPFG setzt den gemäß dem Wahlergeb- ten Beiträge: BuA Nr. 53/2013 sowie Landtags-Protokolle nis bei den Landtagswahlen ausgeschütteten Betrag 2013, S. 1577-1586 und S. 2407 (Sitzungen vom 3. Oktober seit dem 1. Januar 201445 auf 710'000 CHF pro Jahr und 5. Dezember 2013). 46 42 Die Finanzgesetze für das Jahr 2018 und für 2019 (LGBl. Zum Schweizer Recht siehe: Patricia M. Schiess Rütimann, 2017 Nr. 344 und LGBl. 2018 Nr. 265) erwähnen unter Konto Politische Parteien. Privatrechtliche Vereinigungen zwischen 011.365.02 „Beiträge an politische Parteien“ in der Höhe von öffentlichem Recht und Privatrecht, jur. Habil., Universität CHF 930'000. Zürich, Schriften zum Parteienrecht und zur Parteienfor- 47 schung Band 41, Nomos, Baden-Baden 2011, Rz. 377-380. Die aktuelle Version (Stand 22.01.2019) ist abrufbar unter: www.gesetze.li/konso/22.1.2019/1982.22. 43 Gemäß Art. 4 Ziff. 3 FBP-Statuten ist automatisch Mitglied, 48 „wer für die FBP kandidiert oder ein von der FBP zu verge- Die Finanzgesetze (siehe Fn. 46) erwähnen in Konto bendes Mandat übernimmt“. Art. 3 Ziff. 1 VU-Statuten statuiert 011.365.01 die Position „Beiträge an Wählergruppen“ in der analog: „Mitglied der Partei wird, wer innerhalb der Parteior- Höhe von CHF 165'000. ganisation eine Funktion ausübt oder auf Vorschlag der Partei 49 Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Rechenschaftsbe- ein Amt oder eine Funktion auf Landes- oder Gemeindeebene richt der Regierung 2017, Vaduz 2018, abrufbar unter: www. übernimmt.“ Vereinsrechtlich ist nichts dagegen einzuwenden. llv.li/#/118248/, S. 442. 44 Die aktuelle Version (Stand 22.01.2019) ist abrufbar unter: 50 Die Vereinbarung ist abgedruckt in Vaterland, 01.09.2018, S. 3. www.gesetze.li/konso/22.1.2019/1984.31. Der Landtag stimmte der Vereinbarung am 5. September 2018 45 LGBl. 2014 Nr. 18. Die Beiträge wurden per 1. Januar 2014 ohne Gegenstimme zu: Landtags-Protokolle 2018, S. 1669-1671. um rund 10% gesenkt, die Pauschalen zum Schutz der kleinen 51 Manuela Schädler, „Der Volkswille soll gewahrt werden“, Parteien weniger stark als die gemäß Wahlerfolg ausgerichte- Vaterland, 01.09.2018, S. 3.

78 MIP 2019 25. Jhrg. Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht Aufsätze

Wie der Landtagspräsident bekannt gab, erhalten die 2. Praktisch keine indirekte staatliche Parteien- neue Fraktion und die DpL kein Geld aus dem Topf finanzierung 52 des PPFG. Vor mehreren Jahren, als der spätere Die Fraktionen erhalten keine Zahlungen. Offenbar Gründer der DU aus der VU austrat, hatte der Landtag leiten einzelne Abgeordnete einen Teil ihrer Sitzungs- beschlossen, ihm die in Art. 12a Gesetz über die Be- gelder an ihre Partei weiter.57 Dies ist nicht zu bean- züge vorgesehenen 5'000 CHF auszuzahlen und nicht standen. In Zukunft müssen solche Zahlungen aber mehr der VU zukommen zu lassen. Dies wird aktuell offengelegt werden.58 auch so gehandhabt mit dem aus der FPB ausgetrete- nen Abgeordneten und den drei Mitgliedern der Parteispenden sind in Liechtenstein nicht von der DpL.53 Diese Auslegung von Art. 12a Gesetz über Steuer absetzbar. Zuwendungen für den Versand von die Bezüge verstösst meines Erachtens gegen den Wahlwerbung oder für das Lancieren eines Referen- Sinn und Zweck des Gesetzes.54 Da die problemati- dums oder einer Initiative gibt es nicht. Ebenso we- sche Praxis schon seit mehreren Jahren gepflegt nig eine Obergrenze für Wahlkampfausgaben oder wird, ist es vertretbar, sie bis zu einer neuen gesetzli- für die Werbung für Initiativen und Referenden. chen Regelung beizubehalten. Der Landtag setzte Das Medienförderungsgesetz59 schließt die Unter- nämlich am 3. Oktober 2018 eine Besondere Land- stützung von Medienerzeugnissen mit Verbindungen 55 tagskommission (BLK) ein. Ihr Auftrag lautet: zu einer Partei nicht aus. Indem nur Unternehmen „Die BLK soll in Zusammenarbeit mit einem Ver- unterstützt werden, deren Medium mindestens zehn- fassungsexperten alle relevanten Fragestellungen mal pro Kalenderjahr erscheint (Art. 4 Abs. 1 lit. d eruieren und dem Landtag als Zwischenschritt einen MFG), sind die kleineren Parteien faktisch von der konkretisierten Auftrag mit Zielsetzungen zur Ge- Förderung ausgeschlossen.60 nehmigung vorlegen.“56 Die neuen Regelungen sollen nach den Landtagswahlen von 2021 in Kraft treten. Lokale Parteisektionen können vielerorts – wie an- dere Vereine auch – Räumlichkeiten der Gemeinde verbilligt oder gar gratis nützen. Überdies ist es den Gemeinden nicht verwehrt, lokale Sektionen oder 52 Hannes Matt, Parteienförderung: Kommission soll Gesetzes- besondere Anlässe einer Partei zu unterstützen. In schwächen aufdecken, Volksblatt, 15.09.2018, S. 1. Hannes Zukunft muss die nationale Partei diese Gemeinde- Matt, Frick: „Ein Parteiaustritt soll nicht mit finanziellen Vor- teilen einhergehen“, Volksblatt, 15.09.2018, S. 3. Die in Fn. 46 beiträge gestützt auf Art. 6 Abs. 1 Entwurf-PPFG in und 48 genannten Positionen der Finanzgesetze sind für 2018 ihrer Jahresrechnung offenlegen. und 2019 identisch. 53 Daniela Fritz, Hasler, Rehak und Elkuch vorerst als „Neue 3. Transparenz bezüglich der Parteifinanzen Fraktion“ im Landtag, Volksblatt, 01.09.2018, S. 1. An der Finanzierung wird die vorgesehene Revision 54 BuA Nr. 72/2001, S. 11, sagte klar, dass die 5'000 CHF pro des PPFG gemäß den Anträgen der Regierung vom 3. Abgeordneter an die Wählergruppe gehen, weil diese je nach Juli 2018 und 22. Januar 2019 (BuA Nr. 55/2018 und Anzahl der Abgeordneten einen unterschiedlichen Betreu- 61 ungsaufwand hat. BuA Nr. 5/2019 ) nichts ändern. Neu müssen jedoch 55 Landtags-Protokolle 2018, S. 1940-1948. die Parteien ihre Finanzen offenlegen. Zwar müssten die Parteien ihre Jahresrechnungen bereits seit 199562 56 Fragen werden unter anderem sein: „Ist ein Abgeordneter, der aus einer Partei austritt, eine Wählergruppe? Können parteilo- „in geeigneter Form veröffentlichen“. Die Parteien se Abgeordnete eine Fraktion bilden? Welche finanziellen haben aber – mit Ausnahme der FL – die Zahlen we- Konsequenzen hat ein Parteiaustritt im Zusammenhang mit der den Medien noch auf ihrer Website kommuniziert. der Parteienfinanzierung?“: Landtags-Protokolle 2018, S. 1946. Mehrere Fragen hatten sich bereits am 29. März 2018 gestellt: 57 So GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 18, 22 und 26. Der Abgeordnete Johannes Kaiser wurde am 1. März 2018 in eine Kommission gewählt. Nach seinem Austritt war die FBP 58 Siehe Art. 6 Abs. 5 lit. b und lit. m Entwurf-PPFG. nicht mehr in dieser vertreten. Art. 71 Abs. 4 GOLT gibt je- 59 Medienförderungsgesetz (MFG) vom 21. September 2006 doch den Parteien mit Fraktionsstärke das Recht, in den Kom- (LGBl. 2006 Nr. 223 LR 440.1). missionen vertreten zu sein. Für das Richterauswahlgremium, 60 Unter dem Gesetz von 1999 (LGBl. 2000 Nr. 14) hatte die in das Kaiser am 30. März 2017 gewählt worden war, lautete Zeitschrift der FL die Voraussetzungen (unter anderem das die Frage ähnlich. Gemäss Art. 96 Abs. 1 LV entsendet näm- Erfordernis des viermaligen Erscheinens) erfüllt. Klagen der lich der Landtag „je einen Abgeordneten von jeder im Land- FL gegen das Gesetz von 2006 war kein Erfolg beschieden: tag vertretenen Wählergruppe“. Siehe Landtags-Protokolle StGH 2007/21 Erw. 5.3 und StGH 2008/43 Erw. 2.2. Die Ur- 2018, S. 634-646, S. 771-785, S. 1237 f. (Sitzungen vom 29. teile sind zugänglich unter: www.gerichtsentscheidungen.li/. März, 2. Mai und 7. Juni 2018). Erbprinz Alois, Vorsitzender 61 des Richterauswahlgremiums, drängte auf eine saubere Rege- http://bua.gmg.biz/BuA/?buanr=55&buajahr=2018 und http:// lung. Unterdessen hat Kaiser das Richterauswahlgremium bua.gmg.biz/BuA/?buanr=5&buajahr=2019. verlassen: Vaterland, 04.06.2018, S. 8. 62 Siehe den mit LGBl. 1995 Nr. 102 ergänzten Art. 6 PPFG.

79 Aufsätze Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht MIP 2019 25. Jhrg.

Sie wurden auch nie dazu angehalten. Regierungsrätin Gegenüber der Öffentlichkeit sind die Namen der Aurelia Frick führte 2016 aus, dass gemäß histori- Spenderinnen und Spender nicht offenzulegen.68 scher Auslegung wohl an eine Veröffentlichung im Art. 6a Abs. 2 Entwurf-PPFG soll lediglich sicher- Rahmen einer Parteiversammlung gedacht wurde.63 stellen, „dass die in den politischen Parteien zustän- Weder die Regierung noch die Stabsstelle Finanzen digen Organe prinzipiell darüber informiert sind, haben die ihnen von den Parteien zugestellten Unter- von wem die Spende stammt.“69 Es wird nicht ver- lagen je veröffentlicht. langt, dass die Parteimitglieder Bescheid wissen über die Herkunft der Mittel.70 In der ersten Lesung Künftig müssen die Parteien der Stabsstelle Finanzen der Vorlage im Landtag71 regten Vertreter der FL mehr Unterlagen einreichen. Die Stabsstelle darf sie und der DpL an, das Gesetz solle wie in Österreich gemäß Art. 5 Abs. 4 Entwurf-PPFG durch ein Revisi- die Veröffentlichung der Namen von Großspenderin- onsunternehmen nachprüfen lassen. Die Jahresrech- nen und -spendern vorsehen.72 Verschiedene Abge- nung und den Bericht ihrer eigenen Revisionsstelle ordnete verlangten die Heraufsetzung des Betrags müssen die Parteien neu während mindestens fünf für anonyme Spenden auf 1000 CHF (analog zu den Jahren im Internet veröffentlichen (Art. 6 Abs. 3 1000 Euro in Österreich). Die Regierung schlägt für Entwurf-PPFG), nicht aber die Statuten. Art. 6 PPFG die zweite Lesung ein Annahmeverbot für anonyme über die Jahresrechnung wird gänzlich neu gefasst. Spenden von „mehr als 300 Franken“ vor. Österreich Art. 6 Abs. 5 Entwurf-PPFG zählt – orientiert am ös- sei in einigen Punkten strenger, weshalb die GRECO terreichischen Parteiengesetz 201264 – auf, welche dort anonyme Spenden bis 1000 Euro akzeptiere.73 Einnahmen und Erträge gesondert auszuweisen sind. Es sind dies neben den staatlichen Beiträgen und den Problematisch ist meines Erachtens, dass weder aus von den Parteien erwirtschafteten Erträgen vor allem dem Gesetzeswortlaut noch aus den erläuternden Be- „Mitgliedsbeiträge“ (lit. a), „Spenden“ (lit. f), „Ein- richten der Regierung klar wird, ob die uneinheitli- nahmen in Form kostenlos oder ohne entsprechende chen Formulierungen gewollt sind. Art. 6 Abs. 1 Vergütung zur Verfügung gestellten Personals“ Entwurf-PPFG beginnt wie folgt: „Jede politische (lit. h65) und „Sachleistungen“ (lit. i). Art. 6 Abs. 6 Partei hat über die Art ihrer Einnahmen und Ausga- Entwurf-PPFG listet diejenigen Ausgabenarten auf, ben (….) öffentlich Rechenschaft zu geben.“ Eine die künftig gesondert auszuweisen sind. wörtliche Auslegung würde es zulassen, von allen Gruppierungen, welche sich als politische Partei be- Art. 6a Entwurf-PPFG verlangt in Abs. 1 die Veröf- zeichnen oder Tätigkeiten ausüben, die von Parteien fentlichung eines Spendenreglements im Internet66 ausgeübt werden, die Vorlage der Jahresrechnung zu und hält in Abs. 2 (gemäß Version vom 3. Juli 2018) verlangen. Dieser Pflicht unterstünden bei dieser fest: „Politische Parteien dürfen keine Spenden von Auslegung sogar Gruppierungen, die noch zu keiner anonymen Spendenden annehmen, sofern die Spen- Wahl angetreten sind, und Wählergruppen, die kei- de im Einzelfall 100 Franken oder mehr beträgt.“ nen Anspruch auf Unterstützung haben, weil sie bei Der erläuternde Bericht der Regierung ergänzt, dass den Wahlen nicht den von Art. 1 lit. b PPFG gefor- sich „aus diesem Verbot für die politischen Parteien derten Erfolg hatten. Art. 6a Abs. 1 Entwurf-PPFG die Verpflichtung ergibt, alle Spenden (von 100 verlangt demgegenüber nur von denjenigen Parteien Franken oder mehr) gegenüber der Revisionsstelle ein Spendenreglement, „die Anspruch auf die Aus- offen zu legen. Diese hat unter anderem die gesetzes- richtung von Beiträgen nach Maßgabe dieses Geset- konforme Registrierung der Spenden zu prüfen.“67 zes erheben“. Abs. 2 desselben Artikels, der anony-

63 Landtags-Protokolle 2016, S. 1605 (Sitzung vom 31. August 2016). 68 So ausdrücklich BuA Nr. 55/2018, S. 26. 64 Siehe zu den relevanten Bestimmungen des österreichischen 69 Parteiengesetzes 2012: Peter Bussjäger, Rechtsfragen zum BuA Nr. 55/2018, S. 27. neuen Parteienrecht, ÖJZ 2013, S. 643-650, S. 648, und Wer- 70 Eine Abgeordnete sagte, die FBP-Fraktion wisse nicht, wer ner Zögernitz/Stephan Lenzhofer, Politische Parteien – Recht spendet. Darüber sei sie froh, weil sie so völlig unabhängig und Finanzierung, facultas.wuv, Wien 2013, S. 103 ff. Das sei: Landtags-Protokolle 2016, S. 1596 (Sitzung vom 31. Au- Parteiengesetz 2012 ist abrufbar im Rechtsinformationssystem gust 2016). des Bundes (www.ris.bka.gv.at/Bundesrecht/) in der Rubrik 71 Landtags-Protokolle 2018, S. 1779-1800 (Sitzung vom 6. „Bundesrecht konsolidiert“ mit der Abkürzung „PartG“. September 2018). 65 Näher definiert in BuA Nr. 55/2018, S. 23 f. 72 Ein ähnliches Postulat der FL war nur von sechs Abgeordne- 66 BuA Nr. 55/2018, S. 26: Das Reglement soll potentiellen ten unterstützt worden: Landtags-Protokolle 2013, S. 915-928 Spenderinnen und Spendern erklären, von wem die Partei (Sitzung vom 4. September 2013). Spenden annimmt und wie sie vorzugehen haben. 73 Landtags-Protokolle 2018, S. 1789 (Sitzung vom 6. Septem- 67 BuA Nr. 55/2018, S. 26. ber 2018) und BuA Nr. 5/2019, S. 6.

80 MIP 2019 25. Jhrg. Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht Aufsätze me Spenden verbietet, wendet sich unspezifisch an Liechtensteins Umsetzungsbericht vom 15. Dezem- „politische Parteien“. ber 2017 verwies auf den Vernehmlassungsentwurf vom 12. Dezember 2017 zur Revision des PPFG.82 Für die zweite Lesung hat die Regierung in BuA Entsprechend beurteilte der Konformitätsbericht der Nr. 5/2019 Antwort gegeben auf die von den Abge- GRECO vom 23. März 201883 den Vernehmlassungs- ordneten aufgeworfenen Fragen. Angesichts der Ent- entwurf. Bis auf wenige Punkte entsprechen BuA schlossenheit von Regierungsrätin Aurelia Frick in Nr. 55/2018 und BuA Nr. 5/2019 dem Vernehmlas- der Debatte vom 6. September 2018 und der grund- sungsentwurf. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sätzlichen Zustimmung von VU, FBP, FL und DpL, die GRECO – sofern der Landtag der Vorlage in der ist damit zu rechnen, dass der Landtag die PPFG-Re- von der Regierung präsentierten Version zustimmt – vision in der zweiten Lesung Ende Februar 2019 ver- bei der Prüfung der definitiven Gesetzesänderung abschieden wird. Gespannt sein darf man auf die For- zum selben Schluss gelangen wird wie der Konfor- mulierungen und auf die Höhe, bis zu der anonyme mitätsbericht. Spenden zulässig sein sollen. Interessant sind die Punkte, in denen der Konformi- VII. Evaluationen durch die GRECO tätsbericht Verbesserungsbedarf ausmacht, oder BuA Nr. 55/2018 und BuA Nr. 5/2019 vom Ver- Der Evaluationsbericht der GRECO vom 18. März nehmlassungsentwurf abweichen. 201674 gelangte zum Schluss, dass Liechtenstein „zu den wenigen GRECO-Mitgliedern [gehört], die über Nachbesserungsbedarf sah der Konformitätsbericht kein System zur Gewährleistung von Transparenz in vor allem bei der Umsetzung des Verbots von anony- der Parteienfinanzierung verfügen“.75 Abgeschlossen men Spenden.84 Die Vernehmlassungsvorlage hatte wurde der Bericht mit acht Empfehlungen. Zualler- für Art. 6a Abs. 2 die Formulierung vorgesehen: erst verlangte der Bericht von Liechtenstein, „die pe- „Politische Parteien dürfen keine Spenden von an- riodische Veröffentlichung von Jahresrechnungen onymen Spendenden annehmen, sofern die Spende durchzusetzen“.76 Gewicht legte er auch darauf, im Einzelfall mehr als 1'000 Franken beträgt.“ Die- „dass alle nur möglichen Formen privater Unterstüt- sen Vorschlag bezeichnete der Konformitätsbericht zung“ registriert und anonyme Spenden77 verboten als „unzureichend“. In BuA Nr. 5/2019 schlägt die werden.78 Überdies forderte der Bericht die Imple- Regierung deshalb vor, dass keine Spenden „von mentierung eines angemessenen Aufsichtsmechanis- mehr als 300 Franken“ von der Partei unbekannten mus‘.79 Der Bericht war nämlich zum Schluss ge- Spenderinnen und Spendern angenommen werden kommen, dass die Stabsstelle Finanzen die von dürfen. Hingegen verlangt die Regierung nicht, dass Art. 14 Recommendation REC(2003)480 geforderten die Namen der Spendenden öffentlich bekannt gege- Kriterien der Unabhängigkeit nicht erfüllt.81 ben werden, obwohl dies der Konformitätsbericht empfahl.85 Bereits der Evaluationsbericht hatte dar- auf hingewiesen, wie wichtig für die Wählerinnen und Wähler die Kenntnis ist, „von welchen einhei- 74 Evaluationsbericht zur Dritten Evaluationsrunde (Thema II: mischen oder ausländischen Interessen ihre Partei Transparenz der Parteienfinanzierung), verabschiedet von 86 GRECO an der 71. Vollversammlung (Strassburg, 14.-18. unterstützt wird“. März 2016), Greco Eval 3 Rep (2016) 2. Zugänglich unter: www.llv.li/files/aaa/greco-dritte-evaluationsrunde-teil-ii.pdf. Abgekürzt im Folgenden: GRECO-Evaluationsbericht. 82 Der Vernehmlassungsentwurf ist abrufbar unter: www.llv.li/ 75 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 62. files/srk/vnb-beitrage-an-politische-parteien.pdf. Weitere Maß- nahmen trifft Liechtenstein nicht. Liechtenstein sagt (GRECO- 76 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 63. Konformitätsbericht Ziff. 60), dass das PPFG starke Anreize 77 Gemäß Empfehlung IV meint „anonyme Spenden“ Spenden für die Eintragung als politische Partei setze und deshalb die von „Personen oder Organen“, „die der politischen Partei richtige Stelle für Regelungen sei. bzw. dem politischen Kandidaten ihre Identität vorenthalten“. 83 Konformitätsbericht zur Dritten Evaluationsrunde (Strafbe- 78 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 63. stimmungen und Transparenz der Parteienfinanzierung), ver- 79 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 63. abschiedet von GRECO an ihrer 79. Vollversammlung (Straß- 80 burg, 19.-23. März 2018), GrecoRC3(2018)3. Zugänglich unter: Recommendation REC(2003)4 of the Committee of Ministers www.llv.li/files/aaa/veroffentlichter-erster-umsetzungsbericht- on common rules against corruption in the funding of political de-2018.pdf. Abgekürzt im Folgenden: GRECO-Konformi- parties and electoral campaigns, adopted on 8 April 2003, tätsbericht. www.coe.int/t/dg1/legalcooperation/economiccrime/cybercrime/ 84 cy%20activity%20interface2006/rec%202003%20(4)%20pol GRECO-Konformitätsbericht Ziff. 77. %20parties%20EN.pdf. 85 GRECO-Konformitätsbericht Ziff. 84. 81 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 57. 86 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 53.

81 Aufsätze Schiess Rütimann – Die liechtensteinischen Parteien und das Recht MIP 2019 25. Jhrg.

Der Konformitätsbericht kritisierte des Weiteren das Fehlen von Plänen, „eine unabhängige staatliche Stelle mit der Aufsicht über die Finanzen politischer Parteien zu beauftragen.“87 In der Tat sehen BuA Nr. 55/2018 und BuA Nr. 5/2019 keine Änderungen bei der Stabsstelle Finanzen vor. Meines Erachtens sind solche nicht vordringlich. Gemäß den BuA sol- len die Ergebnisse der von der Stabsstelle vorgenom- menen Prüfung nicht veröffentlicht werden. Dies kri- tisiert die GRECO.88 Angesichts der einfachen, nur über zwei Ebenen angelegten Struktur der liechten- steinischen Parteien darf jedoch erwartet werden, dass die Leserschaft der Jahresrechnungen ihre eige- nen Schlüsse ziehen kann. Die Anregung der GRECO, auch die von Dritten einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten gewährte Unterstützung einer Regelung zuzuführen,89 wird von der Regierung nicht aufgegriffen, ebenso wenig, dass es laut GRECO ideal wäre, „spezifische Informatio- nen über die Finanzierung von Wahlkämpfen bereits während der Kampagne“ zugänglich zu machen.90

VIII. Schlusswort Die völkerrechtlichen Vorgaben zur Parteienfinan- zierung geben keine Antwort auf die aktuellen politi- schen Fragen in Liechtenstein (Parteiaustritt von Ab- geordneten, Spaltung einer Fraktion, Neugründung von Parteien, Finanzprobleme der Tageszeitungen). Von daher sieht sich Liechtenstein gleich an zwei Fronten gefordert: Einerseits gilt es, vor den Land- tagswahlen von 2021 gesetzliche Grundlagen für den Umgang mit parteilosen Abgeordneten und Parteien- spaltungen zu erarbeiten. Andererseits will Liechten- stein die Empfehlungen der GRECO fristgerecht bis zum 30. September 2019 umsetzen und eine „baldige Entlassung aus der Evaluationsrunde“ erreichen.91 Es ist deshalb verständlich, dass Regierung und Land- tag die Revision des PPFG auf die von der GRECO monierten Punkte beschränken. Sinn und Zweck der Arbeit der GRECO ist es, auch für Gefahren zu sensibilisieren, die noch nicht auf- getreten sind oder nicht wahrgenommen wurden. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich der liechtensteini- sche Gesetzgeber der Aufgabe stellt und dadurch die Öffentlichkeit für die Frage sensibilisiert wird, wo- her das Geld der Parteien stammt.

87 GRECO-Konformitätsbericht Ziff. 92. 88 GRECO-Konformitätsbericht Ziff. 97. 89 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 51. 90 GRECO-Evaluationsbericht Ziff. 54. 91 BuA Nr. 55/2018, S. 10.

82 MIP 2019 25. Jhrg. Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] Aufsätze

Politische Theorie Politischer Parteien: Nor- Teil des Gegenstandes der Parteienforschung – massiv mative Elemente und innerparteiliche Kon- in Frage gestellt wird.3 sequenzen einer Republikanischen Perspek- Der vorliegende Aufsatz widmet sich somit der Frage tivierung Politischer Parteien nach dem Eigenwert politischer Parteien und möchte diese in eine Politische Theorie Politischer Parteien Julian Lechner1 überführen, um hiermit einen wirkmächtigen Kon- trapunkt gegen die wachsende Parteienverdrossen- heit zu setzen, die für Jun (2009: 2) gar schon die 1. Einleitung Form einer Parteienapathie angenommen hat. Hier- zu soll zunächst eine republikanische Genealogie Über mangelnde Aufmerksamkeit seitens der politik- von Parteien vorgenommen werden, in der sich der wissenschaftlichen Literatur können sich politische intrinsische Wert von Parteien offenbart. Aus einer Parteien nicht beklagen. In der Auseinandersetzung kritischen Reflexion der demokratietheoretischen mit Parteien lassen sich in Anlehnung an den zeitlo- Paradigmen die das Verhältnis von Parteien und De- sen Klassiker von Katz/Mair (1993) drei unter- mokratie thematisieren lassen sich vor dem Hinter- schiedliche „Gesichter“ politischer Parteien zeichnen: grund der republikanischen Perspektivierung indes (1.) das eines Mittäters in der vielbeschworenen Krise normative Elemente ableiten. Die starke Binnenori- der Demokratie (z. B. Merkel 2016), (2.) das eines entierung des republikanischen Parteienideals hat in- Opfers dieser Entwicklungen (z. B. von Alemann/ des zur Folge, dass eine hieraus abgeleitete normati- Strünck 1999) und nicht zuletzt (3.) das einer wichti- ve Politische Theorie Politischer Parteien auch mit gen Schlüsselinstitution zur Bewältigung der krisen- einer Politischen Theorie innerparteilicher Demokra- haften Tendenzen (z. B. Lechner 2018). Die lebhafte tie einhergeht, wodurch mit dem Fazit des Aufsatzes Diskussion um die Rolle politischer Parteien zeigt gleich zwei Leerstellen der Parteienforschung adres- vor allem eines: Sie sind entgegen so mancher Be- siert werden. hauptungen in der Krisenliteratur eben kein Auslauf- modell, dennoch aber in vielerlei Hinsicht „the or- 2. Parteien und die republikanische Grundidee: phans of political philosophy“ (Schattschneider Von Aristoteles bis Rosanvallon 1942: 10). Mitunter erlaubt, frei nach Machiavelli (1977: 276), Tatsächlich offenbart ein Blick auf die politische die Rückführung der Dinge auf ihren Ursprung in Philosophie der Gegenwart in der theoretischen Aus- besonderer Weise die Identifizierung analytischer einandersetzung mit Parteien ein Forschungsdesiderat, wie normativer Potenziale einer Sache. Dabei gibt es das angesichts einer unzureichenden Zusammenfüh- rung demokratietheoretischer und parteienwissen- 2 Auch ohne diese Annahmen an dieser Stelle auf ein empiri- schaftlicher Forschungsstränge bisher nur mangelhaft sches Fundament zu stellen, kann sie durch einen ‚Augentest‘ adressiert wurde (van Biezen/Saward 2008: 25, 28; zumindest als plausibel verifiziert werden. So kann auf mo- Pettitt 2012: 647 f.). Der Versuch, eine dezidierte derne Phänomene wie „Occupy“ oder die „identitären Bewe- gungen“ (zu denen man zahlreiche national-konservative, neo- normative Theorie politischer Parteien zu entwickeln, rassistische oder neo-faschistische Gruppen zählen kann) ver- wurde bisher nicht unternommen (ansatzweise wiesen werden. Ebenso offensichtlich zeigt sich dies in Öster- Lembcke 2018), stattdessen zeichnet sich demokratie- reich und Frankreich, wo politische Akteure nicht durch Par- theoretische Parteienforschung bisher lediglich durch teien, sondern durch hinter ihnen stehende soziale Bewegun- gen in Ämter gehievt wurden. Gleichzeitig sind sozialdemo- ein Nebeneinander unterschiedlicher Paradigmen zum kratische Parteien wie die SPD oder die „Parti Socialiste“ Verhältnis von Demokratie und Parteien aus. Dies ist (PS, Frankreich) nicht in der Lage, ihren wachsenden Bedeu- umso erstaunlicher, weil gerade in Zeiten wachsender tungsverlust zu stoppen. Konservative Parteien sehen sich Entfremdung, Parteienverdrossenheit und -apathie, ähnlichen Problemen ausgesetzt. Sehr viel deutlicher als in die sich in rückläufigen Mitgliederzahlen ebenso der Bundesrepublik kann man diese Entwicklung in Italien oder v.a. den USA erkennen, wo es den Republikanern nicht deutlich zeigt wie am Bedeutungszuwachs populisti- gelungen ist die „Tea Party“ Bewegung zu integrieren oder scher bis radikaler Bewegungen oder dem souveränen die „Übernahme“ Donald Trumps zu verhindern. Einzug vermeintlicher Anti-Establishment-Parteien in 3 Natürlich lässt sich auch eine normative Parteienliteratur aus- die Parlamente,2 die normative Dimension politischer machen, deren Autoren die intrinsische Bedeutung politischer Parteien – und damit einhergehend auch ein großer Parteien hervorheben und sie als wichtige Akteure einer funk- tionierenden repräsentativen Demokratie gegen Kritik und Abgesang verteidigen (Muirhead 2006; Muirhead/Rosenblum 1 Der Autor ist Geschäftsführer des Forschungszentrum Europa 2006; Rosenblum 2008; White/Ypi 2011), die Überführung in an der Universität Trier. eine Theorie Politischer Parteien bleibt jedoch aus.

83 Aufsätze Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] MIP 2019 25. Jhrg. aus demokratietheoretischer Perspektive vermutlich tisch umstritten, folgerichtig erkennt Aristoteles im nichts Ursprünglicheres als den aristotelischen De- „diskursiven Modus“ (Kielmansegg 2018) den dem mokratiebegriff der Antike. Schon Dolf Sternberger Politischen angemessenen Handlungsmodus, dem klu- entwickelte seinen weiterhin sehr einflussreichen ges kollektives Handeln zugrunde liegt. Handlungs- Politikbegriff auf der Grundlage von Aristoteles‘ prozesse dieser Art geben der Politik, und damit den „Politik“ und folgt der darin formulierten Kritik an Parteien, einen normativen Eigenwert, weil sie Platons Einheitsstaat (Sternberger 1982). Die struk- „transformative Räume“ (Lembcke 2018: 169) eröff- turelle Stärke politischer Parteien offenbart sich in- nen, in denen Erfahrungen verarbeitet, eigene Positi- teressanterweise bereits in ebenjenem aristotelischen onen reflektiert und daraus resultierende Differenzen Theorem, das die originäre Vielheit in den Mittel- neu interpretiert werden können. Aus der Kontin- punkt seiner Politischen Theorie rückt. Dabei kann genz demokratischer Mehrheiten generiert sich so- es natürlich nicht darum gehen, Aristoteles Worte mit eine grundsätzliche Funktion politischer Partei- gesellschaftspolitischer Phänomene in den Mund zu en: Statt einer additiven Logik zu folgen und die legen, die erst zweitausend Jahre nach ihm eine Rol- Vielfalt gesellschaftlicher Einzelinteressen bloß auf- le spielen würden. Einen solchen anachronistischen zusummieren, müssen sie individuelle Interessen Fauxpas, vor dem Richard Rorty (2003: 384) so ein- verdichten, durchpolitisieren und in ein Gesamtinter- dringlich warnte, gilt es in der ideengeschichtlichen esse einbetten, um damit die gesellschaftliche Viel- Herleitung einer Politischen Theorie Politischer Par- heit dialog- und konfliktfähig zu machen. teien tunlichst zu vermeiden. Der Verweis auf die Eine offensichtlichere ideengeschichtliche Referenz gesellschaftliche Pluralität als fundamentale Katego- bezüglich der Bedeutung politischer Parteien findet rie des Politischen macht Aristoteles aber zu einem sich unterdessen bei James Madison, dessen Federa- bemerkenswerten Anknüpfungspunkt. Dieser Ver- list No. 10 allerdings zunächst die „effects of the in- weis lässt sich im Grunde zunächst auf den bedeu- stability and injustice, with which a factious spirit tungsschweren Satz im zweiten Buch der „Politik“ has tainted our public administrations“ (Hamilton reduzieren, der auf den ersten Blick ebenso un- u.a. 2001: 43) kritisiert und deswegen lange Zeit scheinbar wie banal daherkommt: „Seiner Natur (wenn überhaupt) vornehmlich als Parteienkritik re- nach ist der Staat eine Vielheit“ (Aristoteles 1994: zipiert wurde. Die eindringliche Warnung der Fe- 78). Akzeptiert man diese Prämisse, sind die Konse- deralist Papers vor den Gefahren durch Parteiungen quenzen sehr weitreichend. scheint aber weniger ein Plädoyer für deren Ableh- Das so konstituierte politische Gemeinwesen steht nungswürdigkeit, sondern vielmehr eines für deren vor der Aufgabe, diese gesellschaftliche Pluralität mit bedeutungsvolle Position im republikanischen Sys- allen unterschiedlichen Lebenslagen und Interessen tem zu sein, zumal sie nicht nur der menschlichen in konkrete politische Entscheidungen zu überführen. Natur entspringen, sondern sich v.a. auch aus der de- Unter Wahrung der originären Vielheit müssen somit mokratischen Regierungsform selbst ergeben.4 Ihren Fähigkeiten zu gemeinsamem Handeln entwickelt normativen Mehrwert erhalten politische Parteien in werden. Aristoteles bestimmt „phronesis“ (Aristoteles diesem Zusammenhang durch die von ihnen bewirk- 1961: 135 ff.), also praktische Klugheit, als die der te angemessene Strukturierung des pluralistisch-de- Politik angemessene Handlungstugend. Sie befähigt mokratischen Gemeinwesens, die sich aus ihrer not- zum Urteilen und rückt dadurch nicht Wahrheit, son- wendigen institutionellen Einhegung ergibt (vgl. dern eine situationsbezogene Richtigkeit und Ange- hierzu ausführlich Lembcke 2018), die nur durch die messenheit in den Mittelpunkt. Somit lässt sich in Etablierung einer angemessenen Gegenmacht erfol- seinem antiken Politikbegriff ein sinnstiftendes Ele- gen kann, um eine Machtkonzentration zu verhin- ment für politische Parteien identifizieren: Kontin- dern und Konkurrenz und Konfliktivität zu gewähr- genz. Aus der Veränderlichkeit und prinzipiellen Of- leisten. Kurz: „Ambition must be made to counteract fenheit menschlicher Überzeugungen ergibt sich die ambition“ (Hamilton u.a. 2001: 268). Voraussetzung Notwendigkeit kollektiver Akteure in der Demokra- hierfür ist das Wissen um die Pluralität der Akteure tie. Das Funktionieren des politischen Gemeinwe- und die Kontingenz des Politischen, was den politi- sens hängt von der Wahrung dieser Kontingenz ab, schen Akteuren notwendigerweise ein Mindestmaß die eine demokratische Bildung eines „Gesamtinter- an Toleranz gegenüber den politischen Rivalen ab- esses“ erst ermöglicht, da die hieraus hervorgehen- verlangt. den kollektiven Akteure mehr sind als verstetigte po- 4 litisch-ideologische Identitätsgruppen. Überzeugun- Auch hier ließe sich, wie schon bei Aristoteles, die Kontin- genz des Politischen wiederum als sinnstiftendes Element gen können sich nämlich ändern und sind stets poli- identifizieren.

84 MIP 2019 25. Jhrg. Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] Aufsätze

Als zentrale Schlüsselfunktion lässt sich in diesem unmittelbare politische Selbstorganisation, deren Zusammenhang die Integrationsleistung politischer Herausforderung man ob fehlender hierfür geeigne- Parteien identifizieren, die eine Voraussetzung für ter Mittel gar nicht gewachsen wäre, noch die For- eine auf Dauer angelegte Repräsentation darstellt. Be- mierung alternativer Organisationsformen sei ein er- sonders deutlich wird diese normative Sinnhaftigkeit strebenswerter Zustand, so das Fazit (Goodin 2008: politischer Parteien in ihrer Abgrenzung zu affekti- 210 ff.). Dieser Mangel an Alternativen stellt indes ven, monothematischen sozialen Bewegungen. Diese aber noch keine ausreichende Legitimationsgrundla- können zwar durchaus auch Institutionalisierungs- ge politischer Parteien dar, sondern stellt Parteien muster und innere Ausdifferenzierungen aufweisen angesichts zunehmender Unzufriedenheit und Ab- und stellen mitunter strategiefähige kollektive Akteu- kehr, die unmittelbare Resultate der Irresponsibilität re politischen Handelns dar, aufgrund ihres spezifi- etablierter Vermittlungsinstitutionen sind, vor wach- schen Sachinteresses bleibt ihr Beitrag zur System- sende Herausforderungen. und Sozialintegration überschaubar. Politische Par- Eine vermeintliche Antwort hierauf findet sich bei teien entwickeln in Abgrenzung hierzu aber gerade Pierre Rosanvallon. In seiner „Counter Democracy“ im Spannungsfeld von Mitglieder- und Einflusslogik (2008) richtet er seinen Blick auf die Formierung po- (Streeck/Schmitter 1981) ihre Konturen sowie ihren litischer Präferenzen qua Negation, sodass Transpa- intrinsischen Wert. Denn: Weil in Parteien einzelne renz, Veto- und Widerspruchsrechte Charakteristika Sachinteressen mit anderen Themenfeldern verknüpft eines negativen Souveräns darstellen, die als „Gegen- werden, entfalten sie komplexitätsreduzierende und Demokratie“ die klassischen demokratischen Ver- strukturierende (Bukow 2013: 274; Wolkenstein fahren, Praktiken und Institutionen flankieren. Ne- 2013: 94), somit zugleich auch rationalisierende und ben der Analyse von Erosionsprozessen repräsentati- letztlich integrative Wirkungen, sodass sie der Ge- ver Demokratien, die – so sein ernüchterndes und fahr einer verminderten Dialog- und Konfliktfähig- zugleich desillusionierendes Fazit – nicht einfach keit durch Moralisierung und „Überhitzung“ des po- rückgängig gemacht oder überwunden werden könn- litischen Diskurses entgegenwirken. Indes transfor- ten (Rosanvallon 2008: 22; 290ff), kritisiert er über- mieren sie die Vielfalt der unterschiedlichen Interes- dies den fehlenden Blick auf diese „unsichtbaren In- sen in eine kontinuierliche Beteiligung an der demo- stitutionen“ der Gegendemokratie, deren unter- kratischen Willensbildung. Sie sind Teil des Souve- schiedliche Dimensionen in liberalen Demokratie- räns, ohne gleichzeitig für sich zu beanspruchen al- konzepten vielfach übersehen würden (Rosanvallon leine für den Souverän sprechen zu können5; man 2008: 13; 290). Parteien spielen für ihn als potentielle könnte auch sagen: Parteien präsentieren sich als Träger einer „Gegen-Demokratie“ indes keine Rolle: Gliederung des Souveräns selbst. Sie werden da- Bis auf seltene Ausnahmen werden sie in seiner durch zur Möglichkeitsbedingung eines durch ge- Analyse nicht explizit thematisiert, darüber hinaus genseitiges Machtstreben gekennzeichneten Systems finden sich auch in den neuen Schriften Rosanval- der „checks and balances“. lons keine positiven Verweise. Dies ist kaum ver- Die Stoßrichtung der bisherigen Argumentation ist wunderlich, sieht er Parteien doch primär als klassi- somit klar: Es gibt keine Alternativen zu politischen sche Institutionen eines „repräsentativ-legalen Me- Parteien, die quasi als funktionale und normative chanismus“ (Heidenreich 2016: 68), die zudem im Notwendigkeiten in die republikanische Grundidee Abstieg begriffen seien (Rosanvallon 2016: 19), eingeschrieben sind. Die Absurdität einer „No-Party während affektive Interessengruppen, die konkrete Democracy“ verdeutlicht Robert E. Goodin (2008), Anliegen in die Entscheidungsinstitutionen tragen der das Bild einer Demokratie zeichnet, die ohne po- und diese zugleich im Sinne der Sichtbarkeit der Re- litische Parteien auszukommen versucht.6 Weder die präsentanten überwachen, die Schlüsselakteure einer funktionierenden „Gegen-Demokratie“ darstellen 5 Das unterscheidet Parteien letztlich von populistischen Bewe- (Rosanvallon 2008: 61 f.; 2016: 22 f.). gungen, die auf „das“ Volk rekurrieren und sich v.a. durch ihre anti-pluralistische Attitüde auszeichnen (vgl. hierzu Jedoch lassen sich Parteien nur dann als Institutio- Müller 2016). nen eines repräsentativ-legalen Mechanismus von 6 In diesem Gedankenexperiment werden alle anderen Faktoren den „unsichtbaren“ Institutionen der „Gegen-Demo- vollkommen konstant gehalten, sodass er eine (idealisierte) kratie“ abgrenzen, wenn man ihre Binnenperspektive Demokratie entwirft, die sich lediglich durch die Abwesenheit von politischen Parteien von realen Demokratien unterschei- ausblendet. Dieser Rückschluss, der Rosanvallons det. Methodologisch bedeutet das: „Trying to imagine what exactly our world would be like if just one crucial piece of our trying to determine what, exactly, that missing piece is doing actual world were missing proves to be a very good way of for us in our actual world” (Goodin 2008: 204).

85 Aufsätze Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] MIP 2019 25. Jhrg. außergewöhnlicher Methodik einer historisch argu- (1989) „Soziologie des Parteiwesens“, aus der sich mentierenden Rekonstruktion (hierzu u.a. Diehl/ eine normative Begründung eines Elitenkonzeptes ab- Schulz 2012: 287) geschuldet scheint, ist durchaus leiten lässt, das keine Alternative zu politischer Füh- revisionsbedürftig. So weist Felix Heidenreich (2016: rung kennt. Deutlich wird dies vor allem bei Joseph 68) richtigerweise darauf hin, dass gerade im inner- Schumpeter, dessen Marktrhetorik den Widerspruch parteilichen Wettbewerb positive und negative Sou- von Eliten und Demokratie aufhebt. Die Limitierung veränitäten exemplarisch aufeinandertreffen und da- politischer Partizipation auf die Auswahl politischer durch gerade politische Parteien den Unterschied Eliten wird hierbei nicht als undemokratisch verstan- von Demokratie und „Gegen-Demokratie“ veran- den (Kirchheimer 1966: 195 f.), da der Demokratie- schaulichen. Parteitage seien beispielsweise keine begriff auf die zwischenparteiliche Konkurrenz re- alleinigen Orte der positiven Zielformulierung, der duziert wird. Parteipolitische Aktivitäten müssen Rechtfertigungsdruck und die stete Gefahr der Abbe- sich in diesem Verständnis vor allem auf die Maxi- rufung oder Abwahl ist parallel hierzu auch Aus- mierung von Effizienz und Schlagkraft konzentrie- druck eines negativen Souveräns. Mit Blick auf neue ren, weshalb Formen von innerparteilicher Demo- wie alte Formen innerparteilicher Beteiligung kann kratie im Sinne von Partizipation als dysfunktional man die Liste der Anschauungsbeispiele problemlos abgelehnt werden. erweitern. Somit kann man mit Rosanvallon über Mit Blick auf die jüngere Demokratietheorie lässt sich Rosanvallon hinausgehend eine Leerstelle adressie- feststellen, dass Schumpeters Ideen an Aktualität nur ren, die sich bereits in der republikanischen Theorie wenig eingebüßt haben. Es lässt sich im Schatten des Madisons auftut: Das wohlgeordnete Wechselspiel Postdemokratiediskurses (Crouch 2008) eine zuneh- von „democracy“ und „counter-democracy“, natürlich mende Attraktivität elitär-führungszentrierter Reprä- ebenso wie jenes gegenläufiger Machtbestrebungen sentationstheorien feststellen, die besonders deutlich bei Madison (Hamilton u.a. 2001: 268), beschränkt in der Theorie der „leader democracy“ (Ritzi/Schaal sich nicht nur auf die Konkurrenz zwischen Parteien, 2010) zum Ausdruck kommt, die insbesondere durch sondern vollzieht sich ebenso, und zwar mit nachhal- die Arbeiten von András Körösényi geprägt wurde. tigen Integrationswirkungen, innerhalb von Parteien. „One of the important traits of leader democracy is Der intrinsische Wert politischer Parteien kann nur the personalization of politics“ (Körösényi 2005: angemessen erfasst werden, wenn sich der Blick 367), so Körösényi, der diese Personalisierung als auch nach innen richtet und man die Binnenorientie- qualitatives Element der „leader democracy“ ver- rung der republikanischen Grundidee angemessen steht (Körösényi 2005: 375). Die Fokussierung auf berücksichtigt. Denn die Legitimation politischer eine repräsentative Persönlichkeit erlaube es, die ne- Parteien resultiert zuvorderst aus der angemessenen gativen Folgen gesellschaftlicher Entwicklung abzu- Ausgestaltung innerparteilicher Demokratie (quasi mildern und vermeintlicher Führungsschwäche und als Input-Legitimität). Handlungsunfähigkeit entgegenzuwirken, die zahl- reiche Krisendiagnosen der repräsentativen Demo- 3. Parteien im paradigmatischen Widerstreit nor- kratie auszeichnen (Körösényi 2005: 365). mativer und realistischer Demokratietheorien Politische Parteien kommen erst an dieser Stelle Zunächst gilt es allerdings zu fragen, inwiefern sich explizit ins Spiel, indem sie im Sinne Schumpeters die skizzierte sinnstiftende republikanische Grund- auf ihren instrumentellen Charakter reduziert werden. idee in den demokratietheoretischen Paradigmen, die Damit besitzen sie zwar keinen expliziten normativen den bisherigen Rahmen theoretischer Auseinander- Eigenwert, bleiben aber dennoch wichtige Akteure setzungen prägten, niederschlägt. Hierbei muss v.a. im demokratischen Machtwettbewerb. Innerhalb der auf Leerstellen hingewiesen werden, die sich auf- Partei geht es jedoch nicht mehr um eine größtmög- grund der fehlenden theoretischen wie empirischen liche Responsivität, also eine Überführung der Prä- Berücksichtigung innerparteilicher Demokratie auf- ferenzen der Mitgliederbasis in politisches Handeln. tun, ist doch gerade dieser Zweig der Parteienfor- Stattdessen wird die Parteiführung als handlungsauto- schung schlicht „under-explored in literature“ (Pettitt nomer Treuhänder im politischen Prozess verstanden 2012: 647). (Ritzi/Schaal 2010: 10 f.), was rationale und wider- Ausgangspunkt einer „realistischen“ Denktradition spruchsfreie Entscheidungen ermögliche (Körösényi politischer Parteien ist, mit zunehmend wiederauf- 2005: 369). Politische Parteien werden in einem sol- keimendem Interesse (u.a. Bender/Wiesendahl 2011; chen Demokratiemodell als Opfer des Elitismus zu Rüb 2012; Straßenberger 2012), Robert Michels‘ fügsamen Führerparteien degradiert, parallel hierzu

86 MIP 2019 25. Jhrg. Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] Aufsätze die Parteibasis zum bloßen Mitarbeiterstab, dessen Neuralgischer Punkt dieses normativ-identitärdemo- Hauptaufgabe darin bestehe, den Parteiapparat für kratischen Paradigmas ist allerdings die offensichtli- politische Führung brauchbar zu machen (Pakulski/ che Unhaltbarkeit des Identitätsbegriffes angesichts Körösényi 2012: 9 ff.). nicht zu leugnender Mitgliederverluste. Leibholz‘ Parteienstaatslehre scheitert somit an ihrer eigenen Eine Kritik hieran setzt indes schon beim irreführen- Prämisse und setzt sich mit der Überbetonung des den Selbstverständnis der „realistischen“ Denktradi- identitären Charakters politischer Parteien gar dem tion an: Bei begrifflich differenzierter Betrachtung han- Vorwurf aus, Ungleichheit zu reproduzieren, statt delt es sich hierbei um eine Bündelung elitistisch-kon- sich dem egalitär-partizipativen Versprechen der De- kurrenzdemokratischer Ideen, die primär einen funk- mokratie anzunähern (vgl. Towfight 2011; von Ooyen tionalistischen Zusammenhang von politischen Partei- 2006; Nettersheim 2008). Der antipluralistische We- en und Demokratie formulieren. Gerade unter Einbe- senszug der Theorie durch Rekurs auf den Identitäts- ziehung neuerer wettbewerbstheoretischer Erkennt- begriff erweist sich somit als großes Problem beim nisse lässt sich diese Haltung jedoch kaum aufrecht- Entwurf einer angemessenen normativen Theorie po- erhalten, weil zwar berechtigterweise auf die Bedeu- litischer Parteien. Die Vorstellung einer „mystischen tung des Wettbewerbs verwiesen, die integrative und Volkseinheit“ (Steinberg 2014: 410) verfehlt die Re- legitimatorische Wirkung von Partizipation in Partei- alität eines pluralistischen Gemeinwesens und lässt en jedoch verkannt wird. Es handelt sich hierbei so- sich empirisch kaum rechtfertigen. Angesichts einer mit um kaum realisierbare Wunschvorstellungen der paradigmatischen Neubewertung politischer Reprä- zugrundeliegenden Autoren und nicht um eine rea- sentation, wodurch diese vom Hindernis zur Mög- listische Gegenstandsbeschreibung der Demokratie. lichkeitsbedingung wird (Thaa 2008), ist indes die Eine fehlende innerparteiliche Perspektive kann man „begriffliche Dichotomie“ (Steinberg 2014: 410; mit Blick auf das normativ-identitärdemokratische Siehr 2013: 68) und scharfe Trennung von Reprä- Paradigma nicht beklagen, dessen Fundament die in sentation und Identität, die zur Ablehnung von Re- Deutschland sehr einflussreiche Parteienstaatslehre präsentation im Parteienstaat führen muss, nicht des ehemaligen Verfassungsrichters Gerhard Leibholz mehr zu rechtfertigen. Eine an Leibholz angelehnte bildet. Leibholz postuliert hierin eine identitäre Vital- Theorie politischer Parteien wäre somit aufgrund beziehung von Partei und Volk als Ausdruck einer ihres antipluralistischen Charakters nicht in der angemessenen Volkssouveränität. Da partizipatori- Lage, Parteien auch als idealtypische Institutionen sche Theorien von einem grundsätzlichen Interesse des repräsentativen Systems zu begreifen. Damit politischer Selbstentfaltung ausgehen und Partizipati- wird faktisch ausgeblendet, dass Parteien neben den on, anders als realistische Ansätze, über ihren metho- Parlamenten am ehesten jene Institutionen sind, die dologischen Kern auch als ethisches Ziel verstehen die repräsentativ-demokratische Ordnung des Ge- (Bachrach 1967: 11 ff.; Scharpf 1975: 55), stellt für meinwesens tragen und damit als Korrektiv gegen Leibholz die Parteienherrschaft die einzige Möglich- Ungleichheit wirken (Lechner 2018: 668). keit einer demokratischen Herrschaft des Volkes dar, Ein sich zwischen diesen Strängen positionierender da der Bürger nur durch politische Parteien ausreichend deliberativ-kommunikativer Theorieansatz versucht im politischen Entscheidungsprozess partizipieren indes das Spannungsverhältnis von Repräsentation könne. Dabei könne der gesellschaftliche Gesamt- und Partizipation zu lindern. Ziel deliberativer Demo- wille nicht durch Repräsentation zum Ausdruck ge- kratiemodelle (Habermas 1973, 1990; Cohen 1989) bracht werden, sondern nur durch das Rousseau’sche ist die Herstellung konsens- und zustimmungsfähiger Identitätspostulat (Leibholz 1933), wodurch der Par- Politikergebnisse und eine damit einhergehende, teienstaat die rationalisierte Erscheinungsform der größtmögliche politische Integration (Habermas 1973: plebiszitären Demokratie darstelle (Leibholz 1957: 148) durch ein von äußeren und inneren Zwängen 70). Ihr transmissiver Charakter (vgl. Steffani 1988) losgelöstes kommunikatives Handeln (Habermas mache Parteien, als „Surrogat der direkten Demokra- 1998: 370; Cohen 1989: 22 f.). Das Verhältnis von tie im modernen Flächenstaat“ (Leibholz 1967: 93 f.), politischen Parteien und einem deliberativen Demo- zum partiellen Ersatzmedium für eine unmittelbare kratieideal ist hierbei ambivalent. Die Skepsis ge- Beteiligung der Bevölkerung bzw. zum notwendigen genüber Parteien, die auf den ersten Blick inkompa- Gegengewicht zu den mittelbar-demokratischen tibel mit dem Werte- und Meinungspluralismus der Strukturen des Staates (Seidel 1998: 177). Der Blick deliberativen Gesellschaftsvorstellung scheinen, wird damit zunächst in die Parteien gerichtet, inner- sollte allerdings nicht als grundlegende Ablehnung parteiliche Partizipation normativ aufgewertet. missverstanden werden (vgl. dazu auch Wolkenstein

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2013: 96 f.). Tatsächlich spielen Parteien gerade im „deliberative poll“ (Fishkin/Luskin 2005) nur bedingt Denken von Jürgen Habermas eine wichtige Rolle, zu lösen vermag (Calabretta 2012; Ladd 1996; seien sie doch als pluralistische Zentren der Öffent- Ritzi/Schaal 2009) – zwei theoretische Einwände lichkeit „virtuelle Knotenpunkte einer […] regenera- formulieren: (1) Deliberative Theorien zeichnen sich tionsfähigen öffentlichen Kommunikation“ (Haber- durch eine Gleichheits- und Inklusionsproblematik mas 1990: 32). Eine differenzierte Unterscheidung aus, da sich die Qualität innerparteilicher Demokra- von Parteien und Verbänden sowie anderen sozialen tie an der Inklusivität politischer Debatten bemisst. Bewegungen nimmt er aber nicht vor, ein normativer Diese vermeintlich rationalen Diskurse sind jedoch Eigenwert politischer Parteien in Abgrenzung zu an- ungerecht, weil stets machtverzerrt, hängt doch die deren Organisationen lässt sich daher allenfalls im- Überzeugungskraft von Argumenten größtenteils plizit erschließen und ergibt sich primär aus den vom sozioökonomischen Status des Vortragenden ab Möglichkeiten einer optimalen zeitlichen, inhaltli- (Young 2000; 2001). Dadurch widerspricht die The- chen und sozialen Strukturierung öffentlicher Dis- orie der eigenen radikaldemokratischen Grundprä- kurse in Parteien (Fach 1973: 223). misse eines „allgemeinen Zugangs“ und untergräbt den eigenen Gleichheitsgrundsatz. (2) Mit dem Ver- Das deliberative Demokratiemodell stellt damit gera- weis auf die Wertgeladenheit politischer Parteien de für die theoretische Neukonzeptionalisierung von kann zwar der klassischen Kritik McCarthys (1993) innerparteilicher Demokratie einen offensichtlichen begegnet werden, dass ohne geteilte Wertebasis Anknüpfungspunkt dar. Diesbezügliche Entwürfe fin- nicht in allen Fragen Konsens erzielt werden könne, den sich bei Teorell (1999) oder Wolkenstein (2016). womit gerade Parteien ein geeigneter Ort politischer Diese heben die Funktionen von Parteien hervor, de- Deliberation zu sein scheinen. Relativ homogene nen es obliege, als Bindeglied zwischen unterschiedli- Einstellungsmuster im Deliberationsprozess führen chen Beteiligten in der Demokratie zu fungieren, und jedoch zur Durchsetzung tendenziell starker Interes- weisen damit den realistisch-elitistischen Vorwurf der sen und zu einer „enclave deliberation“ (Sunstein Dysfunktionalität innerparteilicher Demokratie zu- 2002), die eine „diskursive Reinigung“ (Ritzi/Schaal rück (Teorell 1999: 371; Wolkenstein 2013: 96 f.). 2009) der Interessen unwahrscheinlich mache. Eine Deliberative Demokratiemodelle teilen somit grund- relativ homogene Wertebasis politischer Parteien un- sätzlich die Vorstellungen normativer Theorien zur terminiert folglich den Rationalitätsanspruch delibe- Bedeutung innerparteilicher Demokratie, stellen je- rativer Demokratie. doch an deren Umsetzung andere Forderungen. Als Kernelement der Demokratie wird nämlich die In- Diese Kritik muss freilich nicht mit einer grundsätz- klusivität politischer Debatten, nicht Partizipation, lichen Absage an alle Formen von Deliberation in verstanden, die durch substantielle, gehaltvolle und der innerparteilichen Praxis einhergehen, macht das ergebnisoffene Diskurse erreicht werden müsse kommunikativ-deliberative Paradigma aber zu einem (Thaa 2007: 10 f.; Wolkenstein 2013: 97). Partizipa- ungeeigneten Ideal innerparteilicher Demokratie. tive Elemente im Sinne direktdemokratischer Beteili- gung, also die plebiszitäre Komponente der Demokra- 4. Normative Elemente einer Theorie politischer tie, werden aufgrund eines offensichtlichen Macht- Parteien im neopluralistischen Paradigma gefälles und einer zu starken Prädeterminierung des Entscheidungsprozesses abgelehnt. Jegliche Demo- Ausgehend von einer republikanischen Genese poli- kratisierungsbestrebungen müssen folglich nicht par- tischer Parteien erweist sich ein neopluralistisches tizipativer, sondern inklusiver gestaltet werden.7 Paradigma zum Verhältnis von Parteien und Demo- kratie als geeigneter Anknüpfungspunkt, da hierin Jedoch lassen sich – neben offensichtlichen Proble- v.a. die integrative Wirkung als Kernelement politi- men der angemessenen Umsetzung deliberativer Prin- scher Parteien identifiziert wird, ohne in eine reali- zipien in der innerparteilichen Praxis, die Fishkins tätsferne Rhetorik zu verfallen. Es beruht auf einem Gleichgewicht von Repräsentation und Partizipation, 7 Am deutlichsten kommt der Widerspruch deliberativer und die beide als Einbindungsmöglichkeiten von Interes- plebiszitärer Verfahren in der Habermas’schen Unterscheidung sen angesehen werden, während zugleich über Wah- von Masse und Publikum zum Ausdruck (Habermas 1990: len hinausgehende institutionelle Schutzmechanismen 358), denn letzteres sei Subjekt des deliberativen Diskurses, eine asymmetrische Interessenvertretung verhindern wodurch so viele Individuen Meinung ausdrücken wie emp- fangen können. Hierdurch würden deliberative Diskurse an- sollen (Linden 2007). Mit Ernst Fraenkel formuliert ders als „massendemokratische“ Prozesse zu inklusiven politi- der deutsche Hauptvertreter neopluralistischer Demo- schen Beratungen, die frei von internen wie externen Zwän- kratietheorien zwar keine dezidierte Theorie politi- gen seien (Habermas 1998: 370; ähnlich Cohen 1989: 22 f.).

88 MIP 2019 25. Jhrg. Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] Aufsätze scher Parteien, noch weniger eine Theorie innerpar- kriterien fehlen.8 Mit Blick auf die republikanische teilicher Demokratie, beschäftigt sich aber inständig Genealogie politischer Parteien lässt sich diese Leer- mit Parteien, die als Partizipationskanäle in seiner stelle jedoch schließen und dadurch die Ansätze ei- Idee eine grundlegende Rolle spielen und als Mitge- ner Theorie vervollständigen. Bei einer angemesse- stalter öffentlicher Meinung einen „Ausweg aus der nen Strukturierung innerparteilicher Demokratie Isolierung und Vereinsamung“ ermöglichten, der sich sind daher folgende Punkte von Bedeutung, die als mit der Reduzierung der politischen Anteilnahme Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie auf den Wahlakt zwangsläufig einstelle (Fraenkel verstanden werden können: 1966b: 259). Parteien, die zugleich als „Parlaments- (1.) Ganz im Sinne Madisons ist auch für innerpar- fraktion Träger eines repräsentativen, und als Mas- teiliche Prozesse gegenseitiges Machtstreben der Ur- senorganisation Träger eines plebiszitären Regie- sprung eines positiven Pluralismus und kein Ausdruck rungssystems sei[e]n“ (Fraenkel 1958: 185), sind politischer Instabilität. Machtmotive (partei-)politi- Motor einer funktionierenden parlamentarischen De- scher Akteure sind somit nicht grundsätzlich unde- mokratie. Den Blick richtet Fraenkel dabei zunächst mokratisch, schon gar nicht auf gesamtstaatlicher in die Parteien, denn „[d]er Bestand der Demokratie Ebene, sondern sind als Teil eines transparenten im Staat hängt ab von der Pflege der Demokratie in Wettkampfes Ausgangsbedingung der integrativen den Parteien“ (Fraenkel 1966a: 161). Er formuliert Wirkung politischer Parteien. Wichtig hierbei ist v.a. einen positiven Wirkzusammenhang innerparteili- eine ausreichende institutionelle Einbettung und Ein- cher und gesamtstaatlicher Demokratie, die jedoch hegung persönlicher Machtmotive durch die Etablie- nicht deckungsgleich sind, sondern komplementär rung bzw. Ermöglichung einer angemessenen Ge- wirken (Lechner 2018: 674). Die Binnenstruktur po- genmacht. Dienen Machtmittel dagegen einer partei- litischer Parteien müsse indes so konstituiert sein, politischen Führung lediglich der Disziplinierung dass sich das Volk angemessen vertreten fühle und der Mitgliederbasis, führt dies zwangsläufig zur Ver- „das von Parteien getragene Parlament trotz dessen fehlung der Kernfunktionen politischer Parteien. repräsentativen Charakters als Exponat seines eige- nen Willens anerkennt und das Fehlen einer Direkt- (2.) Werden Kontingenz und Pluralismus als sinn- gesetzgebung nicht als Mangel empfindet“ (Fraenkel stiftende Elemente von Parteien verstanden, bedeutet 1958: 186). Aufgrund einer „inneren Dialektik der dies für die innerparteiliche Demokratie in gewisser modernen Demokratie“ (Fraenkel 1958: 207) ver- Weise eine Abkehr vom Verkörperungsprinzip und sucht Fraenkel nicht sein für die gesamtstaatliche der Personalisierung politischer Repräsentation (hier- Ebene entwickeltes Demokratieideal auf den inner- zu auch Diehl 2016). Natürlich wird durch Abstim- parteilichen Kontext zu projizieren, sondern diffe- mungen über Personen die Parteipolitik an ihren de- renziert zwischen den unterschiedlichen Ebenen mit mokratischen Wurzeln für eine längere Zeit beein- komplementären Demokratieanforderungen. flusst (Becker 1999: 180; Hazan/Rahat 2010: 6). Dies muss allerdings auch immer mit Richtungsgruppen Innerparteiliche Demokratie müsse daher einem par- und Inhalten verknüpft werden, um dem kontingenten tizipatorisch-egalitären Ideal folgen, sodass den ple- Wesenszug politischer Parteien gerecht zu werden. biszitären Kräften in Parteien genügend Spielraum Damit Parteien mehr sind als repräsentativ-legale In- gegeben werde, damit diese komplementär zum par- stitutionen, sind gegen-demokratische Strukturen lamentarischen Repräsentativsystem wirken können (Rosanvallon 2008) essentiell für ihre Funktionser- (Fraenkel 1966b: 296). Entscheidend hierfür ist kei- füllung. Als Ausdruck negativer Souveränität muss ne Identitätsbeziehung, sondern gleiche Beteili- in der innerparteilichen Demokratie die Möglichkeit gungs- und Aufstiegschancen in der innerparteili- der Abwahl von Akteuren als beständige Bedrohung chen Demokratie (Fraenkel 1966b: 295 f.), durch die ebenso präsent sein wie die der Formulierung von Parteien als ausreichende Vertreter von gesellschaft- Präferenzen durch Negation. Die Etablierung neuer, lichen Wünschen und Ansichten wahrgenommen teilweise direktdemokratischer Beteiligungskanäle würden. Mit seiner Verknüpfung von gesamtstaatli- ist damit eine gangbare Reformoption. cher und innerparteilicher Demokratie und der Her- vorhebung der Integrationsfunktion als Kernelement 8 Dies wiederum stellt mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal stellt Ernst Fraenkels Neopluralismus einen ange- der neopluralistischen Theorie Fraenkels dar, sondern ist ein messenen theoretischen Anknüpfungspunkt für poli- der mangelhaften Theoretisierung innerparteilicher Demokra- tische Parteien dar, wenngleich vor allem für die tie geschuldetes Problem. So wird u.a. von Susan Scarrow Binnenstruktur von Parteien konkrete Gestaltungs- kritisiert, dass sich in der Literatur bisher noch kein Kanon der „best practices“ innerparteilicher Demokratie herausgebil- det habe (vgl. hierzu Scarrow 2005: 3).

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(3.) Politische Integration setzt eine hohe Konfliktof- Artikulation, die sich in Phänomenen wie Pegida fenheit voraus. Wohlstrukturierte innerparteiliche oder dem souveränen Einzug der in Teilen rechtsra- Auseinandersetzungen haben in der Regel keine de- dikalen AfD in die Parlamente offenbart, sondern struktive, sondern eine integrative Wirkung (Stern- mithin auch Formen der „politischen[n] Selbstexklu- berger 1971: 80). Einen positiven Wirkzusammen- sion“ (Nullmeier 2006: 326), die eine Krise der Par- hang mit der parlamentarischen Demokratie können teien zugleich auch zu einer Krise der repräsentati- Parteien nur entfalten, wenn dem innerparteilichen ven Demokratie werden lässt, da sie hierdurch auch Konflikt genügend Freiraum gegeben wird, denn aus mit verschiedenen Formen politischer Ungleichheit der zunehmenden Aufgeschlossenheit gegenüber in- korrespondiert (nicht nur sozioökonomisch, vgl. nerparteilichen Konflikten ergibt sich zugleich eine Schäfer 2015; sondern auch Formen von Bezie- Stärkung der Abgeordnetenfreiheit und der Streitkul- hungsgleichheit, vgl. Rosanvallon 2013). tur des Parlaments (Lechner 2018: 677). Der gegen- Auch mit dem vorliegenden Aufsatz sind wir freilich wärtigen Parteienlandschaft wird mit diesem Punkt noch weit von einer geschlossenen Theorie politi- ganz offensichtlich ein gewaltiger Mentalitätswandel scher Parteien entfernt. Aber mit der Überwindung abverlangt, da bisweilen alte parteipolitische Ge- überholter Ansätze zum Verhältnis von Parteien und schlossenheitsriten gepflogen und hohe Zustim- Demokratie sowie einer normativen Hierarchisie- mungsraten zelebriert werden. rung dieser ist ein erster überfälliger Schritt auf dem Weg zur theoretischen Neukonzeptionalisierung ge- 5. Zusammenfassung und Fazit tan. Mit einem angemessenen Verständnis von poli- Ihren normativen Wert erhalten somit Parteien durch tischen Parteien sowie den daraus abzuleitenden An- die Strukturierung der gesellschaftlichen Pluralität forderungen an die innerparteiliche Theorie bietet und politischen Kontingenz sowie der Ermöglichung die Theoretisierung zumindest einen normativen und Einhegung wechselseitigen Machtstrebens bzw. Kompass zur Auseinandersetzung mit gegenwärtigen des Zusammenspiels positiver und negativer Souve- Problemen der parlamentarischen Demokratie und ränitäten – und dies jeweils unter unterschiedlichen ihren zentralen Akteuren. Vorzeichen auf staatlicher wie innerparteilicher Ebe- Literatur ne. Kernfunktion politischer Parteien ist demnach die ausreichende Kanalisierung der Madison’schen Aristoteles (1961): Nikomachische Ethik, übers. v. bzw. Rosanvallon‘schen Antipoden, die nicht de- Otto Apelt. ckungsgleich sind, sondern komplementär zueinan- Aristoteles (1994): Politik, übers. v. Franz Susemihl, der wirken. Das Zusammenspiel von gesamtstaatli- Hamburg. cher und innerparteilicher Demokratie ist somit kein Bachrach, Peter (1967): Die Theorie demokratischer Antagonismus. Eine normative Theorie politischer Elitenherrschaft, Frankfurt a.M. Parteien ist damit auch zugleich immer eine normati- ve Theorie innerparteilicher Demokratie. Beker, Bernd (1999): Mitgliederbeteiligung und inner- parteiliche Demokratie in britischen Parteien – Mo- Ihre empirische Evidenz offenbart eine solche Theo- delle für die deutschen Parteien?, Baden-Baden. rie indes mit Blick auf die gegenwärtige höchst defi- zitäre Wahrnehmung von Parteien. So ist es bei- Bender, Christiane/Wiesendahl, Elmar (2011): spielsweise der SPD in jüngster Vergangenheit nicht „Ehernes Gesetz der Oligarchie“: Ist Demokratie gelungen die eigene Binnenstruktur angemessen zu möglich?, in: APuZ 44-45/2011, S. 19–24. reformieren. Trotz direktdemokratischer Beteili- Bukow, Sebastian (2013): Die professionalisierte gungsmöglichkeiten zu den Koalitionsvereinbarun- Mitgliederpartei. Politische Parteien zwischen insti- gen 2013 und 2018 bleibt der Erneuerungsprozess tutionellen Erwartungen und organisationaler Wirk- der Partei weit hinter den in der Theorie formulier- lichkeit, Wiesbaden. ten Anforderungen zurück. Man konnte bisweilen Calabretta, Raffaele (2012): Doparies: A Novel Party keinen angemessenen Verfahrensbegriff von inner- Deliberative and Aggregative Decision-Making Me- parteilicher Demokratie entwickeln (Lechner 2018: chanism to Improve the Quality of Representative 677), ihre innerparteiliche Struktur ist weiterhin Democracy, SAGE Open. Ausdruck eines elektoralen, nicht eines partizipati- ven Modells (Jun 2018: 950). Die Konsequenz der Cohen, Joshua (1989): Deliberation and Democratic mangelnden Integrationsleistung ist nicht nur die Legitimacy, in: The Good Polity, hrsg. V. Alan Hinwendung zu alternativen Wegen der politischen Hamlin & Phillip Petit, London, S. 17–34.

90 MIP 2019 25. Jhrg. Lechner – Politische Theorie Politischer Parteien [...] Aufsätze

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93 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018: Katz & Mair, 1995), um deren Dynamik und ihr Ver- Ein neues Paradigma der Finanzierung, Anti- hältnis zur Gesellschaft und zum Staat zu verstehen. Politik und Soziale Netzwerke In Brasilien ging mit dem Präsidentschaftswahlkampf 2018 ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Finan- Prof. Dr. Silvana Krause1/ zierungsregeln für Kandidaten, die Wahlkampfzeit und Bruno Marques Schaefer2/ die Kommunikationsstrategien einher. Es waren die Tiago Alexandre Leme Barbosa3/ ersten allgemeinen Wahlen nach dem Verbot von Un- Dr. Carolina Pimentel Corrêa4/ ternehmensspenden. Das Fernsehen, ein traditioneller Prof. Dr. Helcimara Telles5 Weg, die Wahlentscheidungen im Land zu beeinflus- sen, scheint durch soziale Netzwerke ersetzt worden zu sein. Die Parteien sind auf neue Finanzierungs- Einleitung quellen angewiesen und haben begonnen, sich an die Verwendung neuer Technologien zur Kommunikation Die Wahlen in Brasilien im Jahr 2018 überraschten mit den Wählern anzupassen. Vor diesem Hintergrund viele politische Analysten. Die Erklärung für den analysieren wir die Gesetzgebung zur Regulierung der Sieg eines rechtspopulistischen Präsidentschaftskan- Politikfinanzierung in der neuen brasilianischen De- didaten, der einer kleinen Partei angehört, stellt die mokratie, das Spendenmuster und die Finanzierungs- Politikwissenschaftler des Landes immer noch vor netze von Kandidaten für die Präsidentschaft der Re- eine Herausforderung. Der Erfolg von Jair Bolsonaro publik in zwei spezifischen Wahlen, 2010 und 2014. (PSL) bringt Brasilien auf die Landkarte der Länder, die, im Rahmen der jeweiligen nationalen Verhältnis- Das Klima der Polarisierung, der Instabilität und der se, Zeuge der Entstehung von Führungspersönlichkei- Korruptionsskandale in Verbindung mit einem stark ten mit dieser ideologischen Position wurden (siehe konzentrierten Finanzierungsprofil führte zu Geset- der Aufstieg von Erdogan in der Türkei, Donald zesänderungen in Bezug auf Politikfinanzierung und Trump in den Vereinigten Staaten und Viktor Orban Wahlkampagnen. Wir analysieren zunächst diese neu- in Ungarn). en Regeln für die Wahlen von 2018 und stellen wichtige Besonderheiten dar, die den Präsident- Die Verhältniswahlen für die Legislative wiesen schaftswahlkampf beeinflussten: die Ablehnung der ebenfalls tiefgreifende Veränderungen auf, insbeson- politischen Klasse und die intensive Nutzung sozialer dere aufgrund der bisher in der Geschichte des Lan- Netzwerke während des Wahlkampfs. Schließlich zei- des unbekannten Zersplitterung. 30 Parteien gewan- gen wir anhand von Daten, wie sich der Paradigmen- nen mindestens einen Sitz in der Abgeordnetenkam- wechsel bei der Finanzierungsstruktur auf die Wahlen 6 mer; die effektive Zahl der Parteien betrug 17 . Ne- von 2018 ausgewirkt hat: Durch die Anpassung der ben diesen Änderungen stellten diese Wahlen die Finanzierungsnetzwerke der brasilianischen Politik erste Niederlage der Arbeiterpartei (PT) bei den Prä- auf nationaler Ebene wurde ein Szenario geschaffen, sidentschaftswahlen seit 2002 dar. in dem öffentliche Gelder zur Hauptquelle der Par- Klassische Studien weisen auf die zentrale Bedeutung teien- und Kandidatenfinanzierung wurden. Obwohl der Organisationsformen politischer Parteien hin die Rechnungslegung über die für die Präsident- (Duverger, 1979; Kircheimer, 1966; Panebianco, 2005; schaftskampagnen bereitgestellten Mittel vom Wahl- gericht abgenommen wurde, nahmen Vorwürfe we- 1 Die Autorin ist Professorin der Politikwissenschaft, Universi- gen irregulärer und nicht verbuchter Mittel zu. Es gibt dade Federal do Rio Grande do Sul. deutliche Belege dafür, dass viele Unternehmen in so- 2 Der Autor ist Doktorand im Fach Politikwissenschaft, Universi- ziale Netzwerke investiert haben, um den siegreichen dade Federal do Rio Grande do Sul. Stipendiat der CAPES Kandidaten zu unterstützen. Änderungen in den Fi- (Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal do Ensino Superior). nanzierungs- und Wahlkampfregeln haben ohne 3 Der Autor ist Doktorand im Fach Politikwissenschaft, Universi- Zweifel die Paradigmen des Wahlkampfes geändert, dade Federal do Rio Grande do Sul. Stipendiat der CAPES (Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal do Ensino Superior). sie haben jedoch dem Einfluss der Wirtschaftsmacht auf die Wahldynamik nicht wirksam Einhalt geboten. 4 Die Autorin ist Post-Doktorandin im Graduiertenprogramm Politikwissenschaft, Universidade Federal do Rio Grande do Sul. Stipendiatin PNPD/CAPES (Coordenação de Aperfeiço- Die neue Demokratie und die Finanzierung der amento de Pessoal do Ensino Superior). Politik vor den jüngsten Reformen 5 Die Autorin ist Professorin der Politikwissenschaft, Universi- dade Federal de Minas Gerais. In Brasilien ist die Regulierung der Finanzierung der 6 Laakso und Taageapera (1979). Politik vor allem aus zwei Gründen durch permanente

94 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

Regeländerungen gekennzeichnet: zum einen auf- ne Kampagnen nicht maßgebend ist. Die Regel der grund des ständigen Wechsels politischer Regime, offenen Listen ermutigt die Kandidaten, solide Geld- die die Normen verändert haben, und zum anderen geber zu suchen und sich eine eigene Quelle für die aufgrund der Fragilität der Parteien in der politi- Finanzierung ihrer Wahlkampagnen zu sichern. Zum schen Tradition des Landes. In allen Phasen des po- anderen erfordern Kampagnen, die auf das persönli- litischen Wettkampfs, vom Imperium bis zu den che Profil eines Politikers ausgerichtet sind, teure jüngsten demokratischen Erfahrungen, wurden Nor- Fernsehprogramme mit hohen Produktionskosten. men und Gesetze zur Regulierung der Finanzierung Die Sendezeit im Fernsehen wird gesetzlich kosten- politischer Parteien geschaffen. los angeboten, die Programmqualität hängt jedoch von den finanziellen Ressourcen des Kandidaten und Während des in diesem Artikel analysierten Zeit- der Partei ab. raums, der als neue Demokratie bezeichnet wird und 1985 beginnt, unterliegt die Politikfinanzierung ei- In einem Land mit großen geografischen Entfernun- ner Vielzahl von Änderungen ihrer Regelungen. Ei- gen stellen das Fernsehen und die Werbespots ein ner der Hauptgründe für diese Instabilität sind die wichtiges Instrument für die Kommunikation der Po- Skandale, die das Verhältnis zwischen Politik und litiker mit ihren Wählern dar. Der Einfluss dieser Wirtschaftsmacht im Land betreffen und eine der Medien auf die Wahlentscheidungen ist nachgewie- größten Herausforderungen der Demokratie in Brasi- sen, insbesondere bei unentschlossenen Wählern. lien darstellen. Weitere wichtige Faktoren, die zu den erhöhten Kos- ten der Kampagnen beigetragen haben, sind die Auf- In Brasilien wurden während der neuen Demokratie wendungen für Berater und Marketingexperten. äußerst kostenintensive Wahlkämpfe geführt, deren Ausgaben mit den amerikanischen Präsidentschafts- Darüber hinaus bedeutet die Anti-Parteien-Kultur im wahlen vergleichbar sind (Samuels, 2001). Kostspie- Land, dass der Wahlerfolg eines Kandidaten von lige Kampagnen schränken den politischen Wettbe- persönlichen Beziehungen und seiner Fähigkeit ab- werb ein und beschränken den Zugang zur Politik, hängt, persönliche Wahlunterstützung zu aktivieren. insbesondere in Situationen, in denen große soziale Es ist wichtig zu betonen, dass die brasilianische Ungleichheiten und eine Wirtschaft mit geringer Parteiendynamik eine Tradition hat, die im Staat ver- Wettbewerbsfähigkeit und Konzentration bestehen. wurzelt ist und vom ihm beeinflusst wird (Fleischer, Die Ausgaben für die Wahlkämpfe sind seit den 1997). Der Staat spielt eine überragende Rolle bei 1990er Jahren rasant gestiegen. Ein konkreter Ver- der Gründung und Bildung politischer Parteien gleich: Betrugen bei den Präsidentschaftswahlen (Souza, 1976). Die brasilianischen Parteien weisen 2002 die Ausgaben noch rund 150 Millionen Reais, sowohl ihrer Herkunft als auch ihrer Organisations- so sind sie bereits zu den Wahlen 2014 auf über 800 entwicklung nach vorwiegend fragile ursprüngliche Millionen Reais gestiegen7. Beziehungen mit sozialen Gemeinschaften und Split- tergruppen8 auf. Ihre Strukturen stammen aus Erfah- Wahlkampagnen sind in Brasilien aus verschiedenen rungen vor der autoritären Periode. Gründen teuer. Zum einen konzentriert das System der offenen Listen für die Wahl der Legislativen die Bei der ersten Direktwahl zur Präsidentschaft des Kampagnen auf den einzelnen Kandidaten, der daher Landes im Jahr 1989 waren Unternehmensspenden viel Autonomie besitzt und versucht, seine Strategie auch nach der Verabschiedung der neuen Verfassung individuell zu entwickeln, da er auch mit seinen Par- von 1988 und mit einem nunmehr kompetitiven teikollegen im Wettbewerb steht. Aus diesem Grund Wahlkampf immer noch gesetzlich verboten9. Trotz besteht ein heftiger Disput und die Politiker müssen dieses Verbots gab es zahlreiche Skandale, an denen unabhängig von ihren Parteien ihre eigenen finanzi- Politiker und Geschäftsleute beteiligt waren. Fernando ellen Mittel suchen. Zwischen den Kandidaten der- Collor de Melo, der erste in der neuen Demokratie selben Partei gibt es einen internen „Bruderstreit“. gewählte Präsident, trat zurück, bevor er 1992 auf- Der Parlamentskandidat steht in direktem Kontakt zu grund einer Anklage wegen irregulärer Finanzierung seinen eigenen Spendern, sodass seine Partei für sei- seines Wahlkampfs seines Amtes enthoben wurde.

8 7 Die Werte wurden im gesamten Text an die Inflation ange- Eine Ausnahme bildete die Arbeiterpartei PT (Partido dos passt (CPI – Consumer Price Index). Das heißt, sie wurden Trabalhadores), die in den achtziger Jahren innerhalb der gewerk- entsprechend des Referenzwertes für 2018 angepasst. Quelle: schaftlichen sozialen Bewegung entstand und gefördert wurde. https://www3.bcb.gov.br/CALCIDADAO/publico/exibirForm 9 https://acervo.oglobo.globo.com/em-destaque/nas-eleicoes-de CorrecaoValores.do?method=exibirFormCorrecaoValores& -1989-houve-escandalos-mesmo-sem-doacao-oficial-de-empr aba=1, letzter Zugriff am 22.01.2019. esas-17631225, letzter Zugriff 17.01.2019.

95 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Der Skandal um den ersten in einer Direktwahl ge- fluss großer Wirtschaftsgruppen auf den politischen wählten Präsidenten in der neuen brasilianischen Wahlprozess mit sich bringt. Demokratie hat zu einer Änderung der Gesetzgebung Es ist auch zu berücksichtigen, dass es in Brasilien in der Frage der Wahlkampffinanzierung geführt. Wirtschaftsgruppen gibt, die formal mehr als eine Als erste Reaktion auf den Skandal (Krause et al., eingetragene juristische Person besitzen und somit 2015, S. 255) wurde ein temporäres Gesetz (Gesetz ihre Investitionen in die Politik erhöhen können. Bei Nr. 8313/1993) zur Regulierung der Präsident- Einzelpersonen ist bekannt, dass die Namen von schaftswahlen von 1994 erlassen. Neu ist, dass diese Verwandten und Freunden zur Finanzierung politi- Gesetzgebung eindeutig vorschreibt, wie die Parteien scher Kampagnen verwendet werden. Ein weiterer ihre Finanzen während politischer Kampagnen ver- wichtiger Aspekt ist, dass die Kampagnenausgaben walten und wie sie ihre Mittel, die sie aus Spenden nicht rechtlich begrenzt sind und jeder Kandidat die von privaten Unternehmen, Einzelpersonen und aus Mittel ausgeben konnte, die er für notwendig erach- dem Parteifonds erzielen, einsetzen können. tete, vorausgesetzt, er zeigte den Ursprung seiner Im Jahr 1995 wurde das Gesetz der politischen Par- Ressourcen an und respektierte die oben genannten teien Nr. 9096 und im Jahr 1997 das Wahlgesetz Prinzipien (Krause, 2010). Außerdem ist es wichtig Nr. 9504 verabschiedet. Beide Gesetze hatten tief- zu betonen, dass Unternehmen und Einzelpersonen greifende Auswirkungen auf die Wahlen der neunzi- verschiedene Parteien und Kandidaten gleichzeitig ger Jahre. In Ausgestaltung des Artikels 17 der Bun- finanzieren können. Ein Beispiel war der Skandal desverfassung von 1988 wurde 1995 ein Parteienge- bei den Wahlen von 2014, als durch Gerichtsaussa- setz erlassen, das für mehr organisatorische Freiheit gen bekannt wurde, dass ein großes brasilianisches für politische Parteien gesorgt hat. Das Gesetz legte Unternehmen 1824 Kandidaten von 19 verschiede- die Kriterien für die Gründung und den Betrieb der nen Parteien finanzierte und somit nicht weniger als Parteien fest und änderte wichtige Aspekte der Ge- 167 Bundesabgeordneten zur Wahl verhalf11. setzgebung, die seit dem zivil-militärischen Regime in Kraft war. Die nationalen Vorstände, die öffentli- Die Dynamik der Wahlspenden 2010 und 2014 che Gelder aus dem Parteifonds erhalten, waren da- mit nicht mehr gesetzlich dazu verpflichtet, dieses Bei der Analyse der Gesamtmittel, die bei den Präsi- Geld an ihre untergeordneten Ebenen (Bundesstaa- dentschaftswahlen vor den Wahlen von 2018 in ten und Munizipien) weiterzugeben. Dies hat zu ei- Umlauf gebracht wurden, ist der Konzentrations- und ner Konzentration der Finanzmittel in den nationalen Zentralisierungsgrad der Spenden bei Präsidentschafts- Parteivorständen und folglich zu einer stärkeren kampagnen in drei Dimensionen beeindruckend: Zentralisierung der Parteiorganisationen geführt. Die a) Die Konzentration einer bestimmten Art von Verteilung der Fondsmittel wurde von zwei Kriteri- Geldgebern in der Wahlkampagne und der unbedeu- en bestimmt: Gleichbehandlung und Verhältnismä- tende Anteil der von natürlichen Personen geleiste- ßigkeit. Gemäß des ersten Prinzips werden 5% der ten Spenden und öffentlicher Mittel, b) die hohe Gesamtmittel an alle politischen Parteien und der Konzentration der in die Kampagne investierten Mit- Rest nach dem vorherigen Ergebnis der Wahl zur tel auf eine kleine Gruppe von Unternehmen, c) die Abgeordnetenkammer verteilt. Verteilung der in der Kampagne zirkulierenden Mit- tel auf wenige Kandidaten, trotz des großen Ange- Das Wahlgesetz (Lei de Eleições), das die Spenden bots an Kandidaten. von Unternehmen (juristische Personen) und von Bür- gern (natürliche Personen) für Kampagnen10 regelte, Die Präsidentschaftskampagnen der Jahre 2010 und setzte die Höchstgrenze für Unternehmensspenden auf 2014 wurden fast ausschließlich aus Spenden seitens bis zu 2% des Bruttoumsatzes und für Einzelpersonen juristischer Personen (Unternehmen) finanziert (sie- auf bis zu 10% ihres Privatvermögens fest. Da sich he Grafik 1). Im ersten untersuchten Fall stammten die Obergrenzen für Spenden nicht auf absolute 95,47% der Mittel aller Kampagnen aus Unterneh- Werte, sondern auf Prozentsätze beziehen, finanzier- mensspenden. 2014 lag dieser Anteil sogar noch hö- ten sehr profitable Unternehmensgruppen und ver- her: 97,5%. In Nominalwerten betrugen die Unter- mögende Einzelpersonen erhebliche Anteile der nehmensspenden im Jahr 2010 etwa 445 Millionen Kampagnen, was direkte Auswirkungen auf den Ein- Reais und im Jahr 2014 etwa 780 Millionen Reais.

11 http://agenciabrasil.ebc.com.br/politica/noticia/2017-05/jbs-aj 10 http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/leis/l9504.htm, letzter Zu- udou-financiar-campanhas-de-1829-candidatos-de-28-partidos, griff 17.01.2019. letzter Zugriff 25.01.2019.

96 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

mittelsektor erwies sich als stark von der öffent- lichen Finanzierung des Bundes abhängig. Durch Entwicklungsbanken wie die BNDES (National- bank für wirtschaftliche und soziale Entwick- lung) hat der zivile Bau- sektor von öffentlichen Mitteln und Regierungs- aufträgen profitiert, ins- besondere bei öffentli- chen Bauleistungen für die Fußballweltmeister- schaft 2014, die Olym- pischen Spiele 2016 so- wie bei staatlichen In- vestitionen in die Infra- struktur und den Woh- nungsbau. Es ist interessant fest- zustellen, dass, wie von Von dem Gesamtbetrag des Wahljahres 2010 wurden Carazza (2018) ausgeführt, diese Branchen nicht die 81,4% direkt an die Präsidentschaftskampagnen und „Champions“ des nationalen BIP sind. Sektoren wie die entsprechenden Finanzausschüsse gespendet. die Agrar- und Ernährungswirtschaft scheinen die Der verbleibende Betrag wurde von den Unterneh- Politik trotz hoher Profitabilität auf andere Weise zu men an die nationalen Parteivorstände gespendet und beeinflussen als durch die Finanzierung von Präsi- an die Kampagnen weitergeleitet. Im Jahr 2014 wur- dentschaftswahlkampagnen. den 78,9% der Gesamtsumme direkt an die Präsi- Auch ein Blick auf die Hauptempfänger dieser Mittel dentschaftskampagnen gespendet. Dies bedeutet, ist entscheidend für das Verständnis dieses Szenarios. dass Verbindungen zwischen Unternehmen und Sowohl 2010 als auch 2014 erwiesen sich die beiden Kandidaten direkt auf der Ebene der Präsident- erfolgreichsten Präsidentschaftskandidaten als die größ- schaftswahlen bestehen. ten Empfänger der Kampagnenmittel: nämlich die Ein weiterer zu beachtender Aspekt ist, dass sich die Kandidatin der Arbeiterpartei PT (Partido dos Tra- Spenden auf wenige Unternehmen konzentrierten. Im balhadores) Dilma Rousseff in beiden Wahlkämpfen Jahr 2010 haben die 20 größten Geldgeber Spenden in sowie José Serra im Jahr 2010 und Aécio Neves im Höhe von fast der Hälfte (49,53% ) der Gesamtbe- Jahr 2014, beide von der Partei PSDB. Marina Silva, träge der Unternehmen geleistet. Im Jahr 2014 lag die Kandidatin mit der dritthäufigsten Stimmenzahl dieser Wert bei 67,02%. Die Wirtschaftssektoren und in beiden Wahlen, war 2010 Kandidatin für die Grüne die Unternehmen sind die gleichen12. Unternehmen Partei PV und 2014 Kandidatin der PSB. Sie belegte des Lebensmittelsektors (etwa JBS S/A und Cutrale), den dritten Platz der größten Spendenempfänger. des Bausektors (etwa Andrade Gutierrez, Multiplan, Grafik 2 zeigt den Gesamtwert der gesammelten UTC Engenharia und OAS) sowie Privatbanken Wahlspenden aller Kandidaten nach ihren Einnah- (etwa ITAU und BTG Pactual) sind die Hauptfinanzi- mequellen. Im Jahr 2010 nahm beispielsweise die erer der Präsidentschaftskampagnen13. Der Nahrungs- PT mehr als 50% der gesamten Mittel, die im Rah- men der Präsidentschaftskampagnen in Umlauf ge- 12 Quelle: TSE (Tribunal Superior Eleitoral). Link: http://www. bracht wurden, ein. Diese Mittel entstammten in ihrer tse.jus.br/eleicoes/estatisticas/repositorio-de-dados-eleitorais- 1/repositorio-de-dados-eleitorais , letzter Zugriff: 22.01.2019. großen Mehrheit aus Unternehmensspenden. Im Jahr 13 Viele von ihnen waren direkt in Korruptionsskandale invol- ternehmen JBS S/A ist im Bereich der Lebensmittelindustrie viert, insbesondere in der Bau- und Lebensmittelindustrie. und des Fleischexports tätig. Es steht symbolisch für das Viele von ihnen sind direkt in Korruptionsskandale involviert, Skandalnetz, das im Wahlkampf 2014 mit der politischen insbesondere in der Bau- und Lebensmittelindustrie. Das Un- Klasse und verschiedenen Parteien in Verbindung stand.

97 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

2014 belegte der Kandidat Aécio Neves den Platz teilen. Die Lula-Partei (PT), die als traditionell resis- des größten Spendensammlers. Da die Unternehmen tent gegen die Finanzierung von Unternehmensseite die größten Geldgeber der Kampagne darstellen, aufgetreten ist, flexibilisierte diese Position vor allem sind die Kandidaten mit den höchsten Spendenein- in den späten 1990er Jahren und begann, Unterneh- nahmen aus dieser Quelle auch die Gewinner der all- mensfinanzierungen zu akzeptieren (Hunter, 2007). gemeinen Spendeneinnahmen, wie in Grafik 2 für In den Grafiken 3 und 4 ist dargestellt, welche Un- die Jahre 201014 und 201415 erläutert. ternehmen an welche Kandidaten gespendet haben. Die politischen Parteien distanzierten sich von festen Außerdem wurde versucht, das Vorhandensein von ideologischen Gesinnungen und bauten die Band- gleichzeitigen Spenden zu überprüfen. Verknüpfun- breite ihrer Beziehungen aus, sowohl in Bezug auf die gen wurden durch eine Linie dargestellt. Grafik 3 Wähler (weniger spezifische Botschaften und instabi- zeigt die Daten aus dem Finanzierungsnetzwerk des lere soziale Bindungen) als auch hinsichtlich der Finan- Wahljahres 2010. Wie man sehen kann, sind die zierung, indem sie eine Catch-All-Strategie verfolgten Kandidaten für PT, PSDB, PV und PRTB miteinander (Kirchheimer, 1966). Die größten Spender politischer verbunden. Die angegebenen Zahlen entsprechen der Kampagnen tendierten ihrerseits dazu, sich als Inves- Summe der gleichzeitigen Spenden. Bei PT und toren zu verhalten und ihre Mittel entsprechend der PSDB, den Hauptkonkurrenten dieser Wahl, bestan- Siegwahrscheinlichkeiten der Kandidaten zu ver- den 153 Verbindungen. In anderen Worten: Es gab 153 unternehmerische Spenden aus denselben Quel- 14 2010: 9 Präsidentschaftskandidaturen (2 isolierte und 7 Koalitio- nen): PT (PC do B, PSB, PDT, PR, PRB, PTN, PSC, PTC, len für Kandidaten dieser Parteien. Der Fall von JBS PMDB): Dilma Rousseff; PSDB (DEM, PTB, PPS, PMN, PT do S/A veranschaulicht dieses Muster in besonderem B): José Serra; PV: Marina Silva; PCB: Ivan Martins Pinheiro; Maße. Das Unternehmen leistete zwei Spenden an PCO: Rui Costa Pimenta; PSOL: Plínio de Arruda Sampaio; den Kandidaten José Serra und fünf Spenden an die PSDC: Eymael; PSTU: Zé Maria; PRTB: Levy Fidelix. Kandidatin Dilma Rousseff, im ersten Fall im Wert 15 2014: 11 Präsidentschaftskandidaturen (8 isolierte und 3 Koalitio- nen): PT (PT, PMDB, PSD, PP, PR, PROS, PDT, PC do B, von 2.475.000 Reais, im zweiten von 2.970.000 PRB): Dilma Rousseff; PSDB (PMN, SD, DEM, PEN, PTN, Reais. Kleinere Parteien wie PSDC, PSOL, PSTU, PTB, PTC, PT do B) Aécio Neves; PSB (PHS, PRP, PPS, PCB und PCO wurden aus dem Netzwerk ausge- PPL, PSB, PSL) Marina Silva; PSOL: Luciana Genro; PSC: schlossen, da die Unternehmen, die an diese Parteien Pastor Everaldo; PV: Eduardo Jorge; PRTB: Levy Fidelix gespendet haben, keine Spenden an andere Parteien PSTU: Zé Maria; PSDC: Eymael; PCB: Mauro Iasi; PCO: Rui Costa Pimenta. geleistet haben.

98 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

Im Wahlkampf 2014 war das Finanzierungsnetz Spendenbeiträge zur Kampagne exponentiell erhöht noch dichter. Es weist eine größere Konzentration hat, leistete 7 Spenden an die PRTB-Partei von Levy von Ressourcen (weniger Spender) und eine größere Fidelix, 31 Spenden an die PSB-Partei von Marina Streuung auf: Diese Geber spendeten ein größeres Silva, 441 an die PSDB-Partei von Aécio Neves und Mittelvolumen an mehr Bewerber. Die Verbindungen 76 an die PT von Dilma Rousseff. Die Nominalwerte zwischen der PT und der PSDB überschreiten die betrugen jeweils 123.000,00 Reais, 6.150.000,00 Reais, 35.000-Marke. Das Unternehmen JBS S/A, das seine 49.820.000,00 Reais und 67.035.000,00 Reais.

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Das Szenario vor den Wahlen 2018: Polarisierung, geordneten im Namen der „Stimmung auf den Stra- politische Instabilität und die „Operation Car Wash“ ßen“ leichter, der Regierung ihre Unterstützung zu versagen (Baptista Silva; Telles, 2018). Seit dem Jahr 1994, als die zweite direkte Präsident- schaftswahl stattfand, haben PSDB und PT den Prä- Parallel zum Amtsenthebungsverfahren der Präsiden- sidentschaftswahlkampf polarisiert16. Die nachste- tin Dilma Rousseff ermittelte die brasilianische Bun- hende Tabelle zeigt den Prozentsatz der errungenen despolizei ab 2014 in der sogenannten Operation Car Wählerstimmen dieser beiden Parteien. Außerdem Wash, die von der in Italien durchgeführten Operation ist zu beachten, dass alle gewählten Präsidenten ei- Clean Hands inspiriert wurde. Die Operation unter- ner dieser beiden Parteien entstammten und auch der sucht Verbrechen der aktiven und passiven Korrupti- zweite Wahlgang, wenn es ihn gab, bis 2014 zwi- on, betrügerischen Verwaltung und Operationen, schen diesen beiden Parteien ausgetragen wurde. Geldwäsche, kriminellen Vereinigungen, Hemmung der Justiz und der Verschaffung Tabelle 1: Stimmentwicklung PT vs. PSDB Präsidentschaftswahlen unangemessener Vorteile. 1994 1998 2002 2006 2010 2014 Auf der Grundlage verschiedener Ermittlungsarten und Kronzeu- 1. Wahlgang 1. Wahlgang 1. Wahlgang 1. Wahlgang 1. Wahlgang 1. Wahlgang genaussagen hat die Operation Cardoso Cardoso Serra Alckmim Serra Neves Car Wash bereits die Verwick- (PSDB) (PSDB) (PSDB) (PSDB) (PSDB) (PSDB) lung von Verwaltungsmitglie- = 55,22% = 53% = 23% = 41,6% = 32% = 33,5% dern der brasilianischen staatli- Lula da Silva Lula da Silva Lula da Silva Lula da Silva Rousseff Rousseff chen Ölgesellschaft (Petrobrás), (PT) (PT) (PT) (PT) (PT) (PT) Politikern verschiedener Partei- = 39,97% = 31% = 46% = 48,6% = 46% = 41,5% en, die sowohl Positionen in 2. Wahlgang 2. Wahlgang 2. Wahlgang 2. Wahlgang der Exekutive als auch der Le- gislative innehatten, sowie gro- Serra Alckmin Serra Neves (PSDB) (PSDB) (PSDB) (PSDB) ßer brasilianischer Unterneh- = 38% = 39% = 43% = 48,35% men registriert. Viele dieser Unternehmen sind große Spen- Lula da Silva Lula da Silva Rousseff Rousseff (PT) (PT) (PT) (PT) der von Wahlkampfmitteln. = 61% = 60% = 56% = 51,65% Die Operation Car Wash hatte Quelle: TSE (Oberstes Brasilianisches Wahlgericht – Tribunal Superior Eleitoral). große Auswirkungen für die mediale Berichterstattung und Von den Wahlen 2014 bis zum Wahlkampf 2018, die Meinungsbildung. Richter Sérgio Moro, der in der mit dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro seinen Ab- erster Instanz für die Durchführung der Gerichtsver- schluss fand, sah sich das Land schwierigen politi- fahren der von der Operation Car Wash untersuchten schen Prozessen, der Amtsenthebung von Dilma Straftaten verantwortlich war, wurde von der Bevöl- Rousseff17 und sozialen Protesten gegenüber, welche kerung als brasilianischer „Held“ für seine Anstren- die politischen Institutionen beeinflussten. Außer- gungen in der Korruptionsbekämpfung gefeiert. Ge- dem wurde Brasilien von einer Wirtschaftskrise und genwärtig leitet Sérgio Moro, nachdem er die Einla- einer Reihe von Korruptionsskandalen mit intensiver dung von Präsident Jair Bolsonaro angenommen hat, medialer Berichterstattung erschüttert, was die öffent- das Ministerium für Justiz und öffentliche Sicher- liche Wahrnehmung in Bezug auf Korruption schärf- heit. Die Operation Car Wash spielt daher in dem te und dem Image des wiedergewählten Präsidenten, hier hervorgehobenen historisch-politischen Szena- seiner Partei (PT) und deren Führung sowie den rio eine bedeutende Rolle, auch wenn über die Urtei- Bauunternehmen Schaden zufügte (Baptista Silva, le in den Strafverfahren, die sich aus den im Rahmen 2018). Die Korruptionsfrage untergrub somit das der Operation durchgeführten Ermittlungen ergeben, Vertrauen der Wählerschaft und machte es den Ab- die Meinungen in der Rechtswelt auseinandergehen.

16 Aufgrund der Korruptionsvorwürfe, mit denen die Siehe Anhang. traditionellen Parteien und insbesondere die PT be- 17 Von Mai bis August 2016 war das Land mit dem Amtsenthe- lastet wurden, herrschte ab 2014 zunehmend eine bungsverfahren der Präsidentin konfrontiert, die beschuldigt wurde, die Gesetze der finanzpolitischen Verantwortung ver- Stimmung des Misstrauens und eine Ablehnung der letzt sowie Verordnungen erlassen zu haben, die ohne Geneh- politischen Parteien. Hierdurch wurde insbesondere migung des Nationalkongresses Kosten verursachten.

100 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

Raum für das Entstehen sogenannter „unparteiischer“ wohl sie vorher noch nie persönlich gespendet hat- Bewegungen wie MBL (Movimento Brasil Livre – ten18. Obwohl die großen Skandalunternehmen die etwa: „Bewegung für ein Freies Brasilien“) und gezielte Finanzierung von Wahlkampagnen vermie- Vem Pra Rua („Komm auf die Straße“) geschaffen. den haben, spendeten Unternehmer hohe Beträge an Telles (2015) hat bereits dargelegt, was später mit Parlamentskandidaten. Dies hinderte manche Geber- dem politischen Aufstieg von Jair Bolsonaro, der be- unternehmer nicht daran, verschiedene und unterein- reits seit 2014 als wichtige Persönlichkeit der kon- ander konkurrierende Kandidaten zu finanzieren19. servativen Opposition bezeichnet wurde, bestätigt Mit der Absicht, die Wahlkämpfe preiswerter zu ge- wurde: „Die Nachrichten werden generiert, um kon- stalten, wurde auch die Kampagnenzeit im Fernse- sumiert zu werden. Man kann sagen, dass es im hen erheblich verkürzt. Gemäß der neuen Regelung Land bereits einen politischen Markt gibt, der nach in Artikel 240 des brasilianischen Wahlgesetzes einem Sprecher sucht, der die rechte Ideologie, die wurde die Wahlzeit im ersten Wahlgang auf 52 Tage sich durch einen Anti-Petismus auszeichnet, zum und im zweiten auf 20 Tage verkürzt. Auch die für Ausdruck bringt“ (Telles, 2015). Wahlpropaganda reservierte Sendezeit (Horário Gra- tuito de Propaganda Eleitoral – HGPE), die es in Die neuen Regeln für die Wahlen 2018 Brasilien sowohl im Radio als auch im Fernsehen Vor dem Hintergrund der wachsenden politischen gibt, wurde auf 35 Tage im ersten Wahlgang und 15 Polarisierung vor den Wahlen, korruptionsbezogener Tage im zweiten Wahlgang gekürzt. Als inhaltliche Strafanzeigen und Ermittlungen im Zusammenhang Veränderung der Wahlpropaganda wurde zum einen mit der Operation Car Wash, wurden Initiativen er- die Auftrittszeit der Kandidaten verkürzt: Im ersten griffen, um die Regeln für die Wahlkampffinanzie- Wahlgang sendeten die Radio- und Fernsehsender rung zu ändern. Diese hatten insbesondere das Ziel, zwei tägliche Blöcke von 25 Minuten und im zwei- den Einfluss von Finanzierungsunternehmen auf die ten Wahlgang zwei tägliche Blöcke von 10 Minuten. Politik abzubauen und die Kampagnenausgaben zu Ebenso wurden die Formate der Werbung stark ein- senken. Im Jahr 2015 erklärte der Bundesgerichtshof geschränkt, wie z. B. in Bezug auf Spezialeffekte, (STF) in einer von der brasilianischen Rechtsan- Montagen und Cartoons. Außerdem wurde das Ab- waltskammer erhobenen direkten Klage, dass Unter- spielen der Jingles am Wahltag sowie das Aufstellen nehmensspenden verfassungswidrig und daher fortan elektronischer Puppen und Reklametafeln untersagt. verboten sind. Die Verfassungsrichter argumentierten, Das Gesetz legte sogar die zulässige Größe der Wer- dass diese Art der Spende dem politischen Pluralis- bung auf Fahrzeugen fest: Aufkleber dürfen nun eine mus Schaden zufüge und einige politische Akteure zulässige Höchstgröße von 50 cm x 50 cm aufwei- zum Nachteil anderer bevorzugt würden. In diesem sen; hinten dürfen sie die Heckscheibengröße nicht Sinne untersagte das Gesetz 13.165/2015 die Finan- überschreiten. zierung von Parteien und Kandidaten seitens Privat- Auch das Format der Debatten und der im Internet er- unternehmen. Außerdem wurden ein Jahr vor der laubten Werbung hat sich verändert. Um Debatten mit Wahl Ausgabenobergrenzen für die Kampagnen fest- Kandidaten für Führungspositionen zu zeigen, müs- gelegt (Gesetz 14288/2017). Ein Präsidentschaftskan- sen Rundfunkveranstalter nun Parteien mit mindes- didat kann im ersten Wahlgang maximal 70 Millio- tens fünf Abgeordneten im Nationalkongress einla- nen Reais und im zweiten maximal 35 Millionen den. Im Internet wurde es Parteien und Kandidaten Reais ausgeben. nun erlaubt, für das Pushen von Social Media Content Trotz der Festlegung von Ausgabeobergrenzen für zu zahlen, was natürlichen Personen untersagt wurde. die Wahlkampagnen und des Verbots der Unterneh- Außerdem wurde ein Mindestwahlergebnis für den mensfinanzierung hatte das Gesetz keine wesentli- Zugang der Parteien zu Werbezeit und den Partei- chen Auswirkungen auf den Einfluss wirtschaftli- fonds etabliert. Die Restriktion der Wahlpropaganda cher Macht in der Kampagne. Auf der einen Seite ist sollte den Einfluss des Geldes auf die Kampagne re- zwar festzustellen, dass sich die Art, wie Wahlspen- duzieren, die Kampagnen vergünstigen und mehr den geleistet werden, grundlegend geändert hat. In Gerechtigkeit unter den Kandidaten schaffen. der Tat haben die größten Einzelspender (natürliche 18 https://noticias.uol.com.br/politica/eleicoes/2018/noticias/2018/ Personen) ihre persönlichen Spenden im Vergleich 09/14/empresarios-doacoes-de-campanha-eleicoes-2018.htm, zu vergangenen Wahlen erhöht. Außerdem haben letzter Zugriff 29.01.2019. Familienmitglieder, die einer Unternehmensgruppe 19 https://www1.folha.uol.com.br/poder/2018/09/grandes-empre angehören, große offizielle Spenden geleistet, ob- sarios-evitam-financiar-presidenciaveis.shtml, letzter Zugriff 29.01.2019

101 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Eine weitere wichtige Änderung war das Gesetz der Mittel festgelegt. Wie in der jüngsten Literatur 13847 aus dem Jahr 2017, mit dem der sogenannte hervorgehoben wird, werden die Gelder tendenziell Sonderfonds für die Kampagnenfinanzierung (FEFC) an die wettbewerbsfähigsten Kandidaten und an die geschaffen wurde und öffentliche Gelder im Wert Parteidirektionen der Bundesstaaten und Munizipi- von mehr als 1,7 Mrd. Reais für politische Kampa- en, die im innerparteilichen Wahlkampf eine größere gnen zur Verfügung gestellt wurden, damit die Par- Rolle spielen, verteilt22. Eine weitere Änderung hin- teien ihre Wahlkämpfe finanzieren können, und das sichtlich der Verwendung öffentlicher Mittel bestand ein Recht auf Fernsehsendezeit und Mittel aus dem in der Verpflichtung der Parteien, mindestens 30% Parteifonds gewährleistet. dieses Betrags auf Wahlkampagnen von weiblichen Kandidatinnen zu verwenden. Die 2018 für die Parteien und Kandidaten bestimmten Beträge stammten aus dem Bundeshaushalt (FEFC Insgesamt haben 34 der 35 am Wahlgerichtshof und Teilfonds) sowie aus Spenden von Einzelperso- (TSE) registrierten politischen Parteien Mittel aus nen und Eigenmitteln. Wie in Grafik 5 zu sehen ist, dem FEFC erhalten. Der Gesamtbetrag in Höhe von ist der Gesamtwert der öffentlichen Gelder in Brasi- R$ 1.716.209.431,00 wurde am 1. Juni 2018 von der lien seit 1994 stetig gewachsen. Zwischen 2014 und Staatskasse dem TSE zur Verfügung gestellt. MDB 2015 hat sich dieser Wert mehr als verdoppelt, von und PT waren die Parteien, die die größten Anteile 308 Millionen Reais auf über 811 Millionen Reais20. des Gesamtbetrags erhielten: die MDB erhielt etwas Die von den Unternehmensspenden hinterlassene über 230 Millionen Reais, die PT 212,2 Millionen und Lücke wurde vom Bundeshaushalt aufgefüllt. In der die Sozialdemokratische Partei Brasiliens (PSDB) er- Kampagne von 2018 erreichten die Mittel des Partei- hielt auf dem dritten Platz 185,8 Millionen Reais. Zu- fonds und des FEFC fast 2,5 Milliarden Reais21. vor hatten alle Parteien einen Teil der Mittel des Par- teifonds erhalten, der zur Aufrechterhaltung der Par- Diese öffentlichen Gelder sind für die Bundeszentra- teistruktur verwendet wurde. Die Sendezeit-Zeit in len der Parteien bestimmt. Für diese sind in der Ge- Radio und Fernsehen wurde gemäß der Koalition in setzgebung keine Kriterien für die interne Verteilung der Abgeordnetenkammer berechnet.

20 Von etwa 82 Millionen US-Dollar auf 216 Millionen US-Dollar. Handelswert. Referenz: Der US-Dollarkurs im Wert von 3,75 Reais. 21 Wert in US-Dollar: 533 Millionen. 22 Siehe Schaefer (2018) und Campos (2009).

102 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

Übersicht 1: Regulierung des Wahlkampfes in Brasilien Bis 2018 In 2018 Finanzierung - Spenden von natürlichen Personen, Eigen- - Spenden von natürlichen Personen, Eigenmittel und öffentli- (Spenden) mittel, öffentliche Mittel (Parteifonds), che Mittel (Parteifonds und Sonderfonds für die Kampagnenfi- Spenden von anderen Kandidaten und nanzierung – FEFC), Spenden von anderen Kandidaten. Die Spenden von juristischen Personen. Die Spenden von Einzelpersonen und des Kandidaten (Eigenmit- Spenden von juristischen Personen können tel) sind gemäß Einkommensteuererklärung auf 10% des Ge- sich auf bis zu 2% des Bruttoumsatzes des samteinkommens der Person begrenzt. Unternehmens belaufen. Die Spenden von - 30% der Mittel des FEFC müssen für die Kampagnen von Einzelpersonen und des Kandidaten (Eigen- weiblichen Kandidatinnen verwendet werden (http://www.tse. mittel) sind gemäß Einkommensteuererklä- jus.br/legislacao/codigo-eleitoral/normas-editadas-pelo-tse/res rung auf 10% des Gesamteinkommens der olucao-no-23-546-de-18-de-dezembro-de-2017-2013-brasilia- Person begrenzt. df, letzter Zugriff: 22.01.2019). - Keine Ausgabengrenze für Wahlkampagnen. - Ausgabengrenze für Wahlkampagnen. Fernsehzeit - Die offizielle Fernseh- und Radiokampagne dauerte 35 Tage. (HGPE) Zwei Blöcke im Radio und zwei im Fernsehen mit jeweils 10 Minuten. Zusätzlich zu den Blöcken haben die Parteien An- spruch auf 70 Minuten pro Tag in Intervallen. Die Verteilung der Zeit folgt den Kriterien: 90% geteilt nach dem vorherigen Wahlergebnis der Parteien zur Abgeordnetenkammer und 10% zu gleichen Anteilen (http://www.tse.jus.br/imprensa/noticias- tse/2016/Maio/novas-regras-eleitorais-mudancas-no-calculo-do- tempo-do-horario-no-radio-e-na-tv, letzter Zugriff: 22.01.2019). Kampagnenzeit - Die offizielle Wahlkampfzeit betrug durch- - Die offizielle Wahlkampfzeit betrug 45 Tage. schnittlich 90 Tage. Quelle: Eigene Ausarbeitung.

Paradigmenwechsel in der Wahlfinanzierung In Bezug auf die Empfänger der Mittel, wie in Gra- fik 5 dargestellt, sind die Werte im Gegensatz zu den Das Verbot von Unternehmensspenden hatte sicht- Wahlen von 2010 und 2014 im Jahr 2018 stärker bare Auswirkungen auf die Wahlen von 2018, wie zwischen den Kandidaten verteilt. Fernando Haddad Grafik 6 zeigt. Die Spendenanteile, die aus öffentli- von der PT, Geraldo Alckmin von der PSDB und chen Mitteln, von Einzelpersonen und aus Eigenmit- Ciro Gomes von der PDT waren die Kandidaten, teln stammen, nahmen proportional zu. welche den größten Anteil der öffentlichen Mittel Die Aufstockung der öffentlichen Mittel für die Par- für ihre Kampagnen erhielten. teien bzw. Kandidaten ist das Ergebnis der Grün- Henrique Meirelles, von der (P)MDB-Partei, finan- dung der FEFC (67,29% des Gesamtbetrags). zierte sich seine Wahlkampagnen selbst. In Nomi- nalwerten konnte er für diese vier (teuersten) Kampagnen je- weils 54 Millionen Reais, 24 Millionen Reais und 57 Millio- nen Reais an Spendengeldern einsammeln. Als ehemaliger Exekutivdirektor der Lazard Americas Bank und ehemaliger Präsident der Zentralbank wäh- rend der Lula-Regierung (2003- 2010) sowie Finanzminister der Regierung Temer (2016-2018), bezahlte Meirelles seine Kam- pagne aus eigener Tasche. Das Phänomen, dass ein Millionär seine Kampagne selbst finan- ziert, betraf aber nicht nur die- sen Kandidaten.

103 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

João Amoedo, ein Finanzmillionär und Kandidat der Die Hintergründe der Wahlen 2018: Antipolitik, neu gegründeten Partido Novo stellte auch fast den Soziale Netzwerke und Fake News alleinigen Finanzier dar. Grafik 7 legt ein interessan- Um die Wahlen von 2018 zu verstehen, müssen tes Detail offen: Fast 25% des während der Präsi- mehrere Faktoren in Betracht gezogen werden. Wie dentschaftskampagnen gesammelten Geldes stammt bereits einige Experten hervorgehoben haben, han- aus der Tasche von Meirelles. delt es sich bei der Präsident- schaftswahl 2018 um eine kriti- sche Wahl23, da die Abstim- mung im Kontext einer starken Wirtschaftskrise, ideologischer Polarisierung und dem Auf- kommen einer konsistenten dritten Kraft (Key, 1955; Schmitt et al., 2016) stattfand. Diese Faktoren stehen mitein- ander in Verbindung. Zwei Führungspersönlichkeiten der beiden großen Parteien, die seit 1994 die Präsidentschaftswahl- kämpfe beherrscht und das Land seit 22 Jahren regiert ha- ben, wurden im Zuge der Ope- ration Car Wash aus dem Wahlkampf zurückgezogen: Lula da Silva (PT) und Aécio Neves (PSDB). Das Attentat Abschließend wurde die Korrelation zwischen allen auf den Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro während der Präsidentschaftskampagnen gesammel- und die wichtige Rolle des Internets im Wahlkampf, ten Geldern und der Gesamtzahl der für die Kandidaten abgege- Grafik 8: Korrelation zwischen gesammelten Mitteln und Stimmen für die benen Stimmen in den ersten Präsidentschaftswahl (2010, 2014, 2018) Wahlgängen der Jahre 2010, 2014 und 2018 getestet. Wie Grafik 8 zeigt, besteht eine na- hezu perfekte Korrelation zwi- schen abgegebenen Stimmen und den gesammelten Geldern in den Wahljahren 2010 und 2014. Diese Beziehung stellte sich für das Wahljahr 2018 als unbedeutend heraus. Die ge- ringen gesammelten Mittel und die hohe Anzahl der Stimmen für den Wahlsieger Jair Bolso- naro, ebenso wie die Millio- nenkampagnen, die nur wenige Stimmen verbuchen konnten wie im Falle von Henrique Meirelles und João Amoedo, zeigen, dass im Jahr 2018 ein Paradigmenwechsel stattgefun- Quelle: (Oberstes Brasilianisches Wahlgericht – Tribunal Superior Eleitoral). den hat. 23 https://veja.abril.com.br/blog/noblat/eleicao-critica-e-troca-de -guarda/, letzter Zugriff: 27.01.2019.

104 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze insbesondere der sozialen Netzwerke, stellen neben litiken und Vorschlägen, die von den PT-Regierun- den oben erwähnten signifikanten Änderungen in gen gefördert wurden, wie insbesondere Identitäts- den Wahlkampffinanzierungsgesetzen weitere wich- politik und die Umverteilung von Einkommen. tige Faktoren im Wahlkampf 2018 dar. Die brasilianische Bevölkerung setzte in der Tat auf In Bezug auf die Wählerschaft ist eine starke Ableh- das Projekt und das Image, das Jair Bolsonaro wäh- nungshaltung gegenüber den politischen Führungen rend seiner Kampagne aufgebaut hatte. Zum ersten und traditionellen Parteien festzustellen. Dieses Miss- Mal wählte Brasilien demokratisch eine Regierung trauen hat alle wichtigen Institutionen des Landes mit Vertretern des Militärs: den Präsidenten und Vi- kontaminiert und das Verhalten der brasilianischen zepräsidenten. Die Anwendung personalistischer Wählerschaft beeinflusst. Das Meinungsforschungs- Strategien durch politische Parteien ist ein endemi- institut Data Folha24 hat erhoben, dass nur 5% der sches Phänomen bei den Wahlen in Brasilien. Der Brasilianer Vertrauen in die Exekutive, nur 3% in brasilianische Kontext zeigt traditionell hohe Volati- die Legislative und nur 2% in die Parteien haben. litätsraten in den Wahlen auf. Außerdem weisen die Parteien einen großen Grad der Abhängigkeit in Be- Die Ablehnung gegenüber den Kandidaten war wäh- zug auf die Präsenz von Persönlichkeiten mit großer rend des gesamten Wahlkampfes hoch und fasst die medialer Resonanz auf. Obwohl die Sendezeit für die allgemeine Stimmung der letzten Wahl zusammen. PSL-Partei nur 9 Sekunden betrug und die PSDB-, Bei Mehrheitswahlen mit einem zweiten Wahlgang PT- und MDB-Kandidaten etwa 85% der TV-Wer- ist der Gewinner tendenziell der Kandidat, der am bezeit erhielten, erreichte der Kandidat Bolsonaro wenigsten in den Wahlumfragen abgelehnt wurde. eine enorme Sichtbarkeit in den Nachrichten und so- Diese Umfragen zeigten bereits an, dass die Kandi- zialen Netzwerken, insbesondere nach dem Attentat, daten mit der geringsten Ablehnung genau diejeni- dessen Opfer er Anfang September, d.h. noch vor gen waren, welche die größten Chancen besaßen, in dem ersten Wahlgang, wurde. Auf diese Art und Wei- den zweiten Wahlgang zu gelangen. se konnte er trotz der ihm zugewiesenen minimalen Die Wahl wurde vor allem durch die Tendenz be- Fernsehzeit, was den Kontakt mit der Wählerschaft stimmt, denjenigen Kandidaten zu wählen, dem man erschwerte, seine Präsenz mit den täglichen Berich- die geringste Abneigung entgegenbrachte. Die nega- ten in den Nachrichten und sozialen Netzwerken tive Einstellung gegenüber der Partei des Kandidaten über seinen Gesundheitszustand nach dem Attentat Lula da Silva war größer als gegenüber dem letztend- ausgleichen. lich siegreichen Kandidaten Jair Messias Bolsonaro (PSL). Insbesondere seine Anti-Kor- ruptionsrhetorik und sein Schwer- Grafik 9: Übersicht der Reaktionen auf das Bolsonaro-Attentat punkt auf öffentlicher Sicherheits- politik trugen zu seinem Sieg bei. Obwohl Jair Bolsonaro bereits eine bedeutende politische Karrie- re hinter sich hatte und mehr als 20 Jahre als Parlamentsabgeordne- ter in der brasilianischen politi- schen Arena tätig war, bot der his- torisch-politische Kontext seiner Kandidatur und seiner Partei die Möglichkeit, sich einem wachsen- den Teil der Bevölkerung gegen- über als eine neue Alternative zu präsentieren. Bolsonaro verlieh den traditionellen Themen der radika- len brasilianischen Rechten eine Stimme. Diese Themen distanzie- ren sich insbesondere von den Po- Quelle: Twitter; Ausarbeitung: FGV DAPP

24 www.datafolha.com.br. Die Studie wurde am 6 und 7.06.2018 durchgeführt.

105 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Der Angriff auf den Politiker wurde unter Twitter- Sei es aufgrund der durch die Gesetzgebung aufer- Nutzern ausführlich kommentiert. Es wurde bestä- legten Beschränkungen für die Einwerbung von tigt, dass die Anzahl seiner Erwähnungen unmittel- Spendengeldern oder aufgrund des zunehmenden bar nach dem Attentat zwischen 16.00 und 18.00 Misstrauens gegenüber den traditionellen Medien: Uhr am Tag des Angriffs 808.400 erreichten. Außer- Soziale Netzwerke waren fundamental für die Beein- dem bezogen sich um 18.00 Uhr vier der zehn am flussung der Ergebnisse der brasilianischen Präsi- häufigsten genannten Begriffe in Brasilien auf fol- dentschaftswahlen. Es kam zu einer großen Verbrei- gende Vorkommnisse: Gewalt (216.000 Erwähnun- tung von Fake News, insbesondere über den Instant gen), Schusswaffe (123.000), Juiz de Fora25 (88.000) Messenger WhatsApp, da die Nachrichten in dieser und Messerstich (83.000). Unter den von den Twitter- Anwendung verschlüsselt sind und die Verfolgung Nutzern verwendeten Hashtags zählen #17 (0,6%), der Absender erschwert ist. Während des Wahl- #bolsonaro (0,5%), #urgent (0,5%), #2018 (0,4%) kampfes erschienen hunderttausende von Unterstüt- und #forçabolsonaro 3%). Gemäß der Methodik der zungsgruppen für den Kandidaten Bolsonaro auf der FGV DAPP (Direktion für Public Policy Analysis, Plattform WhatsApp, die Wahlpropaganda und auch Fundação Getúlio Vargas) stellte ein derartiges Re- Fake News verbreiteten. ferenzvolumen die größte auf Twitter registrierte Re- Das Unterstützernetzwerk des Kandidaten Bolsonaro aktion seit den Wahlen von 2014 dar26. verwendete fortgeschrittene psychometrische Tech- Neben den Änderungen in der Finanzierungsgesetz- niken, mit denen Nachrichten ausgehend von perso- gebung und in Bezug auf die Wahlkampfzeit stellt nifizierten Merkmalen des Empfängers weitergelei- die wichtigste Neuerung der Wahlen 2018 eine Re- tet werden können. Wie bekannt, ist diese Technolo- gel für Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken gie weit verbreitet und erreichte ihre Blütezeit nach während der Wahlen dar. Der Kongress hat ein Ge- den Wahlen von Donald Trump in den USA. Die fi- setz erlassen, das Netzwerke und Anwendungen ver- nanziellen Kosten dieser Technik sind sehr hoch. pflichtet, Veröffentlichungen, die Hassreden fördern Laut einem Bericht, der in der Zeitung Folha de São und falsche Informationen verbreiten, zu unterbin- Paulo veröffentlicht wurde, würden Unternehmen, den. Ziel dieses Gesetzes war es, zu verhindern, dass die Jair Bolsonaro unterstützten, für den WhatsApp- falsche Profile für diffamierende Angriffe auf die Messenger zahlen, um den Kandidaten zu begünsti- Kandidaten und die Verbreitung von Fake News ge- gen und Haddad (PT), den Hauptgegner, anzugrei- nutzt würden. Das Phänomen der Fake News hat im fen. Aufgrund der eingegangenen Anzeigen bezüg- Wahlkampf aufgrund ihrer Verbreitung in den sozia- lich nicht verbuchter und nicht öffentlich gemeldeter len Netzwerken ein großes Ausmaß angenommen. finanzieller Mittel („Caixa Dois“ – auf Deutsch Sie funktionieren, weil Datennutzer dazu neigen, etwa: Zweite Kasse) erklärte die Staatsanwaltschaft sich auf Ideen zu verlassen, die von einflussreichen (MPE), dass sie den Verdacht illegaler Spenden sei- Gruppen geformt und gestaltet wurden und Inhalte tens privater Unternehmen für die PSL-Kampagne priorisieren, die ihre Weltanschauungen bestätigen, untersuchen würde. Bei der Generalstaatsanwalt- insbesondere wenn das Misstrauen gegenüber den schaft (PGE) wurden mindestens zwei Ermittlungs- demokratischen Institutionen wie im Fall Brasiliens anträge gestellt. In einer anderen, von der Zeitschrift groß ist. Die von IDEA BIG DATE während der Veja während der Wahlperiode im August 2018 Kampagne durchgeführte Studie zeigt den Einfluss durchgeführten Umfrage, wurde der Einsatz von Ro- der Fake News auf Bolsonaro-Wähler auf: 98,21% botern bei Twitter nachgewiesen. Diese wurden für der Wähler waren mit falschen Nachrichten konfron- gezielte Werbung im Internet eingesetzt und sollten tiert und 89,77% schenkten diesen Informationen den Wählern den Eindruck vermitteln, dass einige Glauben27. Politiker mehr Einfluss hatten, als sie vorgaben. In Momenten wie der Wahldebatte der TV-Band (offe- 25 Name der Stadt, in der das Attentat stattfand. ner Kanal des brasilianischen Fernsehens) wurde be- 26 Erhebung mit 22.572.58 Veröffentlichungen, die sich auf die stätigt, dass die mit dem Kandidaten Bolsonaro ver- Debatte zwischen den fünf Präsidentschaftskandidaten mit bundenen Themen zu Trendthemen auf Twitter wur- den besten Umfrageergebnissen (Jair Bolsonaro, Ciro Gomes, den. Die Bots veröffentlichten vorgefertigte und sich Geraldo Alckmin, Marina Silva und Fernando Haddad) im ersten offiziellen Wahlkampfmonat, zwischen dem 16. August 27 https://www.valor.com.br/politica/5965577/estudo-diz-que-90 und 16. September, beziehen, zeigen Bolsonaro als am meis- -dos-eleitores-de-bolsonaro-acreditaram-em-fake-news?utm_s ten zitierten Kandidaten auf der Plattform Twitter, sowohl auf ource=Facebook&utm_medium=Social&utm_campaign=Com konservativen als auch progressiven Nutzerprofilen. Dies ist partilhar&fbclid=IwAR3PS0DTaTDL5BexYePzDCuGOXNh ein weiterer Beleg für die Polarisierung im Internet. 7ood02rrIVdPvD4OPCA54C9rJ80bdXY.

106 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze wiederholende Phrasen, und einige interagierten so- eine Kontrolle durch das Wahlgericht erschwert gar automatisch mit Personen, die die Anwesenheit wurde. Die von der FGV durchgeführten Studien be- des Kandidaten im Fernsehen kommentierten. stätigten, dass Roboter in den Wahldebatten mitein-

Gesamtinteraktionen entspricht. Fazit Vor diesem Hintergrund ist es wichtig anzumerken, Die Änderungen in den Finanzierungs- und Wahl- dass es, obwohl die Kampagnenkosten offiziell ge- kampfregeln regen einige Überlegungen in Bezug sunken sind, deutliche Anzeichen dafür gibt, dass auf ihre Folgen für die Parteiorganisationen und die sich die Kosten des Wahlkampfes 2018 vom Fernse- Formen, mit den denen die Kandidaten mit den hen auf soziale Netze verlagert haben und dadurch Wählern in Kontakt treten, an.

28 https://observa2018.com.br/posts/fraude-nas-urnas-e-kit-gay- Unter dem Gesichtspunkt der offiziellen Rechen- tem-maior-impacto-que-outras-noticias-falsas-em-twitter-face schaftspflicht der Präsidentschaftskandidaten gegen- book-e-youtube/. über dem Höchsten Wahlgericht (TSE) wurden mit 29 https://observa2018.com.br/posts/influencia-de-whatsapp-na- dem Verbot der Unternehmensfinanzierung etablier- campanha-eleitoral-mobiliza-257-milhoes-de-mencoes-sobre- te traditionelle Netzwerke verboten. Die Finanzkraft o-aplicativo-no-twitter/.

107 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg. von Unternehmen, die in Partei- und Kandidaten- steht vor Transformationen und Herausforderungen, strukturen investieren, war nicht länger von zentraler die die repräsentative Demokratien und Parteien von Bedeutung. Unternehmen, die an Korruptionsskan- neuen Finanzierungsquellen abhängig machen. Au- dalen beteiligt waren, rieten ihren Führungskräften ßerdem ist das Land mit den Folgen der Nutzung an, keine Kampagnen mehr zu finanzieren. Aller- neuer Technologien für die Wählerkommunikation dings hinderte dieses Verbot der Unternehmensfi- in den sozialen Netzwerken konfrontiert. Angesichts nanzierung Millionärskandidaten nicht daran, in ihre der Repräsentationskrise ermöglichten diese Verän- eigenen Kampagnen zu investieren. derungen das Erstarken einer Führungspersönlich- keit mit einem anti-politischen, populistischen und Die Wahlen brachten echte politische Unternehmer rechtsextremen Profil. hervor, die sowohl in Bezug auf die Legislative als auch auf die Regierungen in den Bundesstaaten Wahlerfolge verzeichnen konnten. An der Präsident- Anhang schaftswahl nahmen auch zwei Millionärskandidaten A. Genannte Parteien teil, die bereit waren, in ihre Kampagnen zu investie- ren und keine Finanzierung seitens der eigenen Par- PT: Partido dos Trabalhadores tei erhielten. Andererseits ist es bekannt, dass Unter- PSDB: Partido da Social Democracia Brasileira nehmer und Familiengruppen von Unternehmens- MDB/PMDB: Movimento Democrático Brasileiro netzwerken trotz des Unternehmensfinanzierungs- verbots als natürliche Personen in Kampagnen inves- DEM: Democratas tiert haben. PTB: Partido Trabalhista Brasileiro Obwohl die Aufstockung der staatlichen Mittel, wie PPS: Partido Popular Socialista wir gezeigt haben, sehr bedeutend war, hatte sie kei- PMN: Partido da Mobilização Nacional nen Einfluss auf den Erfolg der Kampagnen. Die PT do B: Partido Trabalhista do Brasil Präsidentschaftskandidaten, die mit den traditionel- PV: Partido Verde len politischen Parteien verbunden waren und am PCB: Partido Comunista Brasileiro meisten von öffentlicher Finanzierung und Fernseh- zeit profitierten, wurden besiegt. Es ist auch wichtig PCO: Partido da Causa Operária zu betonen, dass neue informelle Investitionsformen PSOL: Partido Socialismo e Liberdade stärker hervortraten. PSTU: Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado Religiöse Gruppen haben es geschafft, die gesetzliche PSDC: Partido Social Democrata Cristão Beschränkung der Kirchenfinanzierung zu umgehen, PSD: Partido Social Democrático indem die Gläubigen Kandidaten für politische Man- PP: Partido Progressista date durch ihre Beiträge an die Kirchen finanzierten. Mit der massiven Einführung neuer Kommunikations- PR: Partido da República netze, die Tracking, Kontrolle und Transparenz er- PROS: Partido Republicano da ordem Social schwert haben, scheint die Wahl 2018 eine neue Art PDT: Partido Democrático Trabalhista nicht verbuchter und nicht gemeldeter finanzieller PC do B: Partido Comunista do Brasil Mittel („Zweite Kasse“) hervorgebracht zu haben. PRB: Partido Republicano Brasileiro Geld machte einen Unterschied bei den Wahlen, und SD: Solidariedade zwar insbesondere die Mittel, die über die beim PEN: Partido Ecológico Nacional Obersten Wahlgericht (TSE) registrierten Konten hinausgingen. Laut den offiziellen Angaben der Prä- PTN: Partido Trabalhista Nacional sidentschaftskampagnen war der Wahlsieger nicht PTC: Partido Trabalhista Cristão derjenige, der die größten Ausgaben deklarierte. PSB: Partido Socialista Brasileiro Auch in Bezug auf die Organisation war die Partei PHS: Partido Humanista da Solidariedade des Wahlsiegers unbedeutend. PRP: Partido Republicano Progressista Der brasilianische Fall macht deutlich, dass nur das PPL: Partido Pátria Livre Verbot von Unternehmensfinanzierung und die Er- höhung der öffentlichen Investitionen nicht ausrei- PSC: Partido Social Cristão chen, um einen ausgewogenen und transparenten po- PRTB: Partido Renovador Trabalhista Brasileiro litischen Wettbewerb zu gewährleisten. Brasilien PRN: Partido da Renovação Nacional

108 MIP 2019 25. Jhrg. Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] Aufsätze

B. Präsidenten in der neuen brasilianischen De- DUVERGER, M. Os Partidos Políticos. Zahar Edito- mokratie seit 1985 res. Rio de Janeiro, 1979. 1. Sarney (PMDB/MDB): 15.03.1985-15.03.1990 FLEISCHER, D. "Sistema Partidário Brasileiro: Indirekt gewählt im Wahlkollegium; Hauptgegner im 1945-1997". Política Comparada, Vol. 1, nº2, 1997. Wahlkollegium Maluf, Kandidat der Partei des zivil- HUNTER, W. Corrupção no Partido dos Trabalha- militärischen Regimes. dores. O dilema do “sistema”. In: NICOLAU, J.; 2. Collor (PRN): 15.03.1990-29.12.1992 Power, T. Instituições representativas no Brasil. Ba- Bei den ersten Direktwahlen nach dem Ende des zivil- lanço e reforma. Ed. UFMG. IUPERJ/UCAM. Rio militärischen Regimes gewählt; Hauptgegner in der de Janeiro, Belo Horizonte. pp. 155-167, 2007. zweiten Runde Lula da Silva (PT). KATZ, Richard; MAIR, Peter. Changing Models of 3. Franco (PMDB/MDB): 29.12.1992-01.01.1995 Party Organization and Party Democracy: The Emer- Vize von Collor. Übernahm die Präsidentschaft des gence of the Cartel Party. Party Politics, London, Landes nach der Amtsenthebung des Präsidenten Vol. 1, n. 1, p. 5-28, 1995. Collor. KERCHER, Fábio; FERES Jr, João. Operação Lava 4. Cardoso (PSDB): 01.01.1995-01.01.2003 Jato e a Democracia Brasileira. São Paulo: Editora Hauptgegener von Lula da Silva (PT) bei den beiden Contracorrente, 2018. Direktwahlen. KEY V.O, Jr., "A Theory of Critical Elections," 5. Lula da Silva (PT): 01.01.2003-01.01.2011 Journal of Politics 17, pp. 3-18, 1955. Hauptgegner der Kandidaten der PSDB bei den bei- KIRCHHEIMER, O.. The Transformation of the den Direktwahlen (Serra im Jahr 2002 und Alckmin Western European Party Systems. In: LaPalombara, in 2006). J./Weiner, M.. Political Parties and political Devel- 6. Dilma Rousseff (PT): 01.01.2011-31.08.2016 opment. Princeton University Press. Princeton, New Hauptgegner der Kandidaten der PSDB bei den bei- Jersey, pp. 177-176, 1966. den (Serra im Jahr 2010 e Neves in 2014) KRAUSE, Silvana. The need for balance in party fi- 7. Michel Temer (PMDB): 31.08.2016-01.01.2019 nancing in Brazil. In: Butler, Anthony Edited by). Vize von Dilma Rousseff. Übernahm die Präsident- Paying for Politics. Jacana. Johannesburg. pp. 116- schaft des Landes nach der Amtsenthebung der Prä- 136, 2010. sidentin Dilma Rousseff. KRAUSE, Silvana; REBELLO, Maurício Michel; 8. Jair Bolsonaro (PSL): 01.01.2019- DA SILVA, Josimar Gonçalves. O perfil do finan- Hauptgegner von Haddad (PT) im zweiten Wahlgang. ciamento dos partidos brasileiros (2006-2012): o que as tipologias dizem? Revista Brasileira de Ciência Política, 16, pp. 247-272, 2015. Quellenangaben LAAKSO, Markku; TAAGEAPERA, Rein. Effec- BAPTISTA SILVA, Érica Anita. Corrupção e opi- tive Number of Parties. A Measure with Application nião pública: o escândalo da Lava Jato no Governo to Western Europe. In: Comparative Political Stu- Dilma Rousseff. Tese (Doutorado em Ciência Políti- dies (12) 1: pp. 3-27, 1979. ca) – Universidade Federal de Minas Gerais, 2017. LAVAREDA, Antônio. Emoções Ocultas e Estraté- BAPTISTA SILVA, Érica Anita; TELLES, Helci- gias Eleitorais. Ed. Objetiva, 2009. mara. Lava Jato: Escândalo Político e Opinião Públi- ca. In: KERCHER, Fábio; FERES Jr. João. Ope- PANEBIANCO, Angelo. Modelos de partido: orga- ração Lava Jato e a Democracia Brasileira. São Pau- nização e poder nos partidos políticos. São Paulo: lo: Editora Contracorrente, 2018. Martins Fontes, 2005. CAMPOS, M.M. Democracia, partidos e eleições: os SAMUELS, David. Money, Elections and Democra- custos do sistema partidário-eleitoral no Brasil. Tese cy in Brazil. In: Latin America Politics and Society. de Doutorado. Belo Horizonte: Universidade Federal Vol. 23, pp. 27-48, 2001. de Minas Gerais, 2009. SCHAEFER, B. As Lógicas de Distribuição do Fun- CARAZZA, B. Dinheiro, eleições e poder: as engre- do Partidário: centralização e nacionalização dos nagens do sistema político brasileiro. São Paulo: partidos brasileiros (2011-2015). Dissertação apre- Companhia das Letras, 2018. sentada no Programa de Pós-Graduação em Ciência Política da UFRGS, 2018.

109 Aufsätze Krause/Schaefer/Barbosa/Corrêa/Telles – Die brasilianische Präsidentschaftswahl 2018 [...] MIP 2019 25. Jhrg.

SCHMITT, H; HAROARSON, H; O; ONNUDOT- TIR, Critical Election in the Wake of an Economic and Political Crisis: Realignment of Icelandic Party Voters? Scandinavian Political Studies, Vol. 40, pp. 157-181, 2016. SOUZA, M. C. Estado e Partidos Políticos no Brasil (1930-1962). São Paulo: Alfa Ômega, 1976. TELLES, Helcimara de Souza. Corrupção, Legitimi- dade Democrática e Protestos: o Boom da Direita na Política Nacional? Interesse Nacional, Vol. 8, pp. 28-46, 2015.

110 MIP 2019 25. Jhrg. Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] Aufsätze

Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? den eidgenössischen Abstimmungstagen abgehalten Die Berichterstattung in Schweizer Print- werden. Bei Volksabstimmungen gibt es zwei Typen: medien vor den eidgenössischen Abstim- Initiativen, d.h. Akteure fordern eine Anpassung der Verfassung respektive ein neues Gesetz, und Refe- mungstagen. renden, d.h. Akteure fordern, dass das von Regie- rung und Parlamentsmehrheit verabschiedete Gesetz Prof. Dr. Olaf Jandura1/Dr. Linards Udris2 nicht in Kraft tritt.3 Akteure, die eine Volksinitiative einreichen oder die ein Referendum anstrengen, be- zeichnen wir in diesem Beitrag als Initiatoren. Einleitung Anhand der Analyse der Medienberichterstattung über In den letzten Jahren nimmt die Bedeutung der Bür- 33 zur Abstimmung gelangte nationale Vorlagen zwi- gerbeteiligung über Referenden in den westlichen schen 2014 und 2018 gehen wir folgenden Fragen Demokratien stark zu (Hobolt 2009). Dieser Anstieg nach: (1) Wie offen ist die mediale Berichterstattung ist unabhängig davon, ob Referenden, wie in Däne- gegenüber den Initiatoren mit unterschiedlichem poli- mark oder der Schweiz, eine bindende oder, wie in tischen Status? und (2) Ist die Berichterstattung über Frankreich, den Niederlanden oder Spanien, eine für Referenden und Initiativen in den Schweizer Printme- die politische Elite orientierende Funktion innehaben dien polarisiert? Den Fokus auf die Massenmedien le- (Vreese & Schuck 2014: 131). Auch in Deutschland gen wir, da trotz der Veränderung im Medienge- wird die Diskussion um eine Stärkung der direktde- brauch der Bevölkerung und vor allem der zunehmen- mokratischen Elemente auf unterschiedlichen politi- den Bedeutung von Social Media-Angeboten auch in schen Ebenen in den letzten Jahren intensiver ge- der Schweiz die massenmedialen Angebote noch eine führt. Die Stimmen derer, die eine Ausweitung der wichtige Informationsquelle der Bevölkerung über Praxis des Abhaltens von Referenden von der loka- Politik sind (Udris & Hauser 2017) und ihnen ein len und regionalen Ebene auf die Landesebene sowie Einflusspotential auf die Mobilisierung – gerade bei auf die Bundesebene fordern, mehren sich ebenso (intensiven) Volksabstimmungen (Tresch, Lauener wie die Studien zu deren Effekten auf die Bevölke- & Scaperrotta 2018) – und Entscheidungsfindung rung (u.a. Glantz, Teusch & Schoen 2010, Reine- empirisch nachgewiesen wurde. mann, Fawzi & Röder 2012). Der Beitrag erörtert zunächst das Wirkungspotential Folgt man den Befürwortern, stärkt der Einsatz direkt- massenmedialer Berichterstattung auf die Informiert- demokratischer Elemente die Legitimität des politi- heit und die Entscheidungsfindung der Bevölkerung. schen Systems, erhöht die Wahrnehmung der politi- Anschließend wird der Forschungsstand zu den bei- schen Selbstwirksamkeit der Bürger und wirkt sich den interessierenden Fragen referiert. Nach der Dar- somit positiv auf die Zufriedenheit mit der Demokra- stellung der Methode und der Operationalisierungen tie als Herrschaftsform aus (Bernauer & Vatter folgen die durch die Forschungsfragen strukturierte 2012). Gegner einer Ausweitung von Referenden auf Ergebnisdarstellung sowie ein Fazit und ein Ausblick. Bundesebene halten u.a. entgegen, dass Referenden der Komplexität der Sachfragen nicht gerecht wer- Wirkungspotential der Massenmedien den können (Oberreuter 2002: 296f.). Dadurch wür- Die Relevanz der Auseinandersetzung mit der mas- den politische Entscheidungen anfälliger gegenüber senmedialen Berichterstattung über Initiativen und Populismus und die Gefahr einer auch massenmedial Referenden lässt sich auf deren Wirkungspotential angefeuerten zunehmenden Polarisierung des politi- auf die Bevölkerung zurückführen. Ähnlich wie in schen Diskurses wird größer. der Wahlforschung sind einerseits Effekte auf die Ziel dieses Beitrages ist es, einen Blick in ein Land Meinungsbildung und das politische Wissen und an- zu werfen, in dem Volksabstimmungen zum wesent- dererseits auf die Mobilisierung und das Entschei- lichen Bestandteil des politischen Systems und der dungsverhalten empirisch nachgewiesen (de Vreese politischen Kultur zählen und viermal jährlich an & Schuck 2014: 136). Laut Hanspeter Kriesi, der systematisch und vergleichend Kampagneneffekte 1 Der Autor war Professor in der Abteilung für Medien und bei Schweizer Volksabstimmungen untersucht hat, Kommunikationswissenschaft des Instituts für Sozialwissen- schaften an der HHU. 3 Bei Referenden wiederum gibt es „fakultative“ Referenden, 2 Der Autor ist Oberassistent am Institut für Kommunikations- d.h. ein Referendum findet nur statt, wenn Akteure ein sol- wissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich so- ches Referendum lancieren, und ein „obligatorisches“ Refe- wie stellvertretender Forschungsleiter des Forschungsinstituts rendum, d.h. die Gesetzesvorlage muss zwingend den Stimm- Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich. bürgerInnen vorgelegt werden.

111 Aufsätze Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] MIP 2019 25. Jhrg. können die Medien (de-)mobilisierend wirken, be- sität der Medienresonanz selbst, d.h. wie stark über- stehende Präferenzen verstärken oder Meinungsän- haupt über eine Vorlage berichtet wird. Dies ist in derungen herbeiführen, die nicht im Einklang mit der Schweiz auch besonders dann wichtig, wenn am den Prädispositionen stehen (Kriesi 2012). Da sich selben Tag über verschiedene Vorlagen gleichzeitig unsere Forschungsfragen auf die Performanz der abgestimmt wird. Klar ist, dass es ein Mindestmaß Medienberichterstattung fokussieren, werden wir im an Berichterstattung braucht, damit sich jede Person Folgenden auf erstgenannte Effekte eingehen. ein Bild über eine Vorlage machen kann (Marquis et al. 2011). Spannender aber ist die Frage, warum sich Das Aufmerksam machen (Awareness) auf Initiativen die Resonanz der einzelnen Vorlagen unterscheidet. und Referenden ist eine erste relevante Wirkung. Hier konnten vergleichende Studien aus der Schweiz Massenmedien sind in der Lage, über ihre Berichter- eruieren, dass die Intensität der Abstimmungsbe- stattung über den Abstimmungsgegenstand diesen richterstattung mit (1) der Medienresonanz im Vor- auf die Agenda des Publikums zu setzen (McCombs feld der „heißen Phase“, (2) der Höhe der eingesetz- & Shaw 1972). Neben der Intensität der Berichter- ten Mittel für politische Werbung, (3) mit identitäts- stattung kann dies durch eine besondere journalistische politischen Vorlagen (statt sozio-ökonomischen Vor- Betonung in Form von Sonderseiten, Dossiers, Bei- lagen) sowie (4) mit einer populistischen Aufladung lagen oder Argumentarien geschehen. Das Priming, der Vorlage korreliert (Udris, Eisenegger & Schneider das Fokussieren auf bestimmte Aspekte des Abstim- 2018; Udris, Eisenegger & Schneider 2016). mungsgegenstandes, ist ein weiterer wichtiger Effekt auf die Meinungsbildung des Publikums. Medien Die Medienresonanz respektive die Unterschiede in können über ihre Berichterstattung nicht nur ent- der Medienresonanz sind aus verschiedenen Gründen scheiden, ob ein Thema für relevant erachtet wird, wichtig. Erstens beeinflusst die Stärke der Medienre- sondern auch, welche Aspekte des Themas bei der sonanz den Abstimmungsentscheid und damit die Meinungsbildung herangezogen werden (McCombs, Erfolgschancen der Akteure, die eine Vorlage initi- Lopez-Escobar & Llamas 2000). Eine ausgewogene iert haben (Kriesi 2005, Bowler & Donovan 1998, Medienberichterstattung berücksichtigt daher den Kriesi & Bernhard 2013). Dies liegt daran, dass ge- Facettenreichtum eines Abstimmungsgegenstandes. nerell „high-intensity campaigns“ die Mobilisierung Eine einseitige Darstellung bestimmter Aspekte einer erhöhen und damit letztlich auch das Abstimmungs- Initiative oder eines Referendums wird in der Quali- resultat beeinflussen.4 Intensive Kampagnen führen tätsforschung als Bias der Berichterstattung interpre- auch mehr zu „argument-basierten Meinungen“ („ar- tiert. Diese Verzerrung kann dabei die Folge einer gument-based opinions“, wobei es sich bei „Argu- redaktionellen Linie eines Mediums oder der Erfolg menten“ auch um Schlagwörter handeln kann), die der PR-Aktivitäten relevanter Akteure der Kampagne mehr im Einklang stehen mit dem tatsächlichen sein (u.a. Wettstein 2012). Zuletzt kann die Bericht- Stimmverhalten (Kriesi 2005). Denn bei kaum sicht- erstattung Wirkungen auf das Wissen der Bevölke- baren Kampagnen tendieren StimmbürgerInnen eher rung über den Abstimmungsgegenstand haben. Von dazu, bestimmte Meinungen zu haben, aber trotzdem Lern- und Wissenseffekten spricht man dann, wenn gegenteilig abzustimmen, weil sie andere Heuristi- die Bevölkerung im Laufe der Kampagne über den ken wie beispielsweise Parteipräferenz oder Regie- Abstimmungsgegenstand besser informiert ist, wenn rungsvertrauen verwenden. Empirisch betrachtet, Fakten und Positionen besser bekannt sind (Bon- profitiert das Regierungslager von schwach sichtba- fadelli 1994). Besonders bei Themen, die bislang ren Kampagnen, während Herausforderern tendenzi- wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, sind ell stark sichtbare Kampagnen nutzen, weil dadurch solche Effekte zu erwarten (Benz & Stutzer 2004, de ihre relativ gesehen weniger bekannten Argumente Vreese & Schuck 2014: 136). Im Resümee dieser sichtbarer und greifbarer werden (Kriesi 2005, für Punkte bleibt festzuhalten, dass eine intensive, um- eine Übersicht vgl. Milic et al. 2014: 233-262). fassende und ausgewogene Berichterstattung in den Zweitens ist Medienresonanz wichtig für die politi- Massenmedien aufgrund ihrer Rezeptionsrelevanz schen Akteure, die im Abstimmungskampf involviert für die politische Meinungsbildung der Bevölkerung sind. Denn Medienresonanz beeinflusst die „issue zentral ist (Marcinkowski 2005, van Aelst 2014). ownership“ in einem kompetitiven Parteiensystem Resonanz der Abstimmungsvorlagen: Offenheit (Wagner & Meyer 2014, Walgrave et al. 2009). Dies für Akteure? 4 Ein wichtiger Aspekt der Medienberichterstattung Kriesi (2005) verwendet die Anzahl politischer Inserate in Zeitungen als Indikator für die Sichtbarkeit und Intensität ei- – neben Sachlichkeit, Einordnung etc. – ist die Inten- ner Kampagne.

112 MIP 2019 25. Jhrg. Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] Aufsätze trifft besonders auf Herausforderer respektive Initia- aktuellen Ereignislage unabhängige grundsätzliche toren zu, d.h. diejenigen Akteure, die für das Zustan- politische Tendenz eines Mediums (Maurer & Reine- dekommen einer Abstimmung verantwortlich sind mann 2006: 134) bezeichnet. Jedes einzelne Ange- und die damit bewusst im politischen Prozess inter- bot kann aufgrund seiner politischen Berichterstat- venieren (Initiativen und fakultative Referenden). tung in ein Kontinuum zwischen zumeist links und Herausforderer haben offensichtlich ein großes In- rechts eingeordnet werden. Redaktionelle Linien teresse daran, mit „ihrer“ Abstimmung die Themen- können dabei auf dem außenpluralistisch organisier- führerschaft zu erlangen (oder zu bestätigen). Des- ten Printmedienmarkt von Herausgebern und Verle- halb sind sie an starker Medienresonanz interessiert. gern entschieden werden, im binnenpluralistisch or- Gegner von Herausforderern, d.h. die Befürworter ganisierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird des Status Quo, haben ein ambivalentes Interesse an hingegen eine ausgewogene Berichterstattung erwar- der Medienresonanz. Auf der einen Seite sind sie in- tet. Die Freiheit, redaktionelle Linien zu verfolgen, teressiert an einer starken Resonanz der Vorlage, wird erst dann für eine demokratische Gesellschaft weil somit auch ihre eigenen Botschaften sichtbarer zum Problem, wenn diese in eine Polarisierung des werden, aber auf der anderen Seite haben sie ein In- politischen Diskurses mündet, in der entweder nur teresse daran, die Resonanz der Vorlage zu be- die durch die redaktionelle Linie gedeckten Positio- schränken, um nicht den Herausforderern die Mög- nen berichtet oder andere Positionen in diskreditie- lichkeit einer profilbildenden Themenbewirtschaf- render und delegitimierender Art und Weise darge- tung zu geben. stellt werden. Eine solche Form der Berichterstat- tung verhindert die Kompromissfindung zwischen Ausgewogenheit oder Bias in der Berichterstat- konkurrierenden Lösungsvorschlägen für gesell- tung? schaftliche Probleme und führt zur Spaltung einer integrierten politischen Öffentlichkeit in verschiede- Nicht nur die Resonanz einer Abstimmungsvorlage ne, sich nicht zur Kenntnis nehmende Teilöffentlich- alleine ist entscheidend für die Meinungsbildung, keiten (Edgerly 2015). sondern auch die Resonanz im Vergleich zu anderen Vorlagen und auch die Tonalität gegenüber den Vor- Redaktionelle Linien können explizit und implizit lagen. Aus normativer Perspektive wird dies mit der deutlich werden. Für den Leser werden sie in Verlags- Erwartung in eine Vielfalt (respektive Ausgewogen- informationen, im Kommentariat oder in den Wahl- heit) ausgedrückt. Ein „Bias“ würde beispielsweise empfehlungen ersichtlich. So stuft die Neue Zürcher darin bestehen, dass Medien über manche Vorlagen Zeitung ihre redaktionelle Linie als liberal und frei- deutlich stärker berichten als über andere oder über sinnig-demokratisch ein und gibt vor den Referen- manche Vorlagen deutlich positiver oder negativer den ihren Lesern Abstimmungsempfehlungen. Sol- als über andere. Freilich ist die Bewertung, welches che eindeutigen Positionen finden sich jedoch selten. Maß an Vielfalt ideal ist, umstritten und abhängig Vielmehr wird die redaktionelle Linie implizit, für von medienexternen und medieninternen Vergleichs- den ungeübten Leser des Angebots nur schwer er- maßstäben (vgl. Hopman et al. 2012). Ein medienex- kennbar, deutlich. Zur Identifikation impliziter re- terner Maßstab ist zum Beispiel im politischen Sys- daktioneller Linien werden Inhaltsanalysen und Be- tem zu suchen: Ein „Bias“ gegenüber linken Vorla- fragungen eingesetzt, deren Vor- und Nachteile sich gen könnte beispielsweise daher rühren, dass die im wie kommunizierende Röhren verhalten. Mit quanti- politischen System rechten Parteien deutlich höhere tativen Inhaltsanalysen lassen sich intersubjektiv Stimmenanteile haben als linke Parteien. Ein medi- überprüfbare Aussagen über die Tonalität der Be- eninterner Maßstab lässt sich über den systemati- richterstattung über einen Abstimmungsgegenstand schen Vergleich der verschiedenen Medienangebote treffen. Jedoch ist der Forschungsaufwand hier sehr ermitteln. Davon ausgehend, dass für alle untersuch- groß, sodass nicht das gesamte Mediensample in die ten Medien die Nachrichtenlage gleich ist (sowie die Untersuchung mit einbezogen werden kann. Die Be- politischen Machtverhältnisse etc.), wären größere fragung von Experten oder des Publikums zur Wahr- Unterschiede auf bestimmte Logiken innerhalb der nehmung von redaktionellen Linien ermöglicht diese einzelnen Medien zurückzuführen. Abdeckung des weiten Spektrums an Angeboten. Die daraus gewonnenen Urteile können aber von der Ob eine ausgewogene Berichterstattung oder eine politischen Einstellung der jeweiligen Auskunftsper- verzerrte Berichterstattung vorliegt, wird über die son gefärbt sein (Hansen & Kim 2011). Gerade we- Identifikation redaktioneller Linien ermittelt. Als re- gen dieser Differenz finden beide Methoden in der daktionelle Linien wird in der Literatur „die von der Forschung Akzeptanz (Dahlem 2001: 254f.).

113 Aufsätze Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Der Forschungsstand zur Polarisierung der Medien- wenigen Angeboten wie der Weltwoche, Le Matin berichterstattung über Abstimmungen ist auch in der und Le Nouvelliste (rechts überrepräsentiert) oder Schweiz ausbaufähig. Die Forschungslandschaft wird dem Tagesanzeiger und watson.ch (links ist überre- derzeit dominiert von Einzelfallanalysen zu speziellen präsentiert) gibt es hier leichte Abweichungen zu- Kampagnen sowie der Betrachtung weniger Kampa- gunsten eines politischen Lagers. gnen (z.B. Gerth, Dahinden & Siegert 2012). So ging Tresch (2012) auf der Basis einer Inhaltsanalyse in Methode und Operationalisierungen vier Zeitungen (NZZ, Tages-Anzeiger, Le Temps und Zur Beantwortung der Forschungsfragen führten wir Tribune de Genève) zur Volksabstimmung „Ja zu Eu- eine Sekundäranalyse des Abstimmungsmonitors ropa“ der Frage nach, ob die Berichterstattung über durch, der regelmäßig vom Forschungsinstitut Öf- Volksabstimmungen von den redaktionellen Linien fentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität („editorial views“) geprägt ist. Die Auswahl der vier Zürich veröffentlicht wird. Für den Abstimmungs- Zeitungen begründet sie u.a. mit einer Einteilung von monitor wird die Berichterstattung über Initiativen Blum (2005), der einen ersten Überblick über die re- und Referenden in zentralen Schweizer Medienange- daktionellen Linien der Angebote in der Schweiz gab. boten über einen Zeitraum von 11 Wochen mit einer Tresch schlussfolgerte in ihrer Studie, dass es keine quantitativen Inhaltsanalyse erfasst. Die Ergebnisse Verzerrungen in der Berichterstattung gab, sondern der Berichterstattung über die einzelnen Initiativen die Bürger von den vier Tageszeitungen ausgewogen werden in der letzten Woche vor der Abstimmung informiert wurden. Umfassender ist die Untersuchung veröffentlicht und medial präsentiert. Für diesen von Marquis et al. (2011), in der die Berichterstattung Aufsatz greifen wir auf die Berichterstattung über zu 24 Abstimmungen im Bereich der Sozialpolitik von alle 33 Abstimmungsvorlagen zurück, die zwischen 1995 bis 2004 untersucht wurde. Auch diese Autoren dem September 2014 und dem Juni 2018 der Stimm- kamen zum Ergebnis, dass es keine Polarisierung in bevölkerung vorgelegt wurden. In den mittlerweile 22 der Medienberichterstattung gibt und die meisten Titel untersuchten Printangeboten5 wurden in diesem Zeit- ausgewogen über die Vorlagen berichten. Einzig die raum 10.330 Beiträge dazu veröffentlicht. Die Co- NZZ wurde als „rechts“ und die Tribune de Geneve dierer des fög verschlüsselten als zentrale Kategorien als „pro welfare“ eingestuft. Marcinkoski und Donk die Tonalität der Berichterstattung gegenüber der In- (2012) wählten neun Abstimmungen (aus drei Politik- itiative bzw. dem Referendum sowie deren Urheber, feldern) zwischen 1983 und 2004 und konstatierten die in der Berichterstattung genannten Akteure und eine relativ hohe deliberative Qualität der Medienbe- den Beitragsstil. Der Ko-Autor war an der Codie- richterstattung, ohne aber die einzelnen Medientitel zu rung beteiligt und garantiert die Qualität der Daten. differenzieren. Eine themen- und medienübergreifende Vor der Beschreibung der Operationalisierungen Inhaltsanalyse zur Klassifizierung der Medien entlang wollen wir zunächst einen kurzen Überblick über ihrer politischen Positionierungen steht noch aus. das Datenmaterial geben. Durchschnittlich konnten In der Annahme, dass sich redaktionelle Linien so- 469 Beiträge pro Printangebot und 313 Beiträge pro wohl auf Strukturen zurückführen lassen (z.B. politi- Abstimmungsvorlage verschlüsselt werden. Da sich sche Parteien als Besitzer, Chefredakteure als Partei- die Erscheinungsintervalle der Zeitungen unterschei- mitglieder etc.) als auch auf die Leserschaft Auswir- den und das mediale Interesse gegenüber verschiede- kungen haben (z.B. Nutzung nur in einem bestimm- nen Initiativen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, ten politischen Milieu), haben Udris und Hauser differieren die Beitragszahlen je nach Medium und (2017) auf der Basis der Daten des Reuters Digital je nach Abstimmungsvorlage erheblich. Blicken wir News Reports zumindest die politische Zusammen- zunächst auf die einzelnen Medientitel. Hier publi- setzung des Publikums analysiert. In der Befragung zierte die mittlerweile eingestellte Wochenzeitung sollen sich die Nutzer auf einer Skala von 1 bis 10 L‘Hebdo mit 95 Beiträgen die geringste und die 6x selbst einstufen. Aggregiert man die Antworten zeigt wöchentlich erscheinende Neue Zürcher Zeitung mit sich, dass sich 67 Prozent der Schweizer in der „Mitte“ 929 Beiträgen die höchste Beitragszahl. Bei den In- positionieren und sich 16 Prozent dem „linken“ bzw. itiativen und Referenden wird das Spektrum zwi- 17 Prozent dem „rechten“ politischen Lager zuord- 5 In alphabetischer Reihenfolge sind das: 20 minuten, 20 minutes, nen. Vergleicht man diese Verteilung mit der Publi- 24-Heures, Aargauer Zeitung, Basler Zeitung, Berner Zeitung, kumsstruktur der relevanten Nachrichtenmedien in Blick, Blick am Abend, Die Südostschweiz, L’Hebdo, Le Matin, der Schweiz, so wird deutlich, dass die Zusammen- Le Matin Dimanche, Le Temps, (Neue) Luzerner Zeitung, Neue setzung des Publikums bei den meisten Titeln dem Zürcher Zeitung, NZZ am Sonntag, Schweiz am Wochenende/ am Sonntag, SonntagsBlick, SonntagsZeitung, Tages-Anzeiger, Durchschnitt der Bevölkerung entspricht. Nur bei Tribune de Genève, Weltwoche.

114 MIP 2019 25. Jhrg. Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] Aufsätze schen geringster und stärkster medialer Beachtung itiativen publiziert wurden, und zum anderen die To- durch zwei Vorlagen aus dem März 2018 aufge- nalität der Berichterstattung darüber. Hierbei konn- spannt. Am wenigsten wurde über die Vorlage zur ten die Codierer zwischen einer positiven (im Sinne Finanzordnung berichtet, bei der es darum ging, ob der Initiatoren), einer kontroversen (sowohl positive der Bund (Nationalstaat) – statt die Kantone – wei- als auch negative Positionen zu den Vorlagen) und terhin das Recht hat, bestimmte Steuern wie die einer negativen, das Anliegen der Initiatoren ableh- Mehrwertsteuer einzuziehen (dieses Recht muss for- nenden Tonalität differenzieren. mal alle zehn Jahre verlängert werden) (n= 66). Die größte Resonanz bekam die „No Billag“-Abstim- Ergebnisse mung, bei der über die Abschaffung der Rundfunk- gebühren in der Schweiz entschieden wurde. Hier Entlang der aufgestellten Forschungsfragen werden veröffentlichten die analysierten Zeitungen in dem nun die Ergebnisse unserer Untersuchung präsen- 11-wöchigen Untersuchungszeitraum 1.222 Beiträge. tiert. Zunächst interessiert uns dabei, ob die Publika- Sowohl die Länge des Untersuchungszeitraums als tionschancen der unterschiedlich relevanten Akteure auch die Vielzahl und die Vielfalt der Initiativen und im politischen System in den Medienangeboten ver- Vorlagen bieten eine breite, gut fundierte Basis zur schieden bewertet werden. Beantwortung unserer Forschungsfragen. In der Gesamtschau über alle 22 untersuchten Ange- Die hierfür zu Grunde liegenden Messungen bzw. bote zeigt sich dabei, dass die Medien über die Vorla- das für die Auswertung nötige Datenmanagement gen aller politischen Akteursgruppen berichten. Ein wird nun beschrieben. Der Stellenwert der Initiatoren Berichterstattungsbonus zugunsten der Vorlagen der von Referenden und Abstimmungen im politischen statushohen Akteure kann nicht festgestellt werden. System wurde auf einer 4-stufigen Ordinalskala er- Auf die Vorlagen von Akteuren mit dem niedrigsten fasst. Als politische Akteure mit sehr niedrigem poli- Stellenwert entfallen 6 Prozent der Beiträge, auf peri- tischen Status codierten wir alle Akteure aus den phere Verbände und periphere Parteien 29 Prozent, Reihen der Zivilgesellschaft, einen eher niedrigen auf machtvolle Verbände und kleine Parteien, die Status haben periphere Verbände oder periphere Par- mindestens in Fraktionsstärke im Parlament vertreten teien sowie Einzelpersonen aus Verbänden oder Par- sind, ebenfalls 29 Prozent, auf die Vorlagen aus den teien, als Akteure mit eher hohem Stellenwert wur- Reihen der vier großen Parteien als statushohe Akteu- den relevante Verbände, kleine Parlamentsparteien re 35 Prozent (Tabelle 1). Auch der Blick auf die in Fraktionsstärke und Gruppen von Politikern aus durchschnittliche Resonanz pro Vorlage unterstreicht den Reihen der vier großen Bundesratsparteien SVP, den Befund, dass der Status eines Initiators nicht mit FDP, SP und CVP erfasst. Die vierte Gruppe der In- der Medienresonanz zusammenhängt (vgl. auch itiatoren mit sehr hohem politischem Stellenwert bil- Udris, Eisenegger & Schneider 2018). den eben jene vier Bundesratsparteien. Tabelle 1: Berichterstattungsintensität nach Status der Initiatoren Die Möglichkeit der politischen Polarisierung der Anteil an allen Durchschnitt Berichterstattung wird über den Umfang und die To- Status der Initiatoren nalität der Berichterstattung über Vorlagen aus dem Beiträgen pro Vorlage Sehr niedrig 6% 432 (n = 2) linken bzw. rechten politischen Lager untersucht. Eher niedrig 29% 188 (n = 10) Hierfür fassen wir alle Initiativen und Vorlagen zu- Eher hoch 29% 220 (n = 10) sammen die einerseits auf linke und andererseits auf Sehr hoch 35% 426 (n = 12) rechte Initianten zurückgingen. Von den 33 unter- suchten Vorlagen können dabei 15 Initiatoren des Ein Blick in die einzelnen Angebote zeigt, dass es hier linken und acht Initiatoren des rechten Lagers zuge- nur marginale Unterschiede in der Relevanzzuweisung ordnet werden. Die restlichen elf Initiativen schlie- der Initiativen je nach Akteursgruppe gibt. Im Sonn- ßen wir von der weiteren Analyse aus, da sie aus der tags-Blick, der Berner Zeitung, L‘Hebdo und der Aar- politischen Mitte oder von Akteuren sowohl aus dem gauer Zeitung wird etwas mehr über Initiativen von linken als auch rechten Lager kamen bzw. als obliga- Akteuren mit eher niedrigem politischen Status be- torische Referenden vorgelegt wurden. Die Beitrags- richtet, während Weltwoche, Schweiz am Wochenende zahl für diese Analyse reduziert sich daher auf 4.036 und Blick am Abend eher die Vorlagen der statushohen Beitrage für linke und 3.337 Beiträge für Vorlagen Akteure häufiger thematisieren. Alle anderen Print- rechter Initiatoren. Zentrale Variablen sind einerseits medien weichen nur geringfügig vom über alle unter- die Anzahl der Beiträge, die über die jeweiligen In- suchten Angebote gebildeten Durchschnittswert ab.

115 Aufsätze Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Die zweite Frage zielt auf die Ausgewogenheit der liegt die Weltwoche hier 16,5 Prozentpunkte über Berichterstattung und damit darauf, inwieweit die ver- dem Durchschnitt, die Pendlerzeitung Blick am schiedenen Medien insgesamt als polarisiert gelten. Abend 9 PP, die Schweiz am Wochenende und die Für die Ermittlung des Polarisierungsgrades der Be- Basler Zeitung je 7,7 PP. Hingegen stoßen Vorlagen richterstattung greifen wir auf die Präsenz respektive rechter Initianten in L‘Hebdo (-14,3 PP), der Tribune Resonanz linker und rechter Vorlagen in der Bericht- de Geneve (-6,6 PP) und 24-heures (-6,5) auf ein un- erstattung sowie auf deren Tonalität zurück. Die Inter- terdurchschnittliches publizistisches Echo. In der pretation der Befunde erfolgt auf der Basis eines me- Gesamtschau zu der Über- und Unterbetonung der dieninternen Vergleichsmaßstabes, bei dem die Be- Vorlagen rechter und linker Initianten zeigt sich, richterstattung eines einzelnen Angebots mit dem dass die meisten der 22 untersuchten Schweizer Durchschnitt der Gesamtberichterstattung aller 22 unter- Printangebote hier keine redaktionelle Linie verfol- suchten Angebote verglichen wird. Somit lassen sich gen, sondern die Bevölkerung in ähnlichem Umfang die Abweichungen einzelner Angebote von diesem Ge- über die Initiativen informieren. Bei nur wenigen samtmittelwert als redaktionelle Linien der Bericht- Angeboten ist ein eigener Bias durch Über- und Unter- erstattung interpretieren (Donsbach, Rentsch 2011). betonung festzustellen. Dies betrifft einerseits die Westschweizer Zeitungen L‘Hebdo (23,6 PP zu- Die Analyse der Präsenz der Initiativen rechter und gunsten der Initiativen linker Initianten), Tribune linker Initianten in der Berichterstattung folgt der de Genève (14,3 PP), 24heures (12,3 PP) und die Annahme, dass eine Überbetonung der Initiativen ei- französischsprachige Ausgabe der Pendlerzeitung 20 nes bestimmten politischen Lagers einer Verzerrung Minuten (9,7 PP). Die Deutschschweizer Angebote der Berichterstattung zugunsten dieses Lagers indi- SonntagsZeitung (10,5 PP zugunsten der Initiativen ziert (Brettschneider & Wagner 2008). In der Gesamt- rechter Initiatoren), Basler Zeitung (12,7 PP), Blick berichterstattung der 22 untersuchten Angebote ent- am Abend (15 PP), Schweiz am Wochenende (18 PP) fielen 40 Prozent der Beiträge auf linke Vorlagen und und die Weltwoche (25,4 PP) fokussieren anderer- 33 Prozent auf die Vorlagen rechter Initianten. Weil seits stärker auf die rechten Vorlagen als der Durch- es in unserer Untersuchung 15 linke Vorlagen gibt schnitt (Graphik 1). und nur acht rechte, weist dieser Gesamt- befund auf eine insgesamt klare Über- Graphik 1: Bias durch Überrepräsentation (Präsenz) der Vorlagen vertretung rechter Vorlagen hin. Die fol- linker und rechter Initiatoren in der Medienberichterstattung. genden Abweichungen sind also primär Basis: n= 7373 Beiträge vor dem Hintergrund zu lesen, welche Medien gegebenenfalls weniger stark als andere auf rechte Vorlagen fokussieren. Deutliche Abweichungen vom Mittelwert zugunsten der Vorlagen linker Initiato- ren (respektive eine weniger ausgeprägte Fokussierung auf die rechten Vorlagen) fanden wir bei den Westschweizer An- geboten L‘Hebdo (9,3 Prozentpunkte über dem Durchschnitt), Tribune de Ge- neve (7,7 PP), 24-heures (5,8 PP) sowie der Berner Zeitung (5,1). Unterrepräsen- tiert waren die Vorlagen linker Initianten hingegen bei der Basler Zeitung (-5,0 PP), dem Blick am Abend (-5,9 PP), der Aargauer Zeitung (-6,3 PP), der Weltwo- che (-8,8 PP) und der Schweiz am Wo- chenende (-10,3 PP). Viele dieser Zeitun- gen finden sich bei der Betrachtung der Präsenz der Vorlagen rechter Initianten unter umgekehrten Vorzeichen bei den Angeboten wieder, die überdurchschnitt- lich häufig bzw. selten berichten. So

116 MIP 2019 25. Jhrg. Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] Aufsätze

Als zweiten Indikator betrachten wir die Tonalität sich bei Le Matin (-40), dem Tages-Anzeiger (-32), der Berichterstattung gegenüber den Abstimmungs- dem Blick (-29), 24heures (-26) und der Tribune de vorlagen linker und rechter Initiatoren. Die Tonalität Genève (-23). Eine eher rechte Tonalität weisen die wird hierbei über die Valenz der Darstellung der je- Basler Zeitung (25), die Neue Zürcher Zeitung (14), weiligen Initiative bemessen. Die Valenz der Bericht- die Schweiz am Wochenende (14) sowie die Luzer- erstattung wird über den Kontrapositionssaldo der im ner Zeitung (12) auf. Alle anderen der 22 untersuch- Sinne der Initiatoren positiven und negativen Darstel- ten Angebote haben keine eindeutige Tendenz in der lung der Vorlagen berechnet (dabei werden alle Bei- Tonalität der Berichterstattung (Tabelle 2). träge, die eine kontroverse/ambivalente Tonalität auf- Tabelle 2: Kontrapositionssalden in der Berichterstat- weisen, nicht mehr berücksichtigt). Positive Salden tung über Vorlagen linker und rechter Initiatoren. sprechen für eine publizistische Unterstützung, nega- tive Salden für einen eher kritischen Umgang mit den Kontrapositionssaldo* Vorlagen. Die Analysen wurden sowohl für die Bericht- Weltwoche 76 Basler Zeitung 25 erstattung über Vorlagen rechter und linker Initiatoren Neue Zürcher Zeitung 14 durchgeführt und anschließend aggregiert, um spezifi- Schweiz am Wochenende/am Sonntag 14 sche Aussagen über den Polarisierungsgrad inner- (Neue) Luzerner Zeitung 12 halb des politisch-publizistischen Spektrums in den NZZ am Sonntag 6 Schweizer Printmedien treffen zu können. Le Matin Dimanche 6 Die Südostschweiz 1 Schaut man sich die Valenz der Berichterstattung 20 minutes -5 über linke und rechte Vorlagen an, zeigt sich, dass SonntagsZeitung -6 sowohl über Vorlagen linker als auch über Vorlagen 20 Minuten -7 rechter Initiatoren mehr ablehnend als zustimmend SonntagsBlick -7 berichtet wird. Das Kontrapositionssaldo aus positi- Gesamt -7 ver und negativer Valenz beträgt für die linken Vor- Aargauer Zeitung -12 lagen -17 Prozentpunkte und für die rechten Vorla- Berner Zeitung -13 gen -24 Prozentpunkte. Um den Polarisierungsgrad Le Temps -19 erfassen zu können, wird nun die Differenz zwischen Tribune de Genève -23 Blick am Abend -24 der Valenz der Berichterstattung über Vorlagen bei- 24-Heures -26 der Initiatorengruppen gebildet. Je höher der Betrag Blick -28 dieser Differenz ist, desto polarisierter ist das Ange- Tages-Anzeiger -32 bot eines Mediums einzuschätzen. Eine maximale Le Matin -40 Polarisierung ist gegeben, wenn alle Beiträge eines L‘Hebdo -114 Mediums zugunsten einer und zu Ungunsten der je- *Kontrapositionssaldo: Differenz des Anteils von Beiträ- weils anderen Initiatorengruppe verfasst wären. In gen mir positiver und negativer Valenz zu den Initiativen diesem Falle würde die Spannbreite -200 (zugunsten In der Gesamtschau beider herangezogener Indikato- linker Initiatoren) und +200 (zugunsten rechter Initi- ren zur Bestimmung der redaktionellen Linien von atoren) betragen. Ein Wert von 0 stünde für eine ab- Printangeboten in der Schweiz lässt sich resümie- solut ausgewogene Berichterstattung. Die Analysen rend feststellen, dass nur wenige der 22 untersuchten zeigen, dass über alle Medien und Beiträge betrach- Angebote bei beiden Indikatoren eine eindeutige tet die Berichterstattung über Referenden und Initia- Tendenz aufweisen. Den Deutschschweizer Angebo- tiven mit einem Wert von -7 sehr nahe am theoreti- ten Weltwoche, Schweiz am Wochenende und Bas- schen Mittelpunkt zu finden ist, der für eine ausge- ler Zeitung kann eine redaktionelle Linie zugunsten wogene Berichterstattung steht. Mit L‘Hebdo und der rechten Initiatoren attestiert werden. Sie berich- der Weltwoche bilden zwei Wochenzeitungen, die ten im Vergleich zu allen 22 untersuchten Angebo- bei den bisherigen Indikatoren schon aufgefallen ten zum einen umfassender über von rechten Initia- sind, die Extrempunkte in der Berichterstattung. Der toren eingebrachten Volksabstimmungen und stellen für L‘Hebdo gemessene Wert von -114 steht für eine diese zum anderen wiederum im Vergleich zu den stark positive verzerrte Berichterstattung zugunsten anderen untersuchten Angeboten positiver dar. Bei linker Vorlagen. Die Weltwoche (+79) stellt Vorlagen den Westschweizer Angeboten L‘Hebdo, Le Matin rechter Initiatoren weit positiver dar als die linker In- und 24-heures zeigt sich eine redaktionelle Linie zu- itiatoren. Neben diesen beiden Ausreißern lassen gunsten der Volksabstimmungen, die aus dem linken sich noch drei weitere Gruppen von Medienangebo- Lager initiiert werden. ten identifizieren. Eine eher linke Ausrichtung zeigt

117 Aufsätze Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Für die anderen Angebote gibt es kein so eindeutiges Nach der Würdigung von Resonanz und Tonalität Muster. So sind die Initiativen keines politischen La- als Indikatoren zur Ermittlung der redaktionellen Li- gers in der Neuen Zürcher Zeitung überrepräsentiert, nie zeigt sich, dass die meisten untersuchten Printan- in der Valenz der Berichterstattung lässt sich allerdings gebote im medieninternen Vergleich zur Gesamtbe- eine positivere Darstellung der Volksabstimmungen richterstattung ausgewogen über die Initiativen be- aus dem rechten Lager erkennen. Bei 20 minutes richten. Ausgeprägte redaktionelle Linien zugunsten hingegen finden wir eine Überbetonung linker Vor- der rechten bzw. linken Initiatoren finden mit der lagen, aber keine ausgeprägte positive Tonalität zu Weltwoche, Schweiz am Wochenende und Basler diesen. Zeitung und L‘Hebdo, Le Matin und 24-heures nur bei jeweils drei Angeboten. Fazit und Ausblick Insgesamt sprechen die Befunde dafür, dass die Be- Eine gesellschaftsweite politische Öffentlichkeit ist richterstattung über Referenden und Initiativen in ein zentrales Element im Selbstverständnis der west- der Schweiz aktuell zu keiner massenmedial befeuer- lichen Moderne, das in dem Gedanken der Partizipa- ten Polarisierung des politischen Diskurses führt. tion der Bürger an politischen Entscheidungen kul- Zwei grundlegende Faktoren sind ausschlaggebend, miniert. Direktdemokratische Verfahren stärken die dass sich in der Medienberichterstattung keine oder Partizipation der Bevölkerung. Zu den Gelingensbe- nur moderate redaktionellen Linien wiederspiegeln. dingungen einer funktionierenden gesellschaftsweiten Erstens das Prinzip der Konkordanzdemokratie, bei politischen Öffentlichkeit zählen zwei Grundvoraus- dem alle relevanten politischen Kräfte in die Ent- setzungen. (1) Bürger nehmen Argumente der Gegner scheidungsfindung mit einbezogen werden, und wahr und (2) gibt es eine massenmediale Berichter- zweitens die Loslösung der Presse von den früheren stattung, in der Akteure und deren Positionen aufge- politischen Trägern und Milieus, die in der Schweiz griffen und zueinander in Beziehung gesetzt werden, zwar spät einsetzte (ca. 1960er und 1970er Jahre), damit sich die Bürger ein umfassendes Bild von den sich aber relativ rasch vollzog (Lucht & Udris 2013), zur Abstimmung stehenden Themen machen können. und der parallel einsetzende Bedeutungsanstieg des öffentlichen Fernsehens. In der vorliegenden Studie wurde am Beispiel der Schweiz untersucht, wie intensiv und wie ausgewo- Vor diesem Hintergrund der geringen Polarisierung gen 22 verschiedene Printangebote über 33 Abstim- kann vorerst ein positives Fazit gezogen werden. mungen berichteten. Anhand verschiedener Indikato- Doch freilich ist die Polarisierung (resp. Ausgewogen- ren prüften wir, inwieweit es in der Schweiz eine heit) nur einer von vielen Aspekten, mit denen die mediale Polarisierung der Berichterstattung zugunsten Qualität der öffentlichen Debatte über Abstimmungs- bestimmter politischer Lager gibt. Die Ergebnisse vorlagen bewertet werden muss. Der Diskurs vor lassen sich wie folgt zusammenfassen: Abstimmungen ist voraussetzungsreich und setzt ne- ben einer geringen Polarisierung ebenso voraus, dass Hinsichtlich der Präsenz der Vorlagen gibt es keinen verschiedene Stimmen (auch verschiedene Medienti- Bonus für statushohe politische Akteure. Alle Sta- tel) sich beteiligen oder dass einordnende Argumen- tusgruppen, die als Initiatoren in Erscheinung treten, te ausgetauscht werden und nicht emotionale und sind in der Medienberichterstattung etwa gleichver- personalisierende Botschaften die Resonanz befeu- teilt vertreten. Nicht jede einzelne Organisation kann ern. Diese Voraussetzungen sind in der Schweiz im- sich gleich gut Gehör verschaffen. Doch der Status mer noch vorhanden; die Qualität vieler Medientitel spielt kaum eine Rolle. In der Summe gelingt somit ist nach wie vor gut und die Nutzer vertrauen den Akteuren mit unterschiedlich hohem Status der Weg Medien nach wie vor (vgl. fög 2018). Doch es gibt in die massenmediale politische Öffentlichkeit. sehr problematische Entwicklungen: Die Medien- Sowohl linke als auch rechte Initiativen und Referen- konzentration ist in den letzten Jahren stark gestie- den stoßen in der Summe auf mehr Kritik als auf Zu- gen und auch formell unabhängige Titel (desselben stimmung. Dieser „Negativismus“ ist in erster Linie Unternehmens) teilen immer mehr dieselben Nach- Ausdruck eines „status-quo“-Bias, der auch die politi- richtenbeiträge und Kommentare, auch zu Abstim- schen Machtverhältnisse reflektiert. Schließlich werden mungen (fög 2018). Das heißt, hier lässt sich ein Initiativen und Referenden per definitionem immer Trend zu mehr Uniformität statt Vielfalt feststellen. von „Herausforderern“ angestrengt, die sich gegen die Zudem haben populistisch und emotional aufgelade- Position der in der Schweiz überparteilich zusammen- ne Vorlagen nachweislich bessere Resonanzchancen gesetzten Regierung und des Parlaments wenden. (vgl. Udris, Eisenegger & Schneider 2018) und die-

118 MIP 2019 25. Jhrg. Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] Aufsätze jenigen Medientitel, die weniger einordnen und da- fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesell- für stärker emotionalisieren und personalisieren, schaft / Universität Zürich (Hg.) (2018). Jahrbuch sind ausgerechnet diejenigen, die im Vergleich zu Qualität der Medien. Schweiz – Suisse – Svizzera. qualitätsstarken Titeln an Reichweite gewinnen. Ein Basel: Schwabe. Abrufbar unter: https://www.quali Einsatz direktdemokratischer Mittel sollte mit diesem taet-der-medien.ch/. Wissen immer auch mit Blick auf die Infrastrukturen Gerth, M., Dahinden, U., & Siegert, G. (2012). Cov- und die Qualität der öffentlichen Kommunikation erage of the Campaigns in the Media. In H. Kriesi diskutiert werden. (Hg.), Political Communication in Direct Democratic Campaigns: Enlightening or Manipulating? (pp. Literatur 108–124). Basingstoke: Palgrave Macmillan. Benz, M., & Stutzer, A. (2004). Are voters better in- Glantz, A., Teusch, R., & Schoen, H. (2010). Abstim- formed when they have a larger say in politics? Evi- mungskampf, Informationsvermittlung und Stimment- dence for the European Union and Switzerland. scheidung beim Volksentscheid über den Nichtrau- Public Choice, 119, 31–59. cherschutz in Bayern. In L. P. Feld, P. M. Huber, O. Jung, C. Welzel, & F. Wittreck (Hg.), Jahrbuch Bernauer, J., & Vatter, A. (2012). Can´t get no satis- für direkte Demokratie (S. 295–320). Baden-Baden: faction with the Westminster model? Winners, losers Nomos. and the effects of consensual and direct democratic institutions on satisfaction with democracy. Euro- Hansen, G. J., & Kim, H. (2011). Is the Media Bi- pean Journal of Political Research, 51, 435–468. ased Against Me?: A Meta-Analysis of the Hostile Media Effect Research. Communication Research Blum, R. (2005). Politischer Journalismus in der Reports, 28(2), 169–179. doi:10.1080/08824096.20 Schweiz. In P. Donges (Hg.), Politische Kommuni- 11.565280. kation in der Schweiz (S. 115-130). Bern: Haupt. Hobolt, S. B. (2009). Europe in Question. Referen- Bonfadelli, H. (1994). Die Wissenskluft-Perspektive: dums on European Integration. Oxford: Oxford Uni- Massenmedien und gesellschaftliche Information. versity Press. Konstanz: UVK. Hopmann, D., van Aelst, P., & Legnante, G. (2012). Bowler, S., & Donovan, T. (1998). Demanding Political balance in the news: A review of concepts, choices: Opinion, voting, and direct democracy. operationalizations and key findings. Journalism Ann Arbor: University of Michigan Press. 13(2), 240–257. DOI: 10.1177/1464884911427804. Brettschneider, F., & Wagner, B. (2008). „And the Kriesi, H. (2005). Direct democratic choice: The winner should be…“ Explizite und implizite Wahl- Swiss experience. Lanham, Md: Lexington, Books. empfehlungen in der Bild-Zeitung-und der Sun. In S. Adam & B. Pfetsch (Hg.), Massenmedien als politi- Kriesi, H. (2012). Conclusion. In H. Kriesi (Hg.), Po- sche Akteure. Konzepte und Analysen (S. 225–244). litical Communication in Direct Democratic Cam- Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/ paigns: Enlightening or Manipulating? (S. 225– GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden. 240). Basingstoke: Palgrave Macmillan. Dahlem, S. (2001). Wahlentscheidung in der Medien- Kriesi, H., & Bernhard, L. (2013). Die Referendums- gesellschaft: Theoretische und empirische Grundla- demokratie. In H. Scholten & K. Kamps (Hg.), Ab- gen der interdisziplinären Wahlforschung (Vol. 27). stimmungskampagnen: Politikvermittlung in der Re- Freiburg: Alber. ferendumsdemokratie (pp. 3–18). Wiesbaden: Sprin- ger VS. Donsbach, W., & Rentsch, M. (2011). Methodische Designs zur Messung subjektiver Einflüsse auf Lucht, J., & Udris, L. (2013). Kommerzialisierung Nachrichtenentscheidungen von Journalisten. In O. und Konzentration der Medien im internationalen Jandura, T. Quandt, & J. Vogelgesang (Eds.), Me- Vergleich. Studien Qualität Der Medien. (1), 1–31. thoden der Journalismusforschung (S. 155–170). Marcinkowski, F. (2005). Deliberation. Medienöf- VS, Verl. für Sozialwiss. fentlichkeit und direktdemokratischer Verfassungs- Edgerly, S. (2015). Red Media, Blue Media, and Purple entscheid – Der Fall Lichtenstein. In T. Hitzel- Media: News Repertoires in the Colorful Media Land- Cassagnes & T. Schmidt (Hg.), Demokratie in Euro- scape. Journal of Broadcasting & Electronic Media, pa und europäische Demokratien. Festschrift für 59(1), 1–21. doi:10.1080/08838151.2014.99 8220. Heidrun Abromeit (S. 1–27). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

119 Aufsätze Jandura/Udris – Parteigänger oder neutrale Berichterstatter? [...] MIP 2019 25. Jhrg.

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120 MIP 2019 25. Jhrg. Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo Aufsätze

Fraktions- und Regierungsbildung in der Die größte vor den Wahlen geschlossene Koalition Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (PDK-PD-LB-PSHDK-PKK) gewann nur 30% der der Republik Kosovo Stimmen. Die anderen Parteien, welche Sitze im Par- lament errungen hatten, waren nicht nur gegen einen

1 Beitritt zur Koalition der PDK und ihrer Koalitions- Durim Berisha, LL.M. partner, sondern schlossen sich selbst zu einer großen Koalition zusammen, die als VLAN bekannt wurde (VV-LDK-AAK-NK)6. I. Einleitung Dies setzte die Präsidentin Kosovos Atifete Jahjaga Demokratisierungsprozesse in Entwicklungsstaaten unter hohen Druck. Der Verfassung nach musste sie werden meistens von Diskussionen und Ereignissen einen Kandidaten zum Premierminister mandatieren7. begleitet, welche auf die frühen Auseinandersetzun- Um die Verantwortung von sich zu schieben, reichte gen zwischen verschiedenen Staatsgewalten zurück- sie Beschwerde beim Verfassungsgericht ein und bat greifen, die vor, während und nach den Revolutionen darin um weitere Erläuterung und Auslegung der in den europäischen Staaten stattfanden. So auch in (unter diesem Aspekt ohnehin schon sehr klaren) Kosovo. Auch wenn die von Montesquieu entwickelte Verfassungsnormen. Das Verfassungsgericht sollte 2 Lehre der Gewaltenteilung in Teilen nach wie vor klären, ob in der derzeitigen Situation eine Partei von politischen und wissenschaftlichen Akteuren rezi- oder Koalition berechtigt ist, von der Präsidentin das piert wird, zeigt sich in der heutzutage geführten De- Mandat zur Regierungsbildung zu erhalten. batte in Kosovo ein transformiertes Verständnis die- ses Konzeptes. In der Gegenwart steht in dem parla- Drei von vier Koalitionsmitgliedern der VLAN-Koa- mentarischen Regierungssystem nicht mehr der durch lition (LDK, AAK und NK) hatten eine gemeinsame die Gewaltenteilung eigehegte Konflikt zwischen Fraktion (Albanisch: Grup Parlamentar) gegründet Exekutive und Legislative im Zentrum, da die Exeku- und stellten damit die größte Fraktion im Parlament tive grundsätzlich von der Mehrheit der Legislative dar. Als größte Fraktion waren sie daher grundsätz- getragen wird und dem Staatsoberhaupt die exekutive lich berechtigt, den Parlamentssprecher vorzuschlagen, Rolle entzogen wurde3. Die Regierung spiegelt den ei- und stellten zusammen mit dem vierten Koalitions- gentlichen Willen der Mehrheit der Abgeordneten des partner VV auch die erforderliche Mehrheit zur Re- durch das Volk unmittelbar legitimierten Parlamentes. gierungsbildung im Parlament. In Erfüllung der Koa- Dementsprechend kollidieren Interessen der Mehrheit litionsabsprache wählten sie in der konstituierenden (Regierung) mit denen der Opposition und nicht die Parlamentssitzung vom 17. Juli 2014 Isa Mustafa mit der Exekutive mit denen der Legislative. 65 von 120 Stimmen zum Parlamentssprecher8. Die PDK und ihre Koalitionspartner, die sich während In der Republik Kosovo führte im Jahre 2014 die an- der Wahl des Parlamentspräsidiums nicht im Parla- gespannte Situation zwischen den politischen Parteien mentssaal befanden, reichten schon am nächsten Tag 4 zu der ersten institutionellen Krise nach der Unabhän- eine Beschwerde beim Verfassungsgericht ein9. gigkeitserklärung. Das sehr spezifische und gleichzei- tig komplizierte Verfassungssystem Kosovos ermög- Das Verfassungsgericht fällte nach sehr kurzer Zeit lichte keiner der politischen Parteien oder den vor den in diesen beiden Fällen äußerst fragwürdige Urteile, Wahlen geschlossenen Koalitionen die Regierungsbil- die bis heute in der Wissenschaft aber kaum Beach- dung nach den Parlamentswahlen vom 08. Juni 20145. tung fanden. Dieser Aufsatz soll den prozessualen wie auch inhaltlichen Problemen der Beschlüsse auf 1 Der Autor ist Johannes-Rau-Stipendiat am PRuF. Von Septem- den Grund gehen. ber 2016 bis Februar 2018 war er beim Verfassungsgericht Ko- sovos als „Rechtsberater“ (wissenschaftlicher Mitarbeiter) tätig. 2 Ulrich Lange, Teilung und Trennung der Gewalten bei Mon- 6 Zitiert nach dem Bericht der Nachrichtenagentur Telegrafi, tesquieu, in: Der Staat 19 (1980), S. 214. https://telegrafi.com/ekskluzive-ja-marreveshja-lan-vetevendo 3 Durim Berisha, Pozita e Kreut të Shtetit në Kushtetutën e Vaj- sje-dokument/, zuletzt abgerufen am 03.01.2018. marit dhe Ligjin Themeltar – Studim Krahasues, Prishtinë 7 Art. 84.14 der Verfassung. (2015), S. 105. 8 Zitiert nach dem Bericht der Nachrichtenagentur Kallxo, https:// 4 Marko Prelec, The way out of Kosovo’s government crisis, in: kallxo.com/gjnk/isa-mustafa-zgjedhet-kryetar-i-kuvendit/, zu- https://www.gazetaexpress.com/en/oped/the-way-out-of-koso letzt abgerufen am 03.01.2019. vos-government-crisis-50824/, zuletzt abgerufen am 03.01.2019. 9 Zitiert nach dem Bericht der Nachrichtenagentur Kosovapress, 5 Die offiziellen Wahlergebnisse: http://www.kqz-ks.org/zgjed http://www.kosovapress.com/sq/lajme/pdk-dergoi-ne-kushtetu hjet-e-pergjithshme/zgjedhjet-per-kuvend-te-kosoves-2014/, ese-zgjedhjen-e-mustafes-ne-krye-te-kuvendit-21747/, zuletzt zuletzt abgerufen am 03.01.2019. abgerufen am 03.01.2019.

121 Aufsätze Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo MIP 2019 25. Jhrg.

II. Grundzüge des kosovarischen Verfassungs- Arten der Verfassungskontrolle12. Der Zuständig- systems keitsbereich des Gerichtes wird durch besondere Verfahren, welche in Art. 62 der Verfassung und im Das Verfassungssystem Kosovos wurde nach den Paragraph 64 des Gesetzes über die lokale Selbstver- vorgegebenen Anforderungen des umfassenden Vor- waltung vorgesehen sind, erweitert. Der Zuständig- schlages für die Regelung des Kosovostatus, dem so- keitsbereich des kosovarischen Verfassungsgerichtes genannten „Ahtisari Plan“, gebildet. Dieser sah die wird somit präzise durch die Verfassung und die zu- Grundsätze und Mechanismen vor, die in der neuen sätzlichen Vorschriften in bestimmten Gesetzen be- 10 Verfassung Kosovos verankert sein sollten . Der erste schrieben. Die Art der Verfassungskontrolle, die das Annex dieses Dokumentes bestimmte, dass das nach Gericht durchführen kann, sowie die Akteure, die der Unabhängigkeit des Kosovo zu wählende Parla- ein Verfahren der Verfassungskontrolle vor dem Ge- ment 120 Mitglieder haben sollte. Als einziges Ver- richt beantragen können, geben Aufschluss über das fassungsorgan, das unmittelbar vom Volk legitimiert Kompetenzfeld des Gerichtes13. wird, sollten 100 der Abgeordneten in geheimen Wahlen über offene Listen der Kandidaten gewählt Gem. Art. 113 Abs. 2 der Verfassung Kosovos sind werden. Diese Mandate sollten von allen Kandidaten, das Parlament, der Präsident, die Regierung sowie Parteien, Koalitionen oder Volksinitiativen, unabhän- der Bürgerbeauftragte Kosovos berechtigt, die Ver- gig von der Ethnizität, besetzt werden können. Dage- fassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen, Dekreten gen sollten die 20 weiteren Mandate für Vertreter der des Präsidenten oder Premierministers, Verordnungen Gemeinschaften, die nicht der (ethnischen) Mehrheit der Regierung sowie der Satzung (Statut) einer Ge- in Kosovo angehören, garantiert sein11. Diese Voraus- meinde einzuleiten. setzungen wurden durch Art. 64 der Verfassung Ko- Antragsberechtigt für ein Organstreitverfahren, die Ver- sovos übernommen. Das Parlament ist das zentrale fassungsmäßigkeitsprüfung eines Volksentscheides, Verfassungsorgan, das alle anderen Verfassungsor- die Feststellung der Übereinstimmung des Verfahrens gane in der Legitimationskette legitimiert. Es wählt der Ausnahmezustandserklärung sowie die Überein- den Präsidenten, die Regierung und schlägt dem Prä- stimmung der während dieser Zeit durchgeführten sidenten die Verfassungsrichter zur Ernennung vor. Maßnahmen mit der Verfassung, die Verfassungsmä- In seinem Aufbau entspricht dies einer typischen ßigkeitsprüfung vorgeschlagener Verfassungszusätze, parlamentarischen Demokratie, in welcher die Legis- die aus einem internationalen Vertrag abgeleitet wer- lative als einziges Organ unmittelbar vom Volk legi- den und die Wahlprüfung bei den Parlamentswahlen timiert ist und für die Gesetzgebung sowie die Wahl sind gem. Art. 113 Abs. 3 der Verfassung Kosovos und Kontrolle der Regierung zuständig ist. Der Re- das Parlament, der Präsident oder die Regierung. gierung ist in alleiniger Verantwortung die Exekuti- Art. 113 Abs. 4 der Verfassung Kosovos berechtigt ve anvertraut, während der Präsident ein Staatsober- Gemeinden zur Einleitung eines Verfahrens zur Ver- haupt ohne exekutive Befugnisse ist. Die Bewahrung fassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen oder Re- und Auslegung der Verfassung ist Aufgabe des Ver- gierungsakten, durch welche Zuständigkeiten oder fassungsgerichts. Finanzen der Gemeinden gemindert werden. Gemäß Art. 113 Abs. 5 der Verfassung Kosovos sind min- III. Verfassungsrechtliche Stellung und Zuständig- destens 10 Abgeordnete des Parlaments berechtigt, keiten des Verfassungsgerichts parlamentarische Gesetze und andere Entscheidun- Das Verfassungsgericht Kosovos ist nach Art. 112 der gen im Wege der abstrakten Normenkontrolle über- Verfassung die letzte Instanz für die Auslegung der prüfen zu lassen. Verfassung sowie zuständig für die Verfassungsmäßig- Art. 113 Abs. 6 der Verfassung Kosovos räumt min- keitsprüfung der Gesetze. Die originären Zuständig- destens 30 Abgeordneten das Recht ein, eine Präsi- keiten des Verfassungsgerichts sind in Art. 113 der dentenklage wegen angeblicher Verletzung der Ver- Verfassung festgelegt und beinhalten die typischen fassung zu erheben.

10 Nicolas Mansfield, Creating a Constitutional Court: Lessons Art. 113 Abs. 7 der Verfassung Kosovos sieht die in- From Kosovo, in: East-West Management Institute Occasion- dividuelle Verfassungsbeschwerde vor, Abs. 8 be- al Paper Series (2013), S. 1. 12 11 Art. 3 des umfassenden Vorschlages für die Regelung des Koso- Visar Morina, Gjyqësia Kushtetuese (Shqyrtime teorike dhe vostatus, https://www.kuvendikosoves.org/common/docs/Com krahasimore) (2017), S. 116-117. prehensive%20Proposal%20.pdf, zuletzt abgerufen am 13 Enver Hasani/Ivan Čukalović, Komentar-Kushtetuta e Repu- 04.01.2019. blikës së Kosovës (2013), Art. 113, S. 572.

122 MIP 2019 25. Jhrg. Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo Aufsätze handelt die Richtervorlagen vor dem Verfassungsge- 1. Die „Verfassungsfrage“ (VerfGE Nr. KO 103/14) richt und Abs. 9 verpflichtet den Sprecher des Parla- ments, vorgeschlagene Verfassungsänderungen vor Die Präsidentin der Republik Kosovo Atifete Jahjaga der Verabschiedung im Parlament zur vorherigen reichte am 18. Juni 2014 einen Antrag beim Verfas- Prüfung ihrer Übereinstimmung mit dem zweiten sungsgericht Kosovos ein, in dem das Gericht zur Kapitel der Verfassung (Menschenrechte und Frei- Begutachtung von insgesamt 16 Fragen betreffend heiten) dem Gericht vorzulegen. die Auslegung von zwei Artikeln der Verfassung aufgefordert wurde. Der Präsidentin sei kein anderer Ein besonderes Verfahren ist die Beschwerde, die Ausweg geblieben, denn es „liege ein Widerspruch nach Art. 62 Abs. 4 der Verfassung auf Antrag des zwischen Artt. 84 und 95 der Verfassung vor“, be- stellvertretenden Bürgermeisters, der die ethnischen tonte ein Berater der Präsidentin20. Minderheiten vertritt14, erhoben werden kann und gegen Akte oder Entscheidungen der kommunalen Das Gericht nahm die Beschwerde zur Prüfung an Organe gerichtet ist, die angeblich Verfassungsrechte und veröffentlichte am 01. Juli 2014 seinen Be- verletzen15. Nach § 64 des Gesetzes über die lokale schluss, in welchem es feststellte, dass zum einen die Selbstverwaltung kann zudem eine Bürgermeister- beiden Artikel sich nicht widersprechen und zum an- klage seitens der Regierung eingelegt werden. Im deren die nach den Wahlen geschlossenen Koalitio- Falle eines Erfolges des Antrages der Regierung, wird nen nicht das Recht zum Vorschlag des Kandidaten diese ermächtigt, den Bürgermeister zu entlassen. für den Premierminister haben (selbst wenn diese die Mehrheit im Parlament stellen und auch wenn die IV. Hintergrund der Verfassungsgerichtsverfah- vor den Wahlen geschlossenen Koalitionen in der ren KO 103/14 und KO 119/14 parlamentarischen Minderheit sind). Dementspre- chend sei das Recht zur Regierungsbildung ein beson- Die Verfassung sowie die Gesetze (die weitere Zu- deres Recht der vor den Wahlen geschlossenen Koali- ständigkeiten des Gerichtes vorsehen) schließen ein tionen. In dem Fall, dass der erste mandatierte Kandi- sogenanntes Rechtsgutachtenverfahren, in dem ein dat nicht zum Premierminister gewählt wird, ist es die Gericht nicht einen Rechtsstreit, sondern abstrakte Pflicht des Präsidenten der Republik, einen anderen Rechtsfragen entscheidet, aus16. Trotzdem hat das Kandidaten nach Absprache mit den parlamentari- Gericht Anträge des Präsidenten und der Regierung schen Parteien und Koalitionen vorzuschlagen. Der auf Erstellung eines Rechtsgutachtens angenom- Präsident könnte derselben Partei oder Koalition ei- men17. Erst im Jahre 2018 hat das Gericht in seiner nen zweiten Versuch zur Regierungsbildung, durch Entscheidung KO 79/18 festgestellt, dass die Verfas- einen anderen Kandidaten, ermöglichen21. sung dieses Recht dem Präsidenten der Republik Ko- sovo nicht gewährt18. In seiner Begründung orien- 2. Das Problem der größten Fraktion (VerfGE tierte sich das Gericht vollumfänglich an einem zu Nr. KO119/14) eben dieser Frage jüngst veröffentlichten rechtswis- senschaftlichen Artikel des Autors19. Die Juniwahlen des Jahres 2014 waren ein unerwar- teter Rückschlag für die seit 2007 regierende Partei 14 Die Verfassungsordnung Kosovos sieht eine bevorzugte Rolle PDK. Da sie zusammen mit den anderen verbünde- der ethnischen Minderheiten vor. Diesbezüglich ist in Gemein- ten Parteien als eine vor den Wahlen geschlossene den, in welchen eine ethnische Minderheit mindestens 10% der Koalition nur 30% der Stimmen errang, wurde die Bevölkerung darstellt, eine Stelle des stellvertretenden Bür- germeisters für den Vertreter dieser Minderheit vorausgesetzt. Regierungsbildung ihrerseits ohne die Unterstützung einer anderen albanischen Partei oder Koalition ver- 15 VerfGE Nr. KO 01/09 vom 18 März 2010. hindert22. 16 Für das Bundesverfassungsgericht bestand zu seiner Anfangs- zeit eine solche Kompetenz, s. BVerfGE 2, 79 (86 ff.). 17 VerfGE Nr. KO80/10 vom 07. Oktober 2010 und VerfGE Nr. KO 98/11 vom 20. September 2011. 20 Zitiert nach dem Bericht der Nachrichtenagentur Lajmi: 18 VerfGE Nr. KO 79/18 vom 03. Dezember 2018. http://lajmi.net/pallaska-presidentja-skishte-rruge-tjeter-pervec- sqarimit-ne-kushtetuese/, zuletzt abgerufen am 05.01.2019. 19 Durim Berisha, Unconstitutional „Constitutional Questions“ 21 – How Kosovo’s Constitutional Court Expands its Jurisdiction, VerfGE KO 103/14 vom 01. Juli 2014. Verfassungsblog vom 25.09.2018, https://verfassungsblog.de/ 22 Im Rahmen der Regierungsbildung muss jeder Premierminis- unconstitutional-constitutional-questions-how-kosovos-consti terkandidat auf die reservierten Plätze für die ethnischen Min- tutional-court-expands-its-jurisdiction/, zuletzt abgerufen am derheiten, welche mindestens 20 Sitze im Parlament haben, 05.01.2019; die Entscheidungsbegründung folgt dem Beitrag achten. Aus diesem Grund würde eine Partei oder Koalition, weitgehend sowohl im Wortlaut als auch hinsichtlich der Re- die nach den Wahlen 41 Plätze im Parlament erringt, in der ferenzen. Lage sein, die Regierung nur mit den Minderheiten zu bilden.

123 Aufsätze Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo MIP 2019 25. Jhrg.

Um die Situation noch schwerer zu machen, hatten zwungen, eine Fraktion zu gründen, die sich aus- – wie bereits erwähnt – drei der vier Koalitionsmit- schließlich aus Mitgliedern der Partei oder der Koa- glieder der VLAN-Koalition (LDK, AAK und NK) lition zusammensetzt, unter deren Namen sie an den eine gemeinsame Fraktion gründet. Die LAN-Frak- Wahlen teilgenommen haben. Nach der Wahl des tion wurde von dem Parlamentssprecher der vorheri- Parlamentspräsidiums können dann neue Fraktionen gen Legislaturperiode (so wie es die Vorschriften gegründet werden oder Abgeordnete aus der Fraktion vorsehen) anerkannt und bestand aus 47 Abgeordne- austreten25. ten23. Somit stellte Sie die größte Fraktion des Parla- ments dar und hatte damit auch der Hoffnung der V. Kritik an den Verfassungsgerichtsentschei- PDK, den Parlamentssprecher stellen zu können, ein dungen Ende gesetzt. Diese beiden Entscheidungen des kosovarischen Verfassungsgemäß berief die Präsidentin Kosovos Verfassungsgerichtes sind die in der Öffentlichkeit die erste (konstituierende) Sitzung des neugewählten und der Politik meist kritisierten. Die Verfassungs- Parlaments für den 17. Juli 2014 ein. Die Sitzung rechtswissenschaft hat in den letzten Jahren in Koso- wurde von der ältesten Abgeordneten Flora Brovina vo zunehmend an Bedeutung verloren. Dies auch (PDK) geleitet, die, nachdem die Mandate der Abge- deshalb, weil die kosovarischen Akademiker eine ordneten durch die Ad-Hoc-Kommission bestätigt immer indifferente Rolle eingenommen haben. Da- wurden24, die Entscheidungen der Parlamentspräsi- mit erklärt sich auch, dass bis jetzt nicht ein einziger dentschaft bezüglich der Gründung und Eintragung wissenschaftlicher Beitrag zu diesem immer noch in der Fraktionen nicht beachtete. Nach den Vorschrif- der Gesellschaft aktuellen Thema veröffentlicht wor- ten hätte der Parlamentssprecher von der größten den ist. Fraktion vorgeschlagen werden müssen. Sie aber verlangte von dem Vertreter der PDK (die lediglich Eine mögliche Ursache für diese befremdende Ent- die zweitgrößte Fraktion darstellte), einen Kandida- haltsamkeit und übergroße Zurückhaltung der Ver- ten für diesen Posten vorzuschlagen. Aus diesem fassungsrechtswissenschaft, die eine kritische Be- Grund verließ der Rest der Abgeordneten den Saal, gleitung der Justiz scheut, kann auch in einem Man- gel an professioneller Aufklärung und Ausbildung weshalb die Sitzung wegen Unterschreiten des An- 26 wesenheitsquorums für beendet erklärt werden gesehen werden . Zwar scheinen auch die meisten musste. Nachdem dann auch die PDK den Saal ver- Juristen in Kosovo der Ansicht zu sein, dass das Ge- lassen hatte, kehrten die anderen Abgeordneten in richt zu einem verfehlten Ergebnis gekommen ist. den Saal zurück und wählten den Kandidat der Jedoch werden diese Diskussionen nicht wissen- VLAN-Koalition zum Sprecher des Parlaments. schaftlich und insbesondere nicht wissenschafts- öffentlich geführt, sondern in privaten Kreisen oder Am 18. Juli 2014 legten 30 Abgeordnete der PDK nur oberflächlich in den Medien erwähnt. beim Verfassungsgericht Beschwerde ein. Nach ei- nem Monat entschied das Gericht und erklärte die Gleichwohl gilt es Kritik zu üben. Für eine Einord- Wahl des Parlamentssprechers für verfassungswid- nung und juristische Bewertung der Entscheidungen rig, weil der Kandidat nicht – so die überraschende des Verfassungsgerichts sind mehrere Umstände von Ansicht des Gerichts – von der größten Fraktion vor- Bedeutung: die Frage der Zulässigkeit der Be- geschlagen wurde. Der Mehrheit der Richter nach schwerden, die Auslegungsmethoden, durch die das können sich (jedenfalls) in der konstituierenden Sit- Gericht zu diesen Ergebnissen gekommen ist, sowie zung des Parlamentes die Fraktionen (nur) entspre- die Reihenfolge, in der die Anträge dem Gericht vor- chend der erzielten Wahlergebnisse bilden. Genauer gelegt und in der sie entschieden wurden. Denn zu- gesagt, dem Gericht zufolge sind die Abgeordneten erst entschied das Gericht über die Verfassungsmä- in der ersten Parlamentssitzung nach den Wahlen ge- ßigkeit der Regierungsbildung. In diesem Beschluss hatte das Gericht auch den Begriff „größte Fraktion“ ausgelegt, und zwar zugunsten der PDK, die diesen 23 Nachdem die Zentrale Wahlkommission die endgültigen Er- gebnisse der Wahlen zertifiziert hat, wird unter Leitung des Beschluss dann auch als „legalen Grund“ für eine Parlamentssprechers der vorherigen Wahlperiode das Verfah- Blockade des Parlaments wertete. ren zur Vorbereitung der konstitutiven Sitzung geführt. Die neuen Abgeordneten registrieren sich bei der Verwaltung des 25 VerfGE KO 119/14 vom 26. August 2014. Parlaments. Sie bekommen von der Verwaltung auch ein be- 26 Die Juristenausbildung in Kosovo leidet an Qualitätsmangeln sonderes Formular, in welchem sie die Zugehörigkeit zu einer seit Anfang der 90’er Jahre. Vor allem die Ausbildung im Be- Fraktion erklären müssen. reich des Verfassungsrechts ist aufgrund der politischen Er- 24 Zu diesem bemerkenswerten Verfahren siehe noch unten, V. eignisse der letzten 30 Jahre besonders davon betroffen.

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1. Zulässigkeit der Beschwerden dem Europäischen Gerichthof für Menschenrechte. Der Zuständigkeitsbereich des Verfassungsgerichts Art. 53 der Verfassung Kosovos bestimmt, dass die sowie die Beschwerdefähigkeit der Institutionen und Grundrechte in Übereinstimmung mit den Entschei- Individuen wurde oben bereits dargestellt. Im Zu- dungen des EGMR ausgelegt werden müssen. Die sammenhang mit den beiden hier in Rede stehenden Richter haben diese Norm immer weiter und weiter Entscheidungen sind die Regelungen zur Beschwer- ausgelegt. Unter dem Einfluss der internationalen defähigkeit des Präsidenten sowie des Parlamentes Richter und Rechtsberater, die beim Verfassungsge- von Interesse. richt tätig waren, hat dieser Artikel der kosovari- schen Verfassung eine inhaltliche Aufladung erfah- a) Zulässigkeit von „Verfassungsfragen“ ren, wonach der EGMR nicht nur für die Auslegung der Grundrechte und Freiheiten als Vorbild gilt, son- Auch wenn weder die Verfassung noch das einfache dern auch für die gesamte Arbeit, Organisation und Recht Vergleichbares vorsieht (dazu schon oben), jedes Verfahren des Gerichtes. sind Vorlagen des Präsidenten der Republik oder der Regierung mit dem Ziel, ein Rechtsgutachten durch Die Struktur der Entscheidungen des Gerichtes ent- das Verfassungsgericht Kosovos einzuholen, unter spricht der des EGMR. In jeder Entscheidung des dem Terminus „Verfassungsfragen“ (albanish: pyetje Verfassungsgerichts wird auf die Rechtsprechung des kushtetuese) bekannt27. Im Jahre 2018 hat das Ver- EGMR hingewiesen. Die Zulässigkeitskriterien des fassungsgericht in einer Entscheidung28 die fehlende EGMR werden auch in Fällen oder Verfahren, die Beschwerdefähigkeit des Präsidenten festgestellt. Das gar nichts mit Menschenrechten zu tun haben, ange- Gericht führte aus, dass es zu Beginn der Verfassungs- wendet.29 In den Entscheidungen des Verfassungsge- gerichtsbarkeit nötig war, die Bedeutung der Verfas- richts fällt auf, dass der größte Teil der Entschei- sungsnormen für die politischen Institutionen auszule- dung aus Zitierungen besteht. In welchem Zusam- gen, weshalb die verfassungsrechtlichen Voraussetzun- menhang die zitierten Gerichtsentscheidungen, Ver- gen zu dieser Zeit nicht beachtet wurden. Nach nun- fassungsnormen oder Gesetzesteile mit dem konkre- mehr zehnjähriger Existenz der Republik Kosovo ten Fall, in dem sie zur Anwendung gelangen, stehen hätten sich die Umstände geändert und das Gericht sollen, wird hingegen nicht begründet. Das Gericht sollte das Staatsoberhaupt nicht mehr „beraten“. Mit findet bei der inhaltlichen Prüfung einer Beschwerde anderen Worten: Das Gericht räumte eine bis dato stets mit wenigen Erklärungen zum Ergebnis30. gegebene verfassungswidrige Entscheidungspraxis ein. Dies ist auch in den beiden hier näher beleuchteten Die Entscheidung über das Recht zur Regierungsbil- Verfahren betreffend die Fraktions- und Regierungs- dung und zum Vorschlag des Premierministerkandi- bildung der Fall. Die inhaltliche Begründung der Ent- daten hätte daher gar nicht ergehen dürfen. scheidungen ist sehr kurz, weil das Gericht – ähnlich wie in allen anderen Entscheidungen – nur eine in- b) Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle tensiv-grammatikalische Auslegung anwendet. Häufig Das Recht der Abgeordneten, eine Beschwerde ge- unternimmt es das Gericht sogar, die Verfassung gen Entscheidungen oder Handlungen des Parla- durch Gesetze oder sogar Verordnungen auszulegen ments einzulegen, ist in Art. 113 Abs. 5 der Verfas- und missachtet so in eklatanter Weise die Normen- sung Kosovos vorgesehen, so dass nichts gegen die hierarchie. Der Inhalt der Verfassung wird durch die Zulässigkeit der Beschwerde der PDK gegen die bekannten Methoden der Verfassungsauslegung er- Wahl Isa Mustafas zum Präsidenten des Parlaments als Kandidat der LAN-Fraktion spricht. 29 Im Fall Nr. KO 47/16 hat das Verfassungsgericht eine Be- schwerde der Abgeordneten gegen die Wahl des Präsidenten 2. Struktur der Entscheidungen des kosovarischen Kosovos nicht zur Prüfung angenommen. Das Gericht be- Verfassungsgerichts sowie die angewendeten Aus- hauptete, sie wäre „offensichtlich nicht begründet“ und des- wegen könne sie nicht zur Prüfung angenommen werden. Bei legungsmethoden näherer Betrachtung des Gerichtsbeschlusses wird aber klar, Das internationalisierte Verfassungsrecht und Ver- dass das Gericht sich mit allen Problemen befasst hat, wes- fassungsgericht Kosovos orientiert sich sehr stark an halb die Beschlussbegründung zu dem dispositiven Teil der Entscheidung in Widerspruch steht. Mit der gleichen Begrün- der Europäischen Menschenrechtskonvention und dung wurde auch die Richtervorlage im Fall Nr. KO 126/16 nicht zur Prüfung angenommen, obwohl das Gericht im Wege 27 Als ehemaliger Mitarbeiter des Gerichtes ist der Autor mit der konkreten Normenkontrolle die Verfassungsmäßigkeit ei- den Begriffen sowie der besonderen Arbeitsweise des Gerich- nes Gesetzes prüfen sollte. tes vertraut. 30 Die VerfGE KO 119/14 hat 42 Seiten. Davon handeln nur 28 VerfGE Nr. KO 79/18 vom 03. Dezember 2018. vier Seiten von der vorgelegten Beschwerde.

125 Aufsätze Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo MIP 2019 25. Jhrg. mittelt und bestimmt sich nicht nach dem Inhalt un- stimmt, dass der Präsident der Republik Kosovo terverfassungsrechtlicher Normen, die sich vielmehr nach den Wahlen dem Parlament den Kandidaten für ihrerseits am Maßstab der Verfassung als verfas- das Amt des Premierministers in Absprache mit der sungskonform erweisen müssen. politischen Partei oder Koalition, die die benötigte Mehrheit zur Regierungsbildung im Parlament ge- 3. Ein folgenreicher Rechtsstreit, den es nicht wonnen hat, vorschlägt34. Es handelt sich demnach hätte geben dürfen um gänzlich verschiedene Sachverhalte, die geregelt Der Verfassung des neuen Kosovo wurde eine trans- sind. Ein Normkonflikt ist schlicht nicht erkennbar. formative Rolle zugeschrieben. Das Verfassungsge- Dieser Fall gilt daher auch – neben anderen – als Pa- richt sollte Hüter dieser ungeschriebenen Aufgabe radebeispiel für eine der Präsidentin Jahjaga vorge- sein und die Institutionen auf dem Weg zur Bildung worfene und vorzuwerfende verfassungswidrige eines demokratischen Staates halten. Amtsführung35. Aus Sicht der Präsidentin Kosovos und ihres Rechtsberaters stand es auch außer Frage, Zugrunde lag dem die Annahme, dass eine demokra- dass es die Aufgabe des Verfassungsgerichtes sei, tieunerfahrene Gesellschaft, die über fast drei Jahr- jede „Verfassungsfrage“ der Präsidentin oder der zehnte keine selbständigen Institutionen hatte, mit Regierung zu beantworten. Hätte das Verfassungsge- den Herausforderungen der Funktionsweise eine richt diese Fehleinschätzung nicht durch die jahre- Staates unter demokratischen Bedingungen nicht zu- lange verfassungswidrige Praxis befördert, hätte eine rechtkommen würde. Vor diesem Hintergrund wur- stärkere Verfassungsrechtswissenschaft diesen Ent- den drei internationale Richter an das Verfassungs- wicklungen entgegengewirkt oder hätten die politi- gericht berufen31. Gut gemeint war in diesem Fall schen Institutionen die Verfassung selbst ernstge- leider nicht gut gemacht, denn die berufenen interna- nommen und ein eigenes Verständnis einer verfas- tionalen Richter hatten auch selbst keinerlei Erfah- sungskonformen demokratischen Staatswillensbil- rung auf dem Gebiet der Verfassungsrechtspre- dung entwickelt, wäre es möglicherweise nicht zu chung. In der Rückschau wäre es wohl vorteilhaft der momentanen Regierungskrise gekommen. Denn gewesen, das Verfassungsgericht, wie etwa in Italien der Verlauf der konstitutiven Parlamentssitzung und nach dem Zweiten Weltkrieg32, erst nach acht bis die seither bestehenden Probleme der Regierungsbil- zehn Jahren zu institutionalisieren, wenn eine neue dung wurden von der – verfassungswidrig beantrag- Generation von Juristen in dem neuen Rechtssystem ten und ergangenen – Entscheidung des Verfas- ausgebildet und auf diese Weise mit einem besseren sungsgerichts über die Regierungsbildung, in der Verständnis für eine demokratische Ordnung und auch die Voraussetzungen der Fraktionsgründung von der Natur und dem Wesen einer Verfassungsge- ausgelegt wurden, vorbestimmt. richtsbarkeit ausgerüstet gewesen wäre. In der Öffentlichkeit in Kosovo steht die Regie- Mangelndes Verständnis des Verfassungssystems rungsbildung immer wieder in der Diskussion. Auf- Kosovos – das auch Indiz für eine bereits seit Jahren grund der unstabilen Regierungskoalitionen hat seit andauernde mangelnde Lernbereitschaft gelten kann 2007 kein Premierminister sein Amt bis zum Ende – ließen die Präsidentin Kosovos und ihren Rechts- ausgeübt. Immer wieder kommt es zu Misstrauens- berater dann auch einen – nicht existenten – Wider- voten, die von der PDK eingeführt wurden, um den spruch zwischen Art. 84 und Art. 95 der Verfassung Koalitionspartner zu wechseln. Die Entscheidungen Kosovos sehen. Dass es keinen Widerspruch zwi- des Verfassungsgerichts haben dazu geführt, dass sie schen den beiden Verfassungsnormen gibt, war al- als Partei, die in den Wahlen zwar die meisten Stim- lerdings sehr offensichtlich, wie auch das Verfas- men erhalten hat, aber selbst nicht in der Lage ist, sungsgericht betonte. Nach Art. 84 der Verfassung Regierungsmehrheiten zu bilden, gleichwohl in der ernennt der Präsident der Republik Kosovo den Lage ist, das Parlament und die Regierungsbildung Mandatierten zur Regierungsbildung nach dem Vor- zu blockieren. Diesen Zustand gab es nicht nur nach schlag der Partei oder Koalition, welche die Mehr- den Wahlen im Jahre 2014, sondern auch nach den heit im Parlament darstellt33. Art. 95 Abs. 1 be- 31 Art. 152 a.F. der Verfassung. që përbën shumicën e Kuvendit“. 32 Gianlucca Gentili, Concrete Control of Constitutionality in 34 Albanische Fassung: „Pas zgjedhjeve, Presidenti i Republikës Italy, in: Co.Co.A., A Summer School on Comparative Inter- së Kosovës i propozon Kuvendit kandidatin për Kryeministër, pretation of European Constitutional Jurisprudence 3rd Edi- në konsultim me partinë politike ose koalicionin që ka fituar tion (2008), S. 3. shumicën e nevojshme në Kuvend për të formuar Qeverinë“. 33 Albanische Fassung: „Cakton mandatarin për formimin e 35 https://zeri.info/aktuale/226382/berisha-thaci-po-i-tejkalon-ko Qeverisë, pas propozimit të partisë politike ose të koalicionit, mpetencat-e-presidentit/, zuletzt abgerufen am 15.01.2019.

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Wahlen im Jahre 2017. Leider sieht die Verfassung Indem das Verfassungsgericht entschieden hat, dass keine Fristen für die Konstituierung des Parlaments die Abgeordneten gezwungen sind, sich in der kon- vor. In seiner Entscheidung Nr. KO 119/14 urteilte stituierenden Sitzung des Parlamentes ausschließlich das Verfassungsgericht, dass die Wahl des Präsiden- mit Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzu- ten und des Präsidium unabdingbare Voraussetzung schließen, die derselben Partei, Koalition oder ge- der Parlamentskonstituierung ist. Deswegen konnten meinsamen Liste angehören, unter der sie an den nach beiden Wahlen die PDK und ihre Koalitions- Wahlen teilgenommen haben, schränkt das freie partner die Konstituierung des neuen Parlaments und Mandat der Abgeordneten in erheblichem Maße ein. die Regierungsbildung mehrere Monate verhindern, Die Abgeordneten sollen – so will es die Verfassung – und zwar jeweils bis es ihr gelang, einen neuen Koa- frei sein, auch darin, eine Fraktion zu bilden. Denn die litionspartner zu gewinnen oder auch einzelne Abge- Fraktion wird als eine Union der Abgeordneten be- ordnete von anderen Fraktionen davon zu überzeugen, zeichnet und nicht als Spiegelung der politischen Par- sie zu unterstützen. teien, Koalitionen oder Listen, die an der Wahl teil- genommen haben. Die Verfassungsgeber haben aus- Dies sind Folgen der Improvisation eines „Verfassungs- drücklich und gewollt einen Unterschied zwischen streits“ und der verfassungswidrigen Prüfung dieser der politischen Partei, die in der Wahl die meisten Beschwerde. Das Staatsoberhaupt hätte mit den im Stimmen erringt, und der größten Parlamentsfraktion Parlament vertretenen politischen Kräften in Dialog gemacht. Dies betont auch der amerikanische Rich- treten sollen, um auf politischer Ebene die Kräfte- ter des Verfassungsgerichts Robert Carolan in sei- verhältnisse auszuloten und diejenigen mit der Re- nem Sondervotum zu der Entscheidung37. gierungsbildung zu beauftragen, die über ausreichen- de Stimmen zur Wahl des Premierministers verfü- Dieser Unterschied findet auch im Verfahren der gen. Auf diese Weise hätte das Staatsoberhaupt die Parlamentskonstituierung seinen Ausdruck. Die Ab- ihm zugedachte verfassungsrechtliche Rolle als Ver- geordneten erhalten nach ihrer Wahl ein Formular, treter des Volkes sowie Garant für das verfassungs- in dem sie die Angehörigkeit zur Fraktion angeben mäßige Funktionieren der Institutionen36 erfüllt. müssen. Die Fraktionen werden vom Parlaments- sprecher der vorherigen Legislaturperiode registriert 4. Parlamentarische Demokratie und Mehrheits- und dann in der konstituierenden Sitzung des (neuen) prinzip Parlamentes offiziell, nach der Vereidigung der Ab- Ein wesentliches Merkmal einer parlamentarischen geordneten, bekannt gegeben.38 Verfassungsordnung ist die Unterscheidung zwi- Dass (nur) in der konstituierenden Sitzung des Parla- schen den außerhalb des Parlamentes agierenden po- mentes die Fraktionsbildung anderen Regeln folgt litischen Parteien und den im Parlament vorhande- – nach der Verfassungsgerichtsentscheidung sogar nen Fraktionen, die als Repräsentanten des Volkes folgen muss – als in den späteren Parlamentssitzungen, unmittelbar an der Staatswillensbildung beteiligt widerspricht Sinn und Zweck wie auch Systematik sind. Wie in Deutschland ist auch in Kosovo eine der Verfassung, die eine parlamentarische Demokratie Wahlhürde in Gestalt einer Sperrklausel vorgesehen, gewährleistet, in der die Abgeordneten von Anfang an so dass nicht alle politischen Strömungen auch im frei sind in ihren Entscheidungen, auch in der Frage Parlament vertreten sind. der Zusammenarbeit mit anderen Abgeordneten, und Die Verfassung Kosovos legt besonderen Wert auf nicht erst, nachdem die konstituierende Sitzung – zu die Gewährleistung der Gründungs- und Betäti- welchem Zeitpunkt auch immer – stattgefunden hat. gungsfreiheit der politischen Parteien. Die Fraktio- Lediglich durch eine intensiv-grammatikalische, un- nen werden ausdrücklich nur in Art. 67 Abs. 3 der systematische und isolierte Auslegung nicht nur ein- Verfassung erwähnt, wonach der Präsident von der zelner Verfassungsartikel, sondern gar einzelner größten Fraktion zur Wahl vorgeschlagen wird. Die Worte eines Artikels, ist das Verfassungsgericht zu Verfassung geht in ihren Bestimmungen zu Aufbau einem anderen Ergebnis gekommen, das den Grund- und Funktionen der Staatsorgane eindeutig von einer sätzen der parlamentarischen Demokratie der Repu- klaren Trennung zwischen den im gesellschaftlichen blik Kosovo widerspricht. Bereich agierenden politischen Parteien und den sich 37 Dissens des Richters Robert Carolan im Fall Nr. Ko119/14. nach den Wahlen im Parlament konstituierenden 38 Nach dem Protokoll der Konstituierenden Parlamentssitzung Fraktionen aus. vom 17. Juli 2014 stand die Bekanntgabe über die Gründung der Fraktionen vor der Wahl des Parlamentssprechers, s. http://www.kuvendikosoves.org/com mon/docs/proc/trans_s_ 36 Art. 84 Abs. 1 und 2 der Verfassung. 2014_07_17_10_5652_al.pdf, zuletzt abgerufen am 28.02.2019.

127 Aufsätze Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo MIP 2019 25. Jhrg.

Grundsätzlich ist das Mehrheitsprinzip ein charakte- ierung für längere Zeit verzögert werden kann und ristisches Merkmal einer jeden Demokratie, welche wird. Es war und ist nicht umstritten, ob (nur) die die Stimmengleichheit inhaltlich gewährleisten größte Parlamentsfraktion das Recht hat den Kandi- muss39. Denn es ist der Demokratiegedanke der daten zur Wahl des Parlamentssprechers vorzuschla- Gleichheit der Stimmen die den demokratischen Staat gen. Es ist aber undemokratisch und entspricht nicht begründet40. In diesem Sinne können nur die im Par- den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokra- lament vertretenen politischen Kräfte bei der Ver- tie, zu behaupten, dass sich Abgeordnete erst nach wirklichung des Mehrheitsprinzips mitwirken. Das der Wahl eines Präsidiums frei zu Fraktionen zusam- Gericht hat eine freie Mehrheitsbildung durch seine menschließen können, während es bis dahin für die Beschlüsse aber verhindert, indem es die tatsächlich Fraktionsbildung nur darauf ankommt, mit welcher vorhandenen Mehrheitsverhältnisse ignoriert und die Partei-, Koalitions- oder Listenzugehörigkeit der Ab- parlamentarische Gestaltungsmacht in der grundle- geordnete kandidiert hat. Angesichts der Möglich- genden Frage der Parlamentskonstituierung in die keit, vor der Wahl Koalitionen oder Listenvereini- Hände einer nicht mehrheitsfähigen Minderheit ge- gungen einzugehen, stellt diese Beschränkung der legt hat. Fraktionsgründungsfreiheit eine nicht zu rechtferti- gende Einschränkung des freien Mandats der Abge- Das Verfassungsgericht hat folglich durch beide hier ordneten dar. Denn es kann vorkommen, dass Koali- näher betrachteten Beschlüsse das parlamentarische tionen zwar bis zu den Wahlen halten, aber schon Verfassungssystem Kosovos beschädigt und wurde vor der konstituierenden Sitzung wieder scheitern41. so zu einem Hindernis für die Verwirklichung der Es ist zwar durchaus im Interesse der Arbeitsfähig- parlamentarischen Demokratie. keit des Parlamentes, den Beitritt zu einer Fraktion VI. Fazit und Ausblick von ideologischen, politischen und programmati- schen Übereinstimmungen der Abgeordneten abhän- Verfassungsgerichte wurden geschaffen, um verfas- gig zu machen, gerade im Falle der Republik Koso- sungsrechtliche Fragen zu lösen und nicht, um aktiv vo zeigen sich diese aber nicht und vor allem nicht Politik zu betreiben. In Kosovo kommt es aber – nicht ausschließlich in der gleichen Partei-, Koalitions- nur in den hier behandelten Verfahren – immer wie- oder Listenzugehörigkeit vor der Wahl. Abgeordnete der vor, dass Verfassungsorgane das Gericht anru- können nicht gezwungen werden, gegen ihren Wil- fen, um sich ihrer eigenen Verantwortung zu entledi- len Fraktionen zu bilden, und in der Frage der Frak- gen oder das Gericht als Mittel zur Erreichung der tionsbildung ist es ihrer durch die Wahl vermittelten politischen Ziele zu benutzen. freien Entscheidung überlassen, mit welchen ande- ren Abgeordneten sie sich zu arbeitsfähigen Fraktio- Wie an den Beispielsfällen aufgezeigt, liegt der Tätig- nen zusammenfinden können und wollen. keit des Verfassungsgerichts ein falsches Verständnis der eigenen Rolle zugrunde. Das wenngleich noch Auch die Regierungsbildung ist allein dem Parla- vergleichsweise junge Gericht ist derzeit wegen bei- ment überantwortet. Deswegen kann es für die Re- der Verfahren nahezu einhelliger Kritik ausgesetzt. gierungsbildung ausschließlich darauf ankommen, welche Partei oder Koalition die Mehrheit im Parla- Zum einen ist der Präsident nicht befugt für jede be- ment stellt, das heißt, über 50%+1 der Stimmen42 im hauptete verfassungsrechtliche Unklarheit eine Be- Parlament verfügt. Nicht maßgeblich ist demgegen- schwerde beim Verfassungsgericht einzulegen, zum über, welche Partei oder vor der Wahl formierte Ko- anderen ist auch das Gericht nicht zuständig, Be- alition oder Listenvereinigung die meisten Stimmen schwerden des Präsidenten, die nicht im Einklang bei den Wahlen gewinnen konnte. Die Regierungs- mit Art. 113 der Verfassung eingereicht wurden, zur bildung wird unter den im Parlament vertretenen Prüfung anzunehmen. Parteien oder Koalitionen verhandelt und kann nicht Zudem ist das Verfassungsgericht Kosovos zu unde- vor den Wahlen stattfinden. Es ist Aufgabe des mokratischen Ergebnissen gekommen, denn durch Staatsoberhauptes, in Fällen einer politischen Krise seine Verfassungsauslegung ist eine Situation ent- der Politik Lösungswege aufzuzeigen, nicht weitere standen, in der nach Wahlen die Parlamentskonstitu- Probleme zu verursachen.

39 Arthur F. Utz, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, in: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie/Archives for 41 Wolfgang Ismayr, Der Deutsche Bundestag: Funktionen-Wil- Philosophy of Law and Social Philosophy (1987), S. 526. lensbildung-Reformansätze (1992), S.84 40 Christoph Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen 42 Dazu zählt auch die Unterstützung der Abgeordneten, die eth- Staat, in: An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie (1984), S. 66. nische Minderheiten vertreten.

128 MIP 2019 25. Jhrg. Berisha – Fraktions- und Regierungsbildung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Republik Kosovo Aufsätze

In den hier dargestellten Fällen lag es auf der Hand, dass dem Verfassungsgericht kein verfassungsrechtli- cher Streit vorgelegt wurde, sondern es darum ging, mithilfe des Gerichtes ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen. Es ist aber nicht Aufgabe eines Verfas- sungsgerichtes, sich an politischen Auseinanderset- zungen, Richtungsstreitigkeiten und/oder Macht- kämpfen zu beteiligen. Ihm obliegt es, die verfas- sungsrechtliche Ordnung zu garantieren. Leider zeich- net die jüngste Entwicklung ein Bild, das befürchten lässt, dass das Verfassungsgericht diese Rolle und Funktion auch in der nahen Zukunft nicht erfüllen wird. Die widersprüchliche Rechtsprechung des Ge- richts in Fällen, über die politischer Einfluss ausgeübt wird, und die Wahl der neuen Richter im Jahre 201843 geben Anlass zu der Besorgnis, dass das kosovarische Verfassungsgericht dauerhaft als politischer Faktor in- stalliert wird.

43 Die neu gewählten Richter lösen seit 2018 die bisher am Ge- richt tätigen internationalen Richter ab. Das Verfassungsge- richt ist daher künftig nur von kosovarischen Richtern besetzt. Diese haben allerdings, wie zuvor schon die internationalen Richter, keine Ausbildung und auch keine Erfahrungen auf dem Gebiet des Verfassungsrechts, insbesondere mangelt es am Ver- fassungsgericht an Expertise in dem für die Demokratieentwick- lung so maßgeblichen Bereich des Staatsorganisationsrechts.

129 „Aufgespießt“ Anan – „Machtoption“ und „gewünschte Koalitionen“ [...] MIP 2019 25. Jhrg.

„Aufgespießt“ sultation einer sehr kleinen Personengruppe. Zwar ist diese so repräsentativ zusammengesetzt, dass die „Machtoption“ und „gewünschte Koali- Wahlergebnisse meist (noch) relativ gut vorherge- sagt werden.2 Umfragen, vor allem weit im Vorfeld tionen“ – zur Problematik imaginierter der Wahl erstellte, sind dennoch nicht mehr als Mo- Koalitionen im Vorfeld der Wahl mentaufnahmen, die das tatsächliche Wahlverhalten von 46 Millionen Wählern anhand der Befragung Dr. Deniz Anan1 von 1000 Personen zu prognostizieren versuchen. Und sie werden in steigendem Maße unscharf: Die Zahl der Wechselwähler, der Unentschlossenen und Der Wunsch nach zunehmender Berechenbarkeit ist der Spätentscheider steigt. Junge Wähler werden von ein typisches Merkmal moderner Gesellschaften: den Instituten, die ihre Befragungen noch immer via Während man früher geduldig abwartete, wann (und (Festnetz-)Telefon vornehmen, immer schwieriger ob) die Post einem ein Paket zustellte, so verfolgt man erreicht. Gelegentlich kommt es daher inzwischen zu heute via Live-Tracking, um welche Straßenecke das Wahlergebnissen, die deutlich vom Prognostizierten Paket vom Lieferfahrzeug gerade kutschiert wird. abweichen. Spektakuläre Beispiele sind die Bundes- Das betrifft auch die Politik: So wurde 1969, trotz des tagswahl 2005, als die Union weit unter, die FDP eigentlich übersichtlichen Drei-Parteien-Systems, dem deutlich über den Vorhersagen lag, die Landtags- amtierenden Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger wahl in Niedersachsen 2013, als ebenfalls die Union erst spät am Wahlabend klar, dass SPD-Chef Willy sehr viel schwächer und die FDP sehr viel stärker Brandt eine Koalition mit der FDP eingehen und abschnitt, als vorab gemessen, oder die (das Anfang dessen Amt übernehmen würde. Noch 1987 konnte vom Ende des „Schulz-Effekts“ einläutende) Land- sich der SPD-Kanzlerkandidat Johannas Rau den tagswahl im Saarland 2017, als die CDU am Wahl- Luxus leisten, einen ganzen Wahlkampf ohne poten- abend weit über, die SPD hingegen klar unter den ziellen Koalitionspartner und allein mit der schon Prognosewerten lag. Während Demoskopen auf den damals unrealistischen Aussicht auf eine absolute vorläufigen Charakter und die Schwankungsbreite Mehrheit zu bestreiten. Heute hingegen werden die ihrer Untersuchungen hinweisen, neigen die Medien Parteien bereits weit vor der Wahl von Medien und dazu, diese als Tatsachenberichte darzustellen. Die Demoskopie unerbittlich mit der Frage nach der kritische Reflexion des eigenen Tuns ist eher die „Machtoption“ konfrontiert. (auf wenige Qualitätsmedien beschränkte) Ausnah- me (Prantl 2017, Esslinger 2018) als die Regel. Dies ist natürlich einerseits hochgradig legitim: Po- tenzielle Wähler (und Spender) wollen nun einmal Die Frage nach der Machtoption hat aber auch eine wissen, wer mit wem (nicht) regiert. Koalitionsprä- demokratietheoretisch höchst problematische Seite: ferenzen beeinflussen unbestreitbar die Wahlent- Denn zur Funktionslogik parlamentarischer Demo- scheidung: Davon kann die FDP, die bei ihren bei- kratien gehört es nun einmal, dass der Wähler erst den Koalitionswechseln 1969 und 1982 jeweils ei- seine Stimme abgibt, und die Parteien dann das nen Großteil ihrer bisherigen Anhänger verlor, eben- Wahlergebnis in Regierungshandeln übersetzen. In so ein Lied singen wie die SPD, die bei den letzten Unkenntnis des eigentlichen Ergebnisses erfolgende Wahlen in dem Maße an Wählerzuspruch verlor wie Pressionen verkehren diese Reihenfolge. Es stellt sie sich, mangels Alternative, auf den unbeliebten sich die Frage, wie der Kandidat einer mit 30 % ge- Koalitionspartner Union festlegte. messenen Partei ohne hinreichend starke Koalitions- partner auf die Frage nach der fehlenden Machtopti- Die sehr frühe Vorwegnahme des Wahlergebnisses on überhaupt angemessen reagieren kann. Anders als in der Form der Extrapolation gegenwärtiger demo- professionelle Schachspieler können Spitzenpolitiker skopischer Befunde ist aber aus zwei Gründen pro- weder aufgeben noch ein Remis anbieten. Dass (v.a. blematisch. weit im Vorfeld erstellte) Umfragen zudem mit dem Erstens, so das immer wiederkehrende, aber zutref- Makel der potenziellen Fehlerhaftigkeit belastet sind, fende Mantra von Politikern aus Parteien mit mage- ren Umfragewerten: Umfragen sind Umfragen, und 2 So betrug 2017, gemessen an der halbierten Summe der Diffe- keine Wahlen. Wahlumfragen beruhen auf der Kon- renzbeträge zwischen dem Mittelwert der jeweils letzten Progno- se der Umfrageinstitute Allensbach, Emnid, Forsa, Forschungs- 1 Der Autor ist als assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter an gruppe Wahlen, GMS, Infratest dimap, INSA und YouGov, die der Professur für Politikwissenschaft (Prof. Wilhelm Hofmann) Abweichung gerade einmal 4,45 Prozentpunkte (eigene Berech- der Technischen Universität München tätig. nung, vgl. www.wahlrecht.de/umfragen/archiv/2017.htm).

130 MIP 2019 25. Jhrg. Anan – „Machtoption“ und „gewünschte Koalitionen“ […] „Aufgespießt“ verschärft diese Problematik: Spekulative Szenarien regieren schon ideologisch heterogene, vorab nicht werden als Tatsachen missverstanden, die dann ih- einkalkulierte Bündnisse, wie die Viererkoalition im rerseits Tatsachen schaffen. Die „Machtoption“ Bayern der 1950er-Jahre oder die derzeitige Kenia- stellt daher einen heißen Kandidaten für die (aller- Koalition in Sachsen-Anhalt. Und zumindest für die dings erst noch zu schaffende) Kategorie des politi- ostdeutschen Länder erscheint durch das Erstarken schen Unworts des Jahres dar. der AfD das bislang undenkbare Zusammengehen von CDU und Linken zunehmend als möglich. Die Ein weiterer Anwärter hierauf sind die demosko- Entscheidung darüber, welche Koalitionen man ab- pisch erfragten „gewünschten Koalitionen“. Diese fragt, ist somit keine technische, sondern eine emi- suggerieren vor allem dann eine objektive Aussage- nent politische Frage, zumal die Wahrscheinlichkeit kraft, die sie nicht haben, wenn die Umfrageinstitute bestimmter Konstellationen natürlich auch von der feste Antwortkategorien vorgeben und nur einen Teil medialen (Nicht-)Thematisierung beeinflusst wird. aller theoretisch möglichen Koalitionsmodelle zur Wahl stellen. So weist Infratest Dimap im Bayern- Der Deutschland-Trend August 2018 II von Infratest Trend vom September 2018 die Bewertung von fünf Dimap verdeutlicht das Problem für die Bundesebene. möglichen Koalitionsmodellen (CSU-Alleinregie- Hier werden Zahlen zu sechs verschiedenen Varian- rung, CSU/FW, CSU/Grüne, CSU/FDP, CSU/SPD) ten genannt: Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, Schwarz- durch die Befragten aus, benennt aber keine Ein- Grün, Jamaika, Rot-Rot-Grün und Ampel. Die AfD schätzung einer möglichen Koalition aus Grünen, kommt nicht vor. Das ist einerseits verständlich, da SPD, FW und FDP. Natürlich lässt sich argumentie- diese von den anderen Parteien nicht als koalitions- ren, dass eine solche Form der Zusammenarbeit auf- fähig erachtet wird und auch selbst nicht koalitions- grund der ideologischen Heterogenität und der Zahl willig erscheint. Andererseits wäre es sehr auf- von vier Akteuren nicht sehr wahrscheinlich wäre. schlussreich zu wissen, wie das Elektorat Koalitions- Dennoch ist sie nicht völlig ausgeschlossen, wenn modelle unter Einschluss der AfD bewertet. Glei- man sich die gemeinsame Erfahrung der vier Parteien ches gilt für ebenfalls nicht abgefragte Konstellatio- als Daueropposition in Bayern und die potenziell nen wie der in Baden-Württemberg 2016 erwogenen sehr hohe Ausbeute für die bürgerlichen Parteien Deutschland-Koalition (CDU, SPD, FDP) oder von FW und FDP bei einem Zusammengehen mit SPD Koalitionen unter Einschluss von FDP und Linkspar- und Grünen vergegenwärtigt. Zumindest erscheint tei (Spanien-Koalition). Auch die Zustimmung zu dieses Szenario nicht so viel irrealer als das abge- Rot-Grün, das sieben Jahre lang das Land regierte, fragte Zusammengehen von CSU und SPD in Bayern. wird nicht mehr ausgewiesen. Und, was viel schwerer wiegt, da solche Umfragen Im Kopf zu behalten ist auch, dass nicht alle Parteien ja der Messung der Popularität bestimmter Koali- bei den dargestellten Koalitionsvarianten gleich oft tionsvarianten beim Wahlvolk dienen: Eine solche vorkommen. Bei der oben dargestellten Auswahl Mitte-Links-Koalition jenseits von CSU und AfD kommen CDU/CSU (Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, lag bereits zum damaligen Zeitpunkt mit Blick auf Schwarz-Grün, Jamaika) und Grüne (Schwarz-Grün, die Umfragedaten (CSU und AfD gemeinsam 46 %, Jamaika, Rot-Rot-Grün, Ampel) je viermal vor, SPD Grüne/SPD/FW/FDP bei 44 %) rechnerisch im Be- (Schwarz-Rot, Rot-Rot-Grün, Ampel) und FDP reich des Möglichen, sofern die mit exakt 5 % ge- (Schwarz-Gelb, Jamaika, Ampel) immerhin je drei- messene Linke nicht in den Landtag einzöge. Und mal, die Linke hingegen nur einmal (Rot-Rot-Grün). die Daten des darauffolgenden Bayern-Trends von Diese Ungleichgewichtigkeit ist natürlich eine Folge Infratest Dimap (Grüne/SPD/FW/FDP bei 46 %, der Segmentierungsmuster, wirkt sich aber je nach CSU/AfD bei 44 %) wiesen dann sogar eine rechne- methodischem Vorgehen der Demoskopen unter- rische Mehrheit für eine solche Koalition aus. schiedlich problematisch aus. Sind, wie beim Demoskopen verweisen, auf diesen Umstand ange- Deutschland-Trend von Infratest-Dimap, Mehrfach- sprochen, darauf, dass, wenn das Umfrageinstitut nennungen möglich, erscheint dies noch akzeptabel: konkrete Antwortoptionen vorgibt, gerade in Zeiten Die Befragten können sich zu jedem Koalitionsmodell steigender Fragmentierung, aus allen hypothetischen äußern, und dieses auf einer Ordinalskala als „sehr Koalitionsmodellen aus praktischen Gründen eine gut“, „gut“, „weniger gut“ oder „schlecht“ bewerten. Auswahl zu treffen sei. Allerdings können sich, wie In der visuellen Darstellung wird dann, aufbauend die internationale Koalitionsforschung zeigt, durch- auf den kumulierten Werten für „sehr gut“ und aus überraschende Formationen nach der Wahl zu- „gut“, eine Rangfolge der Koalitionspräferenz er- sammenfinden. Auch in Deutschland regierten und stellt. Schließt man aber, wie es die Forschungsgrup-

131 „Aufgespießt“ Anan – „Machtoption“ und „gewünschte Koalitionen“ [...] MIP 2019 25. Jhrg. pe Wahlen bei dem für das ZDF erstellten Politbaro- hört verhallende Appell der Politikwissenschaft, so- meter tut, Mehrfachnennungen aus und bittet die Be- wohl den bewussten strategischen Einsatz (Raupp fragten, ihre (genau eine) „gewünschte Koalition“ zu 2003: 133, Donsbach/Weisbach 2005: 119) von Um- nennen, so fallen mögliche Verzerrungen ungleich fragen vermeiden als auch alle Informationen zur stärker ins Gewicht. Die Forschungsgruppe Wahlen Verfügung stellen, um demoskopische Befunde an- erhebt den Koalitionswunsch über eine offene Frage. gemessen einordnen zu können (Brettschneider Die Daten für 2018 listen sechs Modelle auf (wie 2003: 266; Jessen 2014: 285-295). Hierzu gibt es so- oben Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün, gar, wenngleich nicht erschöpfende, Richtlinien sei- Jamaika, Rot-Rot-Grün, aber nicht Ampel, stattdessen tens des Pressrates und des Demoskopen-Dachver- zusätzlich Rot-Grün). Wie oben sind Union und bands ADM. Gleichwohl werden wichtige Größen Grüne je viermal, die SPD dreimal und die Linke nur wie die Fehlermarge in der Praxis meist nicht ge- einmal Teil einer dieser Koalitionsmodelle, die FDP nannt – weil Zeit und Raum hierfür zu knapp er- allerdings nur noch zweimal. Da nun keine Mehr- scheinen, Journalisten nur begrenztes methodisches fachnennungen mehr möglich sind, teilen sich die Wissen haben und eine gewissenhafte Einordnung Wähler, je nachdem, an wie vielen der vorgeschlage- die von den Medien erwünschte Zuspitzung er- nen Koalitionsmodelle ihre favorisierte Partei betei- schwert (Deutschländer 2013). ligt ist, unterschiedlich stark auf – immer unterstellt, Mit Blick auf das oben Gesagte wäre es insbesonde- diese wünschen überhaupt eine Regierungsbeteili- re wünschenswert, dass die Medien die Frage nach gung ihrer Partei. Diesen Umstand muss man bei der der Machtoption nicht zu sehr in den Mittelpunkt rü- Interpretation der Daten aber berücksichtigen, was cken und neben dem momentan wahrscheinlichen im Fernsehalltag aber eher selten geschieht. So liegt Bild auch Alternativszenarien berücksichtigen. Und laut Politbarometer vom 13.07.2018 Schwarz-Rot bei den Wunschkoalitionen täten mehr Kontextuali- (14 %) bei den „gewünschten Koalitionen“ vor Rot- sierung und mehr Kreativität der politischen Bericht- Grün (10 %) und Schwarz-Gelb (9 %); es folgen erstattung äußerst gut. In dem Maße, in dem die so- Rot-Rot-Grün und Schwarz-Grün (je 6 %) und Ja- zialen Medien an die Stelle von Rundfunk und Pres- maika (5 %). Somit plädieren, kumuliert, 34 % für se treten, sind natürlich auch diese zur entsprechen- ein Modell, an dem die Union beteiligt ist, 30 % für den Sorgfalt angehalten. eine Regierung mit SPD-Beteiligung, 27 % für eine Regierung unter Einschluss der Grünen, 14 % für ein Modell mit FDP und 6 % für die einzige zur Wahl stehende Koalition einschließlich der Linken. Hier Literatur und Quellen: stellt sich schon die Frage, wie diese Werte aussähen, wenn auch die Daten weiterer Modelle, z.B. Ampel Arrow, Kenneth, Social Choice and Individual Val- oder Rot-Rot, bekannt wären. Unberücksichtigt blei- ues, New York NY 1951. ben bei dieser Methode zudem die Zweit- und Dritt- Brettschneider, Frank, Wahlumfragen, Medienbe- präferenzen der Befragten, welche wie man aus der richterstattung und Wirkungen, in: Andreas Wüst Forschung zu Präferenzrelationen (Condorcet 1785, (Hrsg.): Politbarometer, Opladen: 2003, S. 257-282. Arrow 1951) weiß, sehr wichtig sein können. Wenn etwa, wie bei mehreren Politbarometer-Befragungen Concorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Anfang 2005, die Varianten Rot-Grün, Schwarz-Gelb Marquis de, Discours préliminaire de l'Essai sur l'ap- und Große Koalition in etwa gleichauf liegen, wäre plication de l'analyse à la probabilité des décisions es für die Interpretation der Daten sehr wichtig zu rendues à la pluralité des voix, Paris 1785. wissen, ob die zweite Wahl der Rot-Grün-Befürwor- Deutschländer, Christian, Antwort auf die Anfrage ter Schwarz-Rot, Rot-Rot-Grün oder Ampel wäre. von Anne Jessen an den Landtagskorrespondenten des Münchner Merkurs, 01. Juli 2013; vgl. Jessen Die gegenseitigen Beeinflussungen von Demosko- 2014, S. 294. pen, Medien, Politikern und Wählern sind Gegen- stand umfangreicher Forschung (Jessen 2014: 277- Donsbach, Wolfgang/Weisbach, Kerstin, Kampf um 315). Ein eminent wichtiger Akteur in diesem Ge- das Meinungsklima, Quellen und Inhalte der Aussa- flecht sind die Medien, da etwaige Effekte der De- gen über den möglichen Wahlausgang, in: Elisabeth moskopie auf die Wahlentscheidung durch mediale Noelle-Neumann u.a. (Hrsg.): Wählerstimmungen in Vermittlung entstehen. Medien, die eine seriöse und der Mediendemokratie, München/Freiburg 2005, neutrale Verwendung demoskopischer Befunde er- S. 104-127. streben, sollten, so der wiederholte, aber meist uner-

132 MIP 2019 25. Jhrg. Anan – „Machtoption“ und „gewünschte Koalitionen“ […] „Aufgespießt“

Esslinger, Detlef, Wie Meinungsforscher die Wahlen beeinflussen, SZ, 20. Oktober 2018, https://www.sued deutsche.de/politik/demoskopie-wie-meinungsforscher -die-wahlen-beeinflussen-1.4177815. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer (17. Fe- bruar 2017), https://www.zdf.de/politik/politbarome ter/170217-politbarometer-bilderserie-100.html (Fo- lie 15). Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer, Langzei- tentwicklung, Themen im Überblick, Politik I, Koa- litionswunsch, http://www.forschungsgruppe.de/Um fragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Them en_im_Ueberblick/Politik_I/#Koalitionswunsch und www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer /Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Po litik_I/4_Koalition.xlsx. Infratest Dimap, Deutschland-Trend (August II/2018), https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend- 899.pdf (Folie 6). Infratest Dimap, Länder-Trend Bayern (September 2018), https://www.infratest-dimap.de/umfragen-ana lysen/bundeslaender/bayern/laendertrend/2018/septe mber/ (Folie 22, Folie 10). Infratest Dimap, Länder-Trend Bayern (Oktober 2018), https://www.infratest-dimap.de/umfragen-ana lysen/bundeslaender/bayern/laendertrend/2018/okto ber/ (Folie 1). Jessen, Anne, Perspektiven der Meinungsforschung, Demoskopische Ergebnisse im Spannungsfeld von Theorie, Praxis und Öffentlichkeit, Wiesbaden 2014. Prantl, Heribert, Demoskopie, Wahlumfragen sind ein Problem für unsere Demokratie, SZ, 18. Septem- ber 2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/demo skopie-bitter-im-abgang-1.3669942. Raupp, Juliana, Informationen, Instrumentalisierung, Reflexion: Die widerspruchsvolle Verwendung von Umfragen in der Wahlberichterstattung“, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahl- kampf, Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2003, S. 116-137. Sonntagsfrage Bundestagswahl 2017, https://www. wahlrecht.de/umfragen/archiv/2017.htm.

133 „Aufgespießt“ Hobusch – Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der Parteienfinanzierung MIP 2019 25. Jhrg.

Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der hohe Summen im Vorfeld von Wahlkämpfen, voll- Parteienfinanzierung ständig und in nie da gewesener Höhe zu umgehen. Der folgende Kurzbeitrag soll einige Denkanstöße Alexander Hobusch1 zu dem Problem geben, erhebt aber keinen Anspruch darauf, eine endgültige Lösung aufzuzeigen.

Die AfD wirbelt seit einigen Jahren den politischen I. Parallelaktionen Betrieb gehörig durcheinander. Das ist zu erkennen an neuen Umgangsformen im Parlament, auch an 1. Sachverhalte Entgleisungen, Provokationen und Tabubrüchen, Bei der AfD gestaltet sich der Sachverhalt nach jet- welche die Partei als Mittel der politischen Ausein- ziger Kenntnis so: Der „Verein zur Erhaltung der 2 andersetzung für sich nutzt und worauf die politi- Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“ schen Gegner mitunter auf ähnliche Weise reagieren. warb in gehörigem Umfang für die AfD und das so- Die Neulinge sind aber nicht nur im Parlamentsrecht wohl bei Wahlen zu Land- als auch Bundestagen6. ein spannender rechtlicher Betrachtungsgegenstand: Umfasst waren die Herausgabe einer wöchentlichen Auch im Recht der Parteienfinanzierung muss man Zeitschrift („Deutschland-Kurier“), Plakatkampagnen der AfD einen gewissen Einfallsreichtum attestieren. und einiges mehr. Die Veröffentlichungen, insb. die Jedenfalls wenn man die offensichtlichen Verstöße Plakate, hatten das corporate design (nicht aber das in der causa Weidel einmal beiseite lässt, so war der Logo) der AfD, insbesondere die Farbgebung war Gold-Verkauf eine dermaßen gewitzte Ausnutzung authentisch. Die Plakate enthielten Schlagworte wie der Rechtslage zum Vorteil der Partei, dass darauf- „Asylbetrug beenden! AfD wählen!“ oder „Endlich hin das Parteiengesetz geändert werden musste, um konsequent abschieben! AfD wählen!“7. Die erspar- 3 dieses unbeabsichtigte Schlupfloch zu schließen . ten Aufwendungen lagen für die Partei wohl im Mil- Ein weiterer Graubereich, dem im Recht der Partei- lionenbereich8. Offiziell wird von Seiten der AfD enfinanzierung im Zusammenhang mit der AfD wie- weiterhin behauptet, mit dem Verein gebe es keiner- der Aufmerksamkeit zuteilwird, ist die Frage nach lei Absprachen, wobei an dieser Darstellung mittler- der rechtlichen Verortung von sog. „Parallelaktio- weile Zweifel aufkommen9. Gegen den Verein geht nen“4. Das sind, vereinfacht gesagt, Werbemaßnah- die AfD nun auch juristisch vor10. men oder allgemein parteiunterstützende Maßnah- 6 Annette Sawatzki, Dubiose AfD-Wahlkampfhilfe: Warum men für eine Partei, die aber nicht von der Partei nichts geklärt wird und was sich ändern muss, 2016 (www. vorgenommen werden, sondern von Dritten5. Weil lobbycontrol.de/2016/09/warum-die-dubiose-afd-wahlkampf die dafür verwendeten Gelder nicht den Parteikassen hilfe-unaufgeklaert-bleibt-und-was-sich-aendern-muss/) (geprüft zufließen und nach überkommener Ansicht auch kei- am 08.03.2018). 7 ne Spende vorliegt, taucht der der Partei jedenfalls Zu dem Unterstützerverein etwa Haupt, Mecklenburg-Vorpom- mern: Die geheimen Helfer der AfD, 21.8.2016 (www.faz.net/ mittelbar zufließende Vorteil in Gestalt selbst einge- aktuell/politik/wahl-in-mecklenburg-vorpommern/afd-erhaelt- sparter Ausgaben für die Eigenwerbung nicht im Re- wahlunterstuetzung-von-verein-in-mecklenburg-vorpommern- chenschaftsbericht auf. Das ist, ohne übertreiben zu 14398142.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2) (geprüft wollen, eine nicht von der Hand zu weisende Gefahr, am 08.03.2018); NDR, Teure Wahlkampfhilfe für die AfD (www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/landtagswahl_20 die Transparenzvorschriften, gerade in Hinblick auf 17/Teure-Wahlkampfhilfe-fuer-die-AfD,afd1092.html) (ge- prüft am 08.03.2018). 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für 8 Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düssel- Annette Sawatzki, Parteienfinanzierung: Lammert fordert dorf (Prof. Dr. Sophie Schönberger). Licht (www.lobbycontrol.de/2017/02/lammerts-mahnbescheid -an-die-groko/). 2 Schönberger/Schönberger JZ 2018, 105, 106. 9 Fiedler, Die mysteriösen Unterstützer der AfD, 21.11.2018 3 Siehe etwa Leber, Wie die AfD das Parteiengesetz für sich (www.tagesspiegel.de/politik/parteienfinanzierung-die-myster nutzt, 4.11.2014 (https://www.tagesspiegel.de/politik/umstrit- ioesen-unterstuetzer-der-afd/23665470.html) (geprüft am tener-handel-mit-gold-wie-die-afd-das-parteiengesetz-fu- 21.1.2019); Pittelkow/Riedel, Die "Swiss Connection" der AfD, er-sich-nutzt/10926800.html). 18.1.2019 (www.tagesschau.de/inland/spenden-afd-101.html) 4 Die „Parallelaktionen“ sind indes kein neues Phänomen: Be- (geprüft am 21.1.2019). reits Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesre- 10 Bender, AfD distanziert sich von Unterstützerverein (www.faz. publik Deutschland, 1975, S. 319, erwähnt den Begriff und net/aktuell/politik/inland/erstmals-juristisches-vorgehen-afd- versteht darunter Werbemaßnahmen für die Ziele einer Partei distanziert-sich-von-unterstuetzerverein-15703035.html) (ge- ohne ausdrücklichen Bezug auf sie. prüft am 12.08.2018); AfD klagt gegen Unterstützerverein 5 Vgl. etwa Kulitz, Unternehmerspenden an politische Parteien, (www.zeit.de/politik/deutschland/2018-08/parteienfinanzierun 1983, S. 100 ff. g-afd-klage-wahlkampf-verdacht) (geprüft am 12.8.2018).

134 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der Parteienfinanzierung „Aufgespießt“

Historisch lassen sich aber auch noch weitere Bei- II. Eine Frage der Zurechnung spiele für Parallelaktionen finden: Zu denken ist etwa an die Wahlkampagne des Unternehmers Ma- Allerdings werden sowohl der Spenden- wie auch schmeyer, der dem damaligen Kanzlerkandidaten der Einnahmebegriff in der Literatur durch das Schröder in Niedersachen eine Plakatkampagne mit Merkmal der Zurechnung begrenzt. Die genauen dem Slogan „Ein Niedersachse muss Kanzler wer- Kriterien für die Annahme einer Zurechnung sind den“ spendierte, freilich war hier die Urheberschaft aber unklar. 11 zunächst unklar . Zu nennen sind daneben die Un- 1. Bisherige Ansätze ternehmervereine, die im Bundestagswahlkampf 1972 für den wirtschaftlichen Kurs der CDU war- Morlok stellt darauf ab, ob die Partei wesentlichen ben, wenngleich auch hier ohne explizite Nennung Einfluss auf die „Art der Verwendung“ hat, ent- der Partei12. Das Problem ist also kein Neues. Gelöst scheidend sei also eine „Dispositionsbefugnis oder 15 ist es immer noch nicht. Mitgestaltungsmöglichkeit“ . Auf den rein objektiven Nutzen soll es dagegen nicht ankommen, ansonsten 2. Rechtliche Einordnung könne der Partei eine Spende aufgedrängt werden16. Zunächst könnte es sich bei den Werbeanzeigen, Pla- Klein meint dagegen, das Kriterium der Dispositions- katkampagnen und Druckwerken um Spenden an die befugnis bzw. Mitwirkungsbefugnis sei zu vage und Partei handeln. Was eine Spende ist, ergibt sich aus würde die ansonsten bestehende Sanktionspflicht leer- 17 § 27 Abs. 1 S. 3 PartG: Danach sind alle über Mit- laufen lassen , eine sachgerechte Lösung lasse sich glieds- und Mandatsabgaben hinausgehenden Zah- vielmehr aus dem Begriff der „ausdrücklichen Wer- lungen Spenden, wobei § 27 Abs. 1 S. 4 PartG jeden bung“ herleiten. Eine dritte Ansicht verwirft die bei- Geld- oder geldwerten Vorteil ausreichen lässt13. den zuvor genannten als einerseits zu eng, anderer- seits zu weitgehend. Vielmehr komme es ausschließ- Dass es sich bei den Werbemaßnahmen um geldwerte lich auf die objektive Nützlichkeit und die Zustim- Vorteile handelt, ist unbestreitbar, womit es sich also mung der Partei an18. Die übrigen Ansichten folgen dem reinen Wortlaut nach um eine Spende handelt. weitestgehend Morlok und weichen höchstens von 19 Auch der Einnahmebegriff des § 26 Abs. 1 S. 2 legt der Begrifflichkeit ab, nicht aber vom Inhalt , for- ein solches Verständnis nahe. Darin heißt es: 15 Morlok, NJW 2000, 761, 764. „(1) Einnahme ist, soweit für einzelne Einnahmear- 16 Ders., in: Bericht der Kommission unabhängiger Sachverstän- ten (§ 24 Abs. 4) nichts besonderes gilt, jede von diger zu Fragen der Parteienfinanzierung (Hrsg.), Vorschläge der Partei erlangte Geld- oder geldwerte Leistung. zur Neuregelung des Rechts der Parteienfinanzierung, S. 49, 68; Als Einnahmen gelten auch die Freistellung von in dieser Richtung wohl auch Roßner, Wahlwerbung durch üblicherweise entstehenden Verbindlichkeiten, die Wählerinitiativen: Einnahmen der Partei oder aufgedrängte Bereicherung, in: Legal Tribune Online, 07.05.2010, www. Übernahme von Veranstaltungen und Maßnah- lto.de/persistent/a_id/495/ (abgerufen am: 04.02.2019). men durch andere, mit denen ausdrücklich für 17 eine Partei geworben wird, die Auflösung von Klein, in: Bericht der Kommission unabhängiger Sachverstän- diger zu Fragen der Parteienfinanzierung (Hrsg.), Vorschläge Rückstellungen sowie Wertaufholungen im Anlage- zur Neuregelung des Rechts der Parteienfinanzierung, S. 3, 14. vermögen. (…)“14 18 Jochum, in: Ipsen (Hrsg.), Parteiengesetz, 22018, § 26 Rn. 5. Ausgehend vom Wortlaut, erscheint die Subsumtion 19 So stellte bereits Seifert, Die politischen Parteien im Recht vergleichsweise einfach: „Maßnahmen“, die „aus- der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 319 auf eine „ein- drücklich für eine Partei“ werben, liegen jedenfalls verständliche Leistungsübernahme“ und ein Gelangen in den „Verfügungsbereich“ der Partei ab. Den fehlenden ausdrückli- in den Fällen der AfD ohne Zweifel vor, wurde hier chen Bezug auf eine Partei bei einer Werbeaktion sieht er je- doch unter expliziter Nennung der Partei zu deren denfalls als Argument für das Fehlen der Einnahmeeigen- Wahl aufgerufen und zwar durch „Maßnahmen“, schaft. Die ausdrückliche Werbung für die Partei durch eine hier der Plakatierung und der Ausgabe von entspre- Wählerinitiative stuft er daher als auszuweisende Einnahme chenden Druckwerken. ein. Wettig-Danielmeier, ZParl 32 (2001), 528, 532 meint da- gegen pauschal, Parallelaktionen würden „in der Regel unab- 11 Siehe beispielsweise Schwabe, Wahlkampf unter der Tarnkappe, hängig von den Parteien“ durchgeführt und gehörten daher 20.9.2002 (www.spiegel.de/politik/deutschland/raetseln-um-kan zur Meinungsäußerungsfreiheit. Küstermann, Das Transpa- zler-anzeige-wahlkampf-unter-der-tarnkappe-a-214844.html). renzgebot des Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG und seine Ausgestal- 12 Zu diesem und weiteren Beispielen Kulitz, Unternehmerspen- tung durch das Parteiengesetz, 2003, S. 141 sieht ebenso die den an politische Parteien, 1983, S. 100 f. Gefahr einer aufgedrängten Spende und möchte auf eine Ver- fügungsmacht der Partei abstellen. Diese liege dann vor, wenn 13 Statt aller Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidaten- die Partei über Medium und Aussage etwa einer Anzeigen- aufstellung, 2011, § 25 Rn. 5. kampagne bestimmen könne. Auf ein Mindestmaß an Einfluss 14 Hervorhebung durch den Verfasser. auf das „Ob und Wie“ kommt es auch Lenski, Parteiengesetz

135 „Aufgespießt“ Hobusch – Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der Parteienfinanzierung MIP 2019 25. Jhrg. dern also einen mehr oder minder starken Einfluss lungen des Dritten, wenn dieser das Auftreten des der Partei auf die Maßnahmen des Dritten. Dritten also wissentlich geschehen lässt. Mit ande- ren Worten: Wird auf Anzeigen unter expliziter 2. Auseinandersetzung Nennung einer Partei für diese geworben, so muss Die Lösung der herrschenden Meinung begegnet be- sich diese Partei die Werbung auch zurechnen las- reits auf den ersten Blick praktischen Schwierigkei- sen, wenn sie diese wissentlich geschehen lässt. ten: Der Beweis einer Dispositionsbefugnis oder ei- Geht man davon aus, dass die Partei einer ausdrück- ner wesentlichen Mitwirkung ist nur schwerlich zu lich für sie werbenden Kampagne nicht widerspricht, erbringen20, gerade im vergleichsweise zurückhalten- etwa zivilrechtlich gegen die Nutzung des Namens den Prüfungsverfahren des Rechenschaftsberichts oder des Logos vorgeht, so könnte man hierin eine wird hier sehenden Auges die Büchse der Pandora konkludente Einwilligung oder eine den Rechts- geöffnet. schein auslösende Duldung der Partei erblicken22. Das Argument der „aufgedrängten Bereicherung“ Zu hohe Anforderungen werden auch an die Art und greift ebenso nicht durch: Die Argumentation geht da- Weise des Einflusses auf die Veröffentlichung ge- hin, dass der Partei etwas als Vorteil zufallen würde, stellt. Ein geldwerter, messbarer Vorteil liegt für die was sie möglicherweise gar nicht (ggf. von dem Leis- begünstigte Partei auch dann vor, wenn keine größe- tenden) annehmen wollte. Allerdings ist dies bei geld- ren Einflussmöglichkeiten auf Werbemaßnahmen werten Leistungen nicht anders als auch bei Spenden. bestehen. Stimmte eine Partei zu, ein Dritter solle Zwar gelten diese erst als erlangt, wenn sie in den eine umfassende Werbekampagne für sie durchfüh- Verfügungsbereich der Partei gelangt sind. Will die ren, es sollten aber bitte keine Details zu der Art der Partei aber von einem Spender keine Leistungen an- Veröffentlichung und zu den genauen Aussagen ver- nehmen, so muss sie die Geldleistung unverzüglich einbart werden, so würde nach herrschender Mei- zurückzahlen (§ 25 Abs. 1 S. 4 HS. 2 PartG). Auch nung wohl keine Einnahme vorliegen. (Bewusste?) hier wird also von der Partei eine eigene Aktivität er- Unwissenheit würde dann die Zurechnung unterbre- wartet, wenn sie die Zurechnung unterbrechen will. chen können, weil der Partei ein Einfluss auf das Insofern läuft das Argument der aufgedrängten Be- „Wie“ nicht nachweisbar wäre. reicherung/Spende bereits an dieser Stelle leer. Selbi- Das zusätzliche, restriktive Merkmal der Mitgestal- ges gilt im Übrigen auch für den Fall der „Freistellung tungsmöglichkeit findet auch im Gesetzestext kei- von einer Verbindlichkeit“ (§ 26 Abs. 1 S. 2 PartG): nerlei Anklang. Der Wortlaut spricht vielmehr dafür, Auch die Auflösung einer Verbindlichkeit ist für die dass Maßnahmen Dritter, die ausdrückliche Werbung Partei nicht erst dann eine Einnahme, wenn sie maß- für eine Partei enthalten, eine Einnahme sind. Selbst geblich mitentscheidet oder bezüglich des „Ob und wenn man an dem restriktiven Grundverständnis fest- Wie“ eingebunden ist. Hier genügt auch ein Schwei- hält, muss man sich möglicherweise fragen, ob für die gen auf die Leistung des Dritten als „Annahme“. ausdrückliche Werbung nicht anderes gelten muss. Der Gedanke, die Partei müsse aktiv werden, um die Verfassungsrechtlich ist eine weite Auslegung des aufgedrängte Werbung von sich zu weisen, lässt sich Einnahme- und Spendenbegriffs schon mit Blick auf noch weiter verfolgen: Wenn die Partei durch Untä- den Verfassungsauftrag nach Herstellung von Trans- tigkeit nicht auf eine für sie gestaltete Werbung re- parenz der Parteifinanzen naheliegend, wenn nicht agiert, so liegt darin eine Art Duldung. Anleihen sogar geboten. Daneben ist die Aufnahme des ge- sind hier im Zivilrecht möglich. Bei der Duldungs- schätzten Gegenwerts der Werbeaktionen für die vollmacht wird durch das mehrfache Auftreten für Partei kein Nachteil: Höhere Einnahmen steigern einen Dritten und dessen Kenntnis von dem Handeln 21 auch die relative Obergrenze und ermöglichen es ei- des „Vertreters“ ein Rechtsschein erzeugt . Ausrei- ner Partei, in den Genuss höherer staatlicher Teilfi- chend ist also auch hier die Kenntnis von den Hand- nanzierung zu kommen. Gegen ihnen missliebige Werbende kann die Partei daneben auch vorgehen, und Recht der Kandidatenaufstellung, 2011, § 27 Rn. 18 an, wenn eine Nutzung des Logos, des Namens oder des da ansonsten der Partei kein Werbewert zufließe. Ähnlich be- reits Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz sonstigen corporate designs vorliegt. (PartG) und europäisches Parteienrecht, 2009, § 27 Rn. 30. 20 So bereits Klein, in: Bericht der Kommission unabhängiger 21 Sachverständiger zu Fragen der Parteienfinanzierung (Hrsg.), Weitere Nachweise bei Schäfer, in: Bamberger/Roth/Hau u.a. Vorschläge zur Neuregelung des Rechts der Parteienfinanzie- (Hrsg.), BeckOK BGB, § 167 Rn. 15. rung, S. 3, 13 f.; Jochum, in: Ipsen (Hrsg.), Parteiengesetz, 22 Zur Unterscheidung im Zivilrecht siehe ders., in: Bamberger/ 22018, § 26 Rn. 5. Roth/Hau u.a. (Hrsg.), BeckOK BGB, § 167 Rn. 16 m.w.N.

136 MIP 2019 25. Jhrg. Hobusch – Parallelaktionen – ein Graubereich im Recht der Parteienfinanzierung „Aufgespießt“

3. Stellungnahme Es spricht daher vieles dafür, die Anforderungen für eine Zurechnung einer Werbeaktion Dritter zur Par- tei deutlich abzuschwächen. Zunächst muss geprüft werden, ob wirklich „ausdrückliche Werbung für eine Partei“ vorliegt. Der Wortlaut des Gesetzes ist hier Ausgangspunkt der Überlegungen. Ein Ausein- andersetzen mit einer Partei oder die Begrüßung von Inhalten ist noch keine Werbung23. Ausreichend muss, neben dem Nachweis der Nützlichkeit für die Partei, bereits die Kenntnis der Partei von der Maß- nahme sein. Auch eine nachträgliche Kenntnis scha- det, wenn nicht unverzüglich reagiert wird, dann liegt nämlich eine konkludente Zustimmung vor24. Weiß die Partei um die Maßnahme und lässt sie ge- schehen, muss sie sich diese zurechnen lassen. Dies bedeutet auch keine Verschärfung der Anforderun- gen für Parteien, sondern vielmehr einen Gleichlauf mit der bestehenden Regelung bei Geldspenden.

III. Ergebnis Das Problem der Parallelaktionen wird auch zukünf- tig noch für Diskussionen sorgen. Es darf mit Span- nung erwartet werden, wie sich der aktuelle Fall in Bezug auf den AfD-nahen Verein weiterentwickelt und auch, welchen Fortgang die rechtspolitische wie rechtswissenschaftliche Diskussion rund um diese Problematik nimmt. Der Beitrag zeigt auf, dass die herrschende Meinung die sich stellenden Probleme nur unzureichend lösen kann. Insofern ist der hier skizzierte Weg möglicherweise geeignet, die Proble- matik der Parallelaktionen ohne gesetzliche Ände- rungen zu lösen, wenngleich auch hier die Anforde- rungen noch näher auszuarbeiten sind. Eine Anpas- sung der gesetzlichen Vorschriften wäre allerdings ungeachtet dessen sinnvoll, um die bestehenden Un- klarheiten aufzulösen und ein mögliches Schlupfloch der Parteienfinanzierung zu schließen.

23 Helmes, Spenden an politische Parteien und an Abgeordnete des Deutschen Bundestages, 2014, S. 96. 24 Zu dieser Möglichkeit Jochum, in: Ipsen (Hrsg.), Parteienge- setz, 22018, § 26 Rn. 5.

137 „Aufgespießt“ Bruns – Das Wahlvorschlagsrecht auf Parteitagen [...] MIP 2019 25. Jhrg.

Das Wahlvorschlagsrecht auf Parteitagen: In der Literatur wird durchaus angenommen, dass es ein Wahlvorschlagsrecht aus der Versammlung her- Die Idealvorstellung der innerparteilichen 5 Demokratie im Spiegel der Parteipraxis aus geben muss . Dies wird unter anderem aus As- pekten des Minderheitenschutzes abgeleitet. Eine Einschränkung des Vorschlagsrechts greift erheblich 1 Christian Bruns in das für die Demokratie wesentliche Prinzip, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann, ein.6 Das Die CDU feiert die Reanimation der innerparteilichen Recht, in der Versammlung ad hoc Wahlvorschläge Demokratie. Der Machtkampf um das höchste Partei- einzureichen, ist eine direkte Rückwirkung des amt zwischen Annegret Kramp-Karrenbauer und Grundsatzes demokratischer Wahlen innerhalb der 7 Friedrich Merz endete in einer denkbar knappen Parteien. Wie das Hamburgische Verfassungsge- Stichwahl, die Kramp-Karrenbauer für sich entschei- richt ausdrücklich feststellt, haben die Vertreter auf den konnte. Zum ersten Mal seit dem Duell zwischen Parteitagen ein Recht auf „Information und Mitwir- 8 Rainer Barzel und Helmut Kohl im Jahr 1971, gab es kung bei Vorschlag und Wahl“ . Auch das BVerfG eine echte Kampfabstimmung um den Parteivorsitz2. räumt allen Wahlbeteiligten ein grundsätzlich freies Recht zum Wahlvorschlag als Ausprägung der In Zeiten, in denen Transparenz und Demokratie- Wahlfreiheit ein.9 Vor diesem Hintergrund erscheint treue öffentlich immer vehementer gefordert werden, ein Wahlvorschlagsrecht aus der Versammlung steht es auch der CDU gut zu Gesicht, sich in dieser selbst verfassungsrechtlich geboten. Hinsicht neu zu orientieren. Es gilt jedoch zu erörtern, wie der Begriff „aus der Bei genauerer Betrachtung besteht allerdings eine Versammlung“ auszulegen ist. Es ist denkbar, die- deutliche Diskrepanz zwischen dem Idealbild der in- sem verfassungsrechtlichen Gebot bereits im Vor- nerparteilichen Demokratie und ihrer faktischen Um- feld der Versammlung Rechnung zu tragen und so setzung in den Parteien. die Versammlung effizienter zu gestalten. Ähnlich So stellt das Vorgehen der CDU, einigen Kandidaten einer Land- oder Bundestagswahl müssten die Kan- auf den Regionalkonferenzen das Privileg einzuräu- didaten sich vorher melden bzw. gemeldet werden men, von der Partei finanzierten Wahlkampf in eige- und würden auf einer Wahlliste eingetragen. Jeder ner Sache zu betreiben, wohl zumindest eine Be- Kandidat, der die Unterstützung zumindest eines nachteiligung der Bewerber dar, die dort nicht parti- Versammlungsteilnehmers nachweisen kann, wäre zipieren durften.3 Neben diesem fragwürdigen Pro- auf dieser Wahlliste aufzunehmen. zedere, gab es auf dem CDU Parteitag nicht eine ein- Dieser Vorschlag erscheint zunächst interessenge- zige Kandidatur aus der Versammlung heraus. Es recht, bei genauerer Betrachtung ergeben sich jedoch scheint, als wollten Kreisverbände anderer Parteien einige Probleme. Zwar sind eventuelle Absprachen das Recht zum Vorschlag aus der Versammlung so- und Einwirkungen sowie Diskussionen auch im Vor- gar ganz abschaffen, um den Ablauf der Parteitage 4 feld möglich, jedoch sind sie – gerade bei großer zu straffen und zu beschleunigen. Vor diesem Hin- geographischer Entfernung – wohl deutlich er- tergrund stellt sich die Frage, ob das Recht auf den schwert. Es kann nicht von jedem potentiellen Be- spontanen Wahlvorschlag aus der Versammlung werber erwartet werden, seine Entscheidung bezüg- selbst verfassungsrechtlich geboten oder doch obso- lich einer Kandidatur im Vorfeld zu treffen. Jeder let ist. Versammlungsteilnehmer muss die Möglichkeit ha- ben, sich aufgrund von Entwicklungen auf der Ver- 1 Der Autor ist studentische Hilfskraft am PRuF. sammlung (Eigendynamik) für eine Kandidatur zu 2 Müller-Vogg, Die CDU und die Merkel-Nachfolge: Plötzliches Rendezvous mit der innerparteilichen Demokratie, in: Cicero, entscheiden oder einen anderen Kandidaten vorzu- 02.12.2018, https://www.cicero.de/innenpolitik/cdu-parteitag- 5 Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz- merkel-nachfolge-parteivorsitz-demokratie-spahn-merz-kramp Kommentar, 6. Auflage, München 2018, Art. 21 Rn 151. -karrenbauer (abgerufen am 24.02.2019). 6 3 Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz-Kommentar, 84. Zur Problematik der Regionalkonferenzen: Keesen/Towfigh/ EL August 2018, Art. 21 Rn. 344. Ulrich, Sternstunde innerparteilicher Demokratie? Gedanken 7 zur „offenen“ Wahl der nächsten CDU-Parteivorsitzenden, in: Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 8. Auflage Verfassungsblog, 05.12.2018, https://verfassungsblog.de/stern 2018, Art. 21 Rn. 57. stunde-innerparteilicher-demokratie-gedanken-zur-offenen-wahl 8 Hamburgisches Verfassungsgericht, Urteil vom 04. Mai 1993 -der-naechsten-cdu-parteivorsitzenden/ (abgerufen am 24.02.2019). – 3/92, Rn. 122, online veröffentlicht bei juris. 4 Eine entsprechende Bitte um rechtliche Einschätzung erreichte 9 BVerfG, Beschluss vom 09. März 1976 – 2 BvR 89/74 (= das PRuF im Januar 2019. BVerfGE 41, 399-426), online veröffentlicht bei juris.

138 MIP 2019 25. Jhrg. Bruns – Das Wahlvorschlagsrecht auf Parteitagen [...] „Aufgespießt“ schlagen. Dies ist Ausprägung des Beteiligungsrech- mangels Wahlversammlung bei Bundestagswahlen tes bei den Vorschlägen zur Wahl. Auch wenn die keine Eigendynamik. So erscheint es auch nicht un- Wahl eines solchen Kandidaten eher ungewöhnlich billig, die Eigendynamik der Versammlung bei der ist, erscheint sie zumindest möglich. Jedenfalls kann Auslegung des Prinzips der innerparteilichen Demo- eine solche Kandidatur Auswirkungen auf die übri- kratie in Bezug auf Parteitage zu berücksichtigen. gen Wahlergebnisse haben und somit Ergebnisrele- Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass der Begriff vanz entfalten. Das Hamburgische Verfassungsge- „aus der Versammlung“ durchaus restriktiv auszule- richt bezeichnet es sogar als „feststehenden Erfah- gen ist. Eine Verlagerung des Vorschlagsrechts ins rungssatz der Politik [...], daß es bei der Kandidaten- Vorfeld erscheint bei Parteitagen unverhältnismäßig. aufstellung innerhalb demokratischer Parteien regel- So ist das spontane Vorschlagsrecht aus der Ver- mäßig zur Veränderung der Vorschläge des Vorstan- sammlung eine verfassungsrechtliche Ausprägung des [...] kommt, wenn [...] diese Vorschläge in der des Prinzips der innerparteilichen Demokratie und Versammlung offen diskutiert und Gegenkandidaten des Minderheitenschutzes. Dennoch wird hiervon in mit entsprechender Begründung zur Wahl gestellt der politischen Praxis, wie auch der CDU-Parteitag werden können“.10 Eine solche, durch den Austausch zeigt, wenig Gebrauch gemacht. Dabei erscheint die der Teilnehmer hervorgerufene Eigendynamik cha- Entwicklung einer Eigendynamik der Versammlung rakterisiert den Parteitag als Wahlversammlung. doch als demokratietheoretisch geboten. Überdies spielt der schon von Klein angeführte Min- derheitenschutz eine gewichtige Rolle. Der Spontan- Letztlich kann das Recht keine Kandidaturen aus der und damit meist auch Außenseiterkandidat erscheint Versammlung erzwingen. Es liegt an den Parteien und vor diesem Hintergrund besonders schutzwürdig, da- ihren Mitgliedern, den rechtlichen Rahmen auszu- mit die Minderheit zur Mehrheit werden kann. Infol- schöpfen und den Begriff der innerparteilichen Demo- ge dessen erscheint es unverhältnismäßig, das Prin- kratie mit Leben zu füllen. zip der innerparteilichen Demokratie und die Rechte der Versammlungsteilnehmer zu Gunsten einer effi- zienteren Gestaltung von Parteitagen einzuschrän- ken. Jedoch ist hier in der Wahrung der Entschei- dungsfähigkeit des Parteitages eine Grenze des Prin- zips der innerparteilichen Demokratie zu sehen. So kann beispielsweise eine gewisse Mindestunterstüt- zungsquote für einen Kandidaten zulässig sein, so- lange sie das Bewerbungsverfahren für Minoritäten offenhält.11 Dieses Ergebnis wirft jedoch neue Fragen auf. Auf den ersten Blick könnte es als unbillig erachtet wer- den, an einen einfachen Parteitag bezüglich des De- mokratieprinzips höhere Anforderungen zu stellen, als an die für unseren demokratischen Staat viel be- deutendere Bundestagswahl, gerade weil für die in- nerparteiliche Demokratie im allgemeinen ein weni- ger restriktiver Demokratiebegriff gilt.12 Diese Kritik unterschlägt jedoch die großen Diskrepanzen zwi- schen den beiden Sachverhalten: Bei der Bundes- tagswahl ist der organisatorische Aufwand aufgrund der höheren Zahl an Wahlberechtigten wesentlich höher. Es ist schlicht nicht möglich, eine spontane Kandidatur zu organisieren, allein schon, sie allen Wahlberechtigten mitzuteilen. Außerdem gibt es

10 Hamburgisches Verfassungsgericht, Urteil vom 04. Mai 1993 – 3/92, Rn. 146, online veröffentlicht bei juris. 11 Morlok/Merten, Parteienrecht, Tübingen 2018, S. 132. 12 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Auf- lage, Tübingen 2015, Art. 21 Rn. 125.

139 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung rügte. Mit diesem ist nach dem BVerfG ein einseitig parteiergreifendes Verhalten durch den Staat unver- 1. Grundlagen zum Parteienrecht einbar. Dies gelte vor allem in, aber auch außerhalb von Wahlkampfzeiten. Demgegenüber könne sich Nicht nur anhand der textlichen Entwicklung von zwar die Bundesregierung auf ihre Befugnis zur Öf- 1 Rechtsnormen, auch an der Übersicht von in einem fentlichkeitsarbeit berufen, müsse dabei aber die gewissen Zeitraum ergangenen Gerichtsentscheidun- Pflicht zur Neutralität wahren. Diese verbiete es, gen lassen sich Rückschlüsse auf den Zustand einer „sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die Gemeinschaft und ihr Recht sowie ihre Politik und ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und politische Kultur ziehen. Dies aufzuzeigen ist auch Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit [zu] nutz[en], Sinn des „Spiegels“ der Rechtsprechung. Die Grund- um Regierungsparteien zu unterstützen oder Opposi- lagen des Parteienrechts sind in den vergangenen tionsparteien zu bekämpfen.“6 Vielmehr sei es mit- Jahren geprägt von Entscheidungen zum Problem unter durchaus geboten, dass die Regierung zu den der Äußerungen von Amtsträgern gegenüber politi- gegen sie erhobenen Vorwürfen Stellung nimmt, schen Parteien, genauer der NPD, und – zeitlich etwas dies dürfe indes allein sachlich geschehen, nicht in später; aber dann überwiegend – der AfD. Dieser Um- Form eines „Gegenschlag[s]“7 Dabei sieht das Ge- stand lässt sich deuten als Symptom einer Polarisie- richt durchaus, dass die geforderte Zurückhaltung 2 rung des politischen Systems. Denn auch wenn der angesichts der Tatsache, dass es bei Mitgliedern der Streit um die politische Neutralität des Staates schon Bundesregierung regelmäßig auch um das Spitzen- 3 alt ist, mehren sich die insbesondere auch von Ver- personal der Parteien handelt, die miteinander in fassungsgerichten getroffenen Entscheidungen. Die Konkurrenz stehen. Dies führe aber nicht zu einer Etablierung der AfD im Parteiensystem stellt also Unanwendbarkeit des Neutralitätsgebots für Minis- ganz offen den Staat, die Gerichte und auch die Wis- ter. Vielmehr seien sie, trotz dieser tatsächlichen senschaft vor enorme Herausforderungen. So zeigten Spannungslage, dazu verpflichtet, auf den Einsatz sich auch im vergangenen Jahr verschiedene Perso- ministerialer Ressourcen oder der Autorität des Am- nen des staatlichen Lebens mitteilungsfreudig. Wäh- tes zu verzichten, wenn sie an der politischen Mei- rend sich die Sachverhalte durchaus unterscheiden, nungsbildung teilnehmen. Diesen Anforderungen sei entwickelt sich zusehends eine allgemeine Dogmatik die Ministerin Wanka nicht gerecht geworden: der „Äußerungsfälle“ heraus, die es ermöglicht, zwi- Durch das Format der Aussage als Pressemitteilung schen einem rechtmäßigen Beitrag zur politischen auf der Ministeriumshomepage sei diese unter Rück- Meinungsbildung und einer rechtswidrigen Grenz- griff auf die Amtsautorität erfolgt, auch wenn im 4 übertretung zu differenzieren. Text der Mitteilung nicht ausdrücklich auf das Amt In der unter dem Namen „Wanka“ bekannt geworde- Bezug genommen wurde. Inhaltlich sei die Äuße- nen Leitentscheidung des BVerfG5 ging es um eine rung durch eine einseitig negative Bewertung der „Rote Karte“, welche die damalige Bundesministerin AfD gezeichnet. Sie könnte deswegen auch keine der Partei AfD zeigen wollte, da diese eine gegen die Rechtfertigung im Prinzip der Öffentlichkeitsarbeit Bundeskanzlerin Merkel gerichtete Versammlung finden, sei mithin verfassungswidrig, weswegen der durchführte. Dies fand auf der Netzseite des Minis- Antrag der AfD Erfolg hatte. Mit der Wanka-Ent- teriums in Form einer Pressemitteilung statt, welche scheidung hält das BVerfG an seiner Rechtspre- die Partei im Organstreit anfocht, indem es ihr Recht chungslinie fest, die es auch etwa im Fall „Schwesig“ auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb konkretisiert hatte, und für die es verschiedentlich kritisiert wurde. Tatsächlich muss das BVerfG in 1 So die Textstufen-Analyse von P. Häberle, Textstufen als Rechnung stellen, dass es mit seiner Beharrung auf Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: J. Jekewitz u.a. ein eher kontrafaktisches Leitbild über die Teilnah- (Hrsg.), FS K. J. Partsch, 1989, S. 555 ff. me von Politikern am Meinungsbildungsprozess nor- 2 Statt vieler S. Magen, VVDStRL 77 (2018), S. 67 (70-75). mative Erwartungen weckt, die zu künstlicher Zu- 3 Siehe etwa H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Auflage rückhaltung und dem Bruch mit originär politischen 1966, S. 178 ff. Logiken führt. Das Gericht reflektiert dies aber in 4 Vgl. etwa M. Payandeh, Der Staat 55 (2016), 519 ff.; A. Bäcker, vorbildlicher Weise und gibt gerade nicht Grund zu MIP 2015, 151 ff.; D. Kuch AöR 142 (2017), 491 ff.; D. Dişçi, Der Grundsatz politischer Neutralität, 2019, passim; M. Morlok/ S. Jürgensen, JZ 2018, 695 (701); S. Jürgensen/J. Garcia J., 6 BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, in: NJW 2018, MIP 2016, 70 (77 ff.); T. Barczak, NVwZ 2015, 1014 ff. 928 (930). 5 BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, in: NJW 2018, 7 BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, in: NJW 2018, 928-934. 928 (931).

140 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung der Annahme, kritische Stimmen nicht in die Ent- stand von Neutralitätsfällen war und ist, der Verweis scheidungsfindung einzubeziehen.8 Die allein des- auf einen guten Willen des Bundesinnenministers, wegen durchaus zu begrüßende Entscheidung sollte also auch noch eines Verfassungsministers, wirkt an- der Wissenschaft weiter Grund zur Annahme geben, gesichts dessen als mit Vor- und Weitsicht zu genie- die Struktur der Äußerungsfälle als Abwägung von ßende Aussage. Auch deswegen sollte die Neutrali- miteinander kollidierenden Prinzipien zu verstehen, tätsproblematik im ganzheitlichen Blick einer mög- die im Einzelfall durchzuführen ist – die aber der Pa- lichst unbefangen und nach allen Seiten kritischen rameter bedarf, die weiter ausgearbeitet und konkre- Parteienrechtswissenschaft stehen. tisiert werden müssen.9 Der VerfGH Berlin11 hatte in einer weiteren Variante Gegen eine vorübergehend auf der entsprechenden der Neutralitätsfälle erneut über eine gegen die AfD Ministeriumshomepage zugängliche, im Rahmen ei- gerichteten Aussage eines Amtsträgers zu entschei- nes Interviews geäußerte Bemerkung des Bundesmi- den, hier des Berliner Justizsenators. In der Sache nisters für Inneres und Heimat, Seehofer, setzte sich ging es um Äußerungen, insbesondere bezogen auf die AfD-Bundestagsfraktion vor dem BVerfG10 erfolg- den AfD-Politiker und Leitenden Oberstaatsanwalt los zur Wehr, was vor allem prozessualen Umstän- Roman Reusch, unter anderem, dass er dessen Ver- den geschuldet war. So bemühte die Fraktion das halten während des Wahlkampfes auf die dienst- verfassungsprozessuale Eilverfahren nach § 32 Abs. 1 rechtliche Vereinbarkeit prüfen wolle („durchaus BVerfGG, ohne den Antrag entsprechend der entwi- Anlass geboten, da mal näher hinzugucken“12). Die ckelten Anforderungen zu substantiieren: Sie rügte AfD fühlte sich durch die Aussagen des Amtsträgers wegen der Äußerung Seehofers, der die AfD-Fraktion in ihrem Recht auf politische Chancengleichheit ver- u.a. „staatszersetzend“ nannte, eine Verletzung des letzt und zog deswegen vor den VerfGH. Die Beson- Chancengleichheitsrechts aus Art. 21 GG, ohne dass derheit des Falles lag nun darin, dass der Justizsena- einer Bundestagsfraktion dieses zustehen würde. tor verschiedene Aussagen in verschiedenen Kontex- Weiter sei das Rechtsschutzbedürfnis nicht hinrei- ten tätigte. Das Gericht sah also sowohl auf Zuläs- chend dargelegt. So war das Innenministerium einer sigkeits-, als auch auf Ebene der Begründetheit An- Entscheidung des BVerfG zuvorgekommen und hatte lass für Differenzierungen. So konnte es in der An- das Interview bereits entfernt, der Antrag ging somit kündigung, „ihn im Blick zu behalten“13, keine Ver- diesbezüglich ins Leere. Vorbeugender Rechtsschutz letzung des Chancengleichheitsgebots erkennen. Die gegen etwaige zukünftige Äußerungen gewährleiste Stellungnahme bezöge sich auf das beamtenrechtli- sowohl der Organstreit als auch das zugehörige Eil- che Mäßigungsgebot und sei auch sprachlich auf den verfahren grundsätzlich nicht, zumal der Innenminis- Oberstaatsanwalt Reusch konzentriert. Es fehle be- ter mit der Entfernung der Äußerung keinen Grund reits der Zusammenhang zur Partei, weswegen die zur Annahme gebe, er werde eine vergleichbare Äu- Antragsbefugnis fraglich sei. Dies gelte jedenfalls ßerung wiederholen. Die Ablehnung der einstweili- für die Aussagen, die er in einem Interview mit dem gen Anordnung war deswegen wohl die richtige Ent- RBB tätigte. In diesem äußerte sich der Justizsenator scheidung, auch wenn es sich angesichts der bereits zum ersten Mal zum Fall Reusch, erwähnte aber die angedeuteten Konflikte als gefährliches Spiel er- AfD mit keinem Wort, sondern setzte sich allein mit weist. An dem Verhalten des Staates gegenüber der dessen Personalie auseinander, vor allem in Bezug AfD offenbaren sich eine Vielzahl von Streitpunkten auf den dienstrechtlichen Rechtsrahmen. Die Ver- und Bewährungsproben der modernen Demokratie. bindung zur AfD werde erst durch den RBB gezogen, Ein Rückzug in rein prozessuale Erwägungen zeigt was dem Senator nicht zuzurechnen sei. Die Aussa- eine gewisse dogmatische Stringenz und analytische gen hingegen, die einen unmittelbaren Bezug zur Kühle im ansonsten immer sehr hitzigen Umgang AfD aufwiesen, seien im Rahmen einer parlamenta- mit dieser Partei und ihren Fraktionen. Die Gerichte rischen Fragestunde gefallen, ihnen fehle eine „für dürfen aber nicht wesentliche Dimensionen derarti- die Antragsbefugnis erforderliche Auswirkung.“14 ger Streitigkeiten verkennen. So muss in Rechnung gestellt werden, dass die AfD dutzendfach Gegen- 11 VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, online veröffentlicht bei juris. 8 Das BVerfG verweist u.a. auf J. Krüper, JZ 2015, 414 (417); 12 VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, M. Putzer, DÖV 2015, 417 (423); H. Mandelartz, DÖV 2015, juris Rn. 31. 326 (329). 13 VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, 9 S. Jürgensen, MIP 2017, 143 (144 ff.). juris Rn. 68. 10 BVerfG, Beschluss vom 30.10.2018 – 2 BvQ 90/18, online 14 VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, veröffentlicht bei juris. juris Rn. 77.

141 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Diese Konstellation macht – zumindest bezogen auf hier viel wertvolles Material, das auf jeden Fall Auf- die jüngere Rechtsprechungsentwicklung – die Be- merksamkeit verdient. sonderheit des Falles aus. So begründet das Berliner Die Grenze zwischen Öffentlichkeitsarbeit und un- Verfassungsgericht, dass die parlamentarische Fra- zulässiger Wettbewerbsverzerrung hatte auch das gestunde dem Abgeordneten als Informationsquelle LVerfG Schleswig-Holstein22 in zwei parallelen dient, das Regierungsmitglied sei entsprechend Organstreitverfahren zu ziehen, die jeweils auf An- rechtlich dazu verpflichtet, „auf Fragen Rede und trag der CDU eröffnet wurden. Streitgegenstand des Antwort zu stehen.“15 Dies schließe die Geltung jeweiligen Verfahrens war jeweils ein Brief: Erstens strikter Neutralität aus, es gelte lediglich ein Will- ein an die Landespolizei gerichteter Brief des Innen- kürverbot, welches auch Wertungen in den Einschät- ministers, zweitens ein an die Schulleiter, Lehrer, zungen eines Regierungsmitglieds gestatte. Den auf Eltern und Schüler gerichteter Brief der Bildungsmi- das Dienstrecht bezogenen Aussagen fehle der Bezug nisterin, in denen die Minister jeweils eine Bilanz zu zur Autorität des Amtes. Vor allem, da es sich bei der Arbeit ihrer Ressorts zogen. Die CDU verstand den Aussagen um Antworten auf die Fragen eines diese Schreiben als Wahlwerbemaßnahmen und ver- AfD-Abgeordneten handelte, stellten sie keine Ver- suchte zunächst im Landtag einen Antrag durchzu- letzung des Neutralitätsgebots dar; dienten sie doch bringen, der auf Missbilligung der Briefe und auf gerade dazu, ein konkret artikuliertes Informations- Aufforderung zur Unterlassung gerichtet war. Nach- interesse zu befriedigen. Diese Entscheidung ist we- dem dies abgelehnt wurde, griff die CDU den Brief gen der verschiedenen Ebenen der Behandlung (Zu- vor dem LVerfG an. Zu einer Entscheidung kam es lässigkeit/Begründetheit) schwierig einzuschätzen.16 jedoch nicht: Es fehle in beiden Fällen, so das Ge- Sie zeigt aber, welche Schwierigkeiten für die Recht- richt, am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. So sprechung bestehen, die von den verschiedenen Ak- sei das Organstreitverfahren ein kontradiktorisches, teuren aufgestellten Judikaturen auf eine Linie zu es bedürfe eines Antragsgegners. Diese seien mittler- bringen. Das BVerfG entfaltet mit den Leitentschei- weile weggefallen: Nach den vollzogenen Wahlen dungen „Gauck“17, „Schwesig“18 und „Wanka“19 si- sei eine neue Regierung zusammengekommen und cherlich Orientierungswirkung, Fragen wie etwa die sowohl der ehemalige Innenminister als auch die der Kontextabhängigkeit zeigen aber immer wieder ehemalige Bildungsministerin nicht mehr Teil die- neue Schwierigkeiten auf. So ergibt sich, dass die ser. Damit sei es nicht möglich, das Verfahren im rechtliche Unterscheidung zwischen allgemeiner und Rahmen einer diskursiven Auseinandersetzung zu Parlamentsöffentlichkeit richtig ist, obwohl sie in führen. Weder sei zu erwarten, dass sich die ehema- Zeiten technisierter Kommunikation durchaus in ligen Minister zum Rechtsstreit äußerten, noch seien Frage steht.20 Soweit aber die Geltung des Neutrali- dazu die neuen Minister bereit. Vor allem da Letzte- tätsgebots überhaupt in Frage gestellt wird, sei er- re beide Mitglied der CDU und damit des Antrags- neut an die Prinzipienstruktur dieser Pflicht erinnert. stellers seien, sei eine abstrakte Klärung der aufge- Vor allem der Kontext ist ein Abwägungsparameter, worfenen verfassungsrechtlichen Fragen nicht sinn- der sich gut operationalisieren lässt: Das Parlaments- voll möglich. Die Entscheidungen sind als falsch plenum ist kein Fernsehinterview oder eine Ministe- einzustufen. Auf den prozessual schwierigen Um- riumshomepage.21 Wichtiger als Kategorien sind gang mit Neutralitätsfragen wurde bereits verwiesen. also die Feinmechaniken; die Entscheidung liefert Anders als im Fall des BVerfG fehlt es an tragfähi- 15 VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, gen prozessrechtlichen Gründen und der notwendi- juris Rn. 78. gen Reflexion. Dem LVerfG Schleswig-Holstein 16 Siehe aber D. Kuch, Öffentlichkeit ist nicht gleich Öffentlich- muss die Aktualität und Relevanz der Rechtsfrage keit, Zur Geschäftsordnung am 09.05.2018 (http://zurgeschae bewusst gewesen sein. Statt sich mit den Möglich- ftsordnung.de/oeffentlichkeit-ist-nicht-gleich-oeffentlichkeit/, keiten des Prozessrechts auseinanderzusetzen, wie zuletzt abgerufen am 27.02.2019). der ehemalige Innenminister und die ehemalige Bil- 17 BVerfGE 136, 323 ff. dungsministerin in das Verfahren rechtlich einge- 18 BVerfGE 138, 102 ff. bunden werden können, etwa in Form einer extensi- 19 BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, in: NJW 2018, ven Auslegung der Vorschriften zum Organstreit 928 ff. nach § 35 LVerfGG oder einer Zeugenladung nach 20 Dazu D. Kuch, Öffentlichkeit ist nicht gleich Öffentlichkeit, § 27 Abs. 1 LVerfGG SH i.V.m. § 377 ZPO, zieht es Zur Geschäftsordnung am 09.05.2018 (http://zurgeschaefts ordnung.de/oeffentlichkeit-ist-nicht-gleich-oeffentlichkeit/, 22 LVerfG SchlH, Beschluss vom 08.06.2018 – LVerfG 5/17 zuletzt abgerufen am 27.02.2019). und LVerfG SchlH, Beschluss vom 08.06.2018 – LVerfG 21 So bereits S. Jürgensen/J. Garcia J., MIP 2016, 70 (77 ff.). 6/17, online veröffentlicht bei juris.

142 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung sich auf äußerst oberflächliche Entscheidungsgründe Drucksachen veröffentlichen Rechenschaftsberich- zurück. Hier offenbaren sich die „strukturellen Kon- ten der Parteien hergestellt werde. Damit entstehe je- trolldefizite“23 im Recht der Politik in Form einge- doch kein Recht des Einzelnen auf Zugang zu diesen schränkter richterlicher Überprüfbarkeit. Die an Informationen, denn während sich im PartG objektiv- Rechtstreitigkeiten beteiligten Organe sind kurzle- rechtliche Pflichten zur Rechenschaft finden ließen, big, Personen wechseln: Die moderne Politik ist sei das IFG als subjektives Recht ausgestaltet, womit schnell (oder kann es notfalls auch sein), während es eben nicht zu einer, dessen Anwendung ausschlie- Justitias Mühlen langsam mahlen. Zieht sich verfas- ßenden, Konkurrenz käme. Antragsgegner des An- sungsgerichtlicher Rechtsschutz angesichts dessen trages nach dem IFG sei der Bundestagspräsident hinter das grobmaschige Netz des Prozessrechts oder und zu Informationszugangsrechten gegenüber die- bloße Tatsächlichkeiten der Politik zurück, entstehen sem verhalte sich das PartG nicht. Daran ändere Lücken, die im Prozess demokratischer Legitimation auch die Behauptung nichts, IFG und PartG folgten durchaus problematische Folgen haben. Eine dezi- anderen Regelungsmechanismen und die Aussage, dierte Analyse der Briefe im Spiegel der neueren der Gesetzgeber habe mit dem PartG das Transpa- und neusten Rechtsprechung wäre notwendig und renzregime über die Parteien abschließend regeln wohl auch möglich gewesen; dies gilt wenigstens für wollen, insbesondere da dies der Gesetzgeber auch die Notwendigkeit, sich gewissenhaft damit ausein- hätte regeln können und müssen. Auch verfassungs- anderzusetzen. rechtliche Gründe stünden dem Antrag nicht entge- gen, sondern könnten ggfs. bei den Ausschlussgrün- Ein politisch brisantes Verfahren fand vor dem den des IFG berücksichtigt werden, die vom Deut- OVG Berlin-Brandenburg24 statt: Der Deutsche schen Bundestag aber auch nicht dargetan worden Bundestag stritt mit dem für Transparenz in der Poli- seien. Das Urteil überzeugt in der Sache vollständig, tik streitenden Verein abgeordnetenwatch.de über vor allem dann, wenn man die für das Medium der die Offenlegung von Informationen, die im Zusam- Gerichtsentscheidung typischen Restriktionen in menhang mit der Parteienfinanzierung stehen. Dies Rechnung stellt. So arbeitet das Gericht, wie schon gesuchte der Verein mithilfe des IFG zu erreichen. vorher das VG Berlin, äußerst akribisch, systema- Konkret ging es um die „Übersendung sämtlicher tisch und sprachlich klar, lässt aber tatsächlich die Korrespondenzen, Vermerke, Notizen, Dienstanwei- verfassungsrechtlichen Implikationen eher kurz aus- sungen etc., die im Zusammenhang mit den Rechen- fallen.27 Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass Ge- schaftsberichten und Parteispenden für das Jahr richte Fälle entscheiden und nur sekundär an der 2013 stehen und die damals im Deutschen Bundes- Entwicklung der Verfassung mitarbeiten, zumal da- tag vertretenen Parteien betreffen.“25 Der Bundestag durch Kapazitäten entstehen. Das Gericht arbeitet in- lehnte den Antrag mit dem Verweis auf die abschlie- nerhalb dieser Grenzen erstaunlich reflektiert und ßenden Regeln des PartG in Bezug auf die Transpa- bedacht, weswegen auch die Annahme der mangeln- renz der Parteien in Finanzsachen ab. Zu Unrecht, den Konkurrenz zwischen IFG und PartG überzeugt. wie in der Vorinstanz das VG Berlin befand.26 Dem Es mag sein, dass der Gesetzgeber dies nicht unbe- stimmte nun auch das OVG zu: Das PartG enthalte dingt beabsichtigt hatte; die Entscheidung für Ver- keine vorrangigen Spezialregelungen, die dem IFG waltungstransparenz, die den tragenden Grund hinter vorgehen und Sperrwirkung entfalten. So kenne das dem IFG darstellt, kann aber auch an der Bundes- IFG das Konkurrenzverhältnis zu anderen Bestim- tagsverwaltung nicht vorübergehen. Dies ermöglicht mungen in § 1 Abs. 3 IFG, im PartG finde sich aber einen mittelbaren Zugriff auf die politischen Partei- keine Norm mit vergleichbarem Regelungsgehalt, en; dies lässt sich aber mit Grundentscheidungen der nämlich eine Norm, die ein Recht auf Zugang zu Verfassungsordnung nicht nur rechtfertigen, sie be- amtlichen Informationen gegenüber den Behörden stärken die Entscheidungsgründe nur. Soweit in die- des Bundes vermittelt. So fänden sich im PartG zwar sem Kontext auf das Grundrecht der Parteien auf in- Regeln zur Transparenz in Finanzsachen, die über formationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 die von der Bundestagsverwaltung in Form von in i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verwiesen wird, ist dem 23 Th. Streit, Entscheidungen in eigener Sache, 2006, S. 179 ff. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG entgegenzuhalten. Selbst 24 OVG Berlin-, Urteil vom 26.04.2018 – OVG 12 wenn man ein grundrechtlich fundiertes Recht der B 6/17, in: NVwZ 2018, 1152-1154. Parteien auf Privatheit annehmen möchte, wogegen 25 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.04.2018 – OVG 12 schon konzeptionell etwas spricht, ist dieses Recht B 6/17, in: NVwZ 2018, 1152 (1152). durch die Verfassung selbst nicht beschränkt, son- 26 VG Berlin, Urteil vom 06.01.2017, 2 K 69.16, online veröf- fentlicht bei juris. 27 Das beklagt etwa S. Lehmann, MIP 2018, 79 (81).

143 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. dern gestaltet worden: im Transparenzgebot des Feld der kritischen Überprüfung von Parteien tum- Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG für die Parteifinanzen28 und meln sich viele Akteure, die sich über das gesamte im Gebot der innerparteilichen Demokratie des Spektrum der politischen Farbenlehre – auch in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG für die innerparteiliche Wil- Mischformen – verteilen. Gerade das IFG ist hierfür lensbildung29. Damit ist keinesfalls die gebotene Tren- ein beliebtes Mittel – nicht nur für Journalisten – ge- nung von Staat und Gesellschaft aufgehoben,30 sie worden, und die Ergebnisse werden mittlerweile über wird nur gegenstandsangemessen verkompliziert. An- Onlineplattformen mit der gesamten Öffentlichkeit gesichts des tatsächlich messbaren Einflusses von geteilt.33 Keine größere politische Ungleichheit, son- Parteien im demokratischen System, der normativ un- dern Transparenz im Umfeld von Machtressourcen ter dem Gedanken der Beeinflussbarkeit als wün- ist also die Folge des IFG im benannten Bereich. schenswert erachtet werden muss,31 ist die Annahme Das OVG vermochte dies zu erkennen, weswegen einer prinzipiell unbeschränkten Privatheit zurückzu- das Urteil Beifall verdient. weisen. Trotz ihrer gesellschaftlichen Wurzeln kommt Als im Jahr 2018 die SPD zum zweiten Mal ihre Mit- ihnen ein verfassungsrechtlicher Status zu, das unter- glieder zu einer möglichen Koalition mit den Unions- scheidet sie von anderen Vereinen. Wenn man dann parteien befragte, war die Unruhe groß. Das lag nicht die Annahme des OVG, aus dem PartG folgen keine nur an den Erregungen über die Dauer des Prozesses subjektiven Rechte, mit dem Verweis auf die Verbin- der Koalitionsfindung im Deutschen Bundestag, son- dung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG dern auch an verfassungsrechtlichen Bedenken, die kritisieren möchte,32 so kann an dieser Stelle durchaus schon 2013 geäußert,34 und nun wiederholt wurden.35 Sympathie für die dogmatische Konstruktion geäußert Ein Teil dieser Bedenken wurden auch vor den VGH werden. Das ändert nichts daran, dass sie dogmati- München36 getragen, der im Rahmen eines Eilantrages sches Neuland betritt und sie vom OVG sicherlich angerufen wurde, um einen erneuten Mitgliederent- nicht in der Absolutheit getroffen wurde. Hier ging es scheid zu verhindern. Dafür sah der VGH aber – wie um die spezifische Abgrenzung von PartG und IFG auch die Vorinstanz, das VG München37 – keine und die Aussage, dass das PartG – zumindest einfach- rechtliche Grundlage. Der Antragsteller, der nach ei- gesetzlich – keine subjektiven Rechte vermittelt, was gener Aussage an der Bundestagswahl 2017 teilge- wiederum unbestreitbar richtig ist. Die Konstruktion nommen hat, verfüge über kein Recht, das es ihm er- des subjektiven Rechts auf Zugang zu Rechenschafts- laube, als Nichtmitglied auf die Willensbildung einer berichten steht dabei nicht in Konflikt zur Anwend- Partei Einfluss zu nehmen. Ein solches Recht ergebe barkeit des IFG, die Verfassungsnorm des Art. 21 sich auch nicht etwa aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, das Abs. 1 S. 4 GG vermag es vielmehr auch über die keine derart subjektiv-rechtliche Struktur aufweise, Grenzen des PartG hinaus auf § 1 Abs. 1 IFG zu die es einem Bürger ermögliche, lenkend gegenüber strahlen. Sie bestärkt die Annahme des OVG, dass es den Bundestagsabgeordneten tätig zu werden. Diese, keinen Konflikt mit der Verfassung gibt, wenn die durchaus kuriose, Entscheidung ist selbstredend als Bürger die Möglichkeit haben, über subjektive Rechte richtig einzustufen. Allein aber das Gefühl des An- das so skandalreiche Feld der Parteienfinanzierung zu tragsstellers, das freie Mandat der Abgeordneten vor betreten. Damit ist auch der letzte Punkt angespro- ihnen selbst schützen zu müssen, ist durchaus be- chen, nämlich das Gleichheitsrecht. So befürchten kri- zeichnend und offenbart eine verbreitete Wahrneh- tische Stimmen eine mittelbare Verzerrung des Partei- mung, wonach der politische Prozess fortlaufend enwettbewerbs, würden Einzelne an selektierbare In- hinter den normativen Erwartungen der Verfassung formationen über bestimmte Parteien kommen. Auch zurückbleibt.38 Diese, für die Demokratie durchaus wenn das Grundverständnis der Chancengleichheit als gefährliche, Wahrnehmung entsteht aus der Verbin- faktische richtig ist, besteht übertriebene Sorge. Im dung von politischer Logik und ideologisch gefärb- 28 Dazu grundlegend S. Lehmann, Der Rechenschaftsbericht der ten Leitbildern, welche das Rechtsverständnis im politischen Partei, 2018. 33 www.fragdenstaat.de (zuletzt abgerufen am 27.02.2019). 29 Siehe hierzu S. Jürgensen, Die Öffentlichkeit der Willensbil- 34 dung politischer Parteien, Regierungsforschung.de am 01.10.2018 Zur öffentlichen Debatte darüber J. Krüper, MIP 2014, 181 ff. (http://regierungsforschung.de/die-oeffentlichkeit-der-willens 35 M. Pagenkopf, ZRP 2018, 37 ff. bildung-politischer-parteien/, zuletzt abgerufen am 27.02.2019). 36 VGH München, Beschluss vom 19.01.2018 – 5 CE 18.169, 30 Das befürchtet S. Schönberger, MIP 2017, 5 (10). online veröffentlicht bei juris. 31 Dazu S. Jürgensen, Verfassungsnormativität im Recht der Po- 37 VG München, Beschluss vom 17.01.2018 – M 7 E 18.68, on- litik, in Vorb. line veröffentlicht bei juris. 32 So S. Lehmann, MIP 2018, 79 (82) mit Verweis auf M. Morlok/ 38 Ausführlich S. Jürgensen, Verfassungsnormativität im Recht S. Lehmann, NVwZ 2015, 470 ff. der Politik, in Vorb.

144 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Recht der Politik steuern. Der Gewährleistungsgehalt gungen. Präventive Maßnahmen seien genau wie des freien Mandats des Abgeordneten ist in besonde- strafrechtliche Verurteilungen grundsätzlich zuläs- rer Weise unklar und Verzerrungen ausgesetzt. Hier sig. Dass überhaupt Maßnahmen gegen politische liegt eine Herausforderung der Parteienrechtswissen- Extremisten ergriffen werden können, stehe auch mit schaft, das Verhältnis von Abgeordneten zu „ihren“ dem Prinzip der staatsfreien und offenen Willensbil- Parteien aufzuklären und destruktiv-verzerrenden Er- dung vom Volk zu den Staatsorganen aus Art. 20 zählungen Einhalt zu gebieten. Abs. 2 GG nicht in Widerspruch, sondern sei Aus- druck des verfassungsimmanenten Konzepts der Das Sächsische OVG39 sah sich durch die Entschei- wehrhaften Demokratie. Während die Beurteilung dung des VG Dresden40, in der es von der Recht- über die Verfassungswidrigkeit einer Partei nach sprechung abwich, zu einer Änderung des erstinstanz- Art. 21 Abs. 4 GG allein dem BVerfG verantwortet lichen Urteils genötigt. In der Sache ging es um den sei, handele es sich bei den „Bestrebungen gegen die Entzug einer Waffenbesitzkarte eines NPD-Funktio- verfassungsmäßige Ordnung“ nach dem WaffG um närs, die die zuständige Behörde auf Hinweis des einen unbestimmten Rechtsbegriff, der von den Ge- Sächsischen Verfassungsschutzes widerrief. Die Be- richten – auch unter Rückgriff auf die Judikatur zu hörde hatte ihre Entscheidung maßgeblich auf § 5 Vereinsverboten sowie zum jüngsten NPD-Urteil – Abs. 2 Nr. 3 lit. a und b WaffG gestützt, wonach die vollständig überprüfbar sei. Die Subsumtion ergebe, für eine Waffenbesitzkarte erforderliche Zuverlässig- dass es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindli- keit Personen in der Regel fehlt, die einzeln oder als che Organisation handelte und dass der Kläger die Mitglieder einer Vereinigung Bestrebungen verfolgen Bestrebungen der Partei auf Funktionärsebene unter- oder unterstützen, die gegen die verfassungsmäßige stütz habe. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerver- lit. a WaffG greife also und werde vom Kläger auch ständigung gerichtet sind. Das VG sah es mit dem nicht widerlegt. Das äußerst umfangreiche Urteil des Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG für unverein- Sächsischen OVG ist im Zusammenhang mit dem bar an, den Begriff der Vereinigung auf politische am 17.01.2017 verkündeten NPD-Urteil42 und dem Parteien anzuwenden. Die darin liegende Abweichung bereits zuvor bestehenden Problem zu sehen, wie mit von der Rechtsprechung des BVerwG41 erachtet das extremistischen Parteien außerhalb und vor allem Sächsische OVG für nicht gerechtfertigt und änderte unterhalb der Schwelle des Parteiverbots umzugehen das Urteil des VG Dresden entsprechend ab. Der Sinn ist. In der Parteienrechtsdogmatik wird der Grund- der entsprechenden Normen des WaffG liege darin, satz des Anknüpfungsverbots propagiert, auf den Personen, die sich extremistisch betätigen, generell sich auch das VG Dresden berief, als es die Regel- vom Waffenbesitz auszuschließen. Dieses Verständ- vermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG unange- nis stehe nicht im Konflikt mit Verfassungsrecht, viel- wendet ließ. Diese Spannungslage besteht tatsäch- mehr sei die Ansicht des VG fernliegend. Das Parteien- lich, namentlich, dass bestimmten Parteien mithilfe privileg schütze die Parteien als Organisationen in des WaffG der mitgliedschaftliche „Boden unter den ihrem Bestand, damit diese ihrer Funktion – an der Füßen“ weggezogen werden könnte; immer dann, politischen Willensbildung zu partizipieren – nach- wenn die Mitgliedschaft in anderen Rechtsgebieten kommen können. Vor diesem Hintergrund ließe sich als dem Parteienrecht sanktioniert wird.43 Das Ge- nicht erkennen, inwiefern der Entzug der Waffenbe- richt erkennt dies aber, weswegen die differenzierte sitzkarte Parteien in dieser Funktion störe, sei doch Argumentation des OVG zu überzeugen vermag. So der Waffenbesitz für den Prozess der politischen problematisch die Anknüpfung auch auf individuel- Willensbildung nicht erforderlich. Auch eine Ab- ler Ebene ist, zeigen gerade die Ergebnisse des NPD- schreckungswirkung gegenüber potenziellen Mitglie- Parteiverbotsverfahrens, wie notwendig präventive dern bestehe nicht bzw. sei für die Parteien zu erdul- Maßnahmen gegen hochgefährliche Personen sind, den. Der Zweck der Regelvermutungen des WaffG auch wenn sie Mitglied einer Partei sind, zumal das liege in der Abwehr extremistischer Gefahren; dies BVerfG die Anforderungen für ein Parteiverbot in gelte für Parteien – unabhängig von der Ausrichtung dieser Entscheidung deutlich hochgeschraubt hat.44 des Extremismus – ebenso wie für andere Vereini- 42 S. Jürgensen, Das Parteiverbot ist tot, es lebe der Entzug staatli- 39 OVG Sachsen, Urteil vom 16.03.2018 – 3 A 556/17, in: cher Parteienfinanzierung?, Verfassungsblog am 30.05.2017 SächsVBl 2018, 171 ff. (https://verfassungsblog.de/das-parteiverbot-ist-tot-es-lebe-der 40 VG Dresden, Urteil vom 23.06.2016 – 4 K 286/16, online -entzug-staatlicher-parteienfinanzierung/, zuletzt abgerufen am veröffentlicht bei juris. 27.02.2019). 43 41 BVerwG, Urteil vom 30.09.2009 – 6 C 29/08, online veröf- Dazu bereits S. Jürgensen, MIP 2017, 143 (151 f.). fentlicht bei juris. Dazu A. Sadowski, MIP 2011, 163 (164). 44 P. Höhner/S. Jürgensen, MIP 2017, 103 ff.

145 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Der, von einem großen medialen Interesse begleitete, befinden können. Das Namensrecht der Parteien, das Streit um die Internetseite www.wir-sind-afd.de fand wissenschaftlich nahezu unerforscht ist, ist ein we- – soweit ersichtlich – sein Ende vor dem OLG Köln45. sentliches Recht der Parteien. Insofern kann man es Ein Blogger hatte sich diese Domain gesichert und dem OLG Köln nicht entgegenhalten, dass es – bis dort Zitate von prominenten AfD-Politikern gesam- auf einen Absatz nahezu ohne – die Sonderdogmatik melt. Die AfD klagte unter Berufung auf ihr Namens- des Parteienrechts auskommt.48 Hier besteht Hand- recht aus § 12 BGB gegen die Registrierung und ge- lungsbedarf, scheint doch die Interessenlage eine an- wann auch vor dem LG Köln46, das ihm die Nutzung dere zu sein als im wirtschaftlichen Wettbewerb, der untersagte. Die dagegen angestrengte Berufung blieb die Grundlage für diese Entscheidung bildete. erfolglos. Das Namensrecht aus § 12 BGB schütze Auf der Netzseite der AfD behauptete ein Mitglied auch die Kurzbezeichnung einer Partei. Auch von ihr des Berliner Abgeordnetenhauses und Parteimitglied, gehe Unterscheidungskraft aus. Dementsprechend das Bundesumweltministerium habe den Wahlkampf komme auch dem Kürzel „AfD“ Verkehrsgeltung zu, von Hillary Clinton mit „Millionenzahlungen“ unter- die eine Bezeichnung erhalte, „wenn ein nicht unbe- stützt. Dagegen setzte sich das Ministerium vor dem trächtlicher Teil des Verkehrs sie als Hinweis auf ei- LG Berlin49 zur Wehr und machte einen Berichtigungs- nen bestimmten Namensträgers ansieht“.47 Es liege anspruch aus §§ 823 Abs. 2, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB eine unberechtigte Namensanmaßung nach § 12 S. 1 analog i.V.m. §§ 185 ff. StGB geltend. Dabei konnte Alt. 2 BGB vor, indem der Beklagte durch die Ver- es beweisen, dass tatsächlich 1,5 Millionen Euro ge- wendung des Kürzels „AfD“ eine Zuordnungsver- zahlt wurden, allerdings nicht zugunsten des Wahl- wirrung hervorgerufen und dadurch die Interessen kampfes in den USA, sondern an die Clinton- Stif- der Partei verletzt habe. Der Zusatz „wir sind“ drücke tung, konkret und zweckgebunden an ein Umwelt- eben keine Distanz aus, sondern – vergleichbar mit projekt in Afrika. Der Verfasser des Beitrags ver- dem bekannten Slogan „wir sind Papst“ – die Unter- wies in diesem Zusammenhang auf den Indemnitäts- stützung einer Person oder eines Lagers aus. Ent- grundsatz nach Art. 52 Abs. 1 BerlVerf. Das Gericht scheidend für die Zuordnungsverwirrung sei weiter arbeitete aber überzeugend heraus, dass es Aufgabe nur die Domain, und nicht etwa der Inhalt, der über- des Indemnitätsschutzes sei, das Parlamentsplenum dies aber als Sammlung von Originalzitaten von AfD- als freies Forum für Diskussionen zu ermöglichen. Politikern den Eindruck erwecke, es handele sich tat- Die getätigte Äußerung lasse jeden Bezug zur Abge- sächlich um einen Auftritt der Partei. Diese Erwä- ordnetentätigkeit des Beklagten vermissen. Dagegen gungen stellt das OLG sodann in die Abwägung mit könne sich die Bundesrepublik Deutschland, vertre- den Grundrechten des Bloggers ein. Dabei sei es ten durch das Bundesumweltministerium, zwar nicht schon zweifelhaft, ob sich der Beklagte überhaupt auf Grundrechte berufen, wohl aber auf einen gewis- auf Meinungsfreiheit berufen könne, soweit es um sen Ehrschutz, was beispielsweise in § 194 Abs. 3 die Erstellung einer bestimmten Domain gehe; kön- StGB sichtbar werde. Der schwerwiegende Vorwurf ne er doch seine Kritik auch unter einer anderen Do- auf der AfD-Homepage finde in Wirklichkeit keinen main äußern. Unabhängig davon überwiege jedoch Rückhalt, sie seien unwahr. Dies sei wegen der das im Namensrecht konkretisierte allgemeine Per- Struktur der Aussage als Tatsachenbehauptung auch sönlichkeitsrecht der Partei das Recht des Beklagten, nachzuvollziehen. Das Bundesumweltministerium zumal dessen verfassungsrechtlicher Status aus habe substantiiert nachweisen können, wohin und zu Art. 21 GG auf das einfache Rechte ausstrahle. Wei- welchem Zeitpunkt welches Geld geflossen sei, an tere Grundrechte, insbesondere die von Art. 5 Abs. 3 der Unwahrheit bestünden also keine Zweifel. Auf GG geschützte Satire, seien nicht einschlägig: Streit- diese Weise sei eine Rufbeeinträchtigung entstan- gegenstand sei allein die Domain, nicht der Inhalt den, für die eine Richtigstellung erforderlich sei, da der Netzseite. Trotz der breiten Sympathie, die der es auch nicht an der gebotenen Aktualität fehle. Aktion zugekommen ist, wird man die Entscheidung, die in einem sehr speziellen Rechtsgebiet liegt, mit Vor dem VG Gießen50 scheiterte ein NPD-Politiker der damit verbundenen nötigen Vorsicht für richtig bei dem Versuch, die aufschiebende Wirkung seines

45 OLG Köln, Beschluss vom 27.09.2018 – 7 U 85/18, in: MMR 48 OLG Köln, Beschluss vom 27.09.2018 – 7 U 85/18, in: MMR 2018, 750 ff. 2018, 750 (752). 46 LG Köln, Urteil vom 06.02.2018 – 33 O 79/17, online veröf- 49 LG Berlin, Urteil vom 05.07.2018 – 27 O 155/17, online ver- fentlicht bei juris. öffentlicht bei juris. 47 OLG Köln, Beschluss vom 27.09.2018 – 7 U 85/18, in: MMR 50 VG Gießen, Beschluss vom 05.07.2018 – 9 L 1982/18.GI, on- 2018, 750 (751). line veröffentlicht bei juris.

146 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Widerspruchs gegen den Widerruf seiner waffen- 2. Chancengleichheit und sprengstoffrechtlichen Erlaubnisse anzuordnen. 52 So konnte er beim Gericht keine durchgreifenden Das BVerfG hatte in einem Eilverfahren (genau Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Widerrufs erwe- genommen) abschließend entschieden, dass die Stadt cken. Dies wurde – wie bereits im oben besproche- Wetzlar ihre Stadthalle der Nationaldemokratischen nen Fall – maßgeblich mit § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a Partei Deutschlands (NPD) für eine Wahlkampfver- WaffG begründet. Auch das VG Gießen sah in die- anstaltung überlassen muss. Die Stadt Wetzlar setzte ser Norm keinen Verstoß gegen das Parteienprivileg. sich (genau genommen) rechtswidrig darüber hin- 53 Der Antragsteller habe sich als Kandidat bei der hes- weg , weil „offensichtlich [...] Fehlvorstellungen sischen Kommunalwahl im Jahr 2016 aktiv für die über die Bindungskraft richterlicher Entscheidungen als verfassungsfeindlich einzustufende Partei einge- und den noch verbleibenden Spielraum für eigenes 54 setzt. Dabei sei unerheblich, dass er bereits 2009 aus Handeln [bestanden]“ . Dies war wohl das – folgen- der NPD ausgetreten sei. Entscheidend sei, dass er lose – Ergebnis einer vom BVerfG von der zuständigen durch seine Kandidatur die Unterstützung der Partei Kommunalaufsichtsbehörde verlangten Aufklärung des 55 – zumindest auf kommunaler Ebene – kundgetan Vorfalls . Zwar hatte das BVerfG auch aufgefordert, habe. Daran ändere auch seine Versicherung nichts, notwendige aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergrei- er habe es nie für realistisch gehalten, tatsächlich ein fen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrich- Mandat erringen zu können, da dies nach dem hessi- ten. Der als Aufsichtsbehörde zuständige Regierungs- schen Kommunalwahlrecht, das die Möglichkeit der präsident Gießen beließ es indes bei einer persönli- Kumulation nach § 18 Abs. 1 KWG Hess kenne, nie chen Erörterung mit dem Oberbürgermeister der Stadt ausgeschlossen sei. Zuletzt sei er außerstande, die Wetzlar. Als deren Ergebnis gehe das Regierungsprä- gesetzliche Regelvermutung zu widerlegen. Diesel- sidium Gießen davon aus, dass richterliche und ben Gründe würden auch die sprengstoffrechtlichen höchstrichterliche Entscheidungen respektiert und um- Erwägungen der Behörde tragen. gesetzt werden. Die Stadt Wetzlar habe den Beschluss des BVerfG nicht willentlich missachtet, sondern die Die NPD wollte im thüringischen Leinefelde den so- handelnden Personen hätten sich vielmehr in einem genannten „Eichsfeldtag“ begehen und meldete des- (erstaunlicherweise aus Sicht der Aufsichtsbehörde wegen bei der zuständigen Behörde eine öffentliche entlastenden) Dilemma befunden56. Demnach sahen Versammlung an. Der Kreisausschuss des Landkrei- diese sich augenscheinlich in einer Zwangslage, in der ses Göttingen beschloss daraufhin, im Falle des sie zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder Stattfindens der Versammlung eine Pressemitteilung unangenehmen Dingen wählen sollen oder müssen57: zu veröffentlichen, in welcher der Landkreis die Ein- wohner zum Protest gegen die Versammlung aufruft. 52 51 BVerfG, Beschluss vom 24.03.2018 – 1 BvQ 18/18, in: Der dagegen beim VG Göttingen eingereichte An- NVwZ 2018, 819; vorhergehend Hess. VGH, Beschluss vom trag nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO hatte Erfolg: Die 23.02.2018 – 8 B 23/18, und VG Gießen, Beschluss vom NPD konnte glaubhaft machen, dass der Kreis mit 20.12.2017 – 8 L 9187/17.GI, online veröffentlicht bei juris. der Stellungnahme rechtswidrig gehandelt habe und 53 Ausführlich dazu bereits A. Bäcker, Damit ist kein Staat zu eine sofortige Gerichtsentscheidung notwendig sei. machen: Von Verfassungsfeinden und einem weiteren Pro- Die Rechtswidrigkeit ergebe sich, so das VG, aus blem mit der Verfassungstreue, in: MIP 2018, S. 112-113. 54 dem fehlenden allgemeinpolitischen Mandat des BVerfG, Pressemitteilung Nr. 26/2018 vom 20. April 2018, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemit Kreisausschusses. Allein die räumliche Nähe zur teilungen/DE/2018/bvg18-026.html (abgerufen am 14.02.2019). Versammlung löse die Zuständigkeit im Rahmen der 55 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 16/2018 vom 26. März 2018, kommunalen Selbstverwaltung nicht aus. Daneben http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemit ließe sich auch ein Verstoß gegen des Neutralitätsge- teilungen/DE/2018/bvg18-016.html (abgerufen am 14.02.2019). bot feststellen. Der Kreisausschuss habe unter Rück- 56 Das Regierungspräsidium hat seine Stellungnahme nicht all- griff auf amtliche Ressourcen und Autorität in den gemein zugänglich gemacht, jedoch Medienorganen auf Anfrage Parteienwettbewerb eingegriffen und die Chancen- zur Verfügung gestellt, s. W. Hecker, Verweigerung der Stadt- hallennutzung gegenüber der NPD, in: NVwZ 2018, 787 (791, gleichheit der NPD verletzt. Dieses Recht gelte auch Fn. 46). Eine Sachverhaltswiedergabe erfolgt auf Grundlage der nach dem NPD-Urteil des BVerfG vom 17.01.2017 Berichterstattung, etwa Tanja Podolski, Regierungspräsident weiter für die Partei. Gießen zum Eklat um Stadthalle Wetzlar: Es war eben ein Di- lemma, in: Legal Tribune Online, 13.04.2018, https://www. Sven Jürgensen lto.de/persistent/a_id/28069/ (abgerufen am 14.02.2019). 57 So die Erläuterung des Begriffs „Dilemma“ bei Duden, Deut- 51 VG Göttingen, Beschluss vom 29.08.2018 – 1 B 462/18, on- sches Universalwörterbuch, Das umfassende Bedeutungswör- line veröffentlicht bei juris. terbuch der deutschen Gegenwartssprache, 8. Aufl. 2015.

147 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. entweder den rechtlich bindenden Beschluss des Skepsis an einer tatsächlich bestehenden Einsicht bei BVerfG befolgen oder aber diesen ob ihrer „Sorge der Stadt Wetzlar und einer angemessenen Bewertung um den Schutz der Besucher während der NPD-Ver- der Vorgänge durch die Aufsichtsbehörde ist sicher anstaltung mit Blick auf den fehlenden Nachweis ei- berechtigt63, ebenso wie die Anmahnung einer verbes- ner Haftpflichtversicherung und eines ausreichenden serten Kontrolle und gegebenenfalls aufsichtsbehörd- Sanitätsdienstes“ ignorieren. Jedoch hatten diese Be- lichen Steuerung des Verwaltungshandelns. Zwar er- denken schon in den verwaltungsgerichtlichen Ver- laubt auch das gesetzliche Vollstreckungsinstrumenta- fahren und auch vor dem BVerfG nicht ausgereicht, rium den Gerichten neben dem Zwangsgeld nach § 172 um der NPD rechtmäßig den Zugang zur Stadthalle zu VwGO den Einsatz auch anderer Zwangsmittel nach verweigern58. Das (vermeintliche) Dilemma bestand § 167 VwGO in Verbindung mit der Zivilprozessord- also (genau genommen) darin, sich entweder rechts- nung64, insbesondere etwa „die Ersetzung der behörd- konform oder rechtswidrig zu verhalten. Rechtsstaat- lichen Zustimmung zur Saalvermietung oder die Be- lich betrachtet bestand folglich gar keine Wahl59. Es sitzeinweisung durch den Gerichtsvollzieher“, worauf muss daher überraschen, dass die Aufsichtsbehörde das BVerfG schon im Jahre 1999 in einem – wenn vor diesem Hintergrund nicht wenigstens von der auch damals erfolglosen – Verfassungsbeschwerde- Möglichkeit der Beanstandung der Rechtsverletzung verfahren der Republikaner hinwies65. Wann und un- durch die Stadt Wetzlar gemäß § 138 HGO Gebrauch ter welchen Voraussetzungen tatsächlich und recht- gemacht hat60. Gewiss: Die Anwendung aufsichts- lich der Einsatz eines anderen Zwangsmittels als das rechtlicher Maßnahmen ist eine Ermessensentschei- des Zwangsgeldes konkret in Betracht kommt, ist dung, bei der auch „situationsbedingte“ und zeitliche aber keineswegs geklärt, weshalb aus Gründen der Pressionen, denen sich die Behörde(nvertreter) tat- Rechtssicherheit auch auf eine Präzisierung der ent- sächlich und/oder gefühlt ausgesetzt sahen, grund- sprechenden VwGO-Regelungen gedrungen wird66. sätzlich Berücksichtigung finden können. Nicht von Daneben auch die Kommunalaufsicht stärker in die der Hand zu weisen ist aber, dass in diesem konkre- Pflicht zu nehmen, um im Einzelfall rechtsstaatswid- ten Fall das denkbare Entscheidungsspektrum un- rigem Fehlverhalten rechtzeitig und wirksam entge- zweifelhaft und eindeutig verengt war auf nur eine genzutreten, drängt sich auf. Weil im Fall Wetzlar Handlungsoption: nämlich auf das rechtlich Zulässige. das Regierungspräsidium aber „im schlechtesten Ein gewisses Maß an Befremden löst daher auch der Sinne ‚verständnisvoll‘ agiert“67 hat, kann es damit Umgang der Aufsichtsbehörde mit dem Fall Wetzlar wohl leider nicht sein Bewenden haben. Ein hellhö- aus61. Zu Recht ließ das BVerfG daher die Sache riger und vorausschauender Gesetzgeber sollte der nicht mit der Übersendung des angeforderten Be- merklich nachlassenden Bereitschaft von Behörden richtes durch das Regierungspräsidium erledigt sein, und Amtsträgern zur Befolgung gerichtlicher Urteile sondern fügte der Mitteilung darüber in einer Press- durch erleichterte Vollstreckungsmöglichkeiten ent- erklärung noch hinzu: „Um künftigen Überforderun- gegentreten. Von Nachteil ist dies nur, wenn gen von Kommunen in derartigen Situationen vorzu- Zwangsmittel tatsächlich verhängt werden müssen. beugen, hat der Vorsitzende des Ersten Senats, Herr Dies zu vermeiden, liegt in der Hand der Behörden. Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, in einem Um die Überlassung von Stadthallen an politische Schreiben an den Regierungspräsidenten angeregt, Parteien wird seit Jahrzehnten gestritten. Schon 1969 von Seiten der Kommunalaufsicht sicherzustellen, wurde beklagt, dass die Zahl der dazu ergangenen dass gerichtliche Entscheidungen künftig befolgt Gerichtsentscheidungen „inzwischen nahezu unüber- werden, etwa durch Anzeigepflichten bei Ablehnung einer Hallenvergabe oder synchrones Monitoring“62. 62 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 26/2018 vom 20. April 2018, Die darin zum Ausdruck kommende unterschwellige https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Presse mitteilungen/DE/2018/bvg18-026.html (abgerufen am 14.02.2019). 63 58 Tanja Podolski, Regierungspräsident Gießen zum Eklat um So auch S. Augsberg, Grenzen und Gefahren kommunaler Ex- Stadthalle Wetzlar: Es war eben ein Dilemma, in: Legal Tribune tremismusbekämpfung, in: DRiZ 2018, 254 (257). Online, 13.04.2018, https://www.lto.de/persistent/a_id/28069/ 64 Jüngst ausführlich zur Problematik J. Kring, Die Zwangsvoll- (abgerufen am 14.02.2019). streckung von Gerichtsurteilen gegenüber der öffentlichen Hand 59 Von einer nicht nachvollziehbaren Entlastung aufgrund eines – Zwangshaft für Behördenleiter?, in: NVwZ 2019, 23 ff. „angeblichen Dilemmas, das auf der Rechtsebene nicht be- 65 BVerfG, Beschluss vom 09.08.1999 – 1 BvR 2245/98, in: stand“ spricht auch W. Hecker, Verweigerung der Stadthallen- NVwZ 1999, 1330 (1331). nutzung gegenüber der NPD, in: NVwZ 2018, 787 (791). 66 S. etwa W. Hecker, Verweigerung der Stadthallennutzung ge- 60 Ebd. genüber der NPD, in: NVwZ 2018, 787 (790 f.). 61 In diesem Sinne auch A. Heusch/F. Dickten, Neue Rechtspre- 67 So äußerst treffend S. Augsberg, Grenzen und Gefahren kom- chung zum Kommunalrecht, in: NVwZ 2018, 1353 (1358). munaler Extremismusbekämpfung, in: DRiZ 2018, 254 (257).

148 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung sehbar geworden“ sei68. Schon damals lag der Ver- Stadt betriebenen öffentlichen Einrichtung auszuge- dacht nahe, dass der Streit um den Zugangsanspruch hen ist, welche Reichweite das parteienrechtliche – zwar nicht nur, aber auch – als Mittel zum Zweck Gleichbehandlungsgebot hat und wie der Kreis der der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert Anspruchsberechtigten gleichwohl durch eine Be- wird69. Dass dieses Resümee auch 50 Jahre später schränkung des Widmungszwecks der öffentlichen noch zu ziehen ist, muss zumindest als unbefriedigend Einrichtung geschmälert werden kann. Danach be- bezeichnet werden. Bedurften damals immerhin noch stand kein vernünftiger Zweifel an der Einordnung zahlreiche rechtliche Einzelfragen näherer Klärung, der Stadtteilkulturzentren als öffentliche Einrichtung, kann die Rechtslage heute als jedenfalls weitgehend für die ein gegenüber den Behörden durchsetzbarer geklärt betrachtet werden. Gleichwohl spiegelt sich Zugangsanspruch besteht. Zwar werden die Veran- die in jahrzehntelanger rechtswissenschaftlicher und staltungsräumlichkeiten in privatrechtlicher Form judikativer Durchdringung der Rechtsmaterie ge- betrieben, die Stadt München kann aufgrund ihrer wonnene Rechtssicherheit nicht in einer Verringe- vertraglich begründeten Rechtsposition jedoch nach rung gerichtlicher Fallzahlen70. Sowohl behördli- wie vor maßgebenden Einfluss auf den Betrieb der cherseits als auch seitens der politischen Parteien Stadtteilkulturzentren ausüben und „muss dafür dem- werden anscheinend die Gerichte (mitunter nur des- zufolge auch gegenüber Dritten rechtlich einstehen“72. halb) bemüht, um sich öffentlichkeitswirksam im po- Auch die Geltung des Chancengleichheitsgrundsatzes litischen Meinungskampf in einer Art „Opferrolle“ zu bei der Entscheidung über die Überlassung der inszenieren, sei es nach dem Motto „seht her, die Ge- Räumlichkeiten an die AfD stand daher selbstver- richte zwingen uns dazu“ oder „seht her, so wollen sie ständlich nicht in Frage, ebenso wenig, dass er sei- uns unterdrücken“. Beides instrumentalisiert die Ge- ner Reichweite nach grundsätzlich die Gleichbe- richte ungeniert für eigene Zwecke im politischen handlung aller an der Nutzung interessierten politi- Meinungskampf, aber ersteres missachtet zudem schen Parteien, unabhängig von deren „Bedeutung“, rechtsstaatliche Gewährleistungen, insbesondere die verlangt73. Es besteht auch (ebenfalls höchstrichter- Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz. lich geklärt74) die Möglichkeit, den Zugang über eine Widmungsbeschränkung zu begrenzen und Veran- Ein wenig so war es wohl auch in dem vom VGH staltungsräume nur für bestimmte, nach objektiven München71 zu entscheidenden Fall, in dem die Stadt Kriterien abgrenzbare Arten von Parteiveranstaltun- München AfD-Kreisverbänden den Zugang zu Stadt- gen zur Verfügung zu stellen, sofern dafür „insge- teilkulturzentren nicht ermöglicht hatte. Rechtlich samt ein klares, am Gleichbehandlungsgrundsatz ging es um die in gefestigter Rechtsprechung bereits ausgerichtetes Konzept“75 gewählt wird. Diese Vor- sattsam zur Entscheidung gebrachten Fragen, wann aussetzung erfüllten sowohl die Betriebsvereinbarung tatbestandlich von einer unter Verantwortung der mit dem privaten Betreiber als auch die (insoweit 68 So schon E. Pappermann, Prozessuale Fragen im Rechtsstreit wortgleichen) Nutzungsverträge und schlossen so politischer Parteien auf Überlassung gemeindlicher Räume, wirksam in den letzten drei Monaten vor einer Wahl in: JZ 1969, 485 (485). generell Veranstaltungen aller politischen Gruppen 69 Ebd.: „Die Tatsache einer derartigen Vielzahl von Prozessen ist mit wahlwerbendem Charakter aus. Jedoch: die vor allem dadurch zu erklären, daß Gemeindevertretung und streitgegenständlichen Zugangsbegehren der AfD- -verwaltung vom politischen Kräftespiel beherrscht werden.“ Kreisverbände waren zeitlich nicht von dieser Sperr- 70 Vgl. etwa B. Köster, Zugang der politischen Parteien zu öf- wirkung erfasst und wurden dennoch abgelehnt. Im fentlichen Einrichtungen der Kommunen, in: KommJur 2007, 244 (244); M.W. Fügemann, Der Anspruch auf Zulassung zur 72 VGH München, Beschluss vom 03.07.2018 – 4 CE 18.1224, Benutzung öffentlicher Einrichtungen – Entscheidungs- und in: KommJur 2018, 289 (290). Gestaltungsspielräume der Gemeinden, in: SächsVBl. 2005, 73 57 (57); auch schon U.M. Gassner, Grenzen des Zulassungs- VGH München, Beschluss vom 03.07.2018 – 4 CE 18.1224, anspruchs politischer Parteien zu kommunalen öffentlichen in: KommJur 2018, 289 (291); s. auch statt Vieler J. Ipsen, in: Einrichtungen, in: VerwArch 1994, 533 (534); von einem ders., ParteienG, 2. Aufl. 2018, § 5 Rn. 31; S. Augsberg, in: Problem lediglich bei der Befolgung des Rechts ausgehend Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz (PartG) und europäi- sogar schon W. Henke, Bestand und Wandel im Recht der po- sches Parteienrecht, 2009, § 5 Rn. 93. litischen Parteien, DVBl 1979, 369 (375): „Die Vergabe von 74 Das BVerfG (Beschluss vom 07.03.2007 – 2 BvR 447/07, on- kommunalen Veranstaltungsräumen, die zunächst mehrfach line veröffentlicht bei juris) hat die gegen ein solches Diffe- zu Streit und Gerichtsurteilen führte, scheint allenfalls noch renzierungskriterium erhobene Verfassungsbeschwerde nicht problematisch zu sein, wenn Stadtverwaltungen sich weigern, einmal zur Entscheidung angenommen: es trägt „den Anfor- einer verfassungsfeindlichen Partei einen Raum zur Verfü- derungen an das Gebot der Chancengleichheit der Parteien of- gung zu stellen.“ fensichtlich Rechnung“. 71 VGH München, Beschluss vom 03.07.2018 – 4 CE 18.1224, 75 VGH München, Beschluss vom 03.07.2018 – 4 CE 18.1224, in: KommJur 2018, 289 ff. in: KommJur 2018, 289 (291).

149 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Kern berief sich die Stadt München darauf, dass die der Entscheidung, den Rechtsstreit gleichwohl sogar Nutzung der Stadtteilkulturzentren nach der Vergabe- über zwei Instanzen zu führen, standen womöglich praxis auch außerhalb des festgelegten Zeitraumes andere als rechtliche Gründe im Vordergrund. allein den im Gemeinderat vertretenen Parteien und Zu Recht lehnte das VG Darmstadt80 den Eilantrag Gruppierungen vorbehalten sei. Das erstaunt: „Selbst eines AfD-Kreisverbandes auf Überlassung einer wenn es sich bei dieser Vergabepraxis um eine [...] Mehrzweckhalle in Groß-Umstadt jedoch ab. Origi- zumindest konkludent gebilligte, die vertraglichen näre Nutzungsansprüche aus dem Kommunalrecht Abmachungen modifizierende Widmungsbeschrän- sind regelmäßig und auch nach § 20 der einschlägigen kung handeln würde, wäre diese jedenfalls wegen ei- hessischen Gemeindeordnung ausschließlich den Ein- nes Verstoßes gegen zwingende gesetzliche Vorgaben wohnern der Gemeinden und ortsansässigen Perso- rechtlich unwirksam“76. Dass die Vertretung im Ge- nenvereinigungen vorbehalten. Auch die Zweckwid- meinderat, mithin die „Bedeutung der Partei“, hier mung der Mehrzweckhalle in der „Haus- und Benut- kein zulässiges Differenzierungskriterium bei der zungsordnung für die städtischen Hallen und Säle“ Entscheidung über das Zugangsbegehren sein kann, der Stadt Groß-Umstadt beschränkte in Übereinstim- entspricht nicht nur bereits seit langem gefestigter mung mit der gesetzlichen Regelung den Zulassungs- Rechtsprechung77, sondern hatte auch bereits das anspruch auf Ortsansässige. Da der AfD-Kreisver- vorgehend in der Sache befasste VG München78 den band jedoch weder seinen Sitz im Gebiet der Stadt Streitbeteiligten ausführlich erläutert: Es würde näm- Groß-Umstadt, noch einen entsprechenden Ortsver- lich „einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chan- band gegründet hatte, erfüllte er diese Anspruchs- cengleichheit i.S.v. Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. voraussetzungen nicht. Die zu keiner Zeit glaubhaft Art. 3 GG i.V.m. § 5 Abs. 1 PartG darstellen. Zwar gemachte, vage Behauptung, an dem vorgesehenen lässt § 5 Abs. 1 Satz 2 PartG grundsätzlich eine Ab- Themenabend könne auch die Möglichkeit der Grün- stufung nach der Bedeutung der Parteien zu. Eine dung eines Ortsverbandes Groß-Umstadt erörtert wer- Vergabepraxis nach dem Vertretensein im Stadtrat den, reicht nicht, um daraus einen Anspruch einer „in würde jedoch eine unzulässige Abstufung i.S.v. § 5 Gründung befindlichen“, nach Gründung dann ortsan- Abs. 1 Satz 2 PartG darstellen [...]. Denn hierdurch sässigen Partei ableiten zu können. Können originäre würde die Zulassung der Parteien nicht nach deren Nutzungsansprüche daher nicht geltend gemacht Bedeutung graduell abgestuft. Vielmehr würden nicht werden, bleibt allenfalls ein derivativer Leistungsan- im Stadtrat vertretene Parteien grundsätzlich von der spruch aus § 5 PartG, der auf eine Gleichbehandlung Nutzung ausgeschlossen. Dies verstößt jedoch gegen der politischen Parteien bei tatsächlich gewährten Art. 21 GO, wonach alle Gemeindeangehörigen und Leistungen gerichtet ist. Vorausgesetzt ist danach über Art. 21 Abs. 4 GO alle örtlich ansässigen juristi- eine entsprechende Verwaltungspraxis der Stadt schen Personen und Personenvereinigungen ein Recht Groß-Umstadt, der zufolge die Mehrzweckhalle auch auf Zugang zu den öffentlichen Einrichtungen der Ge- für überörtliche Parteiveranstaltungen überlassen meinde haben, unabhängig, ob dies von der Gemeinde worden wäre. Daran fehlte es indes ebenfalls. Bei ih- erwünscht ist oder nicht.“79 Aus der letzten Bemer- rer Ablehnungsentscheidung hatte die Stadt Groß- kung des VG München lässt sich leichter Tadel her- Umstadt daher das Recht auf ihrer Seite. Umso auslesen, zu Recht. Der Verdacht liegt nahe, dass die bedauerlicher ist es, dass gleichwohl auch in diesem Behördenvertreter sich der – relativ eindeutigen – Fall in der öffentlichen Auseinandersetzung die Un- Rechtslage bewusst waren. Zumindest aber hätten erwünschtheit von AfD-Veranstaltungen tonange- sie sich ihrer bewusst sein müssen. Allem Anschein bend war. So haben die Verantwortlichen der Stadt nach hat es jedenfalls nicht grundsätzlich an juristi- Groß-Umstadt der AfD unnötig Anlass gegeben, sich schem Spezialwissen in diesem Rechtsgebiet geman- öffentlich als „ungerecht behandelt“ zu gerieren, in- gelt, da bei der Ausgestaltung des den Betrieb der dem die Versagung der Hallennutzung über das Einrichtung regelnden Nutzungskonzepts im Übrigen rechtlich Unproblematische hinaus angereichert wur- recht kenntnisreich zu Werke gegangen wurde. Bei de um weit weniger tragfähige Ablehnungsgründe81. Wenn etwa darauf verwiesen wurde, dass aus aktuel- 76 Ebd. 77 Vgl. nur W. Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK 80 VG Darmstadt, Beschluss vom 21.09.2018 – 3 L 2011/18.DA, Grundgesetz, 39. Ed., Stand 15.11.2018, Art. 21 Rn. 138. online veröffentlicht bei juris. 78 VG München, Beschluss vom 24.05.2018 – M 7 E 18.2240, 81 So zu entnehmen der Presseberichterstattung, s. T. Bach, AfD online veröffentlicht bei juris. will sich in Halle klagen, https://www.echo-online.de/lo 79 VG München, Beschluss vom 24.05.2018 – M 7 E 18.2240, kales/darmstadt-dieburg/gross-umstadt/afd-will-sich-in-halle- juris Rn. 45. klagen_19071638 (abgerufen am 25.02.2019).

150 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung len Anlässen erhebliches Konfliktpotenzial im Falle barkeit der Einrichtung konnte „nicht allein dadurch AfD und deshalb Sicherheitsbedenken bestünden, so in Zweifel gezogen [werden], dass ein entsprechender ist dies geeignet, eine Nutzungserlaubnis nur unter Vermerk im aktuellen Belegplan 2018 fehlt. Denn zu- Bedingungen oder Auflagen zu erteilen, eine Nutzungs- mindest ergibt sich aus dem Plan auch, dass in diesem versagung rechtfertigt dies regelmäßig nicht. Gleich- Zeitraum tatsächlich keine weiteren Veranstaltungen wohl beharrte der Bürgermeister der Stadt in einem durchgeführt werden“86. Darüber hinaus wurde unter Presseinterview darauf, dass Sicherheitsbedenken ohne Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft Weiteres zur Ablehnung eines Nutzungsbegehrens gemacht, dass bereits vor der Ablehnung des Zu- führen könnten, dies stünde auch in der Nutzungssat- gangsbegehrens der AfD gegenüber einem anderen zung und es gebe keinen Rechtsanspruch, die Halle Veranstalter die Buchung des Großen Saals zum zu bekommen82. Bei der Ausübung der Amtsgeschäfte, streitgegenständlichen Termin abgelehnt worden war87. wenn es im Kern um die Ausübung hoheitlicher Be- Gegen eine gezielte politische Benachteiligung der fugnisse wie etwa durch Gewährung oder Verweige- AfD sprach zudem, dass – unbestritten – bereits im rung staatlicher Leistungen geht, wäre die Rückkehr Verwaltungsverfahren mit der lokalen AfD über wei- zu einem dem Neutralitätsgrundsatz gerecht werden- tere Veranstaltungen verhandelt worden war und ihr den Umgang mit Parteien nicht nur wünschenswert, im Gerichtsverfahren für die streitgegenständliche Ver- sondern dringend anzuraten. Selbstverständlich bleibt anstaltung die Überlassung alternativer Säle in der be- es den gerade wegen ihrer politischen Couleur ge- troffenen Einrichtung angeboten wurde88. Auch für wählten Amtsträgern – insbesondere auch Bürger- die seitens der AfD – ganz offensichtlich aufs Gerate- meistern – unbenommen, am politischen Meinungs- wohl – behaupteten künstlichen Verlängerung der er- kampf teilzunehmen, mögen auch die Grenzen des forderlichen Arbeiten aus politischen Gründen sah das rechtlich Zulässigen noch nicht in Gänze geklärt sein83. VG Köln – zu Recht bei einem Zeitraum von 14 Ta- Unzweifelhaft müssen aber bei der unmittelbaren gen für Renovierungs- und Wartungsarbeiten – kei- Amtsführung, bei der Rechtsanwendung, rechtliche, nerlei Anhaltspunkte89. Auch wenn hier im Ergebnis nicht politische Maßstäbe Geltung beanspruchen. keine rechtswidrige Nutzungsversagung vorlag, bleibt Der politischen Konkurrenz ist dabei selbstverständ- gleichwohl festzustellen, dass schon im Vorhinein lich nichts zu gewähren, was ihr rechtlich nicht zu- entsprechenden Vorwürfen im Interesse einer immer- steht, mag sie es auch noch so lautstark einfordern. hin möglichen Vermeidung überflüssiger gerichtlicher Die Frage aber, was ihr rechtlich zusteht, ist jeden- Auseinandersetzung hätte vorgebeugt werden kön- falls vorbehaltlos politisch neutral zu beantworten. nen, wenn die Nichtverfügbarkeit des Saales im Ver- Dies gilt es auch in der öffentlichen Darstellung zu anstaltungsplan transparent gemacht worden wäre. vermitteln, soll Vertrauen in den Rechtsstaat gestif- Auch Sparkassen gewähren mit der Einräumung von tet und erhalten werden. Girokonten öffentliche Leistungen i.S.d. § 5 Abs. 1 Auch vor dem VG Köln84 ist die AfD mit einem gel- S. 1 PartG. Daher liegt in der Ablehnung der Eröff- tend gemachten Anspruch auf Zugang zu einer öffent- nung eines Girokontos für eine politische Partei eine lichen Einrichtung gescheitert. In diesem Fall stand unzulässige Ungleichbehandlung, wenn die Sparkasse dem Überlassungsanspruch fehlende Kapazität ent- für mindestens eine andere politische Partei ein Giro- gegen, da die betreffende Einrichtung wegen War- konto führt. Dies entspricht absolut gefestigter tungs- und Renovierungsarbeiten für Veranstaltungen Rechtsprechung90. Nun hat auch das BVerwG91 zwei mit Publikumsverkehr allgemein nicht zur Verfü- dazu bereits ergangene Parallelentscheidungen des gung stand. Nach bewährter Manier machte die AfD OVG Berlin-Brandenburg92 bestätigt und damit letzt- auch in diesem Verfahren geltend, der Zugang zu Veranstaltungsräumen würde ihr „generell und unter 86 Ebd., Rn. 23. absolut fadenscheinigen Argumenten“ verweigert85. 87 Ebd., Rn. 24. Der damit erhobene Vorwurf des Rechtsmissbrauchs 88 Ebd., Rn. 26. war seinerseits allerdings mehr als fadenscheinig, wie 89 Ebd., Rn. 28. das VG Köln ausführlich nachwies: Die Nichtverfüg- 90 Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 11.07.2014 – 2 BvR 1006/14, juris Rn. 12. 82 Ebd. 91 BVerwG, Urteile vom 28.11.2018 – 6 C 2.17 und 6 C 3.17, 83 Näher dazu S. Jürgensen, Parteienrecht im Spiegel der Recht- beide online veröffentlicht bei juris. sprechung: Grundlagen, in: MIP 2019, 140 ff. 92 OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 13.10.2016 – OVG 3 84 VG Köln, Beschluss vom 15.08.2018 – 14 L 1741/18, online ver- B 10.15, online veröffentlicht bei juris (vorgehend VG Berlin, öffentlicht bei juris. Urteil vom 23.03.2015 – 2 K 83.14); OVG Berlin-Branden- 85 VG Köln, Beschluss vom 15.08.2018 – 14 L 1741/18, juris Rn. 25. burg, Urteil vom 13.10.2016 – OVG 3 B 3.16, nicht veröf-

151 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. instanzlich die Landesbank Berlin als Trägerin der die Satzung bestimmt, die bei Fehlen einer ausdrück- Berliner Sparkasse verpflichtet, Girokonten zu den lichen Regelung unter Berücksichtigung der tatsäch- üblichen Konditionen und ohne zeitliche Begrenzung lichen Verhältnisse zu würdigen ist [...]. Die wirksa- für die NPD-Kreisverbände Charlottenburg-Wilmers- me Gründung eines Gebietsverbands einer politi- dorf und Tempelhof-Schöneberg zu eröffnen. Die schen Partei in der Rechtsform des nicht rechtsfähi- Landesbank Berlin versuchte sich der Pflicht zur gen Vereins richtet sich zunächst nach den im bür- Kontoeröffnung durch – taktvoll formuliert – „krea- gerlichen Vereinsrecht geforderten Voraussetzungen tive“ Rechtsdeutung zu entziehen, und dies über drei [...]. Erforderlich sind eine (formlose) Einigung der Instanzen, in denen sie durchweg unterlag. So sprach Gründer, den Verein zu errichten, sowie die Bestel- sie den zwei NPD-Kreisverbänden ihre rechtliche lung eines ersten Vorstands [...], während eine eige- Existenz und damit auch die Beteiligtenfähigkeit im ne Satzung des Gebietsverbands nicht zwingend vor- Verwaltungsprozess ab, weil diese wegen Verstoßes liegen muss [...]. Darüber hinaus ist aus parteien- gegen innerparteiliches Satzungsrecht vermeintlich rechtlicher Sicht für die wirksame Gründung Vor- nicht wirksam gegründet worden seien. Darüber hin- aussetzung, dass der Gebietsverband von dem zu- aus sei ein Anspruch auf Eröffnung eines Girokontos ständigen übergeordneten Gebietsverband anerkannt wegen der vom Bundesverfassungsgericht festge- wird, sodass die Integration des gegründeten Ge- stellten Verfassungsfeindlichkeit der NPD ausge- bietsverbands in die innere Organisationsstruktur der schlossen oder aber zumindest wegen der bei der Be- Partei gewährleistet ist [...]. Aufgrund der in Art. 21 gründung einer Geschäftsbeziehung von der Landes- Abs. 1 GG geschützten Parteienautonomie sowie des bank Berlin zu erfüllenden Sorgfaltspflichten, weil in Art. 21 Abs. 2 GG verankerten Parteienprivilegs die Gründungsdokumente der NPD-Kreisverbände hängt die Annahme der wirksamen Gründung des nicht deren nach dem Geldwäschegesetz erforderli- Gebietsverbandes einer politischen Partei nicht che Identifizierung ermöglichten. Wie schon beide davon ab, ob bei der Einigung der Mitglieder und Vorinstanzen hat auch das BVerwG diesem Geba- der Vorstandswahl gegen Satzungsbestimmungen ren, der Vorstellung von einem Sparkassenangestell- oder höherrangiges Recht verstoßen worden ist. Wie ten von nebenan als selbsternanntem Hüter der Ver- auch im Vereinsrecht können sich Dritte, die im fassung93, einen Riegel vorgeschoben. Auf Fragen Rechtsverkehr mit dem Gebietsverband in Kontakt etwaiger parteiinterner Anfechtbarkeit von Beschlüs- treten, auf derartige Verstöße nicht berufen. [...] sen und Wahlen kommt es nicht an: für Parteien gilt Eine unbeschränkte Kontrolle wäre ebenso wie ein hier nichts anderes als für andere Vereine: „Politi- Anerkennungs- oder Registrierungsverfahren, in sche Parteien und ihre Gebietsverbände, deren Grün- dem die Parteieigenschaft verbindlich zuerkannt dungs- und Betätigungsfreiheit Art. 21 Abs. 1 GG si- oder festgestellt würde, mit der Gründungs- und Be- chert, sind frei aus dem Volk heraus gebildete, frei tätigungsfreiheit unvereinbar [...]. Aus diesem Grun- miteinander konkurrierende und aus eigener Kraft de sind auch [selbst!] die Prüfungsbefugnisse des wirkende Gruppen von Bürgern, die sich außerhalb Präsidenten des Deutschen Bundestages bei der der organisierten Staatlichkeit zusammengeschlos- Kontrolle der Rechenschaftsberichte der Parteien sen haben, um mit eigenen Zielvorstellungen und und ihrer Gebietsverbände wie auch der Wahlleiter Programmen auf die politische Willensbildung Ein- bei der Erfüllung ihrer Aufgaben eingeschränkt. [...] fluss zu nehmen [...]. Sie sind keine Staatsorgane, Im Ergebnis gelten damit für die Geltendmachung sondern Vereinigungen im gesellschaftlichen Be- von parteiinternen Verstößen gegen Satzungsrecht reich. Es kommen für sie die Rechtsformen des Pri- und von Verstößen des Satzungsrechts gegen höher- vatrechts und innerhalb derer diejenigen des einge- rangige Vorschriften bei der Gründung einer politi- tragenen (rechtsfähigen) und des nicht rechtsfähigen schen Partei oder eines Gebietsverbandes durch Vereins in Betracht [...]. Die Rechtsform der politi- Dritte keine anderen Maßstäbe als im bürgerlichen schen Partei und ihrer Gebietsverbände wird durch Vereinsrecht. Auch dort führen Gründungsmängel nicht zur rückwirkenden Nichtigkeit des Gründungs- fentlicht (vorgehend VG Berlin, Urteil vom 15.12.2015 – 2 K vorgangs, wenn ein Verein [...] seine Tätigkeit nach 141.14); dazu A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Recht- außen aufgenommen hat. Gründungsmängel sowie sprechung: Chancengleichheit, in: MIP 2017, 152 (156 f.). eine sich daraus ergebende Nichtigkeit der Grün- 93 So die sehr treffende Formulierung von S. Jürgensen, Das dung kann jedes Vereinsmitglied und jedes Organ Parteiverbot ist tot, es lebe der Entzug staatlicher Parteienfi- nanzierung?, Verfassungsblog vom 30.05.2017, https://verfas des Vereins mit Wirkung für die Zukunft geltend sungsblog.de/das-parteiverbot-ist-tot-es-lebe-der-entzug-staat machen, während außerhalb des Vereins stehenden licher-parteienfinanzierung/, DOI: https://dx.doi.org/10.17176 Dritten zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten /20170530-171523 (abgerufen am 27.02.2019).

152 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung im Rechtsverkehr diese Befugnis abgesprochen wird teienfinanzierung – in ihrer politischen Aktivität von [...]“94. Die nach diesen Maßstäben zu prüfenden jeder Behinderung frei sein, sodass sich die Verwal- Gründungsvoraussetzungen erfüllten die NPD-Kreis- tung nicht hierauf berufen kann.“97 Dass keiner der verbände fraglos. Die Kontoeröffnung mit der Be- eingeschlagenen Argumentationswege zum ge- hauptung weitergehender Prüfungsbefugnisse hin- wünschten Ziel führen würde, konnte nicht überra- sichtlich etwaiger innerparteilicher Satzungsverstöße schen. Dass gleichwohl der Rechtsstreit über mehr zu verweigern, erweckt angesichts der Eindeutigkeit als vier Jahre und über drei Instanzen geführt wurde, der Rechtslage schon den Anschein eines bewussten lässt sich wohl nur mit dem Wunsch erklären, das Rechtsverstoßes, insbesondere eingedenk der Tatsa- Unvermeidliche hinauszuzögern, sprich: jedenfalls che, dass die rechtlichen Voraussetzungen der Ein- so lange wie möglich kein Konto für die NPD-Kreis- richtung und Führung von Girokonten für Vereine verbände führen zu müssen. bei einer Sparkasse zum Geschäftsalltag gehören. Immer wieder geht es in gerichtlichen Auseinander- Selbstverständlich konnte die Kontoeröffnung auch setzungen auch um die Wahlwerbung im öffentlichen nicht mit einem vorgeschobenen Verstoß gegen be- Straßenraum. Sie gehört zu den etablierten Mitteln stehende Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschege- der politischen Parteien im Wahlkampf und bietet setz ausgeschlossen werden. Eine Identifizierung der regelmäßig Anlass, über die konkrete Zuteilung der unbestreitbar rechtlich existenten NPD-Kreisverbän- Wahlwerbeflächen zu streiten. So war es auch in ei- de und der für sie handelnden Personen war offen- nem Verfahren vor dem Hess. VGH98, der die vorge- sichtlich ohne weiteres möglich. Hinreichend geklärt hende Entscheidung des VG Frankfurt a.M.99 hin- ist zudem, dass ein Anspruch auf Gleichbehandlung sichtlich der (mit Blick auf eine Teilerledigterklärung nicht daran scheitert, dass eine Partei verfassungs- fehlerhaft getroffenen) Kostenentscheidung abänderte, widrige Ziele verfolgt. Nichts anderes gilt auch mit in der Sache jedoch, wenngleich mit anderer Be- Blick auf die Renaissance gegenteiliger Erwartungen gründung, zum selben Ergebnis fand. Zu Recht korri- der Exekutive nach dem Urteil des BVerfG im Ver- gierte der Hess. VGH die erstinstanzliche Entschei- botsverfahren gegen die NPD95 und der danach er- dung, wenn er – anders als das VG – die für die Zu- folgten Verfassungsänderung, wonach verfassungs- teilung der Wahlwerbeflächen maßgebliche Bedeu- feindliche Parteien durch das BVerfG (!) von der tung einer Partei im Sinne des § 5 Abs. 1 PartG auch staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen an den Ergebnissen von Wahlen zu anderen Landta- werden dürfen96. Nach wie vor gilt das in Art. 21 gen und zum Bundestag und nicht allein am Ergeb- Abs. 2 GG verankerte Parteienprivileg, wonach kein nis der letzten Wahl im betroffenen Bundesland be- Träger hoheitlicher Gewalt die politische Betätigung messen will. Dem von der AfD im Eilverfahren ge- einer Partei oder ihrer Gebietsverbände – auch der stellten Antrag auf Zuteilung je einer Plakatfläche NPD – in Anknüpfung an ihre verfassungswidrige zur Wahlwerbung für die hessische Landtagswahl Zielsetzung beeinträchtigen darf. „Eine verfassungs- auf sämtlichen in dem Stadtgebiet von Hanau aufge- feindliche Partei darf zwar politisch bekämpft wer- stellten Wahlplakattafeln konnte dies gleichwohl nicht den, aber auch sie soll – abgesehen von dem nun- zum Erfolg verhelfen. Konkret sah sich die AfD nach mehr möglichen Ausschluss von der staatlichen Par- der neuesten Wahlumfrage, die ihr einen Stimmen- 94 BVerwG, Urteil vom 28.11.2018 – 6 C 2.17, juris Rn. 15-29, anteil von 13 % prognostizierte, im Vergleich zu mit reichlich Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. FDP (6 %) und Die Linke (8 %) benachteiligt, denen 95 BVerfGE 144, 20 ff. ursprünglich jeweils die gleiche Anzahl an Plakat- 96 Unmittelbar nach dem NPD-Urteil des BVerfG und der Ver- werbeflächen zugeteilt worden war. Jedoch wurden fassungsänderung erlagen bereits Andere der Versuchung, der AfD nach Einreichen des Eilantrages bei Gericht Rechtsfolgen an die Verfassungsfeindlichkeit zu knüpfen, und acht weitere Flächen, insgesamt damit 18 von insge- unterlagen vor Gericht mit dieser fehlgehenden Interpretation des BVerfG-Urteils wie auch des geänderten Art. 21 GG: samt 35 Plakatierungsmöglichkeiten an städtischen 100 etwa OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B Plakattafeln, zur Verfügung gestellt . Eine hinter 554/17, in: NVwZ 2018, 183 f.; dazu schon A. Bäcker, Partei- enrecht im Spiegel der Rechtsprechung: Chancengleichheit, in: 97 BVerwG, Urteil vom 28.11.2018 – 6 C 2.17, juris Rn. 37. MIP 2018, S. 118 (125 f.); vor allem aber auch der unrühmli- 98 Hess. VGH, Beschluss vom 17.10.2018 – 8 B 2171/18, online che „Stadthallen-Fall Wetzlar“, dazu bereits A. Bäcker, Damit veröffentlicht bei juris. ist kein Staat zu machen: Von Verfassungsfeinden und einem 99 weiteren Problem mit der Verfassungstreue, in: MIP 2018, VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 20.09.2018 – 12 L S. 112-113, und in diesem Heft, S. 147 f.; auch VGH Kassel, 3583/18.F, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 28863. Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N, in: NVwZ 2017, 886 ff.; 100 Zusätzlich zur Wahlwerbung auf den von der Stadt bereitge- dazu bereits H. Merten, Parteienrecht im Spiegel der Recht- stellten 35 Plakattafeln ist auch die Wahlwerbung im öffentli- sprechung: Parteienfinanzierung, in: MIP 2018, 129 (131). chen Straßenverkehr, auf Dreieckständern und Hohlkammer-

153 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. der Bedeutung der Partei zurückbleibende Zuteilung Zudem verdrängt das Kriterium des nach Wahlpro- von Werbeflächen konnte infolgedessen jedenfalls gnosen zu erwartenden Erfolgs nicht die anderen, nicht mehr behauptet werden, das darüberhinausge- daneben anzuwendenden Maßstäbe, sondern ergänzt hende Leistungsbegehren zielte demgegenüber auf diese nur. Auch könnte den naturgemäß sich bei eine – auch nach der von der AfD ins Feld geführten Vorwahlumfragen ergebenden Schwankungen der Wahlprognose – weit überproportionale Berücksich- prognostizierten Stimmanteile durch Mittelung oder tigung. Selbst unterstellt, die Wahlprognose sei das Berücksichtigung von Toleranzen begegnet werden. entscheidende Zuteilungskriterium, hätte der Eilan- Der Ansicht des Hess. VGH können daher durchaus trag demnach insoweit abgewiesen werden können. stichhalte Argumente entgegengesetzt werden. Aus Gleichwohl stellte der Hess. VGH – insoweit ohne welcher Motivation heraus er sich dennoch in der Not und sogar ausdrücklich in Widerspruch zu ande- gegebenen Rigidität und Knappheit veranlasst sah, rer obergerichtlicher Rechtsprechung – fest, dass für seine – wenig abwägende – Ansicht in seiner Ent- die Verteilung von Wahlwerbeflächen unter den Par- scheidung festzuschreiben, bleibt unklar. teien Wahlprognosen nicht herangezogen werden Richtigerweise hat das VG Augsburg106 der Plaka- könnten101. Der Hess. VGH ging dabei ausweislich der tierungsverordnung der Stadt Senden, wonach jede Entscheidungsgründe davon aus, dass lediglich in Fäl- politische Partei oder Wählergruppe nur jeweils ein len, in denen das Teilhaberecht an einer Diskussions- Wahlwerbeplakat auf den insgesamt 15 gemeindli- runde streitig war, auch fundierte Wahlprognosen für chen Anschlagtafeln anbringen darf, Rechtswidrigkeit die Bedeutung einer Partei als maßgebendes Kriteri- attestiert. Um Rechtsschutz ersucht hatte der schwä- um herangezogen wurden102 und verneinte eine Über- bische Bezirksverband der CSU, dem antragsgemäß tragbarkeit auf Fälle der Verteilung von quantitativ die Anbringung von bis zu vier Wahlwerbeplakaten begrenzten Wahlwerbeflächen, weil „solche Vorher- zur bayerischen Landtags- und Bezirkstagswahl sagen angesichts ihrer geringen Verlässlichkeit und 2018 auf den von der Stadt Senden aufgestellten An- der Schwankungen, denen sie erfahrungsgemäß unter- schlagtafeln zugesprochen wurde. Die Unzulässigkeit liegen, kein taugliches Kriterium [seien], um die der von der Stadt Wahlstedt praktizierten „formalen mengenmäßige Verteilung von Wahlwerbeflächen Gleichbehandlung“ aller wahlwerbenden Parteien unter den Parteien daran auszurichten“103. Offenbar bei der Verteilung der Gesamtzahl der Plakatie- wurde übersehen, dass dieses Kriterium obergericht- rungsmöglichkeiten lag dabei auf der Hand, da eine lich auch bereits in den sehr ähnlich gelagerten Fäl- „absolute, formale Gleichbehandlung aller Parteien len der Zuteilung von Sendezeiten für Wahlwerbung eine Verfälschung mit sich brächte, weil mit einer für anwendbar erklärt wurde104. Auch für den Be- solchen Gleichbehandlung der Anschein des glei- reich der Wahlplakatierung existiert zwar keine chen Gewichts der verschiedenen Parteien erweckt obergerichtliche, aber gut begründete verwaltungs- und der Wähler über die wahre Bedeutung der ein- gerichtliche Rechtsprechung105, in der Wahlprognosen zelnen Parteien getäuscht würde; die formale Gleich- als Differenzierungskriterium herangezogen wurden. behandlung würde damit das Recht der größeren Neu antretende ebenso wie wiedererstarkte Parteien Parteien auf Achtung auch ihrer Chancengleichheit mit guten Erfolgschancen würden anderenfalls be- zugunsten der kleineren Parteien und damit zugleich nachteiligt und einer Aufrechterhaltung des status das Neutralitätsgebot der Träger öffentlicher Gewalt quo im politischen Wettbewerb Vorschub geleistet. im Wahlkampf verletzen […]; die formale Gleichbe- handlung hätte mithin eine nicht zu billigende Un- plakaten erlaubt, s. VG Frankfurt a.M., Beschluss vom gleichbehandlung zur Folge“107. Unter Berücksichti- 20.09.2018 – 12 L 3583/18.F, BeckRS 2018, 28863 Rn. 1. gung dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung108 101 Hess. VGH, Beschluss vom 17.10.2018 – 8 B 2171/18, juris Rn. 46 f. und in Anwendung des Grundsatzes der „abgestuften 102 Er verwies insoweit auf Saarl. OVG, Beschluss vom 13.03.2017 Chancengleichheit“ im Sinne des § 5 Abs. 1 PartG – 2 B 340/17, juris Rn. 17; VGH BaWü, Beschluss vom 20.09.2017 – 1 S 2139/17, juris Rn. 8; OVG NRW, Beschluss 106 VG Augsburg, Beschluss vom 01.10.2018 – Au 1 E 18.1617, vom 21.04.2017 – 5 B 467/17, juris Rn. 28. online veröffentlicht bei juris. 103 Hess. VGH, Beschluss vom 17.10.2018 – 8 B 2171/18, juris 107 BVerwGE 47, 280 (289). Rn. 47. 108 Anders und in eindeutiger Fehlinterpretation des BVerwG- 104 S. etwa OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.09.2005 – 2 Urteils noch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom B 11292/05, juris Rn. 4; auch schon OVG Hamburg, Be- 13.09.2017 – 4 MB 52/17, vorgehend VG Schleswig, Beschluss schluss vom 09.09.1993 – Bs III 335/93, juris Rn. 6. vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, beide online veröffentlicht bei ju- 105 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 09. September 2013 – 14 ris; dazu bereits A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Recht- L 1127/13, juris Rn. 40 ff. sprechung: Chancengleichheit, in: MIP 2018, 118 (119 ff.).

154 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung kam auch das VG Augsburg zu der Überzeugung, tes beim Präsidenten des Parlamentes gemäß Art. 5 dass die rund 23.000 Einwohner zählende Stadt Sen- Abs. 2 der Verordnung und Art. 25 der Geschäfts- den mit der Begrenzung auf ein Plakat pro Anschlag- ordnung des Parlamentes die Einleitung eines soge- tafel und damit 15 Plakaten pro wahlwerbender Par- nannten Überprüfungsverfahrens, um festzustellen, tei innerhalb des gesamten Stadtgebiets deutlich hin- ob die APF die Grundsätze beachtet, auf denen die ter dem zurückblieb, was einer großen Partei vor Europäische Union beruht, und damit weiterhin die dem Hintergrund der Bedeutung von Wahlen und Voraussetzung für die Parteienfinanzierung erfülle. der besonderen verfassungsrechtlichen Stellung der Im Dezember 2016 erließ das Präsidium des Parla- Parteien in der Demokratie für eine angemessene mentes einen Beschluss, in dem der APF für das Selbstdarstellung einzuräumen ist109. Haushaltsjahr 2017 eine Finanzhilfe gewährt wurde. Dr. Alexandra Bäcker Der Vorfinanzierungsvertrag wurde in diesem Be- schluss, wohl wegen des laufenden Überprüfungsan- 3. Parteienfinanzierung trages, auf lediglich 33 % des Höchstbetrages der gewährten Finanzhilfe festgesetzt und seine Auszah- Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hatte lung unter den Vorbehalt der Stellung einer Bank- in vier ähnlich gelagerten Nichtigkeitsklagen nach bürgschaft gestellt. Ein Überprüfungsverfahren war Art. 263 AEUV über die Gewährung von Finanzhil- zum Zeitpunkt des Beschlusses nicht eingeleitet, da fen an europäische politische Parteien und deren eu- die Vorprüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung ropäische parteinahe Stiftungen für das Haushalts- 2007 noch nicht abgeschlossen wurde. jahr 2017 zu entscheiden.110 Konkret wurde jeweils gefordert, dass der Beschluss – der die Vorfinanzie- Die betroffene europäische Partei stützt ihre Klage rung auf 33 % des Höchstbetrages der gewährten Fi- auf drei wesentliche Gründe. Zunächst rügt sie den nanzhilfe begrenzt und von der Stellung einer Bank- Verstoß gegen die Haushaltsordnung: Eine Sicher- bürgschaft abhängig macht – für nichtig erklärt wird. heitsleistung sei bei Finanzhilfen mit geringem Wert unzulässig und es hätte zumindest ein gewisser Be- Die Gewährung von Finanzhilfen an europäische po- trag bedingungslos ausgezahlt werden müssen. Das litische Parteien und deren Stiftungen richtete sich in Gericht stellte zu diesem Aspekt in seinem Urteil den jetzt entschiedenen Fällen primärrechtlich noch fest, dass es sich bei der geleisteten Zahlung, entge- nach der Verordnung über die Regelungen für die gen der Auffassung der APF, nicht um eine Finanz- politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre hilfe von geringem Wert (höchstens 60.000 Euro) Finanzierung111 aus dem Jahre 2007. Zwar ist inzwi- 112 handele und im Übrigen einen unteilbaren Betrag schen eine Nachfolgeverordnung in Kraft getreten; darstelle.115 Darüber hinaus wird von der Klägerin nichtsdestotrotz sind die in Rede stehenden Rechtspro- das Fehlen eines berechtigten Interesses des Parla- bleme auch für die Anwendung der inzwischen neuen mentes am Erlass der streitigen Maßnahme vorgetra- Verordnung von Belang, sodass die Urteile durchaus gen, da das Parlament das Überprüfungsverfahren noch Aktualität für sich beanspruchen können. vorsätzlich verschleppt und das finanzielle Risiko Die Partei Alliance for Peace and Freedom (APF)113 damit selbst mutwillig herbeigeführt habe. In den und die ihr angeschlossenen politischen Stiftungen Entscheidungsgründen stellt das Gericht jedoch klar, auf europäischer Ebene, Europa Terra Nostra e.V.114, dass mit der Stellung eines Überprüfungsantrages stellten für das Haushaltsjahr 2017 neuerlich Anträ- nicht die Obliegenheit einhergehe, auch schon Be- ge auf Finanzierung. Im Mai 2016 beantragten dar- weise vorzulegen. Die Einbringung des Antrages aufhin vier Fraktionen des Europäischen Parlamen- habe die alleinige Wirkung, dass das Nachprüfungs- verfahren eingeleitet werden kann – nicht aber auch 109 VG Augsburg, Beschluss vom 01.10.2018 – Au 1 E 18.1617, eingeleitet werden muss. An einer Frist für die Ver- juris Rn. 34 f. fahrensdauer fehlt es. Daher ist, so das Gericht, „die 110 EuG Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 14740; EuG Urteil vom 11.07.2018 – T Angemessenheit der in Rede stehenden Handlung 13/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 14741; EuG anhand aller Umstände jeder einzelnen Rechtssache Urteil vom 11.07.2018 – T 54/17, online veröffentlicht bei und insbesondere anhand der Interessen, die in dem BeckRS 2018, 14744; EuG Urteil vom 11.07.2018 – T 57/17, Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel ste- online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 15212. hen, der Komplexität der Sache sowie des Verhal- 111 ABl. 2007 L 343, 5 ff. 112 ABl. 2014 L 317, 1 ff. 113 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740. 115 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, 114 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 13/17, BeckRS 2018, 14741. Rn. 34.

155 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. tens der Parteien, zu beurteilen“.116 Daher kann die Es ist grundsätzlich unproblematisch, den Status ei- Angemessenheit einer Frist nicht unter Bezugnahme ner politischen Partei auf europäischer Ebene und auf eine genaue, abstrakt bestimmte Zeitspanne, fest- damit auch ihre Finanzierung von der Beachtung der gelegt werden, sondern ist in jedem Einzelfall an- Grundsätze, auf denen die Europäische Union be- hand der Umstände des Falles zu beurteilen. Der ruht, abhängig zu machen, so wie es Art. 3 Abs. 1 Ausschuss für konstitutionelle Fragen betreibt das lit c. der Verordnung 2007 vorsieht. Die EU-Verfas- Verfahren und trägt die Indizien und Beweise zu- sungstreue zu einer Voraussetzung für die Anerken- sammen, was nachweislich im anhängigen Verfah- nung des Parteistatus und gleichzeitig zur Finanzie- ren auch geschehen sei. Von einer Verschleppung rungsvoraussetzung zu machen, bietet aber gleich- des Verfahrens sei daher nicht auszugehen.117 wohl auch ein erhebliches Missbrauchspotenzial, was nicht zu unterschätzen ist. Inhaltliche Anforde- Die Beurteilung des mit der Auszahlung der Vorfi- rungen an Tätigkeit und Programm einer Partei zu nanzierung verbundenen finanziellen Risikos obliegt stellen, eröffnet die Möglichkeit, einer unliebsamen allein dem zuständigen Anweisungsbefugten. Der Partei die finanziellen Mittel zu entziehen. Die Ver- Risikobegriff ist inhaltlich unbestimmt und eröffnet ordnung wirkt dem zwar in gewisser Weise entge- daher einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser gen, indem sie zwingend die Anhörung eines Aus- Ermessensspielraum ist innerhalb der Grenzen aus- schusses unabhängiger Persönlichkeiten vor Einlei- zuüben, die durch die Achtung des Zweckes gezogen tung eines Überprüfungsverfahrens verlangt. Bis werden, dem die Maßnahme nach dem Wortlaut der zum Zeitpunkt der Feststellung, also dem Abschluss fraglichen Bestimmung dienen muss, nämlich „die des Überprüfungsverfahrens, werden die Parteien mit der Auszahlung der Vorfinanzierung verbunde- aber schon erheblichen, ihre Tätigkeit einschränken- nen finanziellen Risiken zu begrenzen“.118 Sollte die den Maßnahmen unterzogen. Allein die Antragstel- APF die Grundsätze, auf denen die europäische Uni- lung reicht schon aus, um entsprechende Maßnah- on beruht, nicht beachtet haben, wird sie rückwir- men einzuleiten. Dies ist nach der herkömmlichen kend ab dem Tag der Einreichung des Überprüfungs- Dogmatik, wonach Parteien vor einem Verbot gar antrages von der Finanzierung ausgeschlossen. Fer- nicht oder nur höchstrichterlicher Sanktionen ausge- ner seien die Eigenmittel der Partei geringer als die setzt werden dürfen, sehr fragwürdig. Auch in der Vorfinanzierung und die Partei verfüge über keiner- Nachfolgeverordnung wird materiell-rechtlich die lei Vermögenswerte. Mithin sei die Risikominde- Beachtung der EU-Grundsätze verlangt, indem sie rungsmaßnahme gerechtfertigt.119 Auch der Grund- zu einer Eintragungsvoraussetzung erhoben wird. satz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Allerdings sieht die Nachfolgeverordnung jetzt wei- Grundsätzen des Unionsrechts gehört, sei nicht ver- tere Sicherungsmaßnahmen vor, um einem mögli- letzt. Eine Gefährdung der Existenz der Partei und chen Missbrauch entgegenzuwirken.121 die Unumkehrbarkeit der ihr entstehenden Schäden, wurden laut Gericht lediglich allgemein behauptet, Das EuG hatte darüber hinaus auch über die Nichtig- ohne aber konkrete Beweise zu erbringen. keitsklagen der Partei Coalition for Life and Family (CLF)122 und der ihr angeschlossenen politischen Ein Verstoß gegen die in Artt. 11 und 12 der Grund- Stiftung auf europäischer Ebene, Pegasus123, zu ent- rechte-Charta verankerten Meinungs- und Vereini- scheiden. Die CLF, die im September 2016 gegrün- gungsfreiheit liege ebenfalls nicht vor. Das Gericht det wurde, und ihre parteinahe Stiftung Pegasus stellt überraschend kurz und ohne nähere Begrün- stellten für das Haushaltsjahr 2017 erstmalig Anträge dung fest, dass „wenn einer politischen Partei oder auf Finanzhilfe nach der Parteienverordnung 2007. einer Vereinigung ein Geldbetrag nicht gewährt Der CLF wurde daraufhin mitgeteilt, dass sie eine wird, (…) das nicht einem Verbot der politischen neue Organisation und nur in sieben Mitgliedstaaten Partei oder Vereinigung“ entspricht.120 vertreten ist, wobei zu befürchten sei, dass sie bei 116 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, den unmittelbar bevorstehenden Wahlen einen wei- Rn. 65. teren Vertreter verlieren könnte. Es gebe ferner 117 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, Zweifel an ihrer administrativen und finanziellen Rn. 65 ff. Stabilität. Darüber hinaus könne auch keine Feststel- 118 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, lung getroffen werden, ob die EU-Verfassungstreue Rn. 47. 121 119 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, Siehe dazu ausführlich Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, Rn. 50. S. 249 ff. 122 120 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 16/17, BeckRS 2018, 14740, EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 54/17, BeckRS 2018, 14744. Rn. 109. 123 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 57/17, BeckRS 2018, 15212.

156 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung gegeben sei. Dennoch wurde der CLF eine Finanz- Auch die CLF beruft sich abschließend noch auf ei- hilfe für 2017 gewährt, allerdings der Vorfinanzie- nen vermeintlichen Verstoß gegen Artt. 11 und 12 rungsbetrag, wie auch im soeben besprochen Falle der Grundrechte Charta. Der angefochtene Be- der APF, auf 33 % gekürzt und an eine Sicherheits- schluss gefährde sie in ihrer Existenz und erzeuge leistung gebunden. die gleiche Wirkung wie ein Parteiverbot und schlie- ße sie faktisch aus dem politischen Wettbewerb auf Die CLF trägt ähnliche Klagegründe vor wie die europäischer Ebene aus. Gerade Neugründungen sei- APF, geht aber schwerpunktmäßig zum einen gegen en so erheblich benachteiligt. Das Gericht führt dies- das Argument der Neugründung, und zum anderen bezüglich wiederum nur kurz aus, dass die Nichtge- gegen die nur unsichere Einhaltung der Repräsentati- währung von Geldleistungen keinesfalls ein fakti- onsschwelle von sieben Mitgliedstaaten, vor. sches Verbot bedeute. Das Ziel der auf der Grundla- Das Gericht stellt dazu fest, dass im Rahmen der Ri- ge der Verordnung gewährten Finanzhilfe bestehe sikobewertung gemäß Art. 134 Abs. 1 der Haushalts- einzig und alleine darin, die Durchführung des jähr- ordnung und Art. 206 Abs. 1 der Anwendungsbe- lichen Arbeitsprogramms politischer Parteien zu un- stimmungen zur Haushaltsordnung der Umstand der terstützen und nicht – zumindest nicht unmittelbar – erst kürzlich erfolgten Neugründung Berücksichti- darin, die Gründung solcher Parteien zu befördern.126 gung finden konnte. Bezüglich der Stabilität und der Bei allen vier Entscheidungen wird überraschend finanziellen Lebensfähigkeit einer neu gegründeten deutlich, dass der EuG, dem Parlament folgend, sei- Partei bestehen aufgrund eben jener erst kürzlich er- nen Fokus lediglich auf die fiskalischen Aspekte des folgten Neugründung jedoch Ungewissheit. Damit Risikos für den Haushalt der EU setzt und Erwägun- gehe dementsprechend ein Risiko für den Gesamt- gen zur Parteienfreiheit und Chancengleichheit gänz- haushalt der Union einher. Dieses finanzielle Risiko lich außer Acht lässt. für den Haushalt der Union sei zudem deutlich höher als bei älteren Parteien. Das Präsidium des Parla- In einem weiteren Fall hatte das EuG erstmalig die ments habe die wirtschaftliche Situation der CLF, Gelegenheit unter anderem zu entscheiden, wann nach Ansicht des Gerichtes124, im Ergebnis hinrei- eine mittelbare Finanzierung nationaler Parteien im chend geprüft und auf dieser Grundlage folgerichtig Sinne des europäischen Parteienfinanzierungsrechts die gewährte Vorfinanzierung begrenzt und an eine anzunehmen ist.127 Die europakritische und nationa- Sicherheitsleistung geknüpft. listische europäische politische Partei Mouvement pour l’Europe des nations et des libertés (MENL) Die Gefahr, dass die CLF dem Repräsentationserfor- hatte 2015 eine Plakatkampagne durchgeführt. Ne- dernis des Art. 3 Abs. 1 b der Verordnung 2007 ben dem Logo der MENL war auf den französisch- künftig nicht mehr genüge, hält das Gericht für be- sprachigen Plakaten das Logo des Front National rücksichtigungsfähig bei der Risikoanalyse. Zum für und auf den Plakaten in flämischer Sprache das die Streitentscheidung wesentlichen Zeitpunkt, na- Logo des Vlaams Belang abgebildet, allerdings fünf mentlich dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, Mal kleiner als das Logo des MENL128. Das Präsidi- hatte die CLF sieben Mitglieder aus sieben Mit- um des Europäischen Parlamentes sah in dieser gliedstaaten und überschritt somit die Repräsentati- Kampagne, die außerhalb von Parlamentswahlen onsschwelle, wenn auch nur knapp. Bei einem mög- zum Europäischen Parlament stattfand,129 eine Ver- licherweise eintretenden Unterschreiten der Reprä- letzung von Art. 7 der Verordnung 2007130. Sie diene sentationsgrenze droht der Ausschluss aus der Par- teienfinanzierung, verbunden mit einem Rückerstat- tungsanspruch, der dann möglicherweise nicht mehr 126 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 54/17, BeckRS 2018, 14744, bedient werden kann. Dies stelle ein beachtliches Ri- Rn. 129. 127 siko für den Gesamthaushalt der Union dar. Die EuG, Urteil vom 27.11.2018 – T-829/16, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 29906 (französisch). Siehe dazu von Danwitz, zwei weiteren Beitritte, die die CLF nach dem Erlass Anspruch und Realität der europäischen Parteienfinanzierung, des angefochtenen Beschlusses mitteilte, änderten an Zur Geschäftsordnung vom 05.02.2019, online abrufbar unter: dieser Risikobewertung nichts mehr, da sie – zu http://zurgeschaeftsordnung.de/anspruch-und-realitaet-der-eur Recht – keine Berücksichtigung gefunden hätten.125 opaeischen-parteienfinanzierung/ (abgerufen am 14.02.2019). 128 EuG, Urteil vom 27.11.2018 – T-829/16, BeckRS 2018, 29906, Rn. 77. 124 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 54/17, BeckRS 2018, 14744, 129 Siehe dazu Ziffer 6 Absatz 7 des Leitfadens über Betriebskos- Rn. 52 ff. tenzuschüsse des Parlaments an politische Parteien und Stif- 125 EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T 54/17, BeckRS 2018, 14744, tungen auf europäischer Ebene. Rn. 74. 130 ABl. 2007 L 343, 5 ff.

157 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. der mittelbaren Finanzierung zweier nationaler Par- Partei Die PARTEI auseinandergesetzt. In dem Ver- teien und hätte daher nicht aus Mitteln der europäi- fahren ging es um die Frage, welche Beträge Die schen Parteienfinanzierung finanziert werden dürfen. PARTEI in ihrem Rechenschaftsbericht 2014 als Da die Nachfolgeverordnung131 in Art. 22 ebenfalls Einnahmen aus Unternehmenstätigkeit ausweisen ein Verbot der mittelbaren Finanzierung nationaler durfte. Von der Höhe dieser Einnahmen hängt die Parteien festschreibt, wird die Entscheidung weiter- Höhe der Mittel ab, die Die PARTEI im Wege der hin Beachtung finden. staatlichen Parteienfinanzierung von der Bundes- tagsverwaltung beanspruchen konnte. Die PARTEI Das Gericht führte aus, dass eine mittelbare Partei- hatte im Jahre 2014, als Reaktion auf den Handel der enfinanzierung dann vorläge, wenn eine nationale AfD mit Gold, einen so genannten „Geldhandel“ be- Partei durch die Handlung einer europäischen Partei trieben und jedem Interessenten gegen Überweisung einen geldwerten Vorteil erlangt, auch wenn dabei von 25, 55 oder 105 Euro jeweils einen 20, 50 oder keine Beträge direkt gezahlt würden.132 Die Nutzung 100 Euro-Schein, sowie zwei Motivpostkarten der des Logos nationaler Parteien könnte den Eindruck PARTEI übersandt. Das in diesem Zusammenhang erwecken, dass die Kampagne wenigstens teilweise überwiesene Geld wurde im Rechenschaftsbericht von diesen Parteien organisiert und finanziert wurde. insgesamt als Einnahme ausgewiesen. Die Bundes- Dies verschaffe den nationalen Parteien eine stärkere tagsverwaltung folgte dem nicht und sah den Re- Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und befördere die chenschaftsbericht insoweit als unrichtig an. Verbreitung einer Botschaft, ohne dass sie dafür Geld hätten aufwenden müssen. Dies sei der Partei so als Das OVG Berlin-Brandenburg bestätigt in seiner Ent- indirekter Finanzierungsvorteil zugegangen.133 Es ist scheidung die Auffassung des VG Berlin136, demzu- zwar grundsätzlich zulässig, dass eine politische Par- folge der Einnahmebegriff des Parteiengesetzes weit tei auf europäischer Ebene eine Kampagne gemein- zu verstehen sei. Es handele sich um einen spezifi- sam mit einer nationalen politischen Partei organi- schen parteienrechtlichen Einnahmebegriff, der vor siert, aber nur dann, wenn die nationalen politischen dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Trans- Parteien einen angemessenen Beitrag zur Finanzie- parenzgebotes aus Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG zu konkre- rung dieser Kampagne leisten, um die Verletzung des tisieren sei. Der Einnahmebegriff sei damit weiter als in Art. 7 der Verordnung Nr. 2004/2003 vorgesehenen nach handelsrechtlichem Verständnis. Denn handels- Verbots der indirekten Finanzierung zu vermeiden. rechtlich werden als Einnahmen grundsätzlich nur Zuflüsse gewertet, die sich positiv auf die Verände- Das Verbot der mittelbaren Finanzierung ist mithin rung des Geldvermögens auswirken. Der parteien- als umfassendes Verbot der Vorteilsziehung zu ver- rechtliche Einnahmebegriff erfasst demgegenüber stehen. Stellt man nun aber in Rechnung, dass die aber jeden Zufluss. Eine Saldierung werde nicht vor- europäischen politischen Parteien bisher selbst nicht genommen. Es reiche aus, wenn der Partei eine Geld- an den Wahlen zum Europäischen Parlament mit ei- oder geldwerte Leistung zufließe. Das sei zumindest genen Kandidaten teilnehmen und daher lediglich insoweit der Fall gewesen, als die Partei über die zu- über ihre nationalen Mitgliederparteien sichtbar geflossenen Mittel zunächst habe verfügen können. agieren können, ist das wirkungsvolle Transportieren von europapolitischen Themen für europäische Par- Inzwischen hat der Gesetzgeber das Parteiengesetz teien durchaus erschwert. Da bereits in der Sache ein dahingehend geändert, dass bei Einnahmen aus Un- Rechtsmittel134 anhängig ist, bleibt abzuwarten, ob ternehmenstätigkeit einer Partei für die staatliche der EuGH die denkbar weite Definition des EuG be- Teilfinanzierung nur derjenige Betrag berücksichtigt stätigen wird. werden darf, der nach Abzug der Ausgaben ver- bleibt. Die Revision wurde zugelassen, da die ge- Das OVG Berlin-Brandenburg135 hat sich in einem naue Bestimmung des Begriffs der Einnahme im par- von der Bundestagsverwaltung geführten Berufungs- teienrechtlichen Sinn und das Zusammengreifen verfahren mit dem so genannten „Geldhandel“ der zwischen Parteiengesetz und kaufmännischer Buch- 131 ABl. 2014 L 317,1 ff. führung auch in ähnlichen Fallkonstellation durch- 132 EuG, Urteil vom 27.11.2018 – T-829/16, BeckRS 2018, aus von Bedeutung sein kann. 29906, Rn. 83. Dr. Heike Merten 133 EuG, Urteil vom 27.11.2018 – T-829/16, BeckRS 2018, 29906, Rn. 85. 136 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, online ver- 134 EuGH C-60/19 P. öffentlicht bei juris. Siehe dazu ausführlich Merten, Parteien- 135 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.03.2018 – 3 B recht im Spiegel der Rechtsprechung: Parteienfinanzierung, 26.17, online veröffentlicht bei juris. in: MIP 2018, 129 ff.

158 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

4. Parteien und Parlamentsrecht beschädige ihr Ansehen und die vertrauensvolle Zu- sammenarbeit in der Fraktion nachhaltig, sei nicht Kommunalen Fraktionen können Zuwendungen nicht willkürlich. Die Einstellung eines Mitarbeiters mit schon deshalb verweigert werden, weil sie „aus Ver- einer Nähe zu türkischen Rechtsextremisten als ihr tretern erkennbar verfassungsfeindlicher Parteien/ Ansehen schädigend zu bewerten, sei ebenfalls ver- 137 Vereinigungen“ bestehen. Das BVerwG hat ent- tretbar. schieden, dass eine entsprechende Regelung in einer Entschädigungssatzung rechtswidrig ist. Diese sei Mit den Grenzen der Organisationsautonomie des zwar nicht an dem aus der Wahlrechtsgleichheit ab- Landtags bei der Besetzung von Ausschüssen hat zuleitenden Grundsatz streng formaler Gleichbehand- sich der VerfGH Rheinland-Pfalz140 beschäftigt. lung zu messen. Auch verstoße sie mangels Grund- Die Festlegung der Ausschussgröße auf 12 Sitze rechtsträgerschaft einer Fraktion nicht gegen das führte in dem entschiedenen Verfahren in Kombina- Verbot der Benachteiligung wegen der politischen tion mit dem d'Hondt'schen Höchstzahlverfahren Auffassung nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Das Gericht dazu, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieht aber den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 leicht überdurchschnittlich repräsentiert war. Einen Abs. 1 GG als verletzt an, weil die politische Ausrich- gegen die Sitzverteilung gerichteten Antrag der AfD- tung einer Fraktion oder ihrer Mitglieder nicht im Fraktion wies der VerfGH zurück. Abweichungen Zusammenhang mit dem Geschäftsführungsbedarf vom Spiegelbildlichkeitsgrundsatz könnten je nach stehe und eine solche Differenzierung daher keinen Stärke der Abweichung aus unterschiedlichen ver- sachlichen Grund darstelle. Auch die Verfassungs- fassungsrechtlichen Gründen zulässig sein. Nur entscheidung für eine wehrhafte Demokratie recht- durch besondere Gründe zu rechtfertigende Abwei- fertige die Regelung nicht. Zum Zeitpunkt ihres Er- chungen ergäben sich, wenn die anerkannten Zähl- lasses bestand die Möglichkeit eines Ausschlusses verfahren um „Korrekturfaktoren“ ergänzt werden, verfassungsfeindlicher Parteien von der staatlichen indem bestimmte Fraktionen „Vorausmandate“ bzw. Finanzierung nach Art. 21 Abs. 3 GG noch nicht. In „Grundmandate“ oder „garantierte Mindestsitze“ er- einem obiter dictum stellt das BVerwG klar, dass die hielten, so dass sie im Vergleich zu ihrem Plenar- Satzungsregelung aber auch nach der geltenden anteil deutlich überrepräsentiert seien. Als einen sol- Rechtslage nicht rechtmäßig wäre. Dies leitet das chen Grund führt das Gericht die Verwirklichung Gericht aus der Trennung von Parteien und „ihren“ des Grundsatzes der Beteiligung aller Fraktionen an Fraktionen sowie der gesetzlichen Zweckbindung der Ausschussarbeit an. Ergänze das Parlament die der Mittel für die Fraktionsarbeit ab. Die hessische anerkannten Zählverfahren um eine Grundmandats- Gemeindeordnung sehe eine wirksame Kontrolle der regelung zugunsten kleiner Fraktionen, müsse dies Mittelverwendung vor, die eine Zweckentfremdung allerdings ausdrücklich in der Geschäftsordnung ver- von Fraktionszuwendungen zur verdeckten Parteien- ankert werden. Der Landtag sei bei der Besetzung finanzierung ausschließe. der Ausschüsse nicht auf Regelungen beschränkt, die frühere Landtage getroffen hätten. Die Aus- 138 Der VerfGH Berlin hat entschieden, dass der schussbesetzung sei vorliegend sachlich gerechtfer- Ausschluss eines Abgeordneten aus der AfD-Fraktion tigt, insbesondere sei der Landtag nicht verpflichtet, im Abgeordnetenhaus verfassungsgemäß war. Zuvor aus mehreren verfassungsrechtlich zulässigen Rege- hatte das Gericht bereits den Erlass einer einstweili- lungsvarianten diejenige auszuwählen, die sich zum 139 gen Anordnung abgelehnt , weil dem Antragsteller Vorteil der Minderheit – hier der AfD – auswirke. das Recht zur Mandatsausübung verbleibe. Die Frak- tion habe einen wichtigen Grund für einen Aus- Der Niedersächsische Staatsgerichtshof141 hat ent- schluss festgestellt, ohne dabei ihren Beurteilungs- schieden, dass der Landtag keine verfassungsmäßi- spielraum zu überschreiten. Ihre Einschätzung, Kon- gen Rechte der AfD-Fraktion durch eine Änderung takte zu einer im Verfassungsschutzbericht als „ex- des Stiftungsgesetzes verletzt hat, derzufolge der trem nationalistisch“ bezeichneten türkischen Partei Stiftungsrat der „Stiftung niedersächsische Gedenk- stünden im Widerspruch zu ihrer Programmatik und stätten“ statt mit Vertretern jeder der dem Landtag angehörenden Fraktionen nunmehr mit vier Vertrete- 137 BVerwG, Urteil vom 27.06.2018 – 10 CN 1/17, in: NVwZ rinnen oder Vertretern des Landtages besetzt wird. 2018, 1656-1660. 138 VerfGH Berlin, Urteil vom 04.07.2018 – VerfGH 130/17, in: 140 VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.01.2018 – VGH O DVBl 2018, 1287-1290. 17/17, in: NVwZ-RR 2018, 546-557. 139 VerfGH Berlin, Beschluss vom 11.10.2017 – VerfGH 130 A/17, 141 NdsStGH, Urteil vom 15.01.2019 – StGH 1/18, online veröf- online veröffentlicht bei juris. fentlicht bei BeckRS 2018, 34968.

159 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Das Gericht sieht das Recht der Fraktion auf Chan- Die Antragsgegnerin hatte die Überlassung einer cengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit nach Stadthalle mit der Begründung abgelehnt, unter Be- Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV nicht als verletzt an. Dieses rücksichtigung der gegenwärtigen Bauarbeiten zwi- umfasse nur das Recht, die politische Arbeit im Parla- schen der Stadthalle und dem Rathaus, der zu erwar- ment in dem Umfang und mit dem Gewicht vertreten tenden Gegendemonstrationen sowie des Erforder- und umsetzen zu können, wie es dem jeweiligen Stär- nisses eines unbehelligten Besucherverkehrs zu dem keanteil im Parlament entspricht. Das Recht auf Chan- an diesem Tag bis 19 Uhr geöffneten Rathaus stelle cengleichheit „im Parlament“ nach Art. 19 Abs. 2 die Veranstaltungsdurchführung an diesem Termin Satz 1 Alt. 1 NV verpflichte den Landtag nicht, jeder eine nicht anspruchsbegründende „Sondernutzung“ Landtagsfraktion die Entsendung eines ihrer Mitglie- dar. Dies überzeugte das Gericht wie schon die Vor- der in den Stiftungsrat zu ermöglichen. Auch das instanz nicht, insbesondere weil die Stadthalle trotz Recht auf Chancengleichheit „in der Öffentlichkeit“ der Bauarbeiten für anderweitige Veranstaltungen nach Art. 19 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 NV beziehe sich re- mit zum Teil mehren hundert Teilnehmern genutzt gelmäßig nur auf den parlamentarischen Raum. Die wurde. Befugnis einer Fraktion, in der Öffentlichkeit zu wir- Das OVG Sachsen-Anhalt143 hat einen Anspruch auf ken und hierbei ein Recht auf Chancengleichheit für Überlassung kommunaler Räumlichkeiten an eine sich in Anspruch zu nehmen, sei darauf beschränkt, Landtagsfraktion nach denselben Grundsätzen und den eigenen Standpunkt und den eigenen Beitrag im unter Bezugnahme auf die Entscheidung des OVG Rahmen der parlamentarischen Entscheidungsfin- Nordrhein-Westfalen verneint. Die Antragstellerin dung gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen. Die vermochte eine Vergabepraxis, die nach Auffassung Vertreter im Stiftungsrat würden durch den Landtag des Gerichts eine tatsächliche Vergabe in mehreren nach dem Mehrheitsprinzip gewählt. Das Stiftungs- Fällen voraussetzt, nicht darzulegen. Sie konnte le- gesetz formuliere allerdings keine Vorgaben für die diglich auf eine Veranstaltung in der Vergangenheit Wählbarkeit, insbesondere mit Blick auf die Fraktions- verweisen. Das VG Koblenz144 hat in einem ver- zugehörigkeit. Daher könne keine der Fraktionen gleichbaren Verfahren einen Anspruch einer Stadt- mehr beanspruchen, einen ihr angehörenden Abge- ratsfraktion auf Überlassung eines historischen Rat- ordneten als Vertreter in den Stiftungsrat zu entsen- haussaals für eine Bürgerinformationsveranstaltung den. Einer Beachtung des Grundsatzes der Spiegel- verneint. bildlichkeit, der aus dem Recht der Abgeordneten auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentari- Der Bundesrechnungshof muss einem Rundfunk- schen Willensbildung folge, bedürfe es von vorne- journalisten Akteneinsicht in abschließende Prü- herein nicht bei solchen Gremien, die nicht in die fungsmitteilungen betreffend die FDP-Bundestags- Parlamentsarbeit eingebunden und damit außerparla- fraktion im Wahljahr 2013 gewähren. Dies hat das mentarisch tätig seien. Der Stiftungsrat sei als ein VG Köln145 in einem Eilverfahren entschieden. Nach solches Gremium anzusehen, da er überwiegend mit § 96 Abs. 4 S. 1 BHO kann der Bundesrechnungshof Dritten besetzt sei, auf deren Auswahl der Landtag Dritten Auskunft, Akteneinsicht oder in sonstiger keinen Einfluss habe. Deshalb könne der Stiftungsrat Weise Zugang zu von ihm abschließend festgestellten nicht als ein verkleinertes Abbild des Parlaments an- Prüfungsergebnissen gewähren. Die Rechenschafts- gesehen werden. Zudem wiesen die Aufgaben des pflicht der Bundestagsfraktionen stehe dem nicht Stiftungsrats sachlich keinerlei Bezüge zu den Auf- entgegen. § 50 Abs. 1 AbgG treffe keine Aussage gaben des Parlaments und damit zum parlamentari- darüber, ob und inwieweit andere staatliche Stellen schen Raum auf. Informationen über die Mittelverwendung der Frak- tionen zu veröffentlichen haben. Dies lasse sich dem Die zahlreiche Judikatur zum Anspruch einer Fraktion Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen. Auch auf Nutzung einer Stadthalle ist um eine Entschei- wenn die Fraktionen keine öffentliche Gewalt ausüb- dung des OVG NRW142 angewachsen. Dass die Ent- ten und daher nicht nach § 1 Absatz 1 IFG zur Aus- scheidungsfreiheit einer Kommune über den Zugang kunft verpflichtet seien, lasse sich hieraus nicht zu ihrer Stadthalle auch im Verhältnis zu einer Land- tagsfraktion jedenfalls durch das allgemeine Will- 143 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.09.2018 – 4 M 172/18, kürverbot begrenzt ist und somit durch sachliche online veröffentlicht bei juris; vorgehend VG Halle (Saale), Gründe gerechtfertigt sein muss, überrascht kaum. Beschluss vom 17.09.2018 – 3 B 414/18, nicht veröffentlicht. 144 VG Koblenz, Beschluss vom 26.07.2018 – 1 L 701/18.KO, 142 OVG NRW, Beschluss vom 28.06.2018 – 15 B 875/18, on- online veröffentlicht bei juris. line veröffentlicht bei juris; vorgehend VG Köln, Beschluss 145 VG Köln, Beschluss vom 25.04.2018 – 6 L 4777/17, online vom 14.06.2018 – 14 L 1007/18, nicht veröffentlicht. veröffentlicht bei juris.

160 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung schließen, dass auch Vertreter des Rundfunks keinen 5. Parteien und Wahlrecht Informationsanspruch haben sollen. Schließlich 147 stünden auch keine überwiegenden Interessen der Ein Déjà-vus erlebte das BVerfG , das sich aber- Fraktion oder ihrer Mitglieder entgegen. Die Veröf- mals mit der fehlenden Wählbarkeit der CDU in fentlichung des Prüfungsergebnisses berühre nicht Bayern auseinanderzusetzen hatte. Die Pointe des die Mandatsausübung im parlamentarischen Raum, Falles liegt aber dieses Mal gerade darin, dass erst sondern löse nur eine nachträgliche Kontrolle aus. die Streitigkeiten zwischen CDU und CSU im Som- Die Abgeordneten müssten sich in der Öffentlichkeit mer 2018 [Stichwort „Asylstreit“] den Anlass für 148 an ihrer Mandatsausübung messen lassen. Da das Er- eine abermalige Befassung des Gerichts bildeten. messen des Bundesrechnungshofs auf Null reduziert Konkret begehrten die Antragssteller mittels des Er- war, konnte das Gericht die begehrte Anordnung lasses einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 aussprechen. BVerfGG die Verpflichtung des Deutschen Bundes- tages, über ihre Wahleinsprüche innerhalb einer vom Ein Eilantrag der AfD-Fraktion im Kreistag des Bundesverfassungsgericht zu bestimmenden Frist zu Landkreises Wittmund auf Zuweisung eines Sitzes entscheiden, um bei Fristablauf sodann auch ohne im Kreisausschuss blieb vor dem VG Oldenburg146 Entscheidung des Bundestages zulässigerweise ohne Erfolg. Nach dem Niedersächsischen Kommunal- Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungs- verfassungsgesetz steht einer Fraktion oder Gruppe, gericht erheben zu können. Die Antragssteller be- der mehr als die Hälfte der Abgeordneten angehören, gründeten dieses Begehren mit der Befürchtung, mehr als die Hälfte der im Ausschuss insgesamt zu dass aufgrund des mühevollen Starts der Bundesre- vergebenden Sitze zu. Da keine der Fraktionen bei gierung und des „derzeitigen Koalitionsstreits zwi- den Kommunalwahlen die absolute Mehrheit er- schen CDU und CSU“ möglicherweise die Legisla- reichte, schlossen sich die Fraktionen der SPD und turperiode zu Ende gehe, ohne dass der Wahlprü- Bündnis 90/Die Grünen mit den Kreistagsabgeord- fungsausschuss und daran anschließend das BVerfG neten der Linken und der Bürger für Bürger (BFB) über ihre Anträge auf Wahlprüfung entschieden hät- zur Gruppe „Rot-Grün-Plus“ zusammen. Sie erhiel- ten. Das Karlsruher Gericht lehnte den Erlass einer ten daraufhin sechs der zehn Sitze im Kreisaus- einstweiligen Anordnung jedoch ab. Insbesondere schuss, während die übrigen vier der Gruppe „CDU stellte es fest, dass keine Umstände vorgetragen wor- plus“, die aus der CDU-Fraktion und dem Kreistags- den seien, die für die Unzumutbarkeit des Abwartens abgeordneten der FDP bestand, zugeteilt wurden. der Entscheidung des Bundestages sprechen. Kurz- Die Antragstellerin ging damit leer aus. Das Verwal- um: Die Antragssteller sollen sich in Geduld üben. tungsgericht war der Auffassung, eine Abweichung Darüber hinaus wäre auch eine noch zu erhebende vom Grundsatz der Spiegelbildlichkeit sei in diesen Verfassungsbeschwerde, gestützt auf die Verletzung Fällen nur dann gerechtfertigt, wenn die Festlegung der Garantie effektiven Rechtsschutzes durch den der Sitze allein unter Berücksichtigung der Fraktio- Bundestag, unzulässig. Richtigerweise wird dabei nen ebenfalls zu einer entsprechenden Abweichung darauf verwiesen, dass die Rechtsbehelfe, die sich in führen würde oder aber eine stabile Mehrheitsbil- den Wahlvorschriften wiederfinden, abschließend dung im Hauptausschuss nicht in ausreichendem sind. Daran rüttelt das Gericht auch nicht. Prägnant Maße gewährleistet sein würde und diese auch durch stellt es im letzten Satz des Beschlusses fest, dass andere, den Spiegelbildlichkeitsgrundsatz weniger die genannte Besorgnis keine Veranlassung dafür beeinträchtigende Maßnahmen nicht zu erreichen bietet, „diese Rechtslage in Frage zu stellen“. Die wäre. Ausgehend von diesem Maßstab sei in diesem CDU ist und bleibt somit auch bis auf weiteres nicht Einzelfall die Abweichung vom Grundsatz der Spie- in Bayern wählbar. gelbildlichkeit gerechtfertigt. Zwar würde auf die 149 Antragstellerin bei Zuteilung der Sitze nach Fraktions- Gleich zwei Gerichte, namentlich das BVerwG 150 stärken ein Sitz im Kreisausschuss entfallen, eine sowie der VerfGH Thüringen , haben sich mit der stabile Mehrheitsbildung im Kreisausschuss wäre je- doch dann nicht gewährleistet. 147 BVerfG, Beschluss vom 22.08.2018 – 2 BvQ 53/18, in: BayVBl 2019, 49 f. Jasper Prigge 148 Nachweise etwa bei F. Orlowski, Parteien im Spiegel der Rechtsprechung: Wahlrecht, in: MIP 2018, 136 (139 f.). 149 BVerwG, Urteil vom 13.06.2018 – 10 C 8/17, in: NJW 2018, 3328-3331. 146 VG Oldenburg, Beschluss vom 26.01.2018 – 3 B 8299/17, in: 150 VerfGH Thüringen, Urteil vom 25.09.2018 – 24/17, online NdsVBl 2018, 252-256. veröffentlicht bei juris.

161 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg.

Absenkung des Wahlalters bei Kommunalwahlen reits genannten Aspekte identisch entschied. Im Be- von bisher 18 auf nunmehr 16 Jahre beschäftigt. Das sonderen lesenswert ist jedoch das Sondervotum des Urteil des BVerwG stellt dabei den Schlusspunkt ei- Richters Baldus. Seine Kritik entzündete sich insbe- nes sich bereits seit mehreren Jahren hinziehenden sondere an dem Umstand, dass die ungleiche Be- Verfahrens dar, dem auch bereits Urteile des VG handlung von Erwachsenen, die unter Betreuung ste- Karlsruhe151 sowie des VerfGH Baden-Württem- hen sowie von minderjährigen Wahlberechtigten, de- berg152 zugrunde liegen. Geprüft wurde insoweit, ob nen ebenfalls die entsprechende Einsichtsfähigkeit die §§ 14 und 16 der GemO BW – die das Innehaben fehlt, der Grundsatz der Allgemeinheit nicht verletze. des Wahlrechts an die Vollendung des 16. Lebens- Schon das BVerwG hat mit dem Argument, der Ge- jahres anknüpfen – mit höherrangigem Recht verein- setzgeber komme hiermit seinem Auftrag einer mög- bar sind. Das höchste deutsche Verwaltungsgericht lichst weitgehenden Verwirklichung des verfassungs- schloss sich in seinem nun vorliegenden Urteil den rechtlichen Gebots der Allgemeinheit der Wahl nach, vorherigen Instanzen an und stellt insoweit mit erfri- diese Regelung gebilligt. Ebenso, wenn auch mit ei- schender Klarheit fest, dass die Zugehörigkeit zum nem ungleich größeren Strauß an Argumenten, rügt Staatsvolk i.S.v. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG allein durch der Thüringer Verfassungsgerichtshof das thüringi- die deutsche Staatsangehörigkeit vermittelt wird. Zu- sche Gesetz nicht. Dies wiederum kritisiert Baldus, treffend erkennt das Gericht, dass die gegenteilige indem er darauf verweist, dass die Allgemeinheit der Auffassung des Klägers – das Staatsvolk bestehe nur Wahl streng und formal zu verstehen sei; mithin eine aus deutschen Staatsangehörigen, die mindestens 18 Rechtfertigung nur durch zwingende Gründe erfol- Jahre alt sind – keine Stütze im GG findet: Art. 38 gen könne. Diese seien – so legt es Baldus auf insge- Abs. 2 GG, der die Wahlen zum Deutschen Bundestag samt 53 Randnummern dar – nicht gegeben. Mehr zum Gegenstand hat, begründet dementsprechend noch: Der Autor des Sondervotums kommt zu dem keine Altersgrenze für die Kommunalwahlen in den Schluss, dass die Entscheidung der Mehrheit des Ge- Ländern. Diese sind vielmehr bei der Ausgestaltung richts sich „durch eine frappierende Geringschät- ihres eigenen Landeswahlrechts grundsätzlich frei; zung verfassungsrechtlicher Dogmatik (in Bezug auf sie können somit selbst über die Umsetzung und die Prüfung der Allgemeinheit der Wahl) und ein be- Konkretisierung des Grundsatzes der Allgemeinheit liebig zur Geltung gebrachtes Methodenbewusstsein der Wahl bestimmen. Selbstredend findet aber auch aus[zeichne].“154 Dies könne nach seiner Ansicht, diese Freiheit ihre Grenzen: Mit Blick auf das dem der sich aber kein weiterer Richter angeschlossen GG immanente Demokratieprinzip ist auch der Lan- hat, „dem allenthalben zu beobachtenden Akzeptanz- desgesetzgeber dazu angehalten, „in typisierender und Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen Weise eine hinreichende Verstandesreife zur Vor- des demokratischen Rechtsstaates“155 Vorschub leis- aussetzung des aktiven Stimmrechts zu machen“.153 ten. Somit bleibt festzuhalten, dass der seit Jahren Daran anschließend stärkt das Leipziger Gericht die durch die Instanzen wabernde Streit um das Minder- Landtage insoweit, als dass es feststellt, dass eine jährigen-Wahlrecht nun ad acta gelegt werden kann. normativ ausgeformte Sachaufklärungspflicht des Darüber hinaus überrascht das Urteil aus Thüringen Gesetzgebers dem GG fremd ist. Zutreffender Weise insoweit, als dass es die hochaktuelle Frage aufwirft, entscheidet der Gesetzgeber selbst über den Umfang inwieweit juristische Methodik und daraus erwach- sowie die Tiefe im Sachaufklärungsverfahren. Der sende (verfassungsgerichtliche) Entscheidungen Stuttgarter Landtag hatte seine Entscheidung zur Än- auch zur Akzeptanz oder, anders gewendet, im derung der GemO auf Expertenanhörungen sowie schlimmsten Fall gar zur Ablehnung eines Staates die Erfahrungen in anderen Ländern gestützt. Für beitragen können. Daneben stehen Teile der beiden das Gericht bestand somit kein Anlass, weitergehende besprochenen Entscheidungen in einem direkten the- Anforderungen überhaupt erst zu erwägen oder gar matischen Zusammenhang mit einer im Jahre 2019 zu fordern. Wenig überraschend ist es insoweit, dass vom BVerfG156 entschiedenen Wahlprüfungsbe- auch das zeitlich der Entscheidung des BVerwG schwerde, in der das höchste deutsche Gericht fest- nachgelagerte Urteil des VerfGH Thüringen die be- stellt, dass § 13 Nr. 2 und Nr. 3 BWahlG, die den

151 VG Karlsruhe, Urteil vom 11.05.2016 – 4 K 2062/14, online 154 VerfGH Thüringen, Urteil vom 25.09.2018 – 24/17, juris veröffentlicht bei juris. Rn. 329. 152 VGH BW, Urteil vom 21.07.2017 – 1 S 1240/16, in: NVwZ- 155 VerfGH Thüringen, Urteil vom 25.09.2018 – 24/17, juris RR 2018, 404-409; dazu schon F. Orlowski, Parteien im Spie- Rn. 330. gel der Rechtsprechung: Wahlrecht, in: MIP 2018, 136 (142). 156 BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14, on- 153 BVerwG, Urteil vom 13.06.2018 – 10 C 8/17, juris Rn. 14. line veröffentlicht bei juris.

162 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Ausschluss des Wahlrechts aufgrund von Richter- präsentation traf. Dem vorausgegangen war eine Po- spruch bzw. durch die Bestellung eines Betreuers pularklage, erhoben durch einige Vereine und Ver- zum Gegenstand haben, mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG bände, gerichtet gegen ein Füllhorn einzelner Rege- sowie Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG unvereinbar sind. Ähnlich lungen aus dem Wahlvorschlagsrecht der Parteien wie schon im thüringischen Sondervotum arbeitet und Wählergruppen bei den Landtags-, Bezirkstags-, das Verfassungsgericht mit einem strengen und for- Gemeinde- und Landkreiswahlen. Durch diese Rege- malen Gleichheitsbegriff und kommt so zu dem Er- lungen sahen sich die Antragsstellerinnen und An- gebnis, dass der durch § 13 Nr. 2, 3 BWahlG nor- tragssteller in einer Vielzahl ihrer Rechte aus der mierte Eingriff nicht zu rechtfertigen ist. Durch den Bayerischen Verfassung sowie dem Grundgesetz Beschluss werden neben gleichheitsrechtlichen Fra- verletzt. Im Detail verstießen nach Auffassung der gen – der Auslegung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG so- Antragsstellerinnen und Antragssteller die nicht-pa- wie dem Verhältnis von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu ritätischen Regelungen zum Wahlvorschlagsrecht Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG157 – eine Vielzahl weiterer auf Ebene des Landes, der Gemeinden, der Land- Fragestellungen aufgeworfen: Inwieweit kann der kreise sowie der Bezirke gegen das Grundrecht Gesetzgeber verfassungkonform das Wahlrecht ein- weiblicher Bewerberinnen auf Chancengleichheit fachgesetzlich beschränken?158 Wie ist es um die bei der Aufstellung von Wahlvorschlägen durch die Möglichkeit einer Stellvertretung bei der Wahl be- Parteien und Wählergemeinschaften. Im Übrigen stellt?159 Und, bedingt durch die hierbei zu beachten- verstießen die Regelungen gegen das Volksstaats- den Bestimmungen u.a. des Internationalen Pakts prinzip, das Grundrecht der Bürgerinnen auf Demo- über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) so- kratie, gleichberechtigte demokratische Teilhabe so- wie der EMRK: Sind hier – und wenn ja, wie – völ- wie auf die effektive Einflussnahme auf die Staatsor- kerrechtliche Bestimmungen im Rahmen der Ausle- gane im Freistaat Bayern. Darüber hinaus wurde zu- gung des GG zu berücksichtigen?160 Insgesamt also gleich durch die Antragsstellerinnen und Antrags- Fragen genug, die erwarten lassen, dass der Be- steller ein pflichtwidriges gesetzgeberisches Unter- schluss des BVerfG in kommender Zeit große lassen gerügt: Demnach ergebe sich aus Art. 118 Beachtung in der wahl-, verfassungs- und völker- Abs. 2 BV – dem landesverfassungsrechtlichen Pen- rechtlichen Literatur finden wird und auch den Ge- dant zu Art. 3 Abs. 2 GG auf Ebene des Bundes – setzgeber in Berlin neuerlich auf den Plan ruft. „ein bindender Verfassungsauftrag zur paritätischen Ausgestaltung des gesetzgeberischen Wahlvor- „Männlich geprägte[.] Parteistrukturen“ gaben in Mün- schlagsrechts der Parteien und Wählergruppen durch chen den Anlass dafür, dass der dortige BayVerfGH161 den Landesgesetzgeber“.162 Diese zwei Auffassun- grundsätzliche Erwägungen zum Demokratieprinzip gen – also sowohl den aktiven Verstoß der bereits und damit einhergehend seinem Verständnis von Re- bestehenden Regelungen sowie das gesetzgeberische 157 BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14, juris Unterlassen – begründeten die Antragsstellerinnen Rn. 39 ff. und Antragssteller mit der Tatsache, dass Bürgerin- 158 Eine erste Einschätzung hierzu liefert V. Aichele, VB vom Blatt: nen mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sechs Antworten von VALENTIN AICHELE zum BVerfG- das geltende Wahlvorschlagsrecht aber zu strukturel- Beschluss zum Wahlrecht von Menschen mit Behinderung, Verfassungsblog vom 21. Februar 2019, abrufbar unter ler mittelbarer Diskriminierung von (potentiellen) https://verfassungsblog.de/vb-vom-blatt-sechs-antworten-von- Kandidatinnen im Nominierungsverfahren führe. valentin-aichele-zum-bverfg-beschluss-ueber-das-wahlrecht-von Außerdem bedürfe es in einer repräsentativen Demo- -menschen-mit-behinderung/ (zuletzt abgerufen am 27.02.2019). kratie des effektiven Einflusses der Bürgerinnen und 159 Dazu A. v. Notz, Selbstbestimmung schließt Vertretung nicht Bürger auf die Ausübung der Staatsgewalt; um der aus: Die Mär von der demokratienotwendigen Höchstpersön- Responsivität zu entsprechen, müssten sich aber lichkeit der Wahl, Verfassungsblog vom 24.02.2019, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/selbstbestimmung-schliesst-ver auch die Präferenzen der Bürgerinnen in der Ein- tretung-nicht-aus%ef%bb%bf-die-maer-von-der-demokratienot flussnahme ausdrücken. Nicht zuletzt erörterten die wendigen-hoechstpersoenlichkeit-der-wahl/ (zuletzt abgerufen Antragsstellerinnen und Antragssteller auch eine am 27.02.2019). mögliche Beeinträchtigung der Freiheit der Parteien, 160 Dazu M. Breuer, Bundesverfassungsgericht versus Behinderten- indem in das Nominierungsverfahren eingegriffen rechtsausschuss: Wer hat das letzte Wort?, Verfassungsblog werde. Dabei argumentieren sie, dass das Nominie- vom 25.02.2019, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ bundesverfassungsgericht-versus-behindertenrechtsausschuss- rungsverfahren „sich durch völlige Intransparenz wer-hat-das-letzte-wort/ (zuletzt zugegriffen am 27.02.2019). und mangelnde Kontrolle durch die Öffentlichkeit 161 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 16, in: NVwZ-RR 2018, 457-472; das eingangs gewählte Zi- 162 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- tat ist nachzulesen auf juris, Rn. 19. 16, juris Rn. 18.

163 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. oder sonstige Einrichtungen“163 auszeichne. „Da- nen“168 ist. Nach einem kurzen Blick auf die Maas- durch werde es zum Einfallstor für eine subtile Dis- tricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kriminierung von Frauen aufgrund verfestigter mas- und die Frage, ob ein materieller Gewährleistungsge- kuliner Parteistrukturen. Entsprechendes gelte für halt des Art. 38 Abs. 1 GG sich auch auf die Ebene die Bestimmung der Reihenfolge sämtlicher sich be- der Bayerischen Verfassung übertragen ließe – was werbender Personen auf der Wahlkreisliste“.164 i.E. offengelassen wird – gelangten die Verfassungs- Durch die angestrebten Änderungen werde die inner- richter schließlich zum Kernstück der Entscheidung: parteiliche Demokratie somit „letztlich lediglich aus- Was heißt Repräsentation? Die Richter nähern sich gestaltet“. Sollte dennoch ein Eingriff vorliegen, dieser Frage über ein klassisches Verständnis des wäre dieser „durch verfassungsrechtlich legitimierte Demokratiebegriffs: „Demokratie meint Herrschafts- Gründe jedenfalls gerechtfertigt“.165 Auf insgesamt ausübung durch das Volk selbst oder durch von ihm 159 Randnummern nahmen sich die Richterinnen legitimierte Organe.“169 Das daraus resultierende und Richter der vorgebrachten Argumente an, was freie Mandat und der damit einhergehende repräsen- insoweit bemerkenswert ist, als dass die Klage be- tative Status der Abgeordneten führen dazu, dass reits teilweise unzulässig, im Übrigen „nicht zwei- Abgeordnete das ganze Volk vertreten und nicht – felsfrei“166 zulässig war. Dabei identifizierte der hier liegt der Knackpunkt der Entscheidung – einem BayVerfGH das gerügte Unterlassen als Schwer- Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungs- punkt der Popularklage und wirft den Antragssteller- gruppe verantwortlich sind. Damit unvereinbar sei innen und Antragsstellern vor, dass diese nur „allge- demnach eine „Spiegelung“ der weiblichen Wahlbe- mein“167 eine fehlende Parität monieren würden. völkerung in den Parlamenten. Im Übrigen sei auch Ausführungen dazu, inwieweit das bestehende Sys- das Argument einer höheren „Responsivität“ nicht tem paritätisch ausgestaltet werden könnte, fehlten. für die Einführung einer Frauenquote nutzbar zu ma- Die vorgebrachte Anlehnung an die französische Bi- chen: Schließlich werde damit wesentlich die Forde- nomregelung sei lediglich ein „pauschaler Vor- rung nach inhaltlicher demokratischer Repräsentati- schlag“. Insoweit verwundert es auch nicht, dass das on durch inhaltliche Rückbeziehung verknüpft, nicht Gericht die passive Wahlgleichheit von Kandidatin- aber formale, personelle Fragen. Aus parteienrechtli- nen für nicht verletzt erachtet: Systematisch arbeitet cher Sicht erscheinen abschließend noch die Ausfüh- es dabei die von den Vereinen und Verbänden vor- rungen zur Vereinbarkeit mit dem Gebot innerpartei- gebrachten Argumente ab. Insbesondere spreche ge- licher Demokratie von besonderem Interesse. Eine rade die Idee der formalen Chancengleichheit nicht Absage wird insoweit der Forderung erteilt, eine für, sondern gerade gegen eine Einführung von Frau- Frauenförderung durch Quotenregelungen auf enquoten bzw. eine Paritätsverpflichtung. Diese Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG zu stützen. Das Gebot inner- stellt demnach eine grundsätzlich unzulässige Diffe- parteilicher Demokratie stelle demnach „lediglich renzierung dar und bedürfe ihrerseits wiederum der ein demokratisches Minimum“170 dar. Ein Anspruch verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Sodann er- auf geschlechterproportionale Besetzung ergebe sich kennt das Gericht, gestützt auf zahlreiche Rechtspre- daraus aber nicht. Vielmehr würden Parteien durch chungs- und Literaturnachweise, zwar auch die Mög- die Quote in ihrer Programmfreiheit, Organisations- lichkeit einer mittelbaren Diskriminierung an; legt freiheit sowie Wahlvorschlagsfreiheit beschränkt. sodann Art. 118 Abs. 2 S. 1 BV [„Frauen und Män- Auf den letzten Randnummern widersprechen die ner sind gleichberechtigt.“] dahingehend aus, dass das Richter schließlich der Erwartung, dass paritätische begehrte Ziel, ein Gegensteuern durch den Staat mit- Listen eine paritätische Besetzung bspw. des Landta- tels paritätischer Vorgaben, „nicht mehr dem Schutz- ges sicherstellen könnten und greifen schließlich bereich des aus Art. 118 Abs. 2 Satz 1 BV abzuleiten- auch die Paritégesetzgebung aus Frankreich mit dem den rechtlichen Differenzierungsverbots zuzuord- Verweis auf, dass dort eine Verfassungsänderung vorausgegangen ist. Summa summarum könnte die 163 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 16, juris Rn. 25. Entscheidung des BayVerfGH aktueller kaum sein. 164 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- Schließlich ist der Ruf nach einem Paritégesetz nicht 16, juris Rn. 25. 165 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 168 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 16, juris Rn. 26. 16, juris Rn. 91. 166 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 169 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 16, juris Rn. 51. 16, juris Rn. 111. 167 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 170 BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2018 – Vf. 15-VII- 16, juris Rn. 60. 16, juris Rn. 142.

164 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung nur aus Bayern zu vernehmen;171 jüngst hat gar der schehen, realisiert werden könnte. Darüber hinaus Brandenburgische Landtag mit der Verabschiedung haben die Antragstellerinnen und Antragsteller gegen des sogenannten Inklusiven Parité-Gesetzes gesetz- die Entscheidung des BayVerfGH Verfassungsbe- lich Fakten geschaffen.172 Umso erfreulicher ist die schwerde vor dem BVerfG erhoben.176 Neben der an- Tatsache, dass trotz der bereits zweifelhaften Zuläs- gestoßenen breiten gesellschaftlichen Debatte wird sigkeit der Popularklage das Gericht zu allen vorge- sich so wohl auch die Fachöffentlichkeit weiter mit brachten Argumenten Stellung bezogen hat.173 Hin- der Möglichkeit einer Paritégesetzgebung im Rah- sichtlich der alles entscheidenden Frage – welches men des GG beschäftigen. Verständnis von Repräsentation liegt dem Demokra- Über eine zulässige und – was eher eine Ausnahme tieprinzip zugrunde – begaben sich die Richter auf als die Regel darstellt – sogar mandatsrelevante vertraute Pfade, sodass die Entscheidung letzten En- Wahlprüfungsbeschwerde, die sich unter dem Namen des wenig überrascht.174 Dennoch ist der Debatte um des nicht in den Landtag eingezogenen Kandidaten die Paritégesetzgebung damit keinesfalls der Zahn „Samtleben“ seit 2014 und einer bis heute anhalten- gezogen. Vielmehr hat sie in der breiten Öffentlich- den großen medialen Beliebtheit erfreut, entschied keit wohl erst durch den Vorstoß aus Brandenburg nun der VerfGH Sachsen177. Stein des Anstoßes war und die daraufhin folgenden Stellungnahmen zahl- der Umstand, dass im Zuge der Wahlen zum 6. Säch- reicher Spitzenpolitiker erst richtig an Fahrt aufge- sischen Landtag sowohl der ursprüngliche Kandidat nommen. Der Fall zeigt, dass Wahlrecht und Verfas- für Listenplatz 2 wie auch für Listenplatz 14, Arvid sungsrecht nicht unabhängig voneinander gedacht Samtleben, von der AfD-Liste durch Beschluss des werden können. Sollen Parteien also dazu angehal- Landesvorstandes des Landesverbandes Sachsen ge- ten werden, paritätische Listen zu erstellen, ginge strichen wurden. Das Verfassungsgericht ging in der dies nach Ansicht der bayerischen Richter nicht über Wahlprüfungsbeschwerde auf die Umstände der eine materielle Sicht auf Demokratie und Repräsen- Streichung nicht näher ein und stellte lediglich fest, tation.175 Der abschließende Verweis auf die Gesetzes- dass die Hintergründe „streitig“ sind.178 Tatsächlich lage jenseits des Rheins kann somit als zutreffender steht die Frage im Raum, inwieweit die Kandidaten Hinweis gewertet werden, dass – wenn ein Wunsch verpflichtet waren, der Partei zwecks Finanzierung nach paritätischen Listen besteht – dies mittels einer des Wahlkampfes ein Darlehen bzw. eine Spende zu Verfassungsänderung, wie etwa in Frankreich ge- gewähren. Ein ebenso damit in Zusammenhang ste- hendes Verfahren gegen die ehemalige Landesvorsit- 171 Überblick bei M. Morlok/A. Hobusch, Ade parité? – Zur Ver- fassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei zende, , wegen des Verdachts der Falsch- Landeslisten, in: DÖV 2019, 14 (14). aussage vor dem Wahlprüfungsausschuss, wird erst 172 Siehe zu den konkreten Änderungen Beschlussempfehlung in diesem Jahr vor dem LG Dresden verhandelt. Im und Bericht des Ausschusses für Inneres und Kommunales, jetzt beendeten Verfahren vor dem VerfGH Sachsen Landtag Brandenburg, 6. Wahlperiode, Drucks. 6/10466, 1 ff., wendete sich der Beschwerdeführer gegen die Ent- abrufbar unter: https://www.parlamentsdokumentation.brand scheidung des Landeswahlausschusses und die Zu- enburg.de/parladoku/w6/drs/ab_10400/10466.pdf; (zuletzt ab- gerufen am 27.02.2019). lassung der geänderten Liste zur Landtagswahl zu- 173 Diesen Aspekt betont auch Ch. Schmidt, Kein Anspruch auf nächst noch vor der Wahl im Wege der Verfassungs- geschlechterproportionale Wahlvorschläge bei Landtags- und beschwerde, die aber durch Beschluss vom VerfGH Kommunalwahlen, in: NVwZ 2018, 881 (882). und mit Verweis auf die Möglichkeiten des Rechts- 174 Der Entscheidung zustimmend etwa Ch. Schmidt, Kein An- schutzes nach der Wahl verworfen wurde. Tatsäch- spruch auf geschlechterproportionale Wahlvorschläge bei lich erhob der Beschwerdeführer nach der Wahl, d.h. Landtags- und Kommunalwahlen, in: NVwZ 2018, 881 ff.; im September 2014, Einspruch gegen die Gültigkeit ebenso A. Heusch/F. Dickten, Zum verfassungsrechtlichen Status der Kommunen, in: NVwZ 2018, 1265 (1267). Scharfe der Landtagswahl. Darüber beriet der Wahlprüfungs- Kritik äußert hingegen S. Laskowski, Zeit für Veränderungen: ausschuss des neu gewählten Landtages erstmals Ein paritätisches Wahlrecht jetzt!, in: RuP 2018, 391 (401, auch im Dezember 2014, empfahl aber aufgrund hier Fn. 58). 175 Grundsätzlich a.A. S. Laskowski, Zeit für Veränderungen: Ein 176 Az. 2 BvR 834/18, s. S. Laskowski, Zeit für Veränderungen: paritätisches Wahlrecht jetzt!, in: RuP 2018, 391 (399 ff.); Ein paritätisches Wahlrecht jetzt!, in: RuP 2018, 391 (392). ebenso Ch. Hohmann-Dennhardt, Parité, in: Süddeutsche 177 Zeitung Nr. 34/2019, 5; differenzierend S. Jürgensen, Das VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, in: Versprechen der modernen Demokratie: zur Debatte parla- JZ 2018, 771-777. Zur Beachtung auch in der überregionalen mentarischer Parität, Verfassungsblog vom 04. Februar 2019, Presse vgl. statt vieler nur M. Amann/St. Winter, Alternative abrufbar unter https://verfassungsblog.de/die-versprechen-der Demokratie, in: Der Spiegel Nr. 42/2016, 42 f. -modernen-demokratie-zur-debatte-parlamentarischer-paritaet/ 178 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, ju- (zuletzt abgerufen am 27.02.2019). ris Rn. 2.

165 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2019 25. Jhrg. mehrerer mündlicher Verhandlungstermine, Zeugen- bezirk, schlossen die Richter in knappen Sätzen aus: vernehmungen sowie der Einholung mehrerer Stel- Ersterem fehle seinerseits die erforderliche demokra- lungnahmen und Rechtsgutachten dem Landtag erst tische Legitimation; ein ersatzloser Mandatsentzug knapp zweieinhalb Jahre später, also im Juni 2017, scheide zudem schon deshalb aus, weil die nachge- die Zurückweisung des im Übrigen zulässigen Wah- rückten Listenkandidaten über die Landesliste ge- leinspruches. Diese Empfehlung nahm der Landtag wählt wurden. Für eine Berichtigung in Form von ei- schließlich an, sodass der Beschwerdeführer unter ner punktuellen Wiederholungswahl fehle in Verfas- Aufhebung eben jenes Beschlusses die Ungültig- sung und Wahlgesetz jegliche Grundlage. Zuletzt erklärung der Landtagswahlen, hilfsweise die An- kam schließlich nur noch die Ungültigerklärung in ordnung von Neuwahlen, beantragte. Bemerkenswert Betracht – doch auch diese lehnten die Verfassungs- ist das Urteil dabei insoweit, als dass die Leipziger richter, gestützt auf immerhin sechs Argumente, ab. Richter zwar einen mandatsrelevanten Wahlfehler Im Kern verhandelten die Richter hier die Frage, ob erkennen, in der Folge aber weder die Auswechslung der Fortbestand des Landtages „unerträglich“ ist. von Mandatsträgern, noch die Ungültigerklärung der Dies verneinten sie sodann, mit dem Hinweis, dass Wahl oder die Anordnung von Neuwahlen anordnen. der Landtag in seiner tatsächlichen Zusammenset- Im Detail ging das Gericht zunächst der Frage nach, zung demokratisch legitimiert sei und auch das tat- inwieweit die §§ 23, 24 SächsWahlG, die die Zu- sächliche Wahlergebnis zutreffend widerspiegelt. rücknahme und Änderung von Kreiswahlvorschlä- Zudem seien die gewählten Kandidaten nicht „auf gen zum Gegenstand haben, eine starke Stellung der ihren Platz“, etwa von entfernten Listenplätzen oder Vertrauenspersonen begründen, sodass diese eigen- von außerhalb, „gehoben worden“. Zudem würde mächtig personellen Änderungen des Wahlvor- eine Neuwahl zur Beendigung der übrigen – demo- schlags vor Ablauf der Einreichungsfrist vornehmen kratisch legitimierten – Mandate der Abgeordneten können. Zu Recht verwarfen die Richter eine solche führen, was „seinerseits unter dem Gesichtspunkt Kompetenz der Vertrauenspersonen mit Blick auf des Demokratieprinzips und unter Berücksichtigung das Gebot der innerparteilichen Demokratie. Erst die des passiven Wahlrechts der übrigen Abgeordneten Aufstellungsversammlung und das darin zum Aus- sowie des aktiven Wahlrechts derjenigen Wähler, druck kommende demokratische Votum der Partei deren Stimmen der übrigen Landtagssitzverteilung verleiht den Kandidaten ihre Legitimation. Folge- zu Grunde liegen, unerträglich [erschiene]“.180 Von richtig stellen die Vertrauenspersonen somit kein de- einem gewissen Misstrauen gegenüber den Parteien mokratisches Legitimationsäquivalent dar; die nach- scheint zudem das schließlich letzte Argument ge- trägliche Änderung ist somit ein Wahlfehler. Um- prägt zu sein. Demnach sei „in die Abwägung einzu- stritten war sodann, ob dieser auch die Hürde der stellen, dass im Fall der Ungültigerklärung ein im Mandatsrelevanz nehmen würde. Der Wahlprüfungs- Ausgangspunkt parteiinterner Wahlfehler auf die ge- ausschuss lehnte dies ab, da sich durch die personel- samte Wahl durchschlüge und den Parteien damit le Änderung der Listen die Fraktionsstärken im Par- die Möglichkeit eröffnet wäre, nach der Wahl mittel- lament nicht verändert hätten. Dieser Rechtsauffas- bar Einfluss auf den Fortbestand des Parlaments zu sung schloss sich der VerfGH jedoch nicht an: Die nehmen“.181 Kandidatenaufstellung läge auf der „Nahtstelle“ zwi- Wie eingangs erwähnt sind erfolgreiche Wahlprü- schen Parteien- und Wahlrecht und „ist für den de- fungsbeschwerden nur spärlich gesät. Des mangeln- mokratischen Gesamtcharakter der Wahl von ent- den Erfolges in der Sache zum Trotz wird das Urteil scheidender Bedeutung“.179 Dementsprechend sei eine des VerfGH Sachsen wohl dennoch einen festen Auswirkung auf die personelle Zusammensetzung des Platz in der einschlägigen Rechtsprechung zum Landtages für das Vorliegen der Mandatsrelevanz Wahlrecht einnehmen. Schließlich vereint es eine ausreichend. Da die AfD bei den Wahlen 14 Sitze Vielzahl der wesentlichen Probleme des Wahlprü- errang, konnte auch diese Hürde genommen werden. fungsrechts in sich: Wann liegt ein Wahlfehler vor? Interessant war sodann, welche Schlüsse die Richter Wann ist dieser mandatsrelevant? Und wann „darf“ aus diesem Wahlfehler ziehen würden. Insgesamt zur ultima ratio, sprich einer Wahlwiederholung, ge- wurden vier verschiedene Konsequenzen diskutiert. griffen werden? Die Ausführungen bezüglich des Sowohl eine bloße Auswechslung, ein ersatzloser Vorliegens eines Wahlfehlers überraschen insoweit Mandatsentzug, wie auch eine Berichtigung, be- schränkt auf die Wahlwiederholung in einem Wahl- 180 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, ju- ris Rn. 82. 179 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, ju- 181 VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, ju- ris Rn. 63. ris Rn. 83.

166 MIP 2019 25. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung nicht: Tatsächlich würde eine „starke Stellung“ der zeugt somit keines der genannten Argumente für Vertrauenspersonen, wie sie insbesondere der Wahl- sich und auch nicht in der Summe, um eine Wahl- prüfungsausschuss zu begründen suchte,182 konse- wiederholung abzuwenden. Vielmehr ist kritisch zu quent weitergedacht zu einer massiven Schwächung hinterfragen, inwieweit das Urteil nicht auch ein stü- und schließlich zur Entwertung der Entscheidungen ckweit das Vertrauen der Bürger in demokratische der Aufstellungsversammlung führen, was i.E. un- Wahlen erschüttert: Können, wie vom VerfGH vereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Sachsen angenommen, selbst extreme Wahlfehler innerparteilichen Demokratie wäre. Auch die Aus- mit einem überwiegenden Bestandsschutz gerecht- führungen zur Mandatsrelevanz überzeugen: Dem fertigt werden, entwertet dies den gesamten Wahl- Gericht ist dabei zuzustimmen, indem es bei der vorgang. Solchen Tendenzen gilt es jedoch schon im Verortung des maßgeblichen Referenzpunktes unge- Kern entgegenzutreten, sodass die Anordnung einer achtet der Auffassung des Wahlprüfungsausschusses Wahlwiederholung angezeigt gewesen wäre. auf die personelle Besetzung des Landtages und Frederik Orlowski nicht „nur“ auf die Stärke der Fraktionen abgestellt hat. Unmittelbar daran schließt sich aber auch der Hauptkritikpunkt an: Ausgehend vom Ergebnis der Wahlprüfungsbeschwerde – welches angesichts des „krassen“ Wahlfehlers doch überraschend ist – erge- ben sich Zweifel, inwieweit die vom Gericht entwi- ckelten Argumente tatsächlich die Verneinung einer Wahlwiederholung rechtfertigen können. Abgesehen von dem Argument, dass der Bewerber nicht auf den Listenplatz gehoben wurde – „es hätte noch schlim- mer kommen können“ ist kein sachliches Argument – arbeitet das Gericht ganz wesentlich mit dem Ge- danken des Bestandsschutzes, der sich auch in den übrigen fünf Argumenten wiederfindet. Bemerkens- wert ist dieser Befund insoweit, als dass der Ge- sichtspunkt des Bestandsschutzes eigentlich schon bereits auf Ebene der Mandatsrelevanz Berücksichti- gung findet. Findet dieser nun aber auch auf Ebene der „Unerträglichkeitsprüfung“ Berücksichtigung, droht zumindest die Gefahr, dass durch das doppelte Rekurrieren auf das Bestandsschutzinteresse dieses gegenüber dem Interesse an einer ordnungsgemäßen Besetzung des Parlaments überberücksichtigt ist.183 Im Übrigen – um ein ebenso seit Langem diskutier- tes Problem aufzugreifen – würde dem Argument der Berücksichtigung der übrigen Mandate, die nun vorzeitig beendet werden würden, wie auch der ggf. eingeräumten mittelbaren Einflussmöglichkeit der Parteien auf den Fortbestand des Parlaments nach der Wahl,184 der Boden entzogen, wenn man zumin- dest bei gravierenden Wahlfehlern die Möglichkeit von (zügigem) gerichtlichen Rechtsschutz vor der Wahl eröffnen würde. Bei Lichte betrachtet über-

182 So aber auch J. Ipsen, Streichung eines Listenkandidaten – Ein Wahlfehler?, in: RuP 2016, 214 (215 f.). 183 Ähnlich wie hier Th. Koch, „Bestandsschutz“ für Parlamente? – Überlegungen zur Wahlfehlerfolgenlehre, in: DVBl 2000, 1093 ff. 184 Dieses Argument ebenso kritisch hinterfragend, wenn auch der Entscheidung des Gerichts – anders als hier – zustimmend A. von Notz, Anmerkung, in: JZ 2018, 777 (779 f.).

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Rezensionen schneiden als bisher. Gab es nach der Bundestags- wahl 2013 nur 33 Zusatzmandate, so stieg deren An- Joachim Behnke/Frank Decker/Florian Grotz/ teil 2017 auf sage und schreibe 111. Robert Vehrkamp/Philipp Weinmann: Reform Eben das hatten die Verfasser dieser Studie der Ber- des Bundestagswahlsystems. Bewertungskriterien telsmannStiftung befürchtet. Der Text wurde vor der und Reformoptionen, BertelsmannStiftung, Gü- Bundestagswahl 2017 fertiggestellt, aber erst danach tersloh 2017, 206 S., ISBN 978-3-86793-750-4, € 25. publiziert. Eingangs erörtern der Hamburger Politik- Bundestagspräsident Norbert Lammert war wohl der wissenschaftler Florian Grotz und der Wirtschafts- einzige Abgeordnete, der sich zwischen 2013 und wissenschaftler Robert Vehrkamp von der Bertels- 2017 unermüdlich für eine Reform des Wahlsystems mannStiftung das Hin und Her um das Zustande- ausgesprochen hatte, um eine Aufblähung des Bun- kommen des Wahlsystems von 2013. Plausibel be- destages zu vermeiden. Er wartete sogar mit einem nennen sie die hier bereits erwähnten Schwächen. eigenen, die Proportionalität nicht ganz wahrenden Und zu Recht erwähnen sie das unermüdliche Enga- Vorschlag auf. Zudem plädierten zahlreiche Politik- gement Norbert Lammerts. Ihre Leitfrage, die dieser und Rechtswissenschaftler unterschiedlicher Cou- Studie zugrunde liegt, lautet: „Wie kann die Grund- leur vor der Bundestagswahl 2017 für eine derartige struktur der personalisierten Verhältniswahl bewahrt Reform – ebenfalls vergebens. werden, ohne eine Verzerrung beim nationalen Par- teienproporz oder eine deutliche Vergrößerung des Die Vorgeschichte zu dem im Schnittfeld von Recht Bundestages zu verursachen“ (S. 39)? und Politik angesiedelten Problem: Bei der Bundes- tagswahl 2005 gab es in Dresden eine Nachwahl auf- Im zweiten Kapitel entwirft Grotz Kriterien und An- grund des Todes eines Wahlkreiskandidaten. Die satzpunkte für eine nachhaltige Wahlsystemreform. Konsequenz: Weniger Zweitstimmen für die CDU Unter dieser begreift er eine Reform, die Legitimität und der Gewinn des Direktmandates führten zu einem mit Effizienz verbindet. Im Vordergrund steht also (weiteren) CDU-Überhangmandat. Nach der Klage nicht das politisch Machbare, sondern das demokratie- riefen Bürger daraufhin das Bundesverfassungsge- theoretisch Wünschbare. Den allgemeinen Kriterien richt an, das in seinem Urteil von 2008 dieses negati- (im Anschluss an Dieter Nohlen ist von Repräsenta- ve Stimmgewicht als verfassungswidrig deklarierte. tion, Konzentration, Partizipation, Einfachheit und Der Bundestag müsse bis Mitte 2011 das Wahlge- Legitimität die Rede) – sie stehen zum Teil in einem setz ändern. Da die Parteien angesichts unterschied- gewissen Zielkonflikt zueinander – folgen kontext- licher handfester Interessen keine Übereinkunft zu bezogene. Hierzu zählen verfassungsgerichtliche erzielen vermochten, beschloss das Parlament mit Vorgaben (Vermeidung des negativen Stimmge- der Mehrheit von Union und FDP ein kompliziertes wichts, vollständige Kompensation von Überhang- Wahlgesetz, das durch das Bundesverfassungsge- mandaten), angemessene Funktionseigenschaften richt im Juli 2012 nach einem Normenkontrollantrag des Wahlsystems wie Proportionalität (mit Blick auf der SPD und der Grünen erneut für verfassungswid- Parteien- und Länderproporz), Partizipation (mit rig erklärt wurde, u.a. deshalb, weil zahlreiche Über- Blick auf differenzierte Stimmgebung, Personalisie- hangmandate das Wahlergebnis verzerren könnten. rung und Dichte der Wahlkreise) und Transparenz Sie seien lediglich bis zu einer Größe von 15 tole- (mit Blick auf Verständlichkeit und Einhaltung der rierbar. Nun einigten sich die Bundestagsparteien Parlamentsgröße) sowie die politischen Rahmen- schnell auf ein neues Wahlverfahren – nur Die Linke bedingungen (Reformumfang, parteipolitische Neu- votierte dagegen. tralität). Bei den Reformen spielen drei Grundkom- ponenten eine Rolle: die Stimmenverrechnung, die Das Anfang 2013 verabschiedete Wahlgesetz sieht Stimmgebung, der Wahlkreis. Dieses Kapitel liefert einerseits einen vollständigen Ausgleich von Über- damit eine ausgezeichnete Grundlage für die nach- hangmandaten vor und macht andererseits das nega- folgend vorgestellten Reformprojekte. tive Stimmgewicht unmöglich. Der gravierende Nachteil (neben der mangelnden Nachvollziehbar- In dem Text des Freiburger Politikwissenschaftlers keit bei der Berechnung der Mandate): die ange- Philipp Weinmann wird die Stimmenverrechnung sichts der Fragmentierung des Parteiensystems zu er- anhand von zwei Beispielen geprüft. Die beiden wartende Aufblähung des Bundestages durch Zu- Verfahren, die der Autor zugrunde legt, versuchen satzmandate vor allem dann, wenn große Parteien einen Ausgleich zwischen der Einhaltung der Normal- zwar mehr oder weniger alle Direktmandate gewin- größe des Bundestages und dem innerparteilichen nen, aber bei den Zweitstimmen weniger gut ab- Proporz zu finden. Bei dem einen Modell (Peifer/

168 MIP 2019 25. Jhrg. Rezensionen

Pukelsheim III) kommt der innerparteiliche Proporz der Zweipersonenwahlkreise neigt (die Konflikte schlechter weg als die Begrenzung der Größe des zwischen den Kandidaten einer Partei kommen nicht Bundestages, bei dem anderen Modell (Behnke/ zur Sprache), ohne dieses ganz offen zu propagieren, Weinmann) ist es gerade umgekehrt. Der stark ma- plädiert der Rezensent für eine Halbierung der Zahl thematisch angelegte Beitrag erweckt den Eindruck, der Einpersonenwahlkreise. Mithin sind Überhang- beide Reformoptionen böten eine mögliche Lösung. mandate faktisch ausgeschlossen. Neben dem Wahl- Die Bewertung (etwa hinsichtlich der Transparenz) kreisgewinner ziehen in einem Wahlkreis im Schnitt fällt weitaus zu positiv aus. Zum Schluss heißt es al- drei über die Liste gewählte Abgeordnete ein, wäh- lerdings ganz klar: „Um beide Ziele zuverlässig zu- rend bei den Zweipersonenwahlkreisen das Verhältnis gleich erreichen zu können, bedarf es zusätzlich ei- von Direkt- und Listenmandaten gleich bliebe. Dieser ner Reform der Direktmandatsverteilung, die die An- minimalinvasive Eingriff würde die Aufblähung des zahl entstehender Überhangmandate deutlich redu- Parlaments beseitigen. Es ist ein unhaltbarer Zu- ziert“ (S. 96). In der Tat, aber wieso wird dann über- stand, dass Stimmenverluste für Parteien sich nicht haupt eine solche Variante in Erwägung gezogen? notwendigerweise in Mandatsverlusten niederschla- gen. Die SPD hatte im Bundestag 2009 mit 23,0 Pro- Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker ana- zent 146 Mandate und 2017 mit 20,5 Prozent 153. lysiert das Einstimmensystem, auch in der Variante mit einer Nebenstimme. Diese kommt dann zum Die Schrift, weithin wie aus einem Guss, da die Auto- Zuge, wenn die Hauptstimme eine Partei erhält, die ren sich an den von Grotz entfalteten Kriterien orien- an der Fünfprozenthürde gescheitert ist. Beide Vari- tieren, betont zu Recht die Notwendigkeit einer Re- anten, die der Rezensent seit Jahrzehnten verficht, form und gelangt zu einem klaren Ergebnis: „Ohne schneiden positiv ab (z.B. in puncto Partizipation, eine Veränderung der Wahlkreisstruktur ist mithin Personalisierung und Transparenz). Was oft überse- keine nachhaltige Reform des Bundestagswahlsys- hen wird: Das Zweistimmensystem fördert faktisch tems zu erreichen. Sie ist der einzig praktikable bloß Scheinpartizipation, da es der Erststimme weit- Weg, die Überhangmandate faktisch zu eliminieren hin an Relevanz fehlt. Wenn ein Kandidat deutlich und damit das Problem an der Wurzel zu packen“ mehr Erststimmen gewinnt als seine Partei Zweit- (S. 190) – so das Fazit von Grotz und Vehrkamp. Sie stimmen, ist der Effekt jetzt irrelevant. Bei einem beklagen den mangelhaften Handlungseifer der Poli- Einstimmensystem dagegen zählt die Stimme für tiker in eigener Sache. Obwohl eine Reform der Re- Partei und Kandidaten. Wer sein Kreuz nur wegen form von höchster Dringlichkeit ist, spielt der Ge- eines Kandidaten macht, hilft so auch der Partei. Al- setzgeber auf Zeit – wieder einmal. Aus der achtköp- lerdings lösen die beiden Varianten lediglich in ge- figen Arbeitsgruppe unter der Ägide des neuen Bun- ringem Umfang das Problem der Überhangmandate, destagspräsidenten Wolfgang Schäuble dringt nichts die Ausgleichsmandate nach sich ziehen. Das er- Verheißungsvolles nach außen, das auf ein konstruk- wähnt Decker zwar, ohne aber näher auf die Größen- tives Ergebnis schließen ließe. Für Schäuble wäre ordnung einzugehen. schon viel gewonnen, das Wahlgesetz in dieser Le- gislaturperiode zu verabschieden, es aber erst nach Der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der der nächsten in Kraft treten zu lassen. Das stoße auf Zeppelin Universität in Friedrichshafen kommt zum eine größere Akzeptanz durch die Abgeordneten, Kern der Sache und prüft zwei Reformoptionen: die hofft er. Einführung von Zweipersonenwahlkreisen und – etwas weniger ausführlich – die Reduktion der Anzahl an Diese dürfen die Erkenntnisse der Studie nicht igno- Einpersonenwahlkreisen. In bewährt-bester Manier rieren. Sollten sie es nicht schaffen, in der jetzigen erörtert der Autor die diffizile Problematik. Sein über- Legislaturperiode eine überfällige Reform der Re- zeugend begründetes Votum fällt positiv aus: „Der form auf den Weg zu bringen, müsste als Ausweg entscheidende Punkt […], warum die geographische eine Sachverständigenkommission, deren Ergebnis Nähe der Bürger zu ihren Abgeordneten weniger der Bundestag dann übernimmt, gebildet werden, da- schützenswert erscheint als der Interparteien- oder der mit die weitere Aufblähung des Bundestages ein Intraparteienproporz, besteht schlicht in der Tatsache, Ende findet. Dieser hat in der Theorie 598 Abgeord- dass die Verletzung der letztgenannten Prinzipien nete – und so sollte es auch in der Praxis sein. Das zulasten bestimmter Gruppen, Parteianhänger oder ist nicht zu viel verlangt. Landeslisten geht, die einseitig die Kosten für Ver- günstigungen anderer Gruppen zu tragen haben“ Prof. Dr. Eckhard Jesse (S. 169). Anders als der Autor, der zu dem Modell

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Gausing, Bettina: Das Abgeordnetenmandat zwi- gilt der Rechtsstellung der Abgeordneten in dieser schen Staat und Gesellschaft. Zum Verhältnis der doppelten Orientierung und fragt nach der Geltung Grundrechte des Bundestagsabgeordneten zu Art. 38 der Grundrechte für die Abgeordneten neben dem Absatz 1 Satz 2 GG, Duncker & Humblot, Berlin fraglos geltenden Schutz durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. 2018, 263 S., ISBN 978-3-428-15355-8, € 69,90. Nach einer Einleitung wird zunächst die Behandlung Das deutsche öffentliche Recht ist durch eine an der dieser Fragestellung in der Rechtsprechung darge- Unterscheidung von Staat und Gesellschaft orientierte stellt, zur Erweiterung des Fallmaterials wird dabei Zweiteilung gekennzeichnet: auf der einen Seite der auch auf die verwaltungsgerichtliche Rechtspre- staatliche Bereich, in welchem die Handlungsbefug- chung zu den kommunalen Vertretungen rekurriert. nisse der Akteure begrenzt sind durch Kompetenzen, Fragestellungen wie die nach einem Rauchverbot Aufgaben und Befugnisse, auf der anderen Seite die oder dem Zeigen religiöser Symbole vermitteln An- Bürger, mit ihrer prinzipiell als unbeschränkt ge- schaulichkeit. Die Rechtsstellung der Abgeordneten dachten Freiheit, geschützt durch die Grundrechte, nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG wird im zweiten Kapitel denen auf staatlicher Seite die Grundrechtsbindung als Hybrid zwischen Staat und Gesellschaft beschrie- entspricht. ben. Gründliche Erörterung findet dann die Frage, ob bei Handlungen mit Mandatsbezug die Abgeord- Die Abgeordnetenstellung fügt sich nicht in dieses neten sich auch auf ihre Grundrechte berufen können Schema der Trennung von Staat und Gesellschaft (drittes Kapitel). Die weitverbreitete Auffassung, ein. Eine demokratische Verfassung gewährleistet nur Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sei hier einschlägig, wird Einflusskanäle vom Volk auf die Staatsorgane, zuvör- kritisch gesehen. Als einziger Grund für die Nicht- derst die durch Wahl besetzten Parlamente, die den geltung der Grundrechte wird Art. 1 Abs. 3 GG ak- Einfluss der Bürger auf die staatliche Entscheidungs- zeptiert: In Wahrnehmung ihres Amtes als Abgeord- findung vermitteln. Die Abgeordneten sollen die Kluft nete übten diese Staatsgewalt aus und seien deshalb zwischen Gesellschaft und Staat durch demokratische an die Grundrechte gebunden und könnten sich nicht Einflussnahme überbrücken. Gleiches gilt auch für selbst auf diese berufen. die politischen Parteien, die durch das Grundgesetz in ihrer besonderen Vermittlungsaufgabe anerkannt Damit rückt die Frage in den Vordergrund, welche und geschützt sind. In dieser Vermittlungsrolle wird im Rahmen des Mandats liegenden Handlungen als die rechtliche Stellung der Parteien wie der Abge- grundrechtsgebunden zu verstehen sind und welche ordneten systematisch unscharf. In ihrer Brücken- den Schutz der Grundrechte genießen. Um die funktion haben sie Kontakt und Grund in der Sphäre Grundrechtsberechtigung der Abgeordneten zu klä- der Gesellschaft und genießen damit grundrechtli- ren, wird vergleichend die Geltung der Grundrechte chen Schutz, zugleich haben sie aber auch eine Rolle für Beamte und Richter herangezogen. Als Beson- in der staatlich verfassten Sphäre. Parteien sind ei- derheit der Rechtsstellung des Abgeordneten wird nerseits frei gegründete gesellschaftliche Vereini- dabei dessen Vermittlungsfunktion und d. h. auch gungen und haben die Rechtsform des zivilrechtli- dessen gesellschaftliche Verwurzelung betont. We- chen Vereins, zugleich sind sie aber öffentlich-recht- sentlich sei auch, dass für die Wahrnehmung des lich durch das Parteiengesetz und Art. 21 GG über- Mandats auch die Person des Abgeordneten in seiner formt. Die Problemlage der Abgeordneten ist ganz besonderen Ausprägung eine Rolle spiele: Die ähnlich. Sie sind vom Volk gewählte Vertreter der Rechtsstellung des Abgeordneten habe eine persona- Bürger und sollen mit diesem in dauerndem Kontakt le Prägung (viertes Kapitel). bleiben, zugleich haben sie aber auch eine staatsor- Die Antwort auf die Frage nach der Grundrechtsgel- ganisationsrechtlich ausgeformte Rolle im Parlament tung für die Abgeordnetentätigkeit wird im fünften mit einem besonderen Rechtsstatus. Dem entspricht Kapitel in einer Bereichsdifferenzierung gesucht. Im auch das Prozessrecht: Die Abgeordnetenrechte aus innerparlamentarischen Bereich spielten die Grund- Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG werden im Organstreitverfah- rechte bei allen formalen Aktivitäten der Abgeordne- ren verteidigt, nicht vor den Fachgerichten und mit ten keine Rolle, hier greife nur das freie Mandat. Bei der Verfassungsbeschwerde. Ganz ähnlich ist auch sogenanntem „amtsbegleitenden Verhalten“, etwa dem die prozessrechtliche Stellung der politischen Partei- Tragen bestimmter Kleidung, kämen das freie Man- en, die gegen andere Verfassungsorgane auch auf dat und die Grundrechte parallel zur Anwendung. Im das Organstreitverfahren verwiesen sind. außerparlamentarischen Bereich komme es darauf an, Die hier zu besprechende unter der Betreuung von ob der Abgeordnete seine Amtsautorität ins Spiel, Fabian Wittreck erstellte Münsteraner Dissertation bringe, dann greife nur das freie Mandat. Allerdings

170 MIP 2019 25. Jhrg. Rezensionen spreche eine Vermutung gegen ein solches Handeln in Ipsen, Jörn (Hrsg.): ParteienG, Gesetz über die der Eigenschaft als Abgeordneter, verstanden als Auf- politischen Parteien, Kommentar, 2. Aufl., CH treten mit Amtscharakter. In Versammlungen, Inter- Beck, München 2018, 510 S., ISBN 978-3-406- views oder Talkshows agiere der Abgeordnete eher 71938-7, € 109. als Parteipolitiker denn als Abgeordneter. Hier ge- Im Parteienrecht benötigen manche Dinge viel Zeit: nieße er grundrechtlichen Schutz. Wegen der Reprä- Knapp zwanzig Jahre lang agierten und agitierten die sentationsaufgabe der Abgeordneten – Repräsentati- politischen Parteien ohne eigentlichen rechtlichen on verstanden als kontinuierlichen Kommunikations- Rahmen, bevor der Gesetzgeber 1967 seiner Ver- prozess zwischen Vertretenen und Vertretern – pflichtung aus dem Grundgesetz nachkam und das schütze das freie Mandat auch diese Aktivitäten. Parteiengesetz verabschiedete. Weitere vierzig Jahre Hier greife wieder der Schutz durch Grundrechte brauchte es, bis Kommentierungen zu diesem Gesetz und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Im reinen Privatbereich erschienen. Den Anfang machte die Kurzkommen- seien nur die Grundrechte einschlägig. Bei paralleler tierung von Martin Morlok, die 2007 in der ersten Anwendbarkeit der Grundrechte wie des freien Man- Auflage bei Nomos in der Sammlung „Das deutsche dats seien beide Gewährleistungen zu prüfen. Das Bundesrecht. Systematische Sammlung der Gesetze Amt des Abgeordneten könne aber grundrechtliche und Verordnungen mit Erläuterungen.“ erschien. Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen. Kurz darauf folgte 2008 die Erstauflage des hier be- Ein Blick auf die Rechtsprechung des EGMR, die sprochenen Werkes bei C.H. Beck. Es handelte sich ohne einen fundamentalen Unterschied von staatli- somit – gemeinsam mit dem Werk von Morlok – um cher und gesellschaftlicher Sphäre arbeitet, be- einen verdienstvollen und wichtigen ersten Wurf. schließt die Dissertation (sechstes Kapitel). Die Autoren, die bereits die erste Auflage verfassten, Die sorgfältig gearbeitete Untersuchung verdient Zu- haben sich wieder zusammengefunden, um zehn Jahre stimmung in ihrem materiellen Repräsentationsver- später die zweite Auflage des Kommentars herauszu- ständnis, das die Einbindung der Abgeordneten in bringen. Wiederum kommentiert Jörn Ipsen die Ab- den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess be- schnitte „Allgemeine Bestimmungen“, „Innere Ord- tont. Richtigerweise wird deswegen ein Bezugspunkt nung“ und „Aufstellung von Wahlbewerbern“, der Abgeordnetentätigkeit im gesellschaftlichen Be- Thorsten Koch die Abschnitte „Staatliche Finanzie- reich gesehen, der andere im innerparlamentari- rung“ und „Schlussbestimmungen“ sowie „ Verfahren schen. Zu Recht wird deswegen die Zwischenstel- bei unrichtigen Rechenschaftsberichten“ mit Ausnah- lung der Abgeordneten hervorgehoben, die abgebil- me von § 31d, der von Frank Saliger bearbeitet det wird im doppelten Schutz der Rechte der Abge- wird, während Heike Jochum die Erläuterungen zum ordneten durch die Grundrechte wie durch Art. 38 Abschnitt „Rechenschaftslegung“ übernimmt und Abs. 1 S. 2 GG – allerdings differenziert nach Berei- Katrin Stein schließlich den Abschnitt „Vollzug des chen. Dabei leuchtet nicht unbedingt ein, dass bei Verbots verfassungswidriger Parteien“ kommentiert. öffentlichen Auftritten eine Vermutung gegen das Agieren in der „Eigenschaft als Abgeordneter“ spre- Der Aufbau des – das sei an dieser Stelle hervorge- che, hier dominiere die Wahrnehmung als Parteipoli- hoben – in seinem Umfang nicht, wie dies oft bei tiker. Dies verkennt die parteipolitische Geprägtheit Neuauflagen der Fall ist, vermehrten Kommentars, der Abgeordnetenrolle, die etwa im Wahlrecht auch ist gegenüber der Vorauflage unverändert und ent- rechtlichen Niederschlag findet. hält Hinweise auf die Entstehungsgeschichte des je- weiligen Paragraphen sowie auf einschlägige Litera- Bei aller Zustimmung zur Möglichkeit parallelen tur, die teilweise durch eine Zusammenstellung der Schutzes durch das freie Mandat und die Grundrechte Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dürfte der Unterschied zur überwiegend praktizierten ergänzt werden. Den Erläuterungen zu einigen Ab- alleinigen Heranziehung von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG schnitten des Parteiengesetzes sind eigene Vorbe- gering sein, Einschränkungen hier wie dort sind je- merkungen vorangestellt. Die Kommentierungen sind weils rechtfertigungsbedürftig und auch die privaten meist kompakt und übersichtlich gehalten, wobei die Belange der Abgeordneten können in den Abwä- etwa 80 Seiten beanspruchende Kommentierung zu gungsprozess bei Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG eingestellt § 31d PartG quantitativ aus dem Rahmen fällt. werden. Die Kommentierungen sind von unterschiedlicher Qualität und Aktualität. Dazu einige Beispiele: So be- Prof. Dr. Martin Morlok rücksichtigen etwa die Erläuterungen zu § 19a PartG

171 Rezensionen MIP 2019 25. Jhrg. bereits das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin Kaum eine Frage offen lässt die Kommentierung zu vom September 2017, das sich mit der Problematik § 31d PartG, die auch einen fast monographischen des Goldhandels der AfD und dem Geldverkauf“ Umfang aufweist. Diese Breite der Erläuterungen von Die Partei befasst. Ob diese Geschäfte, die zu steht dabei in einem gewissen Missverhältnis zur einer Ergänzung von § 19a PartG geführt haben, bislang eher geringen rechtspraktischen Bedeutung aber rechtsmissbräuchlich waren, wie der Kommen- der Norm. tator meint, was ja Parteienrechtswidrigkeit bedeu- Gleiches könnte man auch von den Normen über den ten würde, ist sehr fraglich und bedürfte zumindest Vollzug eines Parteiverbots sagen, wobei die Frage einer genaueren Begründung. Verdienstvoll ist wie- von Parteiverboten aber immer wieder große öffent- derum, um beim Beispiel von § 19a PartG zu blei- liche Beachtung findet. Die Kommentatorin lässt ben, die genaue Erläuterung der Wirkung der relati- sich davon jedoch nicht verleiten kurzerhand – etwa ven und absoluten Obergrenzen für die staatliche in den Vorbemerkungen zu §§ 32, 33 PartG – das Parteienfinanzierung. Die Kommentierung lässt da- Parteiverbot selbst mit zu behandeln, sondern be- bei aber unerwähnt, dass die 2011 vorgenommene schränkt sich auf eine disziplinierte und eingehende Änderung der Reihenfolge, in der die Obergrenzen Erläuterung der eigentlichen Vollzugsnormen. bei der Berechnung der staatlichen Subventionen an- zuwenden sind, tendenziell zu Lasten von neuen, bei So ist das Bild von der zweiten Auflage des Kom- Wahlen erfolgreichen, aber noch nicht mit einer um- mentars uneinheitlich: Die fast durchgängig kom- fangreichen Mitgliedschaft und einem ausgebauten pakte und meist auch gut verständliche Neubearbei- Netz von Unterstützern versehenen Parteien geht tung des Stoffes gehört teilweise zum Besten, was und den etablierten Parteien nutzt. Es fehlt den Aus- man zum jeweiligen Thema lesen kann, ist aber in führungen so ein nicht unwesentliches Element zur anderen Teilen nicht ganz aktuell oder leidet an ei- rechtspolitischen Einordnung der Gesetzesänderung. nem gewissen Mangel an Problembewusstsein. Die Kommentierung zu der wichtigen, weil den ver- Dennoch, auch die zweite Auflage dieses Kommen- fassungsrechtlichen Grundsatz der innerparteilichen tars gehört insgesamt zu den wichtigen und wertvol- Demokratie in wesentlichen Teilen mit verwirkli- len Werken zum Parteienrecht. chenden Norm des § 10 PartG ist im souveränen Dr. Sebastian Roßner, M.A., Duktus eines Kenners der Materie gehalten, dessen Rechtsanwalt in Köln und Fellow des PRuF Erläuterungen zu dem teils schwierigen Stoff dem- entsprechend aus einem Guss sind. Aber der Wert der Kommentierung wird durch fehlende Aktualität gemindert: So wird etwa die neuere Literatur nur teilweise verarbeitet oder bspw. das Urteil des Kam- mergerichts vom September 2013, welches neuartige Maßstäbe für die Überprüfung von Parteiausschlüs- sen durch staatliche Gerichte aufgestellt hat, nicht berücksichtigt. Zudem geht die Kommentierung nicht auf die im Internet einsehbare und die parteiin- terne Praxis prägende Rechtsprechung der Partei- schiedsgerichte ein, steht damit allerdings in der par- teienrechtlichen Literatur keinesfalls allein. Sehr überzeugend sind wiederum etwa die Kommen- tierungen zu § 24 oder § 26 PartG, die ein scharfes Verständnis der wirtschaftlichen und buchhalteri- schen Zusammenhänge zeigen und dennoch die teil- weise gegenläufigen Besonderheiten des stark vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der Transparenz geprägten Parteienrechts berücksichtigen und würdi- gen. Die detailgenaue, differenzierte, aber nicht aus- ufernde Bearbeitung der Vorschriften zur Rechen- schaftslegung ist eine der starken Seiten dieses Kommentars.

172 MIP 2019 25. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

Rechtsprechungsübersicht

1. Grundlagen zum Parteienrecht BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16, in: NJW 2018, 928-934 (Verletzung des Rechts einer Partei auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb durch Pressemitteilung einer Bundesministerin – „Rote Karte“ für die AfD/Wanka). BVerfG, Beschluss vom 30.10.2018 – 2 BvQ 90/18, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz einer Fraktion sowie einer politischen Partei wegen vermeintlichen Verstoßes des Bundesinnenministers gegen Neutralitätspflicht). VerfGH Berlin, Beschluss vom 04.07.2018 – VerfGH 79/17, online veröffentlicht bei juris (Erfolgloser An- trag der AfD im Organstreitverfahren gegen Äußerungen des Justizsenators – Keine Neutralitätspflicht bei Antworten in einer parlamentarischen Fragestunde). LVerfG SchlH, Beschluss vom 08.06.2018 – LVerfG 5/17, online veröffentlicht bei juris (Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses einer Partei im Organstreitverfahren über die Grenzziehung zwischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit und unzulässiger Wahlwerbung im Vorfeld der Wahl nach Regierungswechsel). LVerfG SchlH, Beschluss vom 08.06.2018 – LVerfG 6/17, online veröffentlicht bei juris (Parallelentschei- dung zu LVerfG SchlH, Beschluss vom 08.06.2018 – LVerfG 5/17). OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.04.2018 – OVG 12 B 6/17, in: NVwZ 2018, 1152-1154 (Keine Sperrwirkung des PartG gegenüber IFG-Auskunftsanspruch). VGH München, Beschluss vom 19.01.2018 – 5 CE 18.169, online veröffentlicht bei juris (Unbegründetheit eines Antrages auf Verbot einer Mitgliederbefragung von Parteimitgliedern zu Koalitionsfragen) OVG Sachsen, Urteil vom 16.03.2018 – 3 A 556/17, in: SächsVBl 2018, 171-177 (Widerruf einer Waffen- besitzkarte eines aktiven NPD-Mitglieds). OLG Köln, Beschluss vom 27.09.2018 – 7 U 85/18, in: MMR 2018, 750-753 (Namensrecht einer Partei – Untersagung einer Domain – Verkehrsgeltung einer Kurzbezeichnung). LG Berlin, Urteil vom 05.07.2018 – 27 O 155/17, online veröffentlicht bei juris (Anspruch auf Richtigstel- lung einer unwahren Tatsachenbehauptung über das Bundesumweltministerium im Zusammenhang mit US- Wahlkampf auf der Homepage der AfD-Bundespartei). LG Köln, Urteil vom 06.02.2018 – 33 O 79/17, online veröffentlicht bei juris (Namensrecht einer Partei – Untersagung einer Domain – Verkehrsgeltung einer Kurzbezeichnung). VG Gießen, Beschluss vom 05.07.2018 – 9 L 1982/18.GI, online veröffentlicht bei juris (Kandidatur für die NPD auf kommunaler Ebene rechtfertigt die Annahme der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit). VG Göttingen, Beschluss vom 29.08.2018 – 1 B 462/18, online veröffentlicht bei juris (Landkreis muss Pro- testaufruf gegen NPD-Veranstaltung von Homepage entfernen). VG München, Beschluss vom 17.01.2018 – M 7 E 18.68, online veröffentlicht bei juris (Unzulässigkeit ei- nes Antrags auf Verbot auf Verbot einer Mitgliederbefragung von Parteimitgliedern zu Koalitionsfragen).

2. Chancengleichheit BVerfG, Beschluss vom 24.03.2018 – 1 BvQ 18/18, in: NVwZ 2018, 819 (Verpflichtung der Stadt Wetzlar zur Überlassung einer Stadthalle zur Durchführung einer NPD-Wahlkampfveranstaltung). BVerwG, Urteil vom 28.11.2018 – 6 C 2.17, online veröffentlicht bei juris (Kreisverbände der NPD haben Anspruch auf Eröffnung eines Girokontos bei der Berliner Sparkasse).

173 Rechtsprechungsübersicht MIP 2019 25. Jhrg.

BVerwG, Urteil vom 28.11.2018 – 6 C 3.17, , online veröffentlicht bei juris (Kreisverbände der NPD haben Anspruch auf Eröffnung eines Girokontos bei der Berliner Sparkasse). Hess. VGH, Beschluss vom 23.02.2018 – 8 B 23/18, online veröffentlicht bei juris (Verpflichtung der Stadt Wetzlar zur Überlassung einer Stadthalle zur Durchführung einer NPD-Wahlkampfveranstaltung). Hess. VGH, Beschluss vom 17.10.2018 – 8 B 2171/18, online veröffentlicht bei juris (Unzulässigkeit der Verteilung von Wahlwerbeflächen anhand von Wahlprognosen). VGH München, Beschluss vom 03.07.2018 – 4 CE 18.1224, in: KommJur 2018, 289-292 (Verschaffungsan- spruch gegenüber Gemeinde auf Nutzung einer privatrechtlich betriebenen Einrichtung für Wahlkampfver- anstaltungen einer politischen Partei). VG Augsburg, Beschluss vom 01.10.2018 – Au 1 E 18.1617, online veröffentlicht bei juris (Verstoß einer Plakatierordnung gegen Grundsatz der Chancengleichheit – Begrenzung auf ein Plakat pro Anschlagtafel). VG Darmstadt, Beschluss vom 21.09.2018 – 3 L 2011/18.DA, online veröffentlicht bei juris (Nach Wid- mung kein Anspruch auf Überlassung einer kommunalen Einrichtung an nicht ortansässige Partei für über- örtliche Parteiveranstaltung). VG Köln, Beschluss vom 15.08.2018 – 14 L 1741/18, online veröffentlicht bei juris (Anspruch einer Partei auf Zugang zu öffentlicher Einrichtung kapazitätsabhängig). VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 20.09.2018 – 12 L 3583/18.F, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 28863 (Zulässigkeit der Verteilung von Wahlwerbeflächen anhand von Wahlprognosen). VG München, Beschluss vom 24.05.2018 – M 7 E 18.2240, online veröffentlicht bei juris (Verschaffungs- anspruch gegenüber Gemeinde auf Nutzung einer privatrechtlich betriebenen Einrichtung für Wahlkampf- veranstaltungen einer politischen Partei).

3. Parteienfinanzierung EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T-16/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 14740 (Abweisung der Kla- ge einer europäischen politischen Partei – hier: Alliance for Peace and Freedom – gegen die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33% des Höchstbetrags der Finanzhilfe und Forderung einer Bankbürgschaft). EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T-13/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 14741 (Abweisung der Kla- ge einer europäischen politischen Stiftung – hier: Europa Terra Nostra e. V., angeschlossen der Partei Al- liance for Peace and Freedom – gegen die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33% des Höchstbetrags der Finanzhilfe und Forderung einer Bankbürgschaft). EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T-54/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 14744 (Abweisung der Kla- ge einer europäischen politischen Partei – hier: Coalition for Life and Family, CLF – gegen die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33% des Höchstbetrags der Finanzhilfe und Forderung einer Bankbürgschaft). EuG, Urteil vom 11.07.2018 – T-57/17, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 15212 (Abweisung der Kla- ge einer europäischen politischen Stiftung – hier: Pegasus, angeschlossen der Partei Coalition for Life and Family – gegen die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33% des Höchstbetrags der Finanzhilfe und Forde- rung einer Bankbürgschaft). EuG, Urteil vom 27.11.2018 – T-829/16, online (französisch) veröffentlicht bei BeckRS 2018, 29906 (Ver- bot der indirekten Finanzierung einer nationalen politischen Partei). OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.03.2018 – 3 B 26.17, online veröffentlicht bei juris (Rechen- schaftsbericht über Einnahmen einer politischen Partei aus Goldhandel – parteienrechtlicher Einnahmebegriff).

174 MIP 2019 25. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

4. Parteien und Parlamentsrecht BVerwG, Urteil vom 27.06.2018 – 10 CN 1.17, in: NVwZ 2018, 1656-1660 (Kein Ausschluss kommunaler Fraktionen „verfassungsfeindlicher“ Parteien oder Wählervereinigungen von Fraktionszuwendungen). VerfGH Berlin, Urteil vom 04.07.2018 – VerfGH 130/17, in: DVBl 2018, 1287-1290 (Zurückweisung eines Antrags im Organstreitverfahren gegen einen Fraktionsausschluss). NdsStGH, Urteil vom 30.11.2018 – StGH 1/18, online veröffentlicht bei BeckRS 2018, 34968 (Organstreit- verfahren der Fraktion der AfD gegen den Niedersächsischen Landtag wegen Feststellung der Verletzung verfassungsmäßiger Rechte – „Stiftung niedersächsische Gedenkstätten“). VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.01.2018 – VGH O 17/17, in: NVwZ-RR 2018, 546-557 (Verteilung der Ausschusssitze nach d´Hondtschem Höchstzahlverfahren unter Einschluss der Grundmandatsklausel und Festlegung der Ausschlussgröße auf 12 Mitglieder durch rheinland-pfälzischen Landtag auch im Zusammen- spiel der Regelungselemente verfassungsgemäß). OVG NRW, Beschluss vom 28.06.2018 – 15 B 875/18, online veröffentlicht bei juris (Überlassung einer Stadthalle an eine Landtagsfraktion). OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.09.2018 – 4 M 172/18, online veröffentlicht bei juris (Zugang zu kommunalen Räumlichkeiten für eine Landtagsfraktion); VG Halle (Saale), Beschluss vom 17.09.2018 – 3 B 414/18, nicht veröffentlicht (Zugang zu kommunalen Räumlichkeiten für eine Landtagsfraktion). VG Köln, Beschluss vom 25.04.2018 – 6 L 4777/17, online veröffentlicht bei juris (Auskunftsanspruch ei- nes Journalisten gegenüber dem Bundesrechnungshof betreffend Prüfung der öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen der FDP-Fraktion in Liquidation des Deutschen Bundestages im Jahr 2013). VG Köln, Beschluss vom 14.06.2018 – 14 L 1007/18, nicht veröffentlicht (Überlassung einer Stadthalle an eine Landtagsfraktion). VG Koblenz, Beschluss vom 26.07.2018 – 1 L 701/18.KO, online veröffentlicht bei juris (Nach Widmung kein Anspruch der AfD-Stadtratsfraktion auf Nutzung des historischen Rathaussaals in Koblenz). VG Oldenburg, Beschluss vom 26.01.2018 – 3 B 8299/17, in: NdsVBl 2018, 252-256 (Gerechtfertigte Ab- weichung vom Spiegelbildlichkeitsgrundsatz bei der Ausschussbesetzung aufgrund Bildung einer Gruppe in einer kommunalen Vertretung).

5. Parteien und Wahlrecht BVerfG, Beschluss vom 22.08.2018 – 2 BvQ 53/18, online veröffentlicht bei juris (Offensichtliche Unzuläs- sigkeit eines Antrages auf einstweilige Anordnung betreffend die Wählbarkeit der CDU in Bayern und der CSU außerhalb von Bayern). BVerwG, Urteil vom 13.06.2018 – 10 C 8/17, in: NJW 2018, 3328-3331 (Herabsetzung des Mindestalters für das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre verstößt nicht gegen das Grundgesetz, insbe- sondere nicht gegen das Demokratieprinzip). BayVerfGH, Entscheidung vom 26.03.2018 – Vf. 15-VII-16, in: NVwZ-RR 2018, 457-472 (Keine Ver- pflichtung des Gesetzgebers zum Erlass geschlechtsparitätischer Wahlvorschlagsregelungen). VerfGH Sachsen, Urteil vom 11.04.2018 – Vf. 108-V-17, in: JZ 2018, 771-777 (Gültigkeit der Landtags- wahl trotz ergebnisrelevanter Kandidaten-Streichung von AfD-Liste – weder „Berichtigung“ des Wahler- gebnisses noch Wahlwiederholung geboten). VerfGH Thüringen, Urteil vom 25.09.2018 – 24/17, online veröffentlicht bei juris (Absenkung des Wahlal- ters auf 16 Jahre im Bereich des Kommunalwahlrechts mit Verfassung des Freistaats Thüringen vereinbar).

175 Literaturübersicht MIP 2019 25. Jhrg.

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 24 der „Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Inter- nationales Parteienrecht und Parteienforschung“, S. 155 ff., aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich um eine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im Wesentlichen wurden Publikationen des Jahres 2018 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und soll im Rah- men der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publikationen geleistet werden.

Alemann, Ulrich von/Erbentraut, Philipp/Walther, Jens: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutsch- land – Eine Einführung, Springer VS, 5. aktualisierte und überarbeitete Aufl., Wiesbaden 2018. Anders, Lisa H./Scheller, Henrik/Tuntschew, Thomas (Hrsg.): Parteien und die Politisierung der Europäi- schen Union, Springer VS, Wiesbaden 2018. Angenendt, Michael: Kommunalpolitik abseits der Parteien? Sozialprofil und Beitrittsmotive von Wählerge- meinschafts- und Parteimitgliedern im Vergleich, in: Regierungsforschung.de – Das wissenschaftliche On- line-Magazin der NRW School of Governance, 2018, S. 1-14 (online verfügbar unter: http://regierungsfor schung.de/kommunalpolitik-abseits-der-parteien/). Angenendt, Michael: Anti-Partyism in German Independent Local Lists: Empirical Insights from a Member- ship Study, in: German Politics 2018, 27 (3), S. 401-423. Arnim, Hans Herbert von: Erosion von Demokratie und Rechtsstaat?, Duncker & Humblot, Berlin 2018. Augsberg, Steffen: Die politischen Parteien als zentrale Akteure des demokratischen Wettbewerbs, in: Jura 2018, S. 1110-1119. Augsberg, Steffen: Grenzen und Gefahren kommunaler Extremismusbekämpfung, in: DRiZ 2018, S. 254-257. Austermann, Philipp: Erwerb und Verlust des Bundestagsmandats, in: DÖV 2018, S. 570-575. Bäcker, Alexandra/Dişçi, Duygu/Jürgensen, Sven/Kalb, Moritz/Roßner, Sebastian/Sokolov, Ewgenij/Winkler, Sabrina/Witt, Theresa (Hrsg.): Politik als rechtlich geordneter Prozess – Ausgewählte Schriften von Martin Morlok, Nomos, Baden-Baden 2018. Backes, Uwe/Gallus, Alexander/Jesse, Eckhard/Thieme, Tom (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E & D), Nomos, Baden-Baden 30. Jahrgang 2018. Barlet, Philipp: Verfassungskonformität des Bundestagswahlrechts trotz Nichteinführung der Eventualstimme?, in: ZJS 2018, S. 179-188. Beckermann, Benedikt: Mehrheitsbildung und Spiegelbildlichkeitsgebot in kommunalen Vertretungen, in: NdsVBl 2018, S. 226-231. Berger, Franz X.: Anmerkung zu einer Entscheidung des LG Köln, Urt. v. 06.02.2018 (33 O 79/19) – Zum Anspruch einer politischen Partei auf Freigabe einer die Abkürzung des Parteinamens neben einem neutra- len Zusatz enthaltenden Second-Level-Domain, in: MMR 2018, S. 405-407. Bértoa, Fernando Casal/van Biezen, Ingrid: The Regulation of Post-Communist Party Politics, Routledge, London 2018. Beyme, Klaus von: Rechtspopulismus. Ein Element der Neodemokratie?, Springer VS, Wiesbaden 2018. Bieber, Ina/Roßteutscher, Sigrid/Scherer, Philipp: Die Metamorphosen der AfD-Wählerschaft: Von einer euroskeptischen Protestpartei zu einer (r)echten Alternative?, in: PVS 59 (2018) Nr. 3, S. 433-461. Bötticher, Astrid; Kopke, Christoph; Lorenz, Alexander: Die AfD verbieten? Erfüllt die AfD die Kriterien der Verfassungswidrigkeit?, in: Kriminalistik 2018, S. 711-716. Britz, Gunther: Mehrheitswahlrecht als Alternative?, in: ZRP 2018, S. 89.

176 MIP 2019 25. Jhrg. Literaturübersicht

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177 Literaturübersicht MIP 2019 25. Jhrg.

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183 Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter MIP 2019 25. Jhrg.

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter Angaben zu den wissenschaftlichen Publikationen sowie den Vorträgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter des PRuF auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung finden sich auf den Internetsei- ten des PRuF (www.pruf.de).

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